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Kurt Bracharz ist Anhänger der Buchreligion - jenes polytheistischen Glaubens, dessen heilige Schriften Don Quijote, Moby Dick, Berlin Alexanderplatz, Lolita oder V heißen -, und er ist überzeugt, dass ein Buch mehr ist als mit unterhaltsamen Geschichten bedruckte Seiten. Der süchtige Leser hat ein Jahr lang über das geschrieben, was er gelesen hat; er wandert von William S. Burroughs zu Wilhelm Busch, von James Joyce zu Henri Michaux, von Alfred Döblin zu Don DeLillo. Doch seine Notizen und Randbemerkungen, Reflexionen und Assoziationen sind weit mehr als ein schlichtes Lesetagebuch: Für "reife Leser" ist es ein Ausbruch bibliophiler Leidenschaft, ein Genuss für alle, die selbst schon einige Lesefrüchte in ihre Scheune eingebracht haben.
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Seitenzahl: 326
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Kurt Bracharz
Für reife Leser
Es gibt Leute, die ihre Bücher
in ihre Bibliothek stecken,
aber Herr von *** steckt
seine Bibliothek in seine Bücher.
Nicolas de Chamfort
Bregenz, 30. November 2005
Vor drei Wochen sah es so aus, als würde eine seit geraumer Zeit gehegte Vermutung zur Gewissheit: dass ich nämlich als Schriftsteller – und möglicherweise auch sonst – gänzlich ausgebrannt wäre.
Ich habe seit langer Zeit nichts mehr zusammengebracht. Ein Romanprojekt geht ins vierte Jahr und besteht immer noch aus knapp 70 Seiten. Ein paar ausbaufähige Einfälle zu Sachbüchern verblieben im Ideenstadium. Ein Tagebuch wollte ich angesichts der Monotonie meiner Lebensweise nicht führen. Und ich verzettele mich mit meiner Brotarbeit, Zeitungs- und Internetkolumnen, die ich für eine andere Einkommensquelle jederzeit aufgeben würde. Mit 58 Jahren gibt es aber für einen freien Schriftsteller auch ohne Wirtschaftsdepression keine Alternative zum Schreiben.
Im vergangenen Jahr stand ich meistens um sieben Uhr auf, setzte mich nach dem Frühstück an den Computer und schrieb eine Kolumne oder eine andere Auftrags-arbeit, wobei ich für die verlangten druckreifen 1900 bis 3300 Zeichen sechzig bis neunzig Minuten brauchte. Als Stundenlohn wäre das Honorar dafür gar nicht so übel, aber es treibt mich nach diesen Morgenstunden ins Freie, und später mag ich nicht mehr am Computer arbeiten. Da reicht es dann nur noch zum Lesen.
Seit mein letzter Psion kaputtgegangen ist, mache ich mir nicht einmal mehr Notizen. Der britische Handheld-Computer war das ideale elektronische Notizbuch: Seine Tastatur war gerade groß genug, dass man darauf mit beiden Zeigefingern recht schnell tippen konnte, und – noch wichtiger – er funktionierte wochenlang mit zwei gewöhnlichen Stab-Batterien. Die Dateien ließen sich per Kabel übertragen und problemlos in Word öffnen. Das Gerät hatte lediglich eine Achillesferse: Die Leitungen von der Zentraleinheit zum Bildschirm litten unter dem dazwischen liegenden Klappmechanismus. Nach der Einstellung der Psion-Produktion ist kein brauchbarer Nachfolger auf den Markt gekommen. Ein Sony Clié, den ich trotzdem noch kaufte, hat zwar eine vollständige Tastatur, aber man muss sie mit Nachdruck bearbeiten, wo beim Psion Antippen genügte, und der Akku leert sich binnen weniger Tage.
Mit dem Rezensieren habe ich fast völlig aufgehört, nicht aber mit dem Lesen. In der Buchhandlung blätterte ich zuerst in Alberto Manguels „Tagebuch eines Lesers“, dann las ich mich fest und dann kaufte ich. Nach der Erstlektüre sehe ich ein Buchprojekt vor mir, das nicht so aussichtlos scheint wie der Romantorso.
Manguel schreibt in der Vorbemerkung, er habe kurz nach seinem 53. Geburtstag beschlossen, seine alten Lieblingsbücher wiederzulesen. „Wenn ich jeden Monat ein Buch wiederlas, so dachte ich mir, würde daraus im Verlauf eines Jahres etwas zwischen einem privaten Tagebuch und einem Buch entstehen – ein Band mit Notizen, Reflexionen, Reiseeindrücken, Charakterskizzen, öffentlichen und privaten Ereignissen, alles hervorgebracht durch meine Lektüre.“
Im Kern dieses Plans – jeden Monat ein Buch zu lesen und darüber zu schreiben – erkannte ich eine Möglichkeit für mich, auch noch einmal etwas zu Stande zu bringen, ein richtiges Buch, kein Büchlein oder gar bloß einen Essay in einem Literaturmagazin.
Das mag nach Verzweiflung und Resteverwertung klingen, aber so schlimm ist die Lage nicht. Büchern gehört das älteste dauerhafte Interesse in meinem Leben. Dem Buch, und nicht etwa der Literatur, wie ich früher geglaubt habe. Dem Buch als Medium und als materiellem Objekt. Das ist das Thema, für das ich mein Leben lang Leidenschaft aufbringen konnte und noch kann. Leidenschaft scheint mir eine wesentliche Voraussetzung für Schriftstellerei zu sein.
Ich habe die Literatur immer als Myzel gesehen (und denke, auch die Strukturalisten hätten bei besseren Biologiekenntnissen diese Metapher statt ihres kümmerlichen Rhizoms verwendet), als ein ungeheures Geflecht (es gibt ja viele Quadratkilometer große Myzele, zum Beispiel vom Hallimasch) von unterirdischen, miteinander verbundenen, fadenförmigen Strukturen, die an der Oberfläche auffällige Verdickungen austreiben, beim Myzel die Schwämme, in der Literatur die großen Romane.
Die Neuronen des Gehirns mit ihren Synapsen würden ein ähnliches Bild liefern (wobei sich die Frage stellt, wem da die Gliazellen entsprächen), aber der Pilz-Vergleich gefällt mir besser, weil die Fruchtkörper der Pilze so ungeheuer vielfältige Formen annehmen wie die Hervorbringungen der Literatur. Es wachsen die Mousserons eines Heinrich Böll neben den Krötenstühlen des göttlichen Marquis aus demselben unterirdischen Geflecht, dessen Fäden alles jemals Geschriebene und dessen Zellen alle Wörter aller Sprachen sind.
Wer das lesen könnt’!
Heute Nachmittag habe ich eine Liste von zwölf Büchern erstellt. Die Frage war, in welcher Reihenfolge ich sie lesen solle, ich entschied schließlich, die alphabetische sei eine gute Zufallsordnung.
Das werde ich also in den nächsten zwölf Monaten wiederlesen:
William S. Burroughs: „The Naked Lunch“ (1959)
Wilhelm Busch: „Der Schmetterling“ (1895)
Elias Canetti: „Die Blendung“ (1935)
Salvador Dalí: „Verborgene Gesichter“ (1944)
Don DeLillo: „Mao II“ (1991)
Alfred Döblin: „Berlin Alexanderplatz“ (1929)
Witold Gombrowicz: „Kosmos“ (1965)
George Herriman: „Krazy Kat“ (ab 1913)
James Joyce: „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“ (1916)
Christine Lavant: „Das Kind“ (1948)
Henri Michaux: „Ein gewisser Plume“ (1927)
Vladimir Nabokov: „Pnin“ (1957)
Am 30. November 2006 wird das Manuskript fertig sein. Möge die Übung gelingen.
Sonntag
Das Jahr wird Unglück in der Liebe bringen. Morgens gegen eins wollte ich im Casino die fünf 5-Euro-Jetons, die man beim Eintritt bekommt, schnell loswerden, um in Ruhe an der Bar trinken zu können, setzte also zwei auf Rot und verlor, setzte zwei auf zwei Dutzend und verlor, und legte den letzten Chip auf die 28. Und gewann. 175 Euro.
Meiner Frau hingegen winkt 2006 wohl das Glück in der Liebe: Sie warf ihre Jetons aufs Tuch, als gerade eingesammelt wurde. Der Croupier hielt ihre Chips für Trinkgeld und entsorgte sie im „Pour-les-employers“-Schlitz.
Abends der grüne Untam Hulk im Fernsehen. Warum dreht ein Regisseur wie Ang Lee, der so beeindruckende Filme wie „Der Eissturm“ gemacht hat, einen solchen Quatsch? Spätnachts, als ich eigentlich nicht mehr weiterglotzen wollte, kam „Abgerechnet wird zum Schluss“ (der deutsche Titel für Peckinpahs „The Ballad of Cable Hogue“), und ich sah mir diesen amüsanten Film doch zur Gänze an. Peckinpah ist einer der Regisseure, bei denen die letzten Filme die schlechtesten sind; Polanski hatte in der Mitte einen Hänger; Houston hat sich im Spätwerk noch einmal gesteigert; nur ganz wenige haben nie etwas unter ihrem Niveau gemacht, einer davon ist Buñuel.
Montag
„Sin City“ folgt der Comics-Ästhetik auf andere, viel radikalere Art als etwa „Hulk“ oder auch „Spider-Man“, und meine anfänglichen Bedenken, eine solche Mimesis eines Mediums durch ein anderes könne doch nichts bringen, wurde bald von der Dynamik des Films weggespült. Er ist zumindest beim ersten Sehen erstaunlich, sowohl graphisch als auch moralisch.
Es gibt natürlich Ausnahmen von der Laokoon-Regel, dass Kunstwerke den Gesetzen ihrer Gattung folgen sollten. Vor ein paar Tagen sah ich Ozons „8 Frauen“, ein verfilmtes Theaterstück, dessen Schauplatz auch im Film eine Bühne bleibt (aber nicht in eine Theaterhandlung eingekleidet, sondern als Einheit von Ort und Zeit unter dem Zuschauerblick der Kamera), und dieser Film ist perfekt.
Handke 1968: „Verächtlich von ‚abfotografiertem Theater‘ zu reden, habe ich schon immer ein bißchen leichtsinnig gefunden, weil das Filmen von theatralischen Vorgängen, im überlegten Kontext von Bildern eingeordnet, eine äußerst fruchtbare und kaum gesehene filmische Methode sein könnte, gesetzt den Fall, man verwendet die Methode nicht zur Darstellung von Identitätsproblemen wie René Allio in ‚Die Eine und die Andere‘.“
Dienstag
Reiselektüre auf der wegen starken Schneefalls scheinbar endlosen Fahrt nach Wien: Bret Easton Ellis: „Lunar Park“. Das Buch fängt pseudo-autobiographisch an, enthält dann einige gelungene satirische Partien, schwenkt auf Stephen-King-Motive um, wird immer zäher zu lesen und stürzt im letzten Drittel vollständig ab. Ich denke, es ist ein Schulbuch für den creative-writing-Unterricht als Beispiel für einen Roman von jemandem, der schon lange im residiert und doch unbedingt etwas abliefern muss.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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