Fürchte dich vor mir - Judith Kelman - E-Book
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Fürchte dich vor mir E-Book

Judith Kelman

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Beschreibung

In New York lauert der Tod ... Es ist Nacht, alles schläft tief und fest – nur nicht die dunkle Gestalt, die sich über das Bett der kleinen Julie beugt und ihr den Tod bringt ... Seit ihre kleine Schwester vor Jahren in New York ermordet wurde, hat die Fotojournalistin Anna Jameson keinen Fuß mehr in die Stadt gesetzt. Doch nun hat sie dort ein Jobangebot bekommen, das zu gut ist, um abzulehnen, und beschließt, gegen den Wunsch ihrer Familie zurückzukehren. Was sie nicht weiß: Ihre Mutter hat einen seltsamen Anruf bekommen – und befürchtet nun, der Killer könnte wieder zuschlagen ... Rennt Anna geradewegs in seine Falle? »Hartgesottene, außergewöhnlich gut geschriebene Spannung von Kelman!« Kirkus Reviews Fans von Harlan Coben werden von diesem Domestic-Noir-Thriller begeistert sein! Judith Kelman gewann mit diesem Buch den Mary Higgins Clark Award.

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Seitenzahl: 528

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Über dieses Buch:

Es ist Nacht, alles schläft tief und fest – nur nicht die dunkle Gestalt, die sich über das Bett der kleinen Julie beugt und ihr den Tod bringt ... Seit ihre kleine Schwester vor Jahren in New York ermordet wurde, hat die Fotojournalistin Anna Jameson keinen Fuß mehr in die Stadt gesetzt. Doch nun hat sie dort ein Jobangebot bekommen, das zu gut ist, um abzulehnen, und beschließt, gegen den Wunsch ihrer Familie zurückzukehren. Was sie nicht weiß: Ihre Mutter hat einen seltsamen Anruf bekommen – und befürchtet nun, der Killer könnte wieder zuschlagen ... Rennt Anna geradewegs in seine Falle?

Über die Autorin:

Mit mehr als zwei Millionen verkauften Exemplaren ihrer Bücher ist Judith Kelman eine Meisterin der psychologischen Spannung. Sie wurde für ihren Thriller »Fürchte dich vor mir« mit dem Mary Higgins Clark Award ausgezeichnet und war Vorsitzende der Mystery Writers of America. Sie lebt in New York City.

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre Thriller um Rechtsanwältin Sarah Spooner mit den Bänden »Wo das Dunkel herrscht« und »Wenn die Unschuld stirbt« sowie die Standalone-Thriller »House on the Hill«, »Schrei, wenn du kannst«, »Thornwood«, »The Black Widow«, »Wenn das Böse erwacht« und »Fürchte dich vor mir«.

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eBook-Neuausgabe August 2024

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2001 unter dem Originaltitel »Summer of Storms« bei Putnam Publishing Group, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2001 unter dem Titel »Sommersturm« bei Weltbild.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2001 by Judith Kelman

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2001

by Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Nikita Balanov, Nadia Chi und AdobeStock/Creative Digital Art

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm/lj)

ISBN 978-3-98952-231-2

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Judith Kelman

Fürchte dich vor mir

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Hartmann

dotbooks.

Widmung

Für Linda, John, Elissa und Danny

Kapitel 1

Ich besitze geheime Bilder von der Nacht, in der meine Schwester ermordet wurde. Die Aufnahmen sind grobe Fotomontagen aus der schiefen Perspektive eines kleinen verängstigten Kindes. Gestalten stehen in einem merkwürdigen Neigungswinkel. Gesichter dehnen sich in komisch-grotesker Fassungslosigkeit. Alles vermittelt das Gefühl eines gefährlich aus den Angeln geratenen Universums.

Bestandteile dieser Bilder haben mich in Träumen heimgesucht. Andere schwebten lockend die Treppe hinauf, wenn meine Eltern glaubten, dass ich schliefe. Wieder andere habe ich in dem Versuch, die beunruhigenden Lücken zu füllen, alten Berichten entnommen. Aber meine Bilder bleiben grobkörnig und unscharf. So sehr ich mich auch bemühe, es gelingt mir nicht, die Ereignisse jener Nacht klar und verständlich zusammenzubringen.

Es war an einem Dienstag, am vierten August, während einer nicht enden wollenden Periode stickiger Schwüle, von den Medien Sommer der Stürme getauft. Sechzehn tropische Sturmtiefs hatten die Karibischen Inseln und Städte an der Atlantikküste erschüttert, seit das National Weather Center Anfang Juni mit seiner alljährlichen sechsmonatigen Zählung begonnen hatte. Zwölf davon hatten sich zu regelrechten Hurrikans ausgewachsen, und sechs, dreimal so viele wie normal, hatten sich bis zur tödlichsten Kategorie gesteigert, mit Windstärken von über einhundertdreißig Kilometer pro Stunde und tausenden von Verletzten und hunderten von Toten. Der Sachschaden war enorm, und unter den Menschen längs der bedrohten Ostküste breiteten sich Vorahnungen einer apokalyptischen Katastrophe aus.

Eine Woche zuvor hatten die Meteorologen verkündet, dass noch ein weiteres tropisches Unwetter, Queenie genannt, die vollen Ausmaße eines Hurrikans erreichen würde. Queenie baute sich zu einem besonders schlimmen Sturm auf, wild und temperamentvoll, und manche prophezeiten, dass dieser Hurrikan, auf der neu erfundenen Saffir-Simpson-Skala mit einer überwältigenden Kategorie Fünf angesetzt, der mächtigste und verheerendste von allen sein würde.

Als Nachrichtensprecher spät an diesem Wochenende mit ernsten bedeutungsschweren Stimmen ankündigten, dass der Sturm voraussichtlich in der Gegend von Manhattan an Land stoßen würde, trieb es selbst die dickfelligsten, abgebrühtesten New Yorker in Scharen in die Supermärkte, wo sie sich mit Wasser, Konserven, Isolierband, Batterien und Kerzen eindeckten.

Zufällig war besagter Dienstag mein dritter Geburtstag, und meine Eltern beschlossen, trotz des Sturms meine Party steigen zu lassen. Als wir feststellten, dass wir keine Geburtstagskerzen für die Torte im Haus hatten, waren selbst diese längst von verzweifelten, wahllos kaufenden Menschen aus den Regalen der Geschäfte geräumt worden. Meine Mutter sah sich gezwungen zu improvisieren und schnitzte mit dem Möhrenschäler eine unregelmäßige Drei aus einer flachen weißen Votivkerze. Auf einem meiner Bilder von jener Nacht ruht der zusammengeschmolzene Rest dieser Kerze umgeben von Schokoladenkrümeln und einer großen rosa Zuckerrosette auf dem Klapptisch, um den sich alle am späten Nachmittag zu einer hastigen Geburtstagsfeier zusammengefunden hatten.

Ich habe die Schlagzeilen jenes Tages gesehen, und sie enthielten Furcht erregende Vorhersagen über den Monstersturm, der sich der Stadt näherte. Ich kann mir gut vorstellen, dass die erzwungene Feier von nervöser Anspannung bestimmt war. Jeder hatte Angst vor Überflutungen und Stromausfällen und den erbarmungslosen Verwüstungen, die die Natur anzurichten vermag, und das wird das Hauptgesprächsthema der Erwachsenen auf meiner Party gewesen sein. Es ist nicht auszuschließen, dass sie ihre bloßliegenden Nerven mit größeren Mengen an Wein und Bier als gewöhnlich beruhigt haben, was auch die Batterien von leeren Dosen und Flaschen erklären würde, die in Reih und Glied neben der Küchentür standen. Das halbe Dutzend Kinder, mich und meine Schwester eingeschlossen, ließ sich wahrscheinlich von der Anspannung der Erwachsenen infizieren und reagierte mit lautem, ungezogenem Benehmen.

Eines meiner Erinnerungsbilder des Zimmers an jenem Abend zeigt deutliche Schleuderspuren auf dem blass malvenfarbenen Teppich, vermutlich von meinem Cousin Alan, der wie Queenie, der Hurrican, etwas beängstigend Wildes, kaum zu Bändigendes an sich hatte.

Meine Party löste sich rasch auf, als der Himmel sich zu einem bedrohlichen Aschgrau verdunkelte und das erste raubtierhafte Grollen fernen Donners Stunden früher als erwartet zu hören war. Als die Gäste fort waren, lagen überall im Wohnzimmer zerknülltes Geschenkpapier, spitze Papphütchen und schlappe rosa Luftballons herum. Über dem Sofa hing ein breites Spruchband, in der kindlichen Schrift meiner Schwester mit roter Wachsmalkreide bekritzelt. Darauf stand: »Herzlichen Glückwunsch, Anna«, und das eine der beiden »n« war seitenverkehrt geschrieben.

In krassem Gegensatz zu dieser unschuldigen Szenerie tobte draußen unübersehbar und Furcht einflößend der Sturm. Der Regen fiel in quecksilbrigen Schleiern, und ein schwerer Dunst hüllte die ganze Stadt ein.

Unser Mietshaus – ein schlanker Turm aus erdfarbenen Ziegeln – drückte sich wie ein verschüchtertes Kind hinter die breite Einfassung der Queensboro Bridge. In der Dunkelheit des Unwetters war die Brücke auf Grund des dichten Nebels kaum zu erkennen, und die hohen Türme im Norden sahen aus wie geköpft. Der hügelige Küstenstreifen war verschwunden.

Nachrichtensprecher hatten vor unnötigen Wegen gewarnt, und in jener Zeit der gewaltsamen Zerstörung hielten sich die meisten an diesen Rat. Als der Sturm ernste Ausmaße annahm, trauten sich nur wenige Leute auf die Straßen. Diejenigen, die es wagten, hasteten mit schützend verschränkten Armen und gesenkten Köpfen vorwärts. Abgesehen von Rettungswagen fuhren nur wenige Fahrzeuge auf den nassen, überfluteten Straßen. Auf den Wetterbericht vertrauend, hatten meine Eltern erwartet, dass meine Party, lange bevor der Hurrikan zuschlug, vorüber sein würde. Wenngleich keiner von unseren Gästen einen weiten Heimweg hatte, litten meine Eltern doch an Gewissensbissen, weil sie die Leute in solch elendem Wetter auf die Straße schickten. Besorgt telefonierten sie reihum, um sich zu vergewissern, dass alle heil zu Hause angekommen waren. Dann brachten sie meine Schwester und mich in unseren nebeneinander liegenden Zimmern zu Bett und gingen selbst auch schlafen.

Gewöhnlich hätte meine Mutter die Wohnung perfekt aufgeräumt, bevor sie zur Ruhe ging. Bertie hatte schon immer größten Wert auf penible Sauberkeit gelegt. Selbst wenn alles schief ging, oder gerade dann, bemühte sie sich, einen täuschend ordentlichen äußeren Anschein zu wahren. Doch dieses eine schicksalhafte Mal gab sie, da es wohl ohnehin gleichgültig war, ihrer Erschöpfung nach und verschob das Großreinemachen auf den nächsten Tag.

Sie hatte ja keine Ahnung, wie fehl am Platz dieses fröhliche Chaos im Licht des grotesken nächsten Tages wirken würde. Sie hatte schließlich nicht vorhersehen können, dass sich irgendwann in dieser aufgewühlten Nacht, während der Himmel von Blitzen wie mächtige Wurfspieße gleißte und der Donner wie ein verwundetes Tier brüllte, jemand ungehört in das Zimmer meiner Schwester schleichen würde.

Die Polizei schloss aus dem großen runden Wasserfleck auf dem Teppich, dass der Mörder mehrere Minuten bewegungslos dagestanden und meine Schwester im Schlaf betrachtet haben musste, während Regenwasser von seinen Kleidern tropfte.

Meine Schwester Julie, oder Jewel, wie meine Eltern sie jetzt nennen, muss die Gegenwart des Eindringlings gespürt haben und aufgewacht sein. Sie gab keinen Ton von sich, jedenfalls keinen, der über das Kreischen des Sturms hinweg zu hören gewesen wäre. Doch allem Anschein nach hatte sie keinen leichten Tod. Obwohl sie erst fünf Jahre alt und für dieses zarte Alter klein war, hatte sie sich so heftig gewehrt, dass ihr Bettlaken zerriss. Sie hatte ihren Mörder gekratzt, dass er blutete und sich unter ihren Fingernägeln Hautfasern fanden.

Unwetter haben bei mir schon immer einen fast bewusstlosen Schlaf bewirkt, so, als drückte jemand meinen Kopf unter Wasser, bis mein Gehirn weich und schwammig wird. Und in jener Nacht hat angeblich meine gesamte Familie so geschlafen, so völlig selbstvergessen und jenseits jeglicher Wahrnehmung wie die Toten.

Der nächste Tag begann unnatürlich still, wie es nach einem wütenden Unwetter häufig der Fall ist. Die Natur zog sich nach einem kleinkindhaften Wutanfall zurück, um auszuruhen und zu bereuen. Eine verschwommene Sonne brannte auf das Chaos herab: auf Äste, niedergerissene Stromleitungen, eine erstaunliche Menge Schirme mit zerbrochenen, verdrehten Speichen. Weiträumige Stromausfälle legten zahlreiche Geschäfte für den ganzen Tag lahm. Die Stadt regte sich so schwerfällig wie ein Körperbehinderter.

Meine Familie ebenfalls. Normalerweise war ich beim ersten Sonnenstrahl auf den Beinen, doch an diesem Morgen schlief ich bis kurz vor acht, um dann in das Zimmer meiner Eltern zu laufen und mich bäuchlings zwischen sie aufs Bett zu werfen. Angesichts der Tatsache, dass selbst ich so außergewöhnlich spät aufgewacht war, erregte das Fehlen meiner Schwester am Frühstückstisch keinerlei Besorgnis. Es war schon nach neun, als meine Mutter schließlich äußerte, dass es an der Zeit wäre, sie zu wecken. Ich sehe immer noch die fächerartig ausgebreiteten kleinen Fältchen in Berties Augenwinkeln, als sie versonnen lächelte: »Ich denke, ich sollte die kleine Schlafmütze jetzt mal wecken.«

Der Rest spult sich vor meinem inneren Auge ab wie ein greller Diavortrag. Die Szenen wechseln mit einem ohrenbetäubenden Klicken und einem grellen desorientierenden Blitz.

Der beinahe tierische Schrei meiner Mutter zerriss die Luft. Mein Vater stürzte aus der Küche und rannte den Flur entlang zu Julies Zimmer. Seine hektischen Worte fuhren nieder wie Axthiebe. »Hol meine schwarze Tasche, Bertie. Ruf den Notarzt. Wach auf, Julie. Mach schon, Süße. Hole Luft. Atme!«

Bald darauf umringte eine menschliche Mauer von Fremden das Bett meiner Schwester. Als der Kreis sich öffnete, traten zwei finster blickende Männer vor und trugen eine in ein Laken gehüllte Gestalt auf einem seltsamen Metallgestell fort. Eine der honigfarbenen Locken meiner Schwester lugte unter dem Laken hervor, als würde sie Verstecken spielen.

Meine Schwester liebte solche Spiele. Sie hatte unbändigen Spaß an verdrehten Situationen und kindlicher Ironie. Wenngleich ich zu klein war, um in Konkurrenz zu ihr zu treten, oder vielleicht gerade deswegen, brauchte sie mich oft für ihre Spiele. Außerdem liebte sie es, Rätsel oder Witze zu erzählen, und ich vermute, dass all die Fragen und Spekulationen und die Elemente von verzweifeltem schwarzem Humor, die ihr Tod nach sich zog, sie eine Zeitlang köstlich amüsiert hätten.

Doch irgendwann, das weiß ich, wäre sie des Spielchens überdrüssig geworden. Wie ich selbst hätte sie dann nur noch den Wunsch gehabt, das Rätsel gelöst zu sehen. Es war für uns alle höchste Zeit, die grauenhafte Angelegenheit ruhen zu lassen und zu versuchen, sie, so gut wir konnten, zu überwinden.

Kapitel 2

Jeden Frühling findet in meiner Heimatstadt Charleston in South Carolina ein kulturelles Ereignis statt, das als Piccolo oder »klein« Spoleto bekannt ist, nach dem großen italienischen Fest, dem es nachempfunden und nach dem es benannt worden ist. Für die meisten Einheimischen bedeutet das alljährliche Festival einen erfreulichen Zustrom von Touristen und Devisen und eine endlose Reihe von Festen und Vorstellungen. Ich aber erwarte diese zwei Wochen voller Überdruss. Denn während dieser Zeit bietet Palmer Pruitt, mein Chef, Porträtfotos für den Sonderpreis von einem Dollar neunundneunzig an, was einen Massenandrang von schnäppchengeilen Kunden in unserem Fotoatelier zur Folge hat.

Mr. Pruitt ist eine liebe, sanfte, hinreißend irregeleitete Seele von Mensch, der sein Porträtfoto-Sonderangebot als heilige Piccolo-Spoleto-Tradition betrachtet. Als ich einmal versuchte, ihm dies auszureden, war er so verblüfft, als hätte ich vorgeschlagen, den Weihnachtsmann in Rente oder den Osterhasen auf den elektrischen Stuhl zu schicken.

Nachdem ich fast ein Jahrzehnt in Pruitts Fotoatelier gearbeitet habe, ist mir sehr wohl bewusst, dass nicht jeder Mensch leicht zu fotografieren ist. Doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund lockte das jährliche Sonderangebot stets die unerfreulichsten Gesichter und die widerlichsten Charaktere der Stadt an. Natürlich erwarteten sie perfekte Ergebnisse und beanspruchten unverschämt viel Zeit. Viele waren unvergesslich ob ihrer Unausstehlichkeit. Aber selbst die Schlimmsten von ihnen waren ganz entzückend im Vergleich zu meinen Kunden an diesem Morgen.

Seit zwei Stunden übertrafen sich Mrs. Cecelia »Ceecie« Warburton und ihre kleinen Zwillingsmädchen in dem Bestreben, den Rekord in der Anzahl ruinierter Aufnahmen zu brechen. Jedes Mal, wenn ich auf den Auslöser drückte, kniff das eine oder das andere Kleinkind die Augen zusammen, ließ einen Speichelfaden laufen oder fiel auf den kleinen runden Po und heulte. Das temperamentvollere der beiden Zwillingsmädchen, »Miz« Melanie, war kamerascheu wie seinerzeit Sarah Bernhard. »Miz« Ashley litt offenbar an Kleinkind-Narkolepsie. Urplötzlich, ohne Vorwarnung, ließ sie immer mal wieder wie ein erschöpfter Pendler in der U-Bahn den Kopf hängen und döste ein.

Die vergeudeten Filmrollen lagen wie verbrauchte Munition vor meinen Füßen. Gewöhnlich war meine Geduld, wenn ich mit der Kamera arbeitete, nahezu unerschöpflich. Gewöhnlich betrachteten kleine Kinder mich als ihresgleichen und akzeptierten mich als solche. Diese Sitzung allerdings strapazierte meine Nerven aufs Äußerste. Schlimmer noch, ich konnte es mir nicht leisten, »Miz« Warburton, eine selbst ernannte Südstaaten-Schönheit aus der South Bronx, zu verärgern, denn zufällig gehörte ihrem Gatten das Gebäude, das unser Fotoatelier beherbergte. Ceecie war nicht wegen, sondern trotz des Sonderangebots gekommen. In ihrer maßlosen Verdrehtheit hatte sie beschlossen, dass sie an diesem Morgen, heute, jetzt gleich unbedingt ein Geburtstagsfoto von ihren Mädchen machen lassen wollte, obwohl ich dafür meinen mit Terminen vollgestopften Tag neu organisieren musste. Ganz zu schweigen davon, dass sie sich nie die Mühe gemacht hatte, die Fotos abzuholen, die ich vor einem halben Jahr von ihren Zwillingen aufgenommen hatte. Ganz zu schweigen auch davon, dass der Geburtstag der Kinder zwei Monate zurücklag. Mr. Pruitt, der in Kürze seinen Mietvertrag würde erneuern müssen, konnte es sich nicht erlauben, ihre unverschämten Forderungen auszuschlagen.

Ich konnte es auch nicht. Ich brauchte das Geld, und Pruitt war einer der wenigen in der Stadt, der Stellen für Fotografen zu vergeben hatte. Meine eigentliche Begeisterung galt dem Bildjournalismus, dem ich auf freiberuflicher Basis mit geradezu missionarischem Eifer frönte. Seit meinem College-Abschluss hatte ich den Großteil meiner Freizeit und so ziemlich jeden Penny, den ich erübrigen konnte, für die Jagd nach Storys aufgebracht, die mein eigensinniges Interesse weckten.

Seit mein Vater mir zum ersten Mal versuchsweise eine Kamera in die Hand gedrückt hatte, war ich fasziniert. Als ich heranwuchs, schleppte ich meine Ricoh aus zweiter Hand ständig wie eine Art Schutzschild mit mir herum. Denn hinter dem Sucher fand ich Zuflucht und Freiheit, Distanz und Nähe – eine berauschende Möglichkeit, die große, chaotische Welt zu bannen. Fotos hatten die Macht, die Essenz der Wahrheit darzustellen, Dinge in eine scharfe und klare Perspektive zu bringen, und genau das wollte ich unbedingt leisten.

Aber soweit war ich noch nicht. Einige meiner besten Aufnahmen waren veröffentlicht worden, und dreimal hatte ich Aufnahme in der hoch angesehenen jährlichen Foto-Edition von Communication Arts gefunden. Leider kam der Applaus aber nicht für die Miete oder die Rückzahlung des Studiendarlehens auf. Trotz meiner regelmäßigen Vorstellungsgespräche und Bewerbungen hatte ich keinen Job bei einer Zeitung oder einem Hochglanzmagazin ergattern können. Bis mir das gelang, saß ich bei Pruitt fest, redete Hunden und Debütantinnen gut zu und bettelte um ein Lächeln.

Das Lid meines Sucher-Auges begann nervös zu zucken, und dem Finger, der den Auslöser drückte, drohte ein Krampf. Zeit, schwerere Geschütze aufzufahren.

Ich ließ mich auf alle viere nieder und beglückte die Warburton-Zwillinge mit meiner allerbesten Hündchen-Imitation. Ich kläffte und schnüffelte und ballte meine Hände zu Pfoten. Mein dünnes mittelblondes Haar hatte sich aus der Hornspange auf meinem Kopf gelöst, und dank meiner runden Augen und meiner pummelig-kompakten Figur fiel es mir nicht allzu schwer, den Welpen zu mimen. Ich drehte mich um und wackelte mit dem jeansbekleideten Hinterteil. Endlich ertönte hinter meinem Rücken ein entzücktes Glucksen. Ein Blick über die Schulter verriet mir eine Andeutung von Heiterkeit in den grünen Augen der Zwillinge. Sie klatschten in die dicken Händchen und zeigten ihr identisches Zahnlücken-Lächeln.

Ich spielte weiter den Köter und verbarg die Kamera, um Melanie nicht in Angst und Schrecken zu versetzen. Alles, was ich brauchte, war ein einziger vernünftiger Schnappschuss. Bestenfalls würde Miz Warburton ihn, von einem protzigen Rahmen übertönt, in ihrer prunkvollen Charlestoner Villa an die Wand hängen. Wahrscheinlich würde die alte Hexe das Bild nie wieder eines Blickes würdigen, es sei denn, um ihr eigenes nichts sagendes Gesicht im Glas zu bewundern. Wenn ich Glück hatte, würde ich weder Ceecies Quiekstimme hören noch ihr gefriergetrocknetes Gesicht wieder sehen müssen, bevor es Zeit für das nächste dringende Porträtfoto der Zwillinge war.

Langsam holte ich die Kamera vor. Für Porträts benutze ich am liebsten eine Mamiya mittleren Formats wegen des größeren Negativs und dem im Vergleich zur Standard-Reflexkamera mit nur einer Linse schärferen Bildes. Leider ist sie aber auch schwerer und nicht so leicht zu verbergen wie die Canon EOS, die ich für Außenaufnahmen bevorzuge.

Mit einem heimlichen Blick durch den Sucher stellte ich Blende und Verschluss ein. Weiches Licht lag über der Szene. Die Komposition hätte nicht hübscher sein können. Die Kleinen posierten wie pummelige Buchstützen auf dem antiken Kashan-Teppich, den ihre Mutter für die Aufnahme mitgebracht hatte. Sie trugen grüne Samtkleidchen mit gesmoktem Oberteil, weiße Söckchen und schwarze Lederschühchen. Das feine schwarze Haar wurde von grünen Samtschleifen zurückgehalten.

Ich verbarg die Kamera hinter meinem Arm und brachte sie in Anschlag. Als ich gerade im Begriff war, die Linse freizugeben und den Auslöser zu drücken, zerriss ein Schrei den verzauberten Augenblick. »Halt, Stopp!«

Auf hochhackigen limonengrünen Pumps wankte Ceecie auf die Kinder zu. Sie trug ein enganliegendes, mit Zentifolien bedrucktes Seidenkleid. Auf ihrem exakt frisierten, blonden Bob saß wie ein riesiger Kartoffelchip ein breitkrempiger Strohhut. »Komm, Miz Melanie, Schätzchen. Mama kämmt dir eben noch das Haar.« Das letzte Wort bestand beinahe aus drei Silben und konnte Ceecies Bronx-Akzent doch nicht verleugnen.

Melanie krümmte sich zusammen, als ihre Mutter kam. Mit einer Bürste von der Größe eines Paddels fiel Ceecie über den Schädel des Kindes her, als wollte sie ein Pferd striegeln. Das Gesicht des kleinen Mädchens verzog sich zu Falten und lief rot an; die Unterlippe schob sich vor wie die Schublade einer winzigen Registrierkasse.

»Bitte, Mrs. Warburton«, sagte ich. »An ihrem Haar ist nichts auszusetzen.«

»Was erlauben Sie sich?« Ceecie reckte sich zu Überlebensgroße auf, als wäre sie auf die Millionen ihres Gatten gestiegen, um ihre Meinung kundzutun. »Wer sind Sie, dass Sie mir Vorschriften über das Haar meines Babys machen wollen?« Dieses Mal zog sie das Wort »Haar« zu vier Silben auseinander, dass es klang wie indianischer Beschwörungsgesang.

»Bitte. Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten. Ich versuche nur, die Kinder zu fotografieren, mehr nicht. Die Zwillinge sind müde. Wir alle sind erschöpft. Ich wollte nur andeuten, dass wir jetzt endlich das Foto machen sollten.«

Melanies Lippen zitterten, und ihr Gesicht brannte vor Zorn.

Ceecies ebenfalls. »So, andeuten wollten Sie? Nun, Missy, darf ich Sie daran erinnern, dass Sie nichts anzudeuten haben? Wenn Sie es nicht fertigbringen, ein anständiges Fotos von diesen beiden prächtigen kleinen Mädchen zu schießen, sollten Sie sich vielleicht lieber um einen Job bemühen, der Ihnen besser liegt. Wirklich, ich habe nicht übel Lust, Palmer Pruitt in seinem Büro aufzusuchen und ihm diesen Vorschlag gleich jetzt zu unterbreiten.«

Mir lag eine freche Antwort auf der Zunge, aber ich wusste, welchen Preis ich für diese kurzfristige Befriedigung würde zahlen müssen. »Sie haben Recht. Es ist mein Beruf. Geben Sie mir noch ein paar Minuten, dann gelingt mir sicher eine wunderbare Aufnahme von Ihren Zwillingen.«

»Genau das sollten Sie tun.« Ceecie schob streitlustig den Unterkiefer vor und trippelte in den hinteren Teil des Studios. »Und beeilen Sie sich ein bisschen.«

Ich kniete mich vor die Kinder und hoffte auf die Barmherzigkeit der kleinen Majestäten. »Gut, ihr zwei. Ich mache euch einen Vorschlag. Ihr braucht nur eine Sekunde lang zu lächeln, dann dürft ihr mit eurer Mama nach Hause gehen. Nun, was meint ihr?«

Melanies Antwort war das durchdringende Heulen eines Rettungswagens. Ashley stimmte ein und beugte ich vor, um ihre Stirn auf den Teppich zu schlagen. Um das Maß voll zu machen, füllte sie ihre Pampers bis zum Überfließen, und um sie herum auf der unbezahlbaren Antiquität breitete sich ein löwenzahngelber Fleck aus. Ceecie kreischte bei dem Anblick, und alle drei Warburton-Mädchen verwandelten sich in heulende, krebsrote Häufchen Elend.

»Sehen Sie nur, was Sie angerichtet haben!«, wütete Ceecie, als hätte ich persönlich den Teppich beschmutzt. »Das war’s. Mir reicht’s. Wir gehen.« Sie kramte ein kakerlakengroßes Handy aus ihrem Chanel-Täschchen und hielt sich das freie Ohr zu, um die Kakophonie auszuschalten. »Bring den Wagen, Hector, und schick unverzüglich Nanny Rebecca rein, damit sie die Mädchen abholt!«

Sie brach ab und versengte mich mit einem ätzenden Blick. »Das Dumme an Ihnen, Missy, ist, dass Sie sich zu viel herausnehmen.«

Ich hätte liebend gern meine Kamera genommen und mich gewehrt, indem ich ein paar Nahaufnahmen von Ceecies Gassenfratze machte und Abzüge an die Mitglieder der gehobenen Wohlfahrtsverbände Charlestons verteilte.

»Sie sind eine unnütze kleine, unbegabte, sitzen gebliebene Verkäuferin. Was anderes sind Sie nicht, Anna Jameson. Zufällig lasse ich meine Mädchen nur aus dem einen Grund hier fotografieren, weil ich glaube, es könnte den Ruf dieses mickrigen Ladens verbessern. Ich werde mich hüten, noch mal hilfsbereit zu sein.«

Meine Zunge ging mit mir durch. Ich ahmte ihren gekünstelten Akzent nach und schlug zurück. »Sie haben vollkommen Recht, Miz Warburton, Madam. Ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist. Bitte, verzeihen Sie mir. Von jetzt an will ich mich stets darauf besinnen, dass ich weiter nichts als eine unnütze kleine, unbegabte sitzen gebliebene Verkäuferin bin und dem Himmel danke für weichherzige, großmütige Seelen wie Sie, Miz Ceecie. Gott ist mein Zeuge, ich will nie wieder aufsässig sein.«

»Unterstehen Sie sich, mir ironisch zu kommen! Ich warne Sie, das werde ich nicht dulden.«

»Dann gehen Sie doch«, schlug ich vor.

Die Zwillinge kreischten immer noch, als Nanny Rebecca, eine sauertöpfische, grobknochige, wie zu einem Begräbnis gekleidete Frau sie in die Doppelkarre verfrachtete.

Ceecies schrille Stimme übertönte den Lärm. »Was sagen Sie?« Ich dachte an Palmer Pruitt und zügelte mein Temperament. »Nichts. Hören Sie. Es tut mir leid, dass es heute nicht geklappt hat. Kommen Sie doch ein anderes Mal mit den Mädchen wieder.«

»Im Leben nicht, Sie freches Gör. Ich werde nie wieder zulassen, dass Sie meine süßen Babys verstören. Aber mit Palmer Pruitt werde ich ein Wörtchen reden. Ich werde dafür sorgen, dass er Ihren unverschämten Arsch vor die Tür setzt, bevor Sie seinen erbärmlichen Laden völlig ruinieren können. Ansonsten kann mein Mann wohl problemlos einen bedeutend besseren Mieter für diese Räume finden.«

»Hören Sie, ich habe mich vergessen. Sie haben völlig Recht. Es tut mir leid.«

»Das sollte es auch. Und Sie wissen gar nicht, wie leid es Ihnen noch tun wird.«

Sie stapfte aus dem Atelier und stieg in den Fleetwood, der mit laufendem Motor am Straßenrand wartete. Unter ihrem Drachenatem beschlugen die Scheiben, als der Wagen anfuhr.

Ich machte mich auf den Weg zum Büro. Palmer Pruitt hatte ein Recht darauf, aus erster Hand von meinem Fehlschlag zu erfahren.

Ich klopfte an die Tür mit der Aufschrift: »Unbefugten ist der Zutritt verboten«. Mr. Pruitts zittrige Stimme rief eine unverständliche Antwort. Als ich den Kopf zur Tür hineinsteckte, entdeckte ich meinen Chef am Telefon. »Entschuldigung, ich wollte nicht stören.«

Er bedeutete mir einzutreten. »Sie stören nicht. Der Anruf ist ja für Sie, Anna. Ihr Onkel Eli.«

Pruitt, ein schmächtiger, bebrillter Witwer unbestimmten Alters, stand auf und klopfte auf seinen Stuhl. Er knöpfte seine zementfarbene Strickjacke zu und schüttelte die Beine seiner farblosen, ausgebeulten Cordhosen aus. »Setzen Sie sich, Anna. Ich gehe hinaus und lasse Sie in Ruhe telefonieren.«

»Das ist nicht nötig.«

»O bitte, doch. Ich muss sowieso noch in der Dunkelkammer etwas nachschauen.«

»Dann bedanke ich mich. Es dauert nicht lange.«

»Lassen Sie sich Zeit. Da ich Ceecie Warburton kenne, habe ich bis zum späten Nachmittag all Ihre Termine storniert. Wie war’s denn?«

»Genau darüber muss ich mit Ihnen reden.«

»Gern, wann immer Sie wollen.« Sein Gesicht wurde spitz vor freundlicher Sorge. »Ich hoffe, Sie hat es Ihnen nicht allzu schwer gemacht. Man hat’s nicht leicht mit dieser Frau.«

Ich wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. »Hi, Onkel E. Was gibt’s?«

»Was gibt’s bei dir, Süße? Du hörst dich schrecklich an.«

Ich schluckte den bitteren Kloß in meinem Hals hinunter. »Nur ein kleines berufliches Problem.«

»Dann ist es vielleicht an der Zeit, dass du dich veränderst.«

»Ganz eindeutig. Sobald Life mich anfordert, bin ich hier weg.«

»Wie wär’s mir Burlingame Media?«

»Wenn sie mich sehr beknien, würde ich sie vielleicht in Betracht ziehen. Aber ich fürchte, all diese heißen Storys und Pulitzerpreise gehen einem irgendwann auf die Nerven.«

»Davon kannst du mir dann erzählen, wenn du eine Weile dort gearbeitet hast.«

»Lass deine Scherze, Onkel E. Ich habe einen schlimmen Vormittag hinter mir.«

»Ich mach keine Scherze. Ich habe mit Stewart Burlingame über einen Joint-Venture-Papierimport verhandelt. Heute Morgen haben wir uns in meinem Büro getroffen, und ihm sind deine Arbeiten an den Wänden aufgefallen. Er war so beeindruckt, dass er gleich fragte, wie er dich erreichen könnte, um mit dir über deine Mitarbeit in seinem Unternehmen zu reden. Bevor ich ihm deine Nummer gebe, will ich wissen, wie du darüber denkst. Bist du einverstanden?«

»Nein, ich bin fassungslos. Das Beste, was ich bisher von derartigen Unternehmen bekommen habe, waren Abonnement-Angebote. Ich kann’s nicht glauben, Onkel E. Das ist ein Wunder.«

»Moment, Anna. Bevor du völlig abhebst – ich fürchte, die Sache hat einen Haken.«

In der darauffolgenden Stille stellte ich mir seine kräftige Gestalt hinter seinem Schreibtisch vor, das breite, rote Gesicht von Sorgenfalten durchzogen. Ich stellte ihn mir vor, wie er seine Worte mit äußerster Sorgfalt wählte, wie ein gewissenhafter Koch die Früchte am Obststand. Mein Onkel zeichnete sich durch hohe Intelligenz, scharfen Witz, grenzenlose Weisheit und das liebenswerte Aussehen eines zu groß geratenen Elfen aus. Diese Kombination hatte ihm schon gute Dienste in seinem Frachtgeschäft geleistet, das er von einem unwirtschaftlichen Familienunternehmen zu einer ertragreichen internationalen Firma ausgebaut hatte. Und diese Charaktereigenschaften hatten auch zu der Bewältigung seiner erschütternden persönlichen Tragödie beigetragen.

Elis Frau und sein einziger Sohn waren vor fast fünfundzwanzig Jahren ums Leben gekommen, als ihr Wagen während eines Familienurlaubs in Spanien auf eisglatter Fahrbahn außer Kontrolle geriet. Irene und Alan waren in eine Schlucht gestürzt, wo das Auto in Flammen aufging. Eli, der beim Aufprall aus dem Wagen geschleudert wurde, überlebte, wenngleich er vielfache Knochenbrüche erlitt und beinahe ein Jahr in einer Schweizer Reha-Klinik verbringen musste.

Ein leichtes Hinken war die einzige sichtbare Folge seiner unvorstellbaren Qual. Eli nannte es scherzhaft seinen Rückschritt. Meine Eltern hatten sich nach dem Tod meiner Schwester in einen stählernen Kokon der Trauer zurückgezogen, Onkel Eli jedoch fand Mittel und Wege, sich dem Leben wieder zu stellen. Durch ihn lernte ich, dass das überhaupt möglich war.

»Was für einen Haken?«, fragte ich.

»Der Medienkonzern hat seinen Hauptsitz in New York City. Burlingame möchte, dass du dort für ihn arbeitest.«

»New York, um Himmels willen. Warum kann es nicht ein etwas weniger drastischer Ort sein, wie zum Beispiel Sodom oder die erdabgewandte Seite des Monds?«

»Ich weiß ja. Deine Eltern werden, gelinde gesagt, durchdrehen, wenn du nach New York gehst. Nicht wegen dir oder mir, aber so ist es nun mal.«

Ich stöhnte auf. »Und was soll ich jetzt tun?«

»Du sollst dein eigenes Leben leben, Anna«, sagte er sanft.

»Und du findest nicht, dass es schrecklich gemein von mir wäre?«

»Überhaupt nicht. Ehrlich gesagt, angesichts der Tatsache, dass du schon so lange auf eine solche Chance wartest, wäre es eine Sünde, sie nicht wahrzunehmen. Allerdings ... «

»Allerdings, was?«

Ich hörte ihn tief einatmen, Kraft sammeln, um etwas Schwieriges in Worte zu fassen. »New York ist nicht der Feind, Liebes. Ein kranker Mensch hat Julie ermordet. Das könnte überall auf der Welt passieren.«

Es war ein merkwürdiges Gefühl, über das Tabuthema zu reden, vor allem mit einem engen Verwandten. Weil meine Mutter darauf bestand, schlich ich, solange ich denken konnte, wie die Katze um den heißen Brei um die monströse Tatsache des Mords an meiner Schwester herum. Jetzt bot sich mir die Chance, meine Träume zu verwirklichen und mich gleichzeitig den familieneigenen Dämonen zu stellen. Diese Möglichkeit erfüllte mich mit einer beunruhigenden Mischung aus Sehnsucht und Angst.

Mein Onkel hatte Recht. Blinde Angst war der Feind, nicht die Stadt New York.

»Logik und die Überzeugungen meiner Mutter sind allerdings zwei Paar Stiefel.«

Eli lachte leise. »Sie ist eine willensstarke Frau, deine Mutter. Das hat sie vermutlich von ihrer Tochter. Und aus ebendiesem Grund bin ich sicher, dass sie es verkraften wird.«

»Es ist so unglaublich, dass sich in meinem Kopf alles dreht.«

Mein Gaumen war trocken, und mein Herz hämmerte in der Brust, aber das versuchte ich zu ignorieren. Ich wusste, dass ich zugreifen musste, aus Gründen, die über die Karrieremöglichkeiten, die sich mir dadurch boten, hinausgingen. Ich würde nie frei von der Vergangenheit sein, wenn ich ihr nichts ins Angesicht sah.

»Freu dich drauf, Süße. Ich ruf gleich an und bringe die Sache ins Rollen.«

Kapitel 3

Meine Eltern lebten in einem klassischen Einzelhaus an der Wentworth Street. Der Grundriss – ein Zimmer breit, drei Zimmer tief und drei Stockwerke hoch – war dazu angetan, die Steuergesetze im England des siebzehnten Jahrhunderts zu umgehen, denen zu Folge die Besteuerung gemäß der Straßenfront eines Hauses vorgenommen wurde. Frühe Kolonisten hatten diesen Stil importiert, und er wurde zur festen Einrichtung wie so vieles in Charleston. Die Bürger dieser Stadt rühmten sich ihrer angelernten Abneigung gegen jegliche Veränderung. Ein gängiger Witz behauptete, man brauche drei Charlestoner, um eine Glühbirne auszuwechseln: einen, der die Birne einschraubte, und zwei, die herumsaßen und der um so viel besseren alten Birne hinterherjammerten.

Eine säuberliche Reihe von Fächerpalmen warf streifigen Schatten über die saubere, bernsteinfarbene Fassade. Die Läden und das Schnitzwerk waren in Charlestoner Grün gehalten, einem beinahe schwarzen Farbton, der nur in grellem Licht und bei genauestem Hinsehen seine wahre Natur preisgab.

Das Gleiche traf auf dieses Haus zu. Es wies ein fröhliches Äußeres auf, das mir so peinlich vorkam wie eine Lüge, die sich, einmal ausgesprochen, nicht mehr ohne weiteres zurücknehmen ließ.

Einmal, als ich in der siebten Klasse war, erfand ich in dem unsinnigen Versuch, Ansehen und Aufmerksamkeit zu erlangen, einen Freund aus einer anderen Stadt. Ich nannte ihn Paul, nach meinem Lieblings-Beatle, und stattete ihn mit einer exotischen Missionarsfamilie aus, die in der Welt herumreiste. Ich schrieb mir selbst blumige Liebesbriefe von dem geheimnisvollen jungen Verehrer, schrieb unter Qualen mit der linken Hand, um meine Schrift zu verstellen. Als meine Freundinnen nach einem Foto schrien, durchwühlte ich Kisten auf dem Dachboden, bis ich ein annehmbares Foto von meinem Dad in meinem Alter fand. Ich schnitt seine Pfadfindermütze und sein Halstuch ab und stutzte seine Ohren zurecht, die unter seinem Kurzhaarschnitt wie Segel abstanden. Welch eine Erleichterung war es Monate später für mich, meiner besten Freundin die Täuschung einzugestehen und zu erfahren, dass Shelby auf ähnliche Weise ihren aufregenden Bericht über ihre »Entdeckung« durch den Scout einer berühmten Modellagentur fingiert hatte.

So sehr ich meine Eltern auch liebte und bewunderte, so gut und mit seltenen und bemerkenswerten Fähigkeiten gesegnet sie auch waren, niemand konnte ihnen auch nur annähernd so etwas wie Leichtlebigkeit zum Vorwurf machen. Die lockende Plastikhand im Fenster war irreführend, genauso wie die dicke Fußmatte aus Jute, auf der stand: »Herzlich willkommen beim Preisausschuss. Bitte schieben Sie den Scheck unter der Tür durch.« Dieses Haus, diese Menschen waren vielmehrbedingungslos, auf religiöse Weise traurig. Kummer durchzog ihr Leben wie eine giftige Strömung und kontaminierte alles. In diesem Haus konnte man nicht atmen, ohne den bitteren Hauch zu spüren.

Mit sinkendem Mut überquerte ich die seitliche Veranda zur Haustür. Durchs Fenster erspähte ich das Blitzen des Festtagssilbers auf dem Esstisch im Speisezimmer. Meine Mutter hatte die kristallenen Stielgläser und die weißen, mit zierlichen blauen Blumenranken abgesetzten Teller gedeckt. Das Ecru-Leinentischtuch war glattgebügelt. Dazu passende Servietten posierten zu anmutigen Fächern gefaltet um ein Arrangement aus Dahlien und Zinnien aus dem Garten meiner Mutter. Das letzte Mal war der Tisch nach Großtante Lucys Begräbnis im letzten Juli derartig geschmückt gewesen. Das war eine von Berties eher wundersamen kleinen Eigenarten.

Als ich angerufen hatte, um ihnen zu sagen, dass ich etwas mit ihnen zu besprechen hätte, hatte ich mich sorgsam um einen heiteren Tonfall bemüht, der nichts verriet. Doch meine Mutter verfügte über die unheimliche Begabung, meine kunstvollsten Masken und Verstellungen zu durchschauen. Vielleicht hatte der Tod meiner Schwester ihre Fähigkeit, Probleme vorauszusehen, genauso erhöht wie sich bei Blinden der Gehör- oder Geruchssinn schärft. Vor Jahren schon hatte ich für diese Begabung das Wort Momniscience geprägt, die Wahrnehmung der allwissenden, alles sehenden, wachsamen Glucke.

Bertie schob sich durch die Schwingtür aus der Küche, beladen mit einem Tablett mit allen Lieblingsspeisen meiner Kinderzeit: Grillhähnchen, Kartoffelpüree, Biskuits und Bratensoße, selbst gemachtes Apfelmus, gerösteter Mais. Mein Vater folgte ihr, einen Krug Wasser in der einen, Eistee in der anderen Hand. Angesichts dieser Weltuntergangsstimmung drehte sich mir der Magen um.

»Setz dich, Liebes. Alles ist noch schön heiß. Und was wolltest du mit uns besprechen?«, fragte Bertie, während sie die letzte Schüssel auf den Tisch stellte.

»Wollen wir nicht erst essen? Reg dich nicht auf.«

»Leg am besten gleich die Karten auf den Tisch«, beharrte sie. »Niemand tappt gern im Dunkeln. Nicht wahr, Frank?«

Mein Vater zuckte die Schultern, seine Art, in einer häuslichen Debatte Partei zu ergreifen. Pop war ein Mann der wenigen, wohlüberlegten Worte, im Gegensatz zu mir mit meiner unglückseligen Neigung, frei von der Leber weg zu reden.

Auf ein Donnerwetter gefasst, berichtete ich meinen Eltern von Stewart Burlingames bewundernden Äußerungen über meine Arbeit. Ich erklärte ihnen, wie geehrt ich mich fühlte und wie überrascht. »Die Stelle wäre in New York. Ich weiß, dass ihr etwas gegen die Stadt habt, aber ehrlich, es gibt keinen Grund zur Sorge.«

Bertie tupfte sich die zusammengepressten Lippen mit der Serviette ab. Ganz gleich, was geschah, sie hielt stets die einstudierte, ungetrübte Fassade aufrecht. Heute trug sie ein elegantes lavendelfarbenes Seidenkleid und hatte sich ein blasses Tuch mit einem komplizierten Knoten um den Hals gelegt. Ihr zinngraues Haar fiel in ordentlichen Wellen. Halbmondohrringe rahmten ihr Gesicht wie einfache Anführungszeichen, und eine kleine Uhr mit einem goldenen Maschenarmband zierte ihr feingliedriges Handgelenk. Einzig ihre Augen verrieten etwas von ihrem niederschmetternden Kummer. Sie verdunkelten sich wie der Stein eines Stimmungsrings von fedrigem Grau zum drohenden Anthrazit einer Gewitterwolke.

Ihre Stimme blieb melodisch und leicht. »Ich kann sehr gut verstehen, dass das Angebot dir schmeichelt, Liebes. Aber wenn du dir die Zeit nimmst, alles genau zu überlegen, wirst du bestimmt zu dem Schluss kommen, dass es unvernünftig wäre.« Zusammen mit dem Kartoffelpüree reichte sie mir diese Stellungnahme über den Tisch.

»Wieso?«

»Aus tausenden von Gründen. Deine Familie lebt hier. Deine Freunde, dein Zuhause sind hier.« Mit einer Handbewegung umfasste sie das Relevante ihres Universums: dieses Haus, diese Stadt, alles, was tröstlich und vertraut und vermeintlich sicher war.

Ich schob die unberührten Speisen auf meinem Teller umher. »Die Chance, für Burlingame zu arbeiten, kann ich mir nicht entgehen lassen, Mom. Etwas in der Art wünsche ich mir schon so lange. Das weißt du.«

»Fotografieren ist ja in Ordnung, Anna. Ich verstehe nur einfach nicht, warum du das nicht hier tun kannst.« Sie nahm einen Hähnchenflügel von der Platte und knickte ihn so nachdrücklich, dass ich vor Mitgefühl zusammenzuckte.

»Hier gibt’s keine Arbeit.«

»Wie nennst du dann deinen Job bei Pruitt?«

»Genau so: einen Job. Abgeleistete Zeit. Sicherung des Lebensunterhalts.«

»Genau darum geht es ja, wenn man arbeitet, Liebes. Wenn es nur Spaß und Aufregung sein sollte, würde man es anders nennen. Nicht wahr, Frank?«

Mein Vater strich Himbeermarmelade auf ein Biskuit und stopfte sich den Mund voll. »Das Essen ist köstlich, Bert. Du hast dich wirklich selbst übertroffen.«

Sie schoss einen mörderischen Blick auf ihn ab und fixierte dann mich auf ihre kalte, entschlossene Art. »Letzte Woche, als ich zum Bridge war, habe ich Livvy Barndollars älteste Tochter wieder gesehen. Das arme Ding hat sechs Monate in New York verbracht und konnte gar nicht schnell genug wieder nach Hause kommen. Ich habe sie kaum wieder erkannt, so dünn und hohlwangig sah sie aus.«

»Kate Barndollar war schon immer dünn und hohlwangig, Mom. Ihr Spitzname in der Schule war Morticia.«

»Sie war nichts dergleichen«, widersprach Bertie. »Das Leben in dieser grauenhaften Stadt hat sie beinahe umgebracht. Livvy sagt, man kann inzwischen kaum noch zwei Schritte gehen, ohne über einen Kriminellen oder einen Verrückten zu stolpern. Die arme Kate konnte wegen des Geschreis und der Sirenen keine Nacht schlafen. Sie fühlte sich so bedroht, dass sie immer ihr Pfefferspray bei sich trug. Und wenn es dunkel war, ging sie überhaupt nicht mehr raus.«

Ich häufte noch mehr Kartoffelpüree auf meinen Teller und baute eine weiche, matschige Mauer. »Klingt, als gäbe es dort jede Menge faszinierende Motive zu fotografieren.«

Bertie schnaubte empört. »Ich werde dich wohl nie verstehen, Anna, wirklich nicht. Denkst du denn überhaupt nicht an deine Sicherheit?«

»Aber natürlich. Ich liebe mich selbst sehr. Versuch dir keine Sorgen zu machen, Mom, bitte. Ich verspreche dir, mir wird schon nichts passieren.«

»Das kannst du nicht versprechen. Einige Dinge entziehen sich deiner Kontrolle. Wirklich, als wäre deine Reise in den mexikanischen Busch nicht schon schlimm genug gewesen.«

»Ich war in Mexico City, Mom. Das Einzige, was dort an den Busch erinnerte, waren die Kübelpflanzen in der Hotel-Lobby.«

»Und als du damals unbedingt diese Verrückten draußen in Idaho fotografieren musstest? Die hatten Waffen, um Gottes willen. Bomben.«

»Sie hatten nichts gegen mich. Die schlimmste Bedrohung dort war das scheußliche Essen. Der Ort war die Dosenfleischzentrale des Universums. Alles im einzigen Restaurant der Stadt bestand aus Dosenfleisch oder Dosenfleischersatz. Und das ist kein Witz.«

»Aber El Salvador.«

Meine Wangen glühten. »Darüber haben wir schon tausendmal gesprochen. Rick Marks war ein Freund von mir. Das politische Chaos, in das er hineingeriet, war schon Jahre vorüber, als wir fuhren. Außerdem habe ich lediglich Aufnahmen gemacht, damit die Familie versuchen konnte, zu dokumentieren, was ihm dort zugestoßen ist. Und du tust so, als hätte ich mich dort den Guerillas angeschlossen.«

Sie griff nach dem silbernen Fleischmesser und schnitt mit einem brutalen Streich einen Hähnchenschenkel ab.

Hastig brachte ich den Rest hinter mich. »Am dreiundzwanzigsten habe ich einen Vorstellungstermin bei Burlingame. Ich habe im Geschäft gekündigt und meine Wohnung aufgegeben. Nächste Woche fliege ich nach New York. Shelby hat mich eingeladen, bei ihr zu bleiben, bis ich eine Wohnung gefunden habe.« Berties Augen trübten sich schiefergrau. »Warum hast du behauptet, du wolltest mit uns darüber reden, wenn es doch längst beschlossene Sache ist?«

»Ich wollte nicht darüber reden. Ich wollte euch über meine Pläne informieren. Diese Sache kann ich mir nicht entgehen lassen, Mom. Bitte, versuch das zu verstehen.«

»Ich verstehe sehr gut. Du machst einfach, was du willst. Was wir davon halten, interessiert dich nicht im Geringsten.«

»Das stimmt nicht.« Mir fehlten die Worte, um zu erklären, wie wenig das stimmte. Trotz meiner unheimlichen Begabung, meine Mutter zu enttäuschen, dürstete ich schmerzhaft nach ihrer Anerkennung.

Sie verzog nachdenklich das Gesicht, dann hellte ihre Miene sich auf. »Ich habe eine großartige Idee. Ich möchte wetten, wenn du zur Post and Courier gehst und ihnen sagst, dass du ein Angebot von Burlingame hast, dann reißen sie sich ein Bein aus, um dir einen Posten hier in Charleston zu geben.«

»Gartenpartys. Wohltätigkeitsveranstaltungen. Schönheitsköniginnen. Ich weiß nicht, ob ich so viel Aufregung ertragen könnte.«

»Soll das heißen, dass solche Dinge nichts taugen?«

»Für mich taugen sie nichts. Ich versuche schon seit Jahren, eine Stelle in einem seriösen Verlag zu bekommen, seriöse Fotos zu machen. Eine solche Chance kann ich mir einfach nicht entgehen lassen.«

Mein Vater blickte stirnrunzelnd auf seine Uhr und stand auf. »Ich verlasse euch nur ungern, meine Schönen, aber ich habe um zwei einen Termin in der Stadt.«

»Schon gut.« Ich erhob mich, um mich warm und herzlich von ihm umarmen zu lassen.

Er wich etwas zurück und strich mir die dünnen Haarsträhnen aus der Stirn. Sein trauriger Hundeblick traf mich wie ein Schlag in den Magen. »Du wirst uns fehlen, Annie, mein Mädchen.«

»New York ist ja nicht aus der Welt, Pop. Wir werden uns oft sehen.«

Er räusperte sich und drehte sich rasch um. Die Fliegengittertür fiel kreischend zu, als er, die Hände tief in die Taschen geschoben, über die Veranda trottete.

Ich folgte meiner Mutter in die Küche. Mit heftigen, ärgerlichen Bewegungen riss sie Stücke der Plastikfolie vom Wandhalter und wickelte die Essensreste ein. Sie kratzte die Teller ab und schrubbte das Porzellan, bis es sich quietschend ergab.

»Kann ich helfen?«, fragte ich vorsichtig.

»Nicht nötig. Ich räume hier noch schnell auf, dann kannst du mich, sofern es nicht all deinen großen, bedeutsamen Plänen in die Quere kommt, bis zum Geschäft mitnehmen. Ich muss mich beschäftigen, damit ich nicht daran denken muss.«

Meine Mutter fuhr nicht Auto. Nach dem Tod meiner Schwester hatten meine Eltern sich beide gewisse Einschränkungen auferlegt. Bertie verzichtete auf ihren Führerschein, hörte auf, sich die Haare zu färben und kündigte ihrer Putzhilfe. Mein Vater gab das Fotografieren auf, seine lebenslängliche Leidenschaft, die er mir vererbt hatte. Traurigerweise war das letzte Foto, das er je gemacht hatte, ausgerechnet das, das monatelang landesweit in der Presse unter schreienden Schlagzeilen über den ungelösten Mord an meiner Schwester erschien. Es wurde gleich nach meiner Geburtstagsfeier aufgenommen. Julie posierte, während Pop die letzten Fotos der Filmrolle schoss. Sein geübtes Auge sah eine lächelnde kleine Schönheit mit vom Feiern geröteten Wangen, großen blauen Augen und sonnengebleichten Ringellöckchen, schon fast das Engelchen, zu dem sie dann wurde.

Ich war alles andere als ein Engelchen. Meine Mutter pflegte mich als kleines Mädchen als eine gehörige Hand voll zu titulieren, und ich weiß, dass ich in ihren Augen immer das starrköpfige, eigensinnige, anstrengende Kind geblieben bin. Ich erkannte ihre niederschmetternde Enttäuschung daran, wie sie die Zähne zusammenbiss und die Lippen fest wie eine Tupperdose verschloss.

»Lass das doch, Mom. Bitte. Dadurch, dass du wütend auf mich bist, löst du das Problem auch nicht.«

Bertie spritzte erstickende Ajax-Dämpfe in die Spüle und ließ ihren Frust am Becken aus.

»Wer sagt, dass ich wütend bin?« Mit dem Sprühschlauch des Wasserhahns spülte sie die Schüsseln aus, als gälte es, einen Aufstand niederzuwerfen. Dann nickte sie energisch und faltete das Geschirrtuch. »Ich geh nach oben und hol meine Tasche.«

»Ich hole sie dir.«

»Lass nur.«

»Ich will aber, Mom. Bitte hör doch auf.«

Der Flur im Obergeschoss war kühl und in sich geschlossen wie eine Höhle. Mein altes Zimmer war das erste auf der rechten Seite. An der Tür hielt ich inne, um einen Blick auf die Souvenirs meiner wirren Jugendzeit zu werfen: Poster von Guns ’n’ Roses, Papier-Pompoms, Andenken an Schulfeste. Überall hingen Fotos, die ich im Lauf der Jahre gemacht hatte. Gestellte Familienporträts, ungelenke Schnappschüsse, Merkwürdigkeiten, die mein suchendes Auge auf sich gezogen hatten.

Das nächste Zimmer rechts war das meiner Schwester. Es hatte den Ehrenplatz neben dem Schlafzimmer inne. Tür und Fensterläden war immer verschlossen, und der Raum diente als nagende Erinnerung, wie ein Granatsplitter, der zu nahe am Herzen sitzt, um gefahrlos entfernt werden zu können.

Geschwisterneid war schon unter normalen Bedingungen schwer genug, doch Julie hatte mir gegenüber einen unmöglich auszuräumenden Vorteil. Wie gern hätte ich eine ganz gewöhnlich sterbliche Schwester gehabt, eine, die Pickel und PMS und schlechte Noten bekam. Wie hatte ich mich danach gesehnt, die Kleider meiner großen Schwester ausborgen zu können, ihre Geheimnisse zu verraten und gemein über sie zu reden, wenn sie sich danebenbenommen hatte. Aber »Jewel« war jenseits von schlechtem Benehmen, unberührbar, in alle Ewigkeit perfekt. Kurz nach dem Mord flohen meine Eltern aus New York nach Charleston, wo mein Onkel Eli sich mit seiner Frau Irene niedergelassen hatte. Meine Eltern zogen fort, um ihre Bekanntheit und den Rest des Albtraums hinter sich zu lassen. Tante Irenes Familie hatte feste Wurzeln in Charleston und nützliche Beziehungen. Sie verhalfen meinem Vater, dem der Wille zur Eröffnung einer neuen Arztpraxis fehlte, zu einem guten Job als Berater in einer pharmazeutischen Firma. Sie besorgten uns dieses Haus und halfen meiner Mutter, ihr Geschäft zu etablieren.

Meine Eltern hatten hier die Chance eines neuen Anfangs, aber sie waren nicht fähig oder nicht willens gewesen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Schon gleich zu Anfang hatten sie gelobt, Julies Sachen aufzubewahren, bis ihr Mörder seiner gerechten Strafe zugeführt worden war. Und auch wenn das bis in alle Ewigkeit dauern sollte, was offenbar tatsächlich der Fall war, waren sie entschlossen, ihr Gelöbnis zu halten.

Das Zimmer meiner Schwester in diesem Haus war eine genaue Replik ihres Zimmers in New York. Das dortige Haus war vor zwei Jahren abgerissen worden, hatte einem gewaltigen Hochhaus Platz gemacht. Doch hier war der Schrein unangetastet. Hier waren dasselbe Messingbett und die weiße Rattantruhe, dieselbe roséfarbene Bettdecke, die gleiche geblümte Tapete. Dieselben Porzellanpuppen und zerrupften Teddys saßen auf der Fensterbank. In den Regalen standen ihre vergilbenden Bücher und antiken Spiele. Dreißig Jahre alte Partykleidchen hingen als Staubfänger im Schrank, und uralte Spielkleider füllten die Schublade der Kommode. Ein Paar kleine rote Turnschuhe mit regenbogenfarbenen Schnürsenkeln lagen über Kreuz neben dem Bett, genau wie in der Mordnacht. Selbst das Wasserglas, aus dem meine Schwester in jener Nacht getrunken hatte, stand noch auf dem Nachttisch.

Einmal, vor vielen Jahren, hatte ich mir heimlich den Schlüssel aus der Wäscheschublade meiner Mutter geholt, als meine Eltern abends ausgegangen waren. Ich schlich in Julies Zimmer und legte die Lippen an den Rand des Glases, strich mit der Zunge um den kühlen, glatten Rand herum und suchte nach einer Spur von meiner Schwester. Ich war gefasst auf den Geschmack ihrer Spucke oder den leisen Geruch ihres Atems, scharf und moderig vor Alter, aber ich konnte nichts entdecken. Mir fiel ein, dass meine Mutter das Glas bestimmt tausendmal abgewaschen hatte. Trotzdem fühlte ich mich noch wochenlang schuldig und beschämt, so als hätte ich ein unverzeihliches Sakrileg begangen.

Ein blassgelber Schein drang unter der Tür hervor. Noch dreißig Jahre nach dem Mord strahlte das Schneewittchen-Nachtlicht weiter. Alle drei Monate wechselte meine Mutter die Glühbirne aus, so dass sie niemals durchbrennen konnte und den empfindlichen Geist meiner Schwester der Dunkelheit aussetzte. Jeden Freitagnachmittag schloss Bertie sich für eine Stunde in diesem Zimmer ein, um Staub zu saugen und zu putzen und alles wieder in die richtige Ordnung zu bringen. Wenn ich mein Ohr an die Tür presste und das Dröhnen des Staubsaugers nicht beachtete, konnte ich sie Julies Lieblingslied singen hören.

Solange ich mich zurückerinnern kann, habe ich gebetet, dass der Mörder gefangen werden möge. Wer immer es getan hatte, würde doch sicherlich eines Tages gestehen oder einen Fehler begehen, und dann konnten meine Eltern dieses Zimmer in ein Büro oder ein Gästezimmer oder ein Atelier umwandeln – alles, was sie wollten, wenn nur dieser grausige Schrein verschwände. Als Kind habe ich wie unter Zwang die Morgenzeitung angeschaut, in der Überzeugung, dass die nächste Sensationsmeldung die Aufklärung des Mords an meiner Schwester bringen musste. Jahrelang hegte ich die heimliche Vorstellung, dass ich, wenn ich nur hart und ausdauernd genug arbeitete, das Rätsel selbst würde lösen können. Meine Eltern wissen nichts davon. Sie würden es nie im Leben verstehen.

Der erste Versuch, als ich ungefähr dreizehn war, begann wie ein Wutausbruch, wie eine Art Rache an einem Rüpel, der endgültig eine unantastbare Grenze überschritten hat. Doch es wuchs sich schnell zur Besessenheit aus. Jede freie Minute verbrachte ich in der Bibliothek und las alles, was ich über den »Dornröschen-Mord«, wie der Mord an meiner Schwester genannt wurde, finden konnte.

Ich vergaß meine Freunde und vernachlässigte die Schule und wurde so blass und grüblerisch, dass meine Mutter mich zum gründlichen Durchchecken zum Kinderarzt schleifte, obwohl seit dem letzten Besuch erst vier Monate vergangen waren.

Als er eine körperliche Krankheit ausschließen konnte, riet Dr. Gotthelf meinen Eltern, mit mir zu einem Kinderpsychologen zu gehen, zu einem freundlichen weißhaarigen Mann mit Namen Dr. Eiseman. Ein paar Monate lang spielten wir einmal die Woche Dame, was die nicht zu benennende seelische Verletzung angeblich irgendwie heilen sollte. Ich weiß noch, dass ich streng darauf achtete, meine Ängste und Gefühle für mich zu behalten. Alles, was Dr. Eiseman in diesen Monaten über mich erfahren haben kann, war, dass ich gern mit unter den Po gezogenen Beinen saß, dass ich lieber die roten Steine statt der schwarzen hatte und mich strikt weigerte, nach rückwärts zu ziehen. Wir haben nie über tote Schwestern oder ungelöste Mordfälle oder Obsessionen geredet, die dazu führten, dass ein Mensch in Mathe zu versagen drohte. Aber irgendwie ließ meine vollkommene Hingabe an dieses Thema langsam nach.

In einen so bedauerlichen Zustand bin ich nicht wieder verfallen. Doch der Mord an meiner Schwester ist in meinem Bewusstsein immer nahe an der Oberfläche. Manchmal stellt sich mitten in der Nacht eine uralte Frage und lässt mich nicht wieder los. Warum haben die Bullen den Hauswart, meinen Hauptverdächtigen, gehen lassen? Warum haben sie den Verrückten, der Julie so erschreckt hatte, als sie am Mordtag aus dem Schulbus stieg, nicht aufgespürt und verhört? Und was war mit dem Obdachlosen, der sich ein paar Tage zuvor vor einigen kleinen Mädchen auf einem nahegelegenen Schulhof entblößt hatte? War er in der Nacht, als meine Schwester ermordet wurde, noch in Polizeigewahrsam?

In den Augen meiner Mutter war das Schlimmste das Wissen, dass der Täter immer noch auf freiem Fuß war, dass praktisch jeder in Frage kam, der lächelnde Kassierer in der Pizzeria ein Stück die Straße runter, Greg, der onkelhafte Türsteher, oder Lenny, der riesenhafte Briefträger. Der Mörder konnte ein Freund oder ein Fremder sein, ein zufälliger Angreifer oder ein ausgefuchster Typ, der meine Schwester monatelang beobachtet und den Mord von langer Hand geplant hatte. Man konnte niemandem mehr trauen, jedenfalls nicht vorbehaltlos.

Für mich war das Schlimmste das Geheimnis, das ich tief in meinem Inneren verbarg und niemandem offenbarte. So irrational es auch sein mag, ich habe mich immer verantwortlich für den Tod meiner Schwester gefühlt. Ich habe versucht, dies unter dem schlechten Gewissen des Überlebenden abzuhaken oder unter einer anderen verfügbaren Entschuldigung. Aber Worte sind schlimmer als nutzlos – sie wirken, als wollte man einen brennenden Fernseher mit Wasser löschen.

In einem meiner geistigen Bilder von jener Nacht balanciere ich barfuß über ein hartes, kaltes Rohr. Julie ist mir mit verbundenen Augen unwissentlich in die Gefahr gefolgt.

Ich krümme die Zehen in meiner Anstrengung, die Balance zu halten, und meine Füße verkrampfen sich, als würde jemand sie grausam zusammenpressen. Lähmendes Entsetzen folgt mir. Ich spüre seine Hitze im Nacken und im schmerzhaften Flattern meines Herzens. Durch das Rauschen in meinen Ohren hindurch höre ich meine eigenen erstickten Schreie. Es ist zwingend, dass ich stur nach vorn sehe. Ein Blinzeln, eine einzige kleine Ablenkung, und wir könnten beide ins Nichts stürzen.

Ich mache noch einen Schritt. Noch einen. Wir nähern uns dem Ende des Rohrs, der Sicherheit. Da höre ich die Stimme meiner Schwester.

Was machst du da eigentlich, Annie Fanny? Du solltest doch im Bett sein.

Eine Sekunde lang vergesse ich mich. Nenn mich nicht so. Ich heiße nicht Annie Fanny, sondern Anna Lee.

Anna Banana. Annie Fanny.

Hör auf!

Ich stolpere. Meine Arme kreisen wie Windmühlenflügel, suchen Halt in der unendlichen, leeren Luft. Irgendwie fange ich mich wieder. Aber als ich mich umschaue, ist meine Schwester fort.

Ich begreife, dass ich selbst ihr Verschwinden herbeigeführt habe, und ich weiß mit erschreckender Gewissheit, dass dieser Trick nicht rückgängig zu machen ist.

Kapitel 4

Meine Mutter brach ihr brütendes Schweigen, als ich vor Berties Brautausstattungen an den Straßenrand fuhr. »Gestern ist eine große Lieferung für die Wilson-Hochzeit eingetroffen. Wenn du noch ein paar Minuten Zeit hast, könnte ich deine Hilfe beim Auspacken gut gebrauchen.«

»Klar.«

»Ich frage nicht gern. Aber ich habe Probleme mit dem Rücken.«

»Ich helfe gern, Mom. Wirklich. Es ist schon gut.«

Als kleines Mädchen war ich glücklich gewesen, wenn ich den Sonnabend im Geschäft meiner Mutter an der King Street verbringen durfte. War ich außergewöhnlich brav gewesen, was selten vorkam, oder wenn mein Vater keine Zeit hatte und sich kein Babysitter auftreiben ließ, was zum Glück sehr oft der Fall war, zog meine Mutter mich fein an, bläute mir eine lange Liste von Regeln und Warnungen ein und nahm mich mit.

Während Bertie nach allen Regeln der Kunst diplomatische Verkaufsgespräche führte, kauerte ich unter den Gewändern aus peau de soie und Seide und träumte. An Sommertagen, wenn die Luft schwer wie heißfeuchte Handtücher über mir lag, stellte ich mir vor, die duftigen weißen Röcke wären große Berge frisch gefallenen Schnees. In der trüben Öde des Winters beschwor ich Möwen herauf, die mit weit gespannten Flügeln über einem sonnendurchglühten Strand ihre Kreise zogen. Richtige Fotos im Laden zu schießen, war mir verboten, aber die besten Schnappschüsse speicherte ich in meinem Kopf. Meine Fantasie transformierte die Brautkleider im Handumdrehen in wohlmeinende Geister oder schwebende Engel. Schlagsahne. Dicke brütende Vögel. Wolken.

Damals, bevor ich in den Augen meiner Mutter zu einer potenziellen Kundin geworden war, liebte ich alles an diesem Ort. Berties Verkäuferinnenstimme schien über magische Kräfte zu verfügen, ebenso ihr Talent, die Braut und ihre Jungfern mit den perfekten Kostümen für die Sternstunde auszustatten.

Sobald die Glocke anschlug, strich meine Mutter ihr Kleid glatt und eilte zur Tür, um die Kundin zu begrüßen. Etwa zehn Minuten lang nahmen sie dann in den mit geblümtem Chintz bezogenen Sesseln im Hinterzimmer des Ladens Platz. Dort tranken sie den hellbraunen Lieblingstee meiner Mutter oder frisch gepressten Saft und plauderten über die Hochzeitspläne.

Bertie lauschte hingerissen, gurrte verzückt, als hätte sie noch nie zuvor von etwas so Elegantem und Originellem gehört. Hundert, vielleicht sogar tausendmal hatte sie sich schon mit unverminderter Leidenschaft für die Idee einer sechsstöckigen Torte mit Rosenknospen aus Butterkrem oder eines mit rosa Champagnerpunsch gefüllten Brunnens begeistert. Niemand hätte sich vorstellen können, dass sie die ganze Zeit über komplizierte, beinahe akrobatische Rechenübungen anstellte, basierend auf einer präzisen Analyse der verschiedenen Interaktionsarten von menschlichen Körpern und dem physikalischen Universum.

»Nun denn«, sagte Bertie dann und klopfte sich zur Betonung auf die Schenkel. »Lassen Sie uns ein paar Kleider anprobieren, ja?«

Sie pflückte mehrere duftige Gebilde von den Stangen und führte die Braut zum Umkleideraum, einem quadratischen pfirsichfarbenen Raum mit puderrosa Teppichboden und schmeichelnden Lichtverhältnissen. Dann spähte ich durch die Ritze zwischen Tür und Rahmen und schoss eingebildete Momentaufnahmen, während meine Mutter den Kleiderstoff behutsam bauschte und rüschte und über der Braut in spe drapierte.

Augenblicke später verließ jedes Mädchen völlig verändert den Umkleideraum. Die grauen Mäuschen standen aufrecht, so dass ihre Proportionen besser stimmten. Kleine Mädchen schienen sich zu strecken, lang aufgeschossene wirkten zierlich, und selbst makellose Schönheiten wurden noch schöner. Übergroße Busen schrumpften zu sanften Hügeln, und Oberkörpern, so eben wie Landebahnen, wurden Kurven entlockt. Spuren von fortgeschrittenem Alter schwanden, und Schwangerschaftsbäuchlein gingen unter schäumenden Wellen unter wie winzige Schifflein auf hoher See.

Die Überredungs- und Beobachtungskünste meiner Mutter waren seit eh und je Ehrfurcht gebietend. Ich allerdings wollte nicht ihr Objekt sein, schon gar nicht jetzt.

Mit energischen Bewegungen schloss sie die Ladentür auf und drehte das Schild um, so dass von draußen »Geöffnet« zu lesen war. Als wir eintraten, klimperte zur Begrüßung die automatische Türglocke. Bertie öffnete die schmalen Jalousien, ordnete noch dies und das an der Fensterdekoration und blätterte die eingegangene Post durch.

Ich schaute mich nach dem Stapel Kartons um. »Wo ist denn die Lieferung?«

»Die kann warten. Setz dich einen Augenblick zu mir, Anna. Wir haben etwas zu besprechen.«

Widerwillig folgte ich ihr zu den geblümten Sesseln. Ich machte mich auf etwas wie einen Einbruch in den Verkaufszahlen gefasst, jedenfalls ganz gewiss auf etwas Niederschmetterndes.

Bertie setzte sich mir gegenüber und strich ihren lavendelfarbenen Rock glatt. »Es hat mit Kevin zu tun, stimmt’s, Liebling? Dass du nach solch einem Vorfall weglaufen willst, ist völlig normal. Eine gelöste Verlobung ist nun mal eine schreckliche Enttäuschung. Glaub mir, ich verstehe dich. Ich weiß nicht, ob ich dir das schon mal erzählt haben, aber dein Vater und ich hatten ein paar Wochen vor unserer Hochzeit auch mal Streit. Ich weiß nicht mehr, worum es ging, aber zu jener Zeit war ich schlicht und einfach am Boden zerstört. Ich weiß noch, dass ich meinen Eltern mitteilte, es wäre vorbei, sie sollten die Hochzeit absagen und die Geschenke zurückschicken.«

»Es hat nicht das Geringste mit Kevin zu tun.«

»Ihr habt auch vorher schon gestritten, Anna. Ihr küsst euch und versöhnt euch wieder, wie immer. Keine Angst.«

»Hör mir gut zu, Mom. Kevin ist Vergangenheit. Und selbst wenn es nicht so wäre, würde ich diese Stelle trotzdem annehmen.«

»Natürlich, Liebes. Natürlich würdest du das tun.«

»Bitte versuch doch zu verstehen, wie wichtig mir diese Sache ist. Davon träume ich schon, solange ich denken kann.«

Ihr Blick wurde weicher und wanderte zu den Brautkleidern. Ich stellte mir vor, dass sie eine herabgezogene Taille und lange schmale Ärmel, einen bauschigen Rock und eine endlose Schleppe für mich erwog. Ich hörte ihre innere Rechenmaschine rattern: Etwas, das streckt, die Taille betont und den gut gepolsterten Po kaschiert. Manchmal glaube ich, dass meine Mutter schon für ein Hochzeitskleid Maß genommen hat, als ich noch in ihrem Bauch war.

»Unser Gespräch hat überhaupt keinen Sinn, wenn du nicht zuhören willst, Mom.«

Bertie merkte auf, als hätte ich ihr einen Klaps gegeben. »Also wirklich. Warum bist du so böse? Ich biete dir doch nur meine Unterstützung an.«

»Dann unterstütz mich bei dem, was ich vorhabe.«

»Tut mir leid, Anna. Das kann ich nicht.« Sie richtete die Schleife ihres Halstuchs und strich sich übers Haar. Als ihre grauen Augen mich erneut fixierten, waren sie wie polierter Stahl.

»Warum nicht?«

»Ich weiß nicht, ob du dich an meine Mutter erinnerst. Du warst noch ziemlich klein, als sie starb.«

Ein trübes Bild stieg in mir auf. »Ein bisschen. Ich weiß noch, dass sie nach Medizin roch und immer ein zerknülltes Taschentuch im Ärmel trug. Und dass sie immerzu schniefte.« Vor meinem inneren Auge sah ich die krumme Nase der alten Frau, die mäuseähnlich zwischen Neugier und Abscheu zuckte.