Thornwood - Judith Kelman - E-Book
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Thornwood E-Book

Judith Kelman

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Beschreibung

Ein Haus voll dunkler Korridore – und alter Geheimnisse: Der packende Thriller »Thornwood« von Judith Kelman jetzt als eBook bei dotbooks. Hier lauert das Böse ... Nur dunkle Erinnerungen verbindet Emily mit dem alten Familiensitz Thornwood, wo sie als Kind auf tragische Weise ihre Mutter verlor – und ihr Vater vor Trauer wahnsinnig wurde. Als sie nach dessen Tod mit ihren drei Kindern dorthin zurückkehrt, will sie deshalb so schnell wie möglich den Nachlass regeln, um die Vergangenheit ein für allemal hinter sich zu lassen. Doch schon bald passieren ihren Söhnen schreckliche Dinge – und nur ihre Adoptivtochter Rachel kommt als Schuldige infrage. Es scheint fast, als würde sich die düstere Geschichte von Thornwood wiederholen ... Wie weit muss Emily gehen, um ihre Kinder zu beschützen? »Rasant, spannend und höchst kurzweilig!« Dean Koontz Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Thornwood« von Judith Kelman ist ein fesselnder Thriller für Fans von V. C. Andrews und Harlan Coben. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 448

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Über dieses Buch:

Hier lauert das Böse ... Nur dunkle Erinnerungen verbindet Emily mit dem alten Familiensitz Thornwood, wo sie als Kind auf tragische Weise ihre Mutter verlor – und ihr Vater vor Trauer wahnsinnig wurde. Als sie nach dessen Tod mit ihren drei Kindern dorthin zurückkehrt, will sie deshalb so schnell wie möglich den Nachlass regeln, um die Vergangenheit ein für allemal hinter sich zu lassen. Doch schon bald passieren ihren Söhnen schreckliche Dinge – und nur ihre Adoptivtochter Rachel kommt als Schuldige infrage. Es scheint fast, als würde sich die düstere Geschichte von Thornwood wiederholen ... Wie weit muss Emily gehen, um ihre Kinder zu beschützen?

Über die Autorin:

Mit mehr als zwei Millionen verkauften Exemplaren ihrer Bücher ist Judith Kelman eine Meisterin der psychologischen Spannung. Sie wurde für ihren Thriller »Fürchte dich vor mir« mit dem Mary Higgins Clark Award ausgezeichnet und war Vorsitzende der Mystery Writers of America. Sie lebt in New York City.

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre Thriller um Rechtsanwältin Sarah Spooner mit den Bänden »Wo das Dunkel herrscht« und »Wenn die Unschuld stirbt« sowie die Standalone-Thriller »House on the Hill«, »Schrei, wenn du kannst« und »The Black Widow«.

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eBook-Neuausgabe Juni 2024

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1988 unter dem Originaltitel »While Angels Sleep« bei The Berkley Publishing Group, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1990 unter dem Titel »Wenn Engel schlafen« im Wilhelm Goldmann Verlag.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1988 by Judith Kelman

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1990 by Wilhelm Goldmann Verlag, München

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Artazum, Gilles Rivest, Ihnatovich Marya, Nokuro

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-98952-221-3

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Judith Kelman

Thornwood

Thriller

Aus dem Amerikanischen vom Kollektiv Druck-Reif

dotbooks.

Für Flora und Georgezu ihrem fünfzigsten Geburtstag

Kapitel 1

Man nannte ihn den Galgenbaum. Eine etwas schwülstige Bezeichnung für einen unförmigen, alten Sumpfahorn mit knorrigen, dicken Ästen, dessen Rinde durch das jahrzehntelange Wüten von Baumkrankheiten trocken und rissig geworden war. Er stand in all seinem sagenumwobenen Glanz an der Zufahrt der Thornwood-Künstlerkolonie, die mein Vater gegründet und über dreißig Jahre geleitet hatte – bis zu seinem Tod im letzten Frühjahr.

Als ich an dem Baum vorbeifuhr, überfiel mich plötzlich wieder diese Beklommenheit, die mir sein Anblick früher immer eingeflößt hatte. Ich erinnerte mich an die schauerliche Legende, die sich um diesen Baum rankte. Er habe magische Kräfte, hatten mir die älteren Kinder heimtückisch zugeflüstert, um sich dann an meiner Angst zu weiden. Wenn man ihm zu nahekäme, dann könne es passieren, daß man seinen Zorn wecke. Die entsetzlichen Folgen könnte man einem zartfühlenden, unschuldigen kleinen Mädchen wie mir überhaupt nicht beschreiben. Schreckliche Dinge hätten sich schon wegen dieses Baumes ereignet. An seinem Stamm könne man sogar einen Blutfleck erkennen, der die Umrisse eines menschlichen Körpers habe. Man müsse nur genau hinsehen, dann würde man ihn schon entdecken.

Ich sei noch zu klein, um die ganze Wahrheit zu erfahren, sagten sie. Eines Tages würde ich vielleicht reif genug sein, um das alles verkraften zu können. Aber selbst dann müßte ich mich darauf gefaßt machen, daß ich die zerstörerischen Kräfte des Galgenbaumes am eigenen Leibe zu spüren bekäme.

Da ich also nichts Genaues wußte, hatten sich in meiner Vorstellung schauerliche, surreale Bilder eingenistet: An den starren Hauptästen baumelten die Opfer des Galgenbaumes – aschfahle Leichen, die wie Christbaumschmuck an glänzenden Seidenbändern hingen. Ich sah sie in schrecklicher Deutlichkeit vor mir: Ihre Köpfe an den gebrochenen Hälsen schaukelten im Wind hin und her. Ich sah die zugezogenen Schlingen und das Lächeln hinter den blaugefärbten, geschwollenen Zungen, die aus ihren Mündern hervorgetreten waren. Sie stierten mich aus ihren vor Schrecken geweiteten, leeren Augen an, und ihre glanzlosen Haare glitten in einer unsichtbaren Strömung dahin, wie Seidenschals im Wind.

Wenn ich vom Internat zu einem meiner seltenen Besuche nach Hause in die Kolonie kam, hielt ich mich meist so weit wie nur möglich vom Galgenbaum entfernt. Ich stieg lieber schon auf halber Strecke über den Zaun, um nur ja nicht den eigentlichen Eingang von Thornwood passieren zu müssen und diesem morschen Stamm zu nahe zu kommen.

Einmal jedoch, von meiner eigenen Kühnheit zu einer verwegenen Dummheit getrieben, kletterte ich – zitternd vor Angst – in seine Krone. Prompt fiel ich aber wie ein Sack Kartoffeln auf den steinharten Boden und handelte mir bei dieser Gelegenheit einen komplizierten Bruch des Handgelenks ein. Der Schmerz, der wie ein heißer, scharfer Stich zwischen meinen Augen brannte, war um so peinigender, als ich genau wußte, daß ich selbst daran schuld war. Als der Gipsverband entfernt wurde, schwor ich mir, mich nie wieder mit solch reizbaren und rachsüchtigen Geistern einzulassen.

Warum war ich dann jetzt doch wieder an den Ort zurückgekehrt, den ich vor so vielen Jahren verlassen hatte? Warum brachte ich mein geregeltes Leben durcheinander, indem ich meine widerstrebende Familie hierherschleppte – obwohl ich doch schon seit einer Ewigkeit nicht mehr hier zu Hause war?

Bestimmt ein Dutzend Male hatte ich in den letzten Wochen versucht, Will, meinem Mann, die Gründe dafür zu erklären. Vergeblich: Er, der aus einer mustergültigen und absolut »normalen« Familie stammte, konnte sich nicht vorstellen, daß die zusammenhanglosen Erinnerungsbrocken meiner verpfuschten Kindheit noch immer in meinem Innersten vor sich hin moderten. Bald würde ich Thornwood einer unabhängigen Künstlerorganisation übergeben. Mit diesem Besuch wollte ich mich endgültig von hier verabschieden. Es war für mich die letzte Möglichkeit, meine alten Alpträume zu überwinden: den tragischen Tod meiner Mutter; den schrecklichen, langsam fortschreitenden Wahnsinn meines Vaters; die Art, wie er mich aus seinem Leben gestoßen und mir damit alles genommen hatte, was ich kannte und woran ich hing.

Will dagegen meinte, ich würde einfach nur Schwierigkeiten suchen. »Dein Vater ist tot, Em. Warum kannst du das alles nicht einfach vergessen?«

Wenn ich das doch nur könnte. Gerade jetzt, wo mein Leben schon fast verdächtig gut lief. Die Kinder, alle drei, befanden sich in einer der wirklich seltenen ruhigen Phasen – was vor allem bei der elfjährigen Rachel fast unglaublich erschien. Ihre emotionale Entwicklung war so chaotisch verlaufen, daß sie einem mittleren Erdbeben auf der Richterskala gleichkam. Will war nach einigen sehr unangenehmen Jobwechseln endlich bei einer Import-Export-Firma gelandet. Mit seiner jetzigen Stellung war er sehr zufrieden – er liebte die vielen Reisen und überhaupt die Annehmlichkeiten einer gehobenen Position. Und ich genoß es, daß seine harterkämpfte Zufriedenheit mir nun die Freiheit ließ, mich meiner eigenen Karriere zu widmen. Am Ende des Sommersemesters hatte ich einen Lehrauftrag an der englischen Fakultät der Columbia-Universität erhalten und würde im Herbst das begehrte geisteswissenschaftliche Seminar für die Studenten im letzten Semester abhalten. Der Lehrberuf machte mir großen Spaß. Will hatte völlig unrecht, wenn er mir unterstellte, ich sei nach Thornwood zurückgekommen, um Schwierigkeiten zu suchen. Ich wollte nur endlich meine Vergangenheit bewältigen.

Als Will endlich den Jeep durch das morsche Holztor in die Kolonie lenkte, hatte die gedrückte Stimmung meines Mannes und meiner Kinder auch von mir Besitz ergriffen. Rachel lehnte an dem beschlagenen Fenster, den Mund zu einem bitteren Schmollen verzogen, die schlaksigen Arme über den sich gerade erst entwickelnden Brüsten verschränkt. Ihre großen, kohlrabenschwarzen Augen blitzten vor Zorn. Sie hatte kein einziges Wort mehr gesprochen, seit wir auf dem Weg nach Sharon, Massachusetts, vor einer halben Stunde die Grenze von Connecticut überquert hatten. Und ihre letzten Worte waren auch nicht gerade ermutigend gewesen: »Ich will nicht an diesen blöden Ort«, sagte sie mit mühsam beherrschter Stimme. »Ich gehe da nicht hin.« Sie steckte sich die Spitze ihres langen, seidigen, schwarzen Pferdeschwanzes in den Mundwinkel und begann darauf herumzukauen.

»Ich geh auch nich hin«, echote Adam mit all seiner vierjährigen Entschlossenheit. Seine kleinen, dicken Beinchen baumelten dabei im monotonen Rhythmus des Motors. Seine kleinen, roten Turnschuhe trommelten pausenlos gegen das Rückenpolster meines Sitzes.

»Hör auf damit, Addie.«

Der zweijährige David saß völlig geistesabwesend da; er hatte sich in eine seiner Traumwelten zurückgezogen. Seine großen, eisblauen Augen blickten verklärt in die Ferne, und einzig der weiche Kranz seiner Lippen, zwischen denen sein Daumen so gut aufgehoben war, schien für ihn noch von Interesse zu sein. Die feuchte Hitze im Auto hatte seinen wilden, zitronengelben Lockenschopf in eine dunkle, verklebte Masse verwandelt.

Will trug auch nicht gerade dazu bei, die Stimmung aufzuheitern. Er war über meine Unfähigkeit, die Dinge auf seine Weise zu betrachten, erbost. Obwohl er darauf bestanden hatte, uns zur Kolonie zu fahren (»Um dir zu helfen, dein Leben in Ordnung zu bringen«, wie er sagte), verbrachte er nun die ganze Fahrt damit, leise vor sich hin zu murren, ungeduldig mit den Fingern gegen das Lenkrad zu klopfen und mißmutig dreinzuschauen. Irgendwann ertappte ich mich bei der genüßlichen Vorstellung, wie ich ihn eigenhändig erwürgte.

So rumpelten und holperten wir über die enge Zufahrtsstraße zum Hauptgebäude. Ich wollte der schlechten Stimmung ein Ende bereiten und die anderen auf den Galgenbaum und einige andere Besonderheiten der Siedlung aufmerksam machen: die spitzen, roten Ziegeldächer der winzigen Hütten, die zwischen den Bäumen hervorlugten; den Weiher, der aus der Ferne herüberblinkte, das Zedernwäldchen, wo ein wütendes oder verängstigtes Kind lange, erholsame Stunden im dichten Gestrüpp seiner eigenen Vorstellungen verbringen konnte. Ich wollte etwas sagen, was den Kindern diesen unwillkommenen Ausflug zum Abenteuer machte, aber ein dicker Kloß in meinem Hals erstickte meine Worte.

Will brachte den Wagen mit einem heftigen Ruck direkt vor der ausladenden, grauen Veranda zum Stehen. Das Farmhaus hatte schon bessere Tage gesehen. Von den dunkelgrünen Fensterläden blätterte die Farbe ab, und die ehemals strahlendweiße, holzgetäfelte Fassade des Hauses hatte mittlerweile eher das häßliche Gelb ungepflegter Zähne angenommen. Das brüchige Geländer wackelte, als wir uns die breite Treppe zur Vorhalle hinaufschleppten, und eine lose Stufe quietschte unter unserem Gewicht wie zur Begrüßung. Ich hatte gehofft, Tante Lizzie, die frühere Haushälterin meines Vaters, würde uns erwarten. Aber es war niemand zu sehen.

»Was für eine Bruchbude«, bemerkte Rachel mit ganz offensichtlicher Befriedigung.

Will legte ihr wie zur Bestätigung beruhigend seine Hand auf die Schulter.

»Bist du wirklich sicher, daß du hierbleiben willst, Emily? Wenn wir gleich wieder aufbrechen würden, wären wir spätestens zum Abendessen wieder in der Stadt zurück.«

»Ich bin absolut sicher.« Damit zog ich David auf meine Hüfte, ergriff Adams pummeliges, verschwitztes Handgelenk und zwang mich, meiner Stimme einen fröhlichen Klang zu geben. »Komm schon, Rach. Tante Lizzie ist wahrscheinlich im Haus und bereitet das Mittagessen vor. Du wirst sie bestimmt mögen. Sie ist wirklich ein Original.«

»Ich finde es scheußlich hier«, war Rachels einziger Kommentar.

»Du hast ja noch nicht einmal einen Blick ins Haus geworfen. Warte doch erst einmal ab.«

Sie sah Will verzweifelt an und sagte flehentlich: »Kann ich nicht mit dir zurückfahren, Daddy? Ich werde auch ganz brav sein, das verspreche ich dir.«

»Du weißt, daß das nicht geht, Kleines. Ich habe ab Ende der Woche wichtige Termine in London. Ich muß nun mal die meiste Zeit an dieser Präsentation arbeiten.«

»Dann nimm mich doch mit nach London. Ich wäre wirklich ganz ...«

Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Liebes. Es geht einfach nicht, wenn deine Mutter nicht dabei ist. Ich habe dort keine freie Minute, in der ich mich um dich kümmern könnte.«

»Ich bleibe aber nicht in dieser Bruchbude. Basta!«

Will strich ihr übers Haar. »Es tut mir so leid, Rach. Mom meint, sie müsse das hier erledigen. Versuch das zu verstehen, versprich es mir.«

Ich schoß wütende Blicke auf ihn ab, aber meine Munition

schien leider nicht tödlich zu sein. Er fuhr fort, Rachel zu hätscheln und zu tätscheln. Wie so oft machte er durch seine unglaubliche Gedankenlosigkeit alles noch schlimmer, als es sowieso schon war.

Wie all die Jahre zuvor war die Eingangstür unverschlossen, und ich spähte hoffnungsvoll in die düstere, heruntergekommene Halle. »Tante Lizzie?« rief ich. »Wir sind da.«

Stille.

»Tante Liz?«

David steckte seinen Daumen wieder in den Mund, was er in der Aufregung zuvor ganz vergessen hatte. Ich küßte seinen weichen Nacken und versuchte meiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben. Ich hatte mir größte Mühe gegeben, die Zeit, die wir auf dem Lande verbringen würden, in den leuchtendsten Farben zu schildern, und Tante Lizzie war ein wesentlicher Bestandteil meiner Verkaufsstrategie.

»Sie ist vermutlich gerade einkaufen gegangen, ihr Lieben. Ich habe ihr nicht gesagt, wann genau wir hier ankommen würden. Ich wollte nicht, daß sie sich sorgt, falls wir uns etwas verspäten würden.«

Will machte sich daran, den Kofferraum auszuräumen. Er mußte mehrmals hin und her gehen, bis er das gesamte Gepäck – eine bunte Ansammlung von Koffern, spielzeugüberladenen Einkaufstüten und den verschiedenartigsten Kinderfahrzeugen – in die Halle gebracht hatte. Als er endlich fertig war, schlug er die Kofferraumklappe des Jeeps zu und wischte sich mit dem verschmutzten Ärmel seines Arbeitshemdes die Schweißperlen von der Stirn. Dann verzog er seinen Mund zu einem vorsichtigen, nicht sehr überzeugenden Lächeln. »So, das wäre erledigt. Jetzt könntet ihr mich ruhig ein bißchen umarmen, damit ich die Zeit ohne euch besser überstehe.«

Er beugte sich hinunter, versammelte ein kicherndes Trio in seinen Armen und drückte alle drei mit dramatischer Geste zum Abschied. »Seid jetzt schön artig, ihr Blagen. Und hört auf eure Mom.«

»Bitte, Daddy«, zischte Rachel schrill. »Bitte, zwing mich nicht hierzubleiben – mit ihr.«

Nach fünf Jahren war ich immer noch die böse Stiefmutter für

sie. Ich versteckte meine Giftzähne hinter einem verständnisvollen Lächeln. »Es wird bestimmt alles gut gehen, Will. Ich sorge schon dafür.«

Er warf einen bedeutungsvollen Blick auf seine unglaubliche Tochter. »Ich zähle auf dich, Rach. Erinnerst du dich noch an unsere Unterhaltung neulich? Bitte, enttäusche mich nicht.«

»Ich liebe dich, Daddy. Bitte, nimm mich doch mit nach Hause.« Um die Wirkung ihres Gequengels zu unterstreichen, biß sie sich noch auf ihre schmollende Unterlippe und schaffte es tatsächlich, eine einzelne Kullerträne hervorzuquetschen. Diese lief dann langsam ihre Wange hinab und hinterließ einen großen, feuchten Fleck auf dem Schulterpolster ihres riesigen, violettgetupften T-Shirts.

Will bedeutete mir, mit ihm nach draußen zu kommen. »Ihr wartet ein paar Minuten hier, in Ordnung? Ich möchte mit Mom allein sprechen.«

Langsam erklomm die Sonne den Vormittagshimmel, und es schien mir, als benütze sie meinen Kopf als Trittleiter – so stark blendete mich ihr gleißendes Licht. Ich konnte Will nur noch als schlaksigen Schatten wahrnehmen.

»Sie wird es schon verkraften«, sagte ich zu ihm. »Es ist noch kein Kind daran gestorben, daß es ein paar Wochen auf dem Land verbracht hat. Vielleicht kann sie sich ja sogar dazu überwinden, es zu genießen.«

Er machte ein Geräusch, das sich anhörte, als ob bei einem Reifen die Luft herausgelassen würde, und schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich, Em. Du siehst ja, wie unglücklich sie über die Sache hier ist. Sie hatte sich diesen Sommer wirklich anders vorgestellt. Hier gibt es keine Kinder, mit denen sie spielen könnte. Sie wird sich furchtbar langweilen. Und die beiden Kleinen werden ihre Spielsachen und ihre gewohnte Umgebung zu Hause vermissen. Ich weiß wirklich nicht, warum du sie an diesen gottverdammten Ort schleppten mußtest.«

»Wir haben das doch alles schon einmal besprochen. Es ist wirklich sehr wichtig für mich, Will. Ich habe dir doch erklärt ...«

Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. »Phantastisch. Jahrelang hat dich dein alter Herr wie den letzten Dreck behandelt, war zu beschäftigt oder zu krank im Kopf, als daß du auch nur seine

kostbare Kolonie hättest besuchen dürfen. Und du empfindest immer noch irgendeine merkwürdige Beziehung zu ihm und diesem Ort. Ich kann das einfach nicht begreifen.«

Ich hatte das Gefühl, als risse jemand mein Innerstes aus mir heraus. »Es wird nur ein paar Wochen dauern, bis ich seinen Nachlaß geordnet und alle Vereinbarungen mit der Berkshire-Vereinigung getroffen habe. Sobald sie die Kolonie übernommen haben, kann ich das alles hinter mir lassen. Ganz bestimmt.«

»Du wirst das niemals hinter dich bringen.«

Wir wurden durch mehr als nur die gleißenden Sonnenstrahlen getrennt. »Warum kannst du nicht wenigstens versuchen, mich zu verstehen?«

»Keine Angst, ich habe schon verstanden. Es läuft ab wie immer. Du tust, was dir gefällt, und zwingst allen anderen deinen Willen auf. Besonders Rachel.«

»Das war ein Schlag unter die Gürtellinie, William Archer. Ich habe alles Menschenmögliche getan, um es diesem Kind recht zu machen. Aber das tut wohl überhaupt nichts zur Sache, verdammt!«

Ein harter, wütender Zug verzerrte sein Gesicht. »Du kannst durchaus mit ihr zurechtkommen, wenn du dich anstrengst.«

»Da hast du absolut recht, Will. Was das Kind verlangt, ist ja nur recht und billig. Ich bräuchte bloß hingehen, wo der Pfeffer wächst, und schon wäre sie zufrieden.«

»Sie hat eben gerade eine schwierige Phase, das ist alles. Es war wirklich nicht einfach für sie, den Tod ihrer Mutter zu verwinden. Und es fällt ihr auch nicht leicht, sich an unsere Heirat und die beiden Kleinen zu gewöhnen. Gib dem Kind doch eine Chance.«

Ich schluckte meine Antwort hinunter. Wir hatten dieses Thema schon so oft erörtert, daß es bereits gefährliche Spuren in unserer sonst so glücklichen Ehe hinterlassen hatte. »Warum bleibst du nicht einfach noch ein oder zwei Tage hier? Laß ihr etwas Zeit, sich an die Gegend hier zu gewöhnen. Es fällt ihr doch immer viel leichter, sich irgendwo einzuleben, wenn du in ihrer Nähe bist.«

»Sei vernünftig, Emily. Ich habe nun einmal meine eigenen

Verpflichtungen. Ich kann nicht einfach alles stehen und liegen lassen, nur weil es dir gerade in den Kram paßt.«

»Von mir aus, dann geh doch zu deinen Verpflichtungen. Wir werden hier schon zurechtkommen. Und wir werden uns alle sehr wohl fühlen, Rachel eingeschlossen.« Ich warf einen kurzen Blick auf meine Uhr. »Also los. Ich möchte nicht länger deine kostbare Zeit verschwenden.«

Damit stürmte ich zurück in die süße, feuchte Kälte des Farmhauses und begann, das Gepäck nach oben zu befördern. Dabei rasten die beiden Jungen jedes Mal zusammen mit mir über den abgewetzten, grünen Läufer die knarrenden Stufen hinauf und hinab. Rachel dagegen lief hinaus zu Will. Ich konnte ihr aufdringliches Gequengel und das gleichmäßige Klappern seiner Tennisschuhe hören. Er lief ungeduldig die Veranda auf und ab, während er auf sein Taxi wartete.

»Bitte, Daddy. Bitte, bitte, bitte, nimm mich mit. Ich sterbe an diesem blöden, widerlichen Ort.«

»Jetzt reicht’s, Rachel. Sei still.«

Durch das Fenster des Kinderzimmers sah ich, wie ein dickes, zitronengelbes Auto durch das entfernte Tor einbog. Es schlingerte über die enge Zufahrtsstraße zum Haus und wirbelte dabei eine große Staubwolke hinter sich auf. ‘

Ich hörte das scharfe Kreischen der Bremsen und dann Wills entschlossenen Schritt. Er verließ die Veranda mit einem letzten, erleichterten Abschiedsgruß: »Paßt gut auf euch auf, ihr Rasselbande. Wir sehen uns in ein paar Wochen.«

»Tschüß, Daddy.«

»Tschüß. Macht’s gut, ihr drei.« Er neigte den Kopf und beugte seine schlaksige Gestalt, um auf der Rückbank des Taxis Platz zu nehmen. »Mach’s gut, Em.«

Ich ließ den Verschluß des ersten Koffers aufschnappen und begann, Stapel von Latzhosen, gestreiften T-Shirts und kurzen Hosen mit Gummizügen in die mit Papier ausgelegten Fächer eines alten Ahornschrankes einzuräumen. Unten fiel die Wagentür mit einem satten Schlag zu, und bald darauf war die Luft von Abgasen und dem lauten Geräusch des Motors erfüllt.

»Leb wohl, Willi«, flüsterte ich mit einem dicken Kloß im Hals. »Leb wohl.«

»Tschüß, Daddy, tschüß, Daddy«, trällerte David, während er zu meinen Füßen ein Spielzeugauto kreuz und quer über die blanken Dielen schob. »Tschüß. Daddy weddedangn.«

Kindermund tut Wahrheit kund.

Kapitel 2

Ich starrte durch die verschmierten Eßzimmerfenster ins Freie und versuchte Tante Lizzie in ihrem klapprigen, weinroten Auto herbeizuzaubern. Wo blieb sie nur? Meine Augen schmerzten. Das sah ihr eigentlich gar nicht ähnlich. Auf Elizabeth Agnes Margaret McGrail war sonst immer Verlaß. Während meiner Kindheit war sie der ruhende Pol in meiner ansonsten von Unsicherheit und Ängsten geprägten Welt gewesen. Sie war immer dagewesen, wenn ich sie gebraucht hatte. Und ich hatte sie oft gebraucht ...

Ich sah sie deutlich vor mir: ihren plumpen Körper, ihr sorgfältig gekämmtes, steingraues Haar; ihr hervorspringendes Kinn, das einen beträchtlichen Kiefer in die Welt hinausragen ließ, bereit, es mit allem und jedem aufzunehmen. Ich konnte mich sogar noch an den Geruch von Zitronen und Knoblauch erinnern, der sie immer umgeben hatte.

Als ich ein Kind war, hatte mich diese Frau mit ihrem eisernen Willen vor jeder eingebildeten oder wirklichen Katastrophe behütet. »Du wirst diesen Bazillus schneller bekämpft haben, als du glaubst, Emmy Lee«, hatte sie, wenn ich wieder einmal bettlägerig war, im Kommandoton verkündet, und mein Fieber hatte sofort kapituliert. »Hab keine Angst, Emmy Lee. Vertreib diesen Gedanken einfach aus deinem Kopf.« Diese Worte hatten mir geholfen, all die kindlichen Ängste zu überwinden, die mich peinigten. »Es ist für alles gesorgt«, hatte sie gesagt, wenn wirklich gar nichts mehr sicher schien. Und sie hatte immer recht behalten.

Wo blieb sie also jetzt? Adam und David jagten einander auf ihren Dreirädern durch die verschiedenen Zimmer. Küche, Eßzimmer, Wohnzimmer und Flur waren miteinander verbunden und bildeten so eine hervorragende Rennbahn. »Brumm ... Ich kriege dich ... brumm.«

»Addie nich krieg mich«, schrie David in höchster Wonne. »Nich krieg mich!«

Rachel lag hingeflegelt vor dem primitiven Farbfernseher in Vaters Zimmer und war in die Betrachtung irgendeines geballten Schwachsinns vertieft. »Haltet doch endlich mal die Klappe, ihr Blödmänner. Ich will mir die Sendung anschauen.«

Die Jungen steigerten sich in eine Überdrehtheit hinein, die garantiert in einem Desaster enden würde. »Beruhigt euch wieder, ihr Bengels.«

»Du bist eine lahme Ente«, schrie Adam wütend.

»Nich lahme Ente! David nich lahme Ente.«

»Schsch. Beruhigt euch«, sagte ich. »Bitte, tobt nicht so herum.«

»Seid verdammt noch mal ruhig, ihr doofen Zwerge«, kreischte Rachel hysterisch.

»Rachel! So was sagt man nicht«, antwortete ich aus einem alten Reflex heraus. Eigentlich hätte ich Rachels Geschimpfe einfach übergehen sollen, denn dieses Kind genoß es, andere mit solchen Worten zu schockieren.

»Ich sagte, ihr sollt endlich die Klappe halten.«

Die Stimmung war bis zum Zerreißen gespannt. »Addie, David, seid jetzt bitte ruhig.«

Wo blieb Tante Lizzie nur? Mein Blick verschwamm, während ich aus dem Fenster starrte. Komm endlich, Tante Lizzie, flehte ich innerlich.

»Ich kriege dich, David, Bavid, Pavid!«

»Krieg nich, krieg nich.«

Ich rief mir ihren Anruf vor zwei Wochen ins Gedächtnis zurück, der mich in meinem Entschluß hierherzufahren bestärkt hatte. Ich hatte immer noch ihre besorgte Stimme im Ohr: Die Berkshire-Vereinigung drohe von der Übernahme der Kolonie zurückzutreten. Ja, zuerst seien sie ganz begeistert von dem Projekt gewesen. Aber aus irgendeinem Grund hätten sie sich die Sache noch einmal überlegt. Ob ich vielleicht einmal mit ihnen reden könne?

»Aber wo soll denn das Problem liegen? Ich dachte, es wäre alles vereinbart. Sie schienen doch alle ganz hingerissen von dieser Idee.«

»Ich wünschte, ich wüßte es, Emmy. Natürlich habe ich sie gefragt, was los ist, aber das Gespräch hat sich immerzu im Kreis gedreht. Das Einzige, was ich mir vorstellen kann, ist, daß ein wichtiges Mitglied bei der Entscheidung nicht dabei war und nun Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um die Übernahme zu verhindern. Vielleicht hat er es geschafft, die anderen umzustimmen. Ich nehme an, dir gegenüber würden sie offener sein. Immerhin bist du ja die Erbin ... Aber du wirst vermutlich nicht einfach so auf die Schnelle hierherkommen können.«

»Aber warum denn nicht? Rachel hat den ganzen Sommer Ferien, und ich bin mit den Examensarbeiten beinahe fertig. Ich wollte diesen Sommer sowieso mit den Kindern wegfahren.«

» ... Nein, nein. Wenn du schon Pläne mit den Kindern gemacht hast, dann kann man das eben nicht ändern. Ich möchte dich nicht mit den Dingen hier belästigen. Keine Angst, es wird schon alles klappen, wie du es dir vorgestellt hast.«

»Du hast mich falsch verstanden. Man kann das doch alles arrangieren. Ich nehme die Kinder einfach mit. Es wird ihnen sogar guttun. Dann können sie zur Abwechslung einmal frische Landluft atmen. Ich wette, die glauben alle drei, daß Gemüse und Milch in Schachteln im Supermarkt wachsen ... Wirklich, je länger ich über diese Idee nachdenke, desto besser gefällt sie mir. Um ehrlich zu sein, ich glaube, ich sollte die Kolonie noch einmal besuchen, bevor die Berkshire-Vereinigung sie übernimmt. Seit Vater tot ist, hadere ich mit mir, und jetzt bietet sich eine gute Gelegenheit. Ich werde also kommen.«

»Warum denkst du nicht einfach noch ein paar Tage darüber nach, Emmy? Du mußt dich ja nicht sofort entscheiden. Natürlich würde ich mich freuen, dich zu sehen, aber ich kann wirklich verstehen, wenn dir das alles zuviel wird. Es ist sicher nicht einfach, wenn du in letzter Minute alle deine Pläne umwerfen mußt.«

»Nein. Jetzt ist es beschlossene Sache und damit basta. Ich muß mich hier nur noch um ein paar Dinge kümmern, und dann komme ich. Wie wäre es mit nächstem Donnerstag?«

»Das wäre großartig. Wenn du wirklich willst. Ich nehme an, daß du dann auch etwas Zeit findest, die Papiere deines Vaters durchzusehen. Ich finde, es ist richtig, wenn du seinen Nachlaß ordnest. Um dir die Wahrheit zu sagen, ich bin froh, wenn ich es nicht tun muß.« Klang da ein Hauch von Schwäche mit? Unmöglich. Die Tante Lizzie, die sich meinem Gedächtnis eingeprägt hatte, war zäh, dickhäutig und unverwundbar.

Und doch ...

Ein gellender Schrei riß mich aus meinen Gedanken. Ich wandte mich einem Knäuel von um sich schlagenden Gliedmaßen und wutverzerrten Gesichtern zu. Rachel hatte Adam mit dem einen Arm in den Schwitzkasten genommen, mit dem anderen umklammerte sie Davids rundliche Mitte wie eine Python ihr Opfer. Sie war rasend vor Wut, die Knöchel an ihrer Hand traten weiß hervor, und sie zitterte am ganzen Körper.

Davids panisches Geschrei verwandelte sich in ein hilfloses Wimmern. Adam gab vor lauter Schreck keinen Laut mehr von sich, sein Gesicht war krebsrot, und er rang nach Atem.

»Rachel! Laß die beiden sofort los!«

Sie war so wütend, daß sich ihr Körper völlig verkrampft hatte. Ich versuchte vergeblich, ihre Umklammerung zu brechen, denn der Zorn schien ihr übermenschliche Kräfte zu verleihen. »Laß sie los!«

In ihrem Blick lag eine abscheuliche Kälte, als hätte man ihr jegliches Gefühl geraubt. Ich schlug sie leicht ins Gesicht, um sie wieder zu Vernunft zu bringen. »Laß sie los!«

Sie fiel in sich zusammen wie ein nasser Sack, blinzelte heftig, als ob sie ein Staubkorn aus ihrem Auge entfernen wollte, und sah mit leerem Blick durch mich hindurch. Ihre Finger wanderten langsam hinauf zu ihrer Wange. Dort, wo der blaßrote Abdruck meiner Hand sichtbar war, verweilten sie ziellos. Dann faßte sie plötzlich mit ihren beiden schlanken Händen nach hinten und zerrte eine dicke Haarsträhne unter das Gummiband, das ihren Pferdeschwanz zusammenhielt. Ein seltsames Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Ihr blöden Babys.«

Ich betrachtete ihre Augen. Sie sahen aus wie kalte, schwarze Murmeln. Ich riß mich zusammen und versuchte, meinen Schrecken zu überwinden. »Sie haben doch nur gespielt, Rachel. Was um Himmels willen ist nur in dich gefahren?«

»Ich wollte diese verdammte Fernsehsendung mitkriegen.«

Davids Gewimmer war zu einem unregelmäßigen, beleidigten Schniefen abgeebbt. Er kletterte auf das abgetragene Chintzsofa im Wohnzimmer und streichelte eines von Tante Lizzies handgehäkelten Wollhündchen. Adam versteckte sich hinter mir, wobei er mein überdimensionales T-Shirt als Schutzschild benutzte.

»Es ist ja wieder gut, mein Schatz. Rachel hat einfach die Nerven verloren, das kann jedem mal passieren. Komm, ich habe etwas zu naschen für dich.« Ich spürte ihren Zorn, der sich in mich hineinbohrte wie ein heißes Eisen. »Geh auf dein Zimmer, Rachel.«

»Warum zum Teufel sollte ich das tun? Ich bin nicht müde.« Spöttisch verzog sie einen Mundwinkel, als hätte ich eben bei einem Intelligenztest versagt. Dann entließ sie mich mit einem kurzen Blick und lümmelte sich wieder vor den Fernseher. Ich brachte meine stille Mißbilligung zum Ausdruck, indem ich den Raum verließ, denn ich wollte es nicht auf einen Zweikampf mit ihr ankommen lassen, wenn es nicht unbedingt sein mußte.

Ich brachte die beiden Jungen in die Küche und fand ein paar von Tante Lizzies dicken Rosinenbrötchen. Sie hatten in einer roten Porzellanform gelegen, die die Form einer Kuh hatte. In dem altmodischen Kühlschrank entdeckte ich auch eine Flasche frischer Milch. Der Imbiß würde sie eine Weile beschäftigen. Ich zog die Flurtür hinter mir zu und hoffte inständig, daß Ruth Messenger, Rachels Psychotherapeutin, irgendwo in der Nähe ihres Telefons war. Ruth hatte einen guten Draht zu Rachel, sie verstand es, mit ihr umzugehen. Schon öfter hatte sie im kritischen Moment eingegriffen und Rachel vor einem emotionalen Zusammenbruch bewahrt.

Das Freizeichen in der Leitung klang wenig hoffnungsvoll, und dann ertönte auch schon ihre süßliche, flötende Stimme aus dem Anrufbeantworter: »Hier Praxis Dr. Ruth Messenger ...«

Ich wählte noch einmal, in der unsinnigen Hoffnung, sie sei nicht auf dem zweiwöchigen Segeltörn in der Karibik, von dem sie mir erzählt hatte. » ... Ich bin bis zum Fünfzehnten dieses Monats nicht zu erreichen. Wenn es sich um einen Notfall handelt, wenden Sie sich bitte an Dr. Ralph Sorley in ...«

Ruth fiel also aus. Kein großes Problem, versuchte ich mich selbst zu beschwichtigen. Das hier ist wirklich kein Notfall. Kein Grund zu der Annahme, daß Rachel in eines ihrer schlimmen Tiefs rutschen könnte. Es war vermutlich nicht mehr als ein einmaliger Temperamentsausbruch gewesen.

Tatsächlich hatte Ruth diese Reise stark befürwortet. Sie hatte sogar angedeutet, daß ich jetzt eine gute Chance hätte, meinem unmöglichen Kind etwas näherzukommen – was mir in all den Jahren zuvor nicht gelungen war. Hier draußen, wo wir ohne Will und seine zwar gut gemeinten, aber eigentlich eher störenden Vermittlungsversuche auskommen mußten, würden wir vielleicht endlich unser Verhaltensmuster der gegenseitigen stummen Ablehnung durchbrechen können. Und vielleicht war diese momentane Krise ja schon das erste Anzeichen einer dauerhaften Verbesserung unserer Beziehung. Der Sturm vor der Ruhe, sozusagen.

Ich ging in die Küche zurück. Die Jungen waren wieder höchst vergnügt; sie hatten schaumige Milchbärte und die Backen voller Rosinenbrötchen. Adam trommelte mit den Füßen gegen das gedrechselte Bein des Eichenholztisches, während David eine seiner üblichen Melodien vor sich hin summte – soweit es das zerkaute Rosinenbrötchen in seinem Mund zuließ. Das Ergebnis war eine gelungene Mischung aus Kinderreim und Luftangriff. Was die beiden betraf, war die Angelegenheit von vorhin vergeben und vergessen.

Vielleicht taten sie Ja auch gut daran. Am besten legte man diesen Vorfall wohl unter der Rubrik »einmaliger Wutausbruch« ab. Ich als Einzelkind konnte mir das volle Ausmaß solchen »Urhasses« einfach nicht vorstellen. Aber Will hatte mir oft vorgeschwärmt, wieviel Spaß es doch gemacht hatte, mit vier Brüdern aufzuwachsen: Nie wurde es einem langweilig, immer sei jemand da, mit dem man sich streiten könne oder mit dem man teilen müsse. Es gab also überhaupt keinen Grund anzunehmen, daß diese Sache hier mehr war als nur ein Streit unter Geschwistern. Rachel war eben ein schwieriges Kind. Ein Hitzkopf und sehr impulsiv. Das war ja wirklich nichts Neues.

Sie warf mir einen kurzen, gequälten Blick zu, als ich den Raum betrat. »Die beiden sind wirklich eine Qual.«

»Brüder können manchmal so sein«, erwiderte ich.

»Die beiden nerven aber wie die Sau.«

»Du kannst davon halten, was du willst, Rachel. Aber du darfst ihnen nicht weh tun. Du läßt die Finger von ihnen. Ist das klar?«

»Sie nerven wie die Sau«, wiederholte sie genüßlich.

Sie war wieder sie selbst. Garstig und widerborstig. Die Krise war überstanden. Ich wollte mich gerade wieder an meinen Wachposten am Fenster begeben, als die Haustürglocke läutete.

Eine große, kräftig gebaute Frau stand auf der Veranda. Ihre Haare sahen aus wie ein hoch aufgetürmter Berg aus Vanilleeis, die Augenlider waren aschfarben getönt, und die Brauen so geformt, daß ihr Blick andauernd Überraschung zum Ausdruck brachte. Ihr Gesicht hatte sie mit Make-up verkleistert, und über die puddingfarbenen Pausbacken hatte sie jeweils noch einen schiefen Streifen Wangenrot gezogen. Die Oberlippe bestand aus zwei scharlachroten Höckern, die Unterlippe, ebenfalls knallrot bemalt, hing schlaff herunter. Ihre schmale, aristokratische Nase und ihr wulstiges Kinn waren bis zur Unkenntlichkeit mit Puder bestäubt. Den krönenden Abschluß bildete eine Straß verzierte Lesebrille, die an einer vergoldeten Kette um ihren Hals hing.

Zu alledem war sie mit einem schäbigen, beigefarbenen Sommermantel bekleidet, der bei diesem Wetter einen Hitzschlag geradezu herausforderte. Dazu trug sie inmitten ihrer aufgetürmten Haarpracht einen winzigen, braunverschleierten Hut. Ihr aufgedunsener Körper entwuchs zwei wohlgeformten Fußknöcheln, die wiederum in einem Paar Lederpumps mit gewagten Pfennigabsätzen steckten. Sie hielt eine große, mit Folie bespannte Kasserolle gegen ihren massigen Busen gepreßt.

»Für Ihr Abendbrot«, sagte sie. »Ich bin Alma Prom. Und Sie müssen Emily sein. Sie sind genauso reizend, wie Ihre Tante Lizzie es mir erzählt hat: dunkles Haar und große, blaue Augen. Eine hübsche, reine Haut haben Sie auch. Ich wette, Sie gehen nicht viel an die Sonne. Das ist klug. Wir Mädchen müssen nun mal auf unser Aussehen achten.«

Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus wie aus einem alten, rostigen Eimer, der ein Leck hat. »Wissen Sie, wo Lizzie ist? Ich warte schon seit Stunden auf sie.«

»Und ich wette, Sie sind schon zu Tode besorgt.« Sie schnalzte mit ihrer dicken Zunge. »Nun, ich weiß, alles meine Schuld. Hab nicht gemerkt, daß es schon so spät ist. Ihre Tante Lizzie hat mich gebeten, so früh wie möglich zu Ihnen zu kommen und alles zu erklären, aber ich hatte zu Hause alle Hände voll zu tun. Sie wissen ja, wie das an manchen Tagen ist. Man muß unglaublich viel erledigen, und dauernd klingelt das Telefon.«

»Wo ist sie?« Ich nahm ihr die Kasserolle ab.

Sie drängte sich an mir vorbei ins Haus und schälte sich unterwegs aus ihrem Mantel. »Bei ihrer Schwester. Das arme Ding hatte einen Ohnmachtsanfall. Dabei ist sie dumm gestürzt und hat sich die Hüfte gebrochen. Sie wissen ja, wie das ist, wenn die Leute älter werden.« Sie seufzte laut. »Schrecklich. Ich habe nicht die Absicht, alt und gebrechlich zu werden, das sage ich Ihnen.«

»Das ist ja wirklich schlimm. Welche Schwester ist es denn?«

»Die Älteste. Unten in Florida.«

»Hat sie denn eine Telefonnummer dagelassen? Ich würde gerne erfahren, wie es ihr geht.«

»Sieh an, sieh an. Lizzie wußte, daß Sie das als erstes fragen würden. Ich sage Ihnen, sie ist schlau wie ein Fuchs. Na ja, jedenfalls hat sie gesagt, daß es kaum möglich sein wird, sie zwischen den Krankenhausbesuchen zu erwischen. Sie will anrufen, wenn sich da unten alles ein bißchen beruhigt hat.«

»Das ist wirklich ein Pech. Ich hätte sie so gern wiedergesehen und ihr die Kinder vorgestellt.«

»Oh, sie hat sich so darauf gefreut, Sie alle zu sehen! Glauben Sie mir, die ganze letzte Zeit hat sie von nichts anderem geredet. Aber es kommt eben immer anders, als man denkt. Machen Sie sich nichts daraus. Ich habe versprochen, mich um alles hier zu kümmern, während sie weg ist.«

Damit hängte sie schwungvoll ihren Mantel an die Garderobe, beförderte den kleinen Samthut auf die Ablage und zog bedächtig einen Finger nach dem anderen aus ihren abgetragenen, weißen Kinderhandschuhen. Sie trug einen schmalen Goldring mit einem winzigen Diamantsplitter an ihrem Ringfinger, den sie nun so lange hin und her drehte, bis er endlich einen spärlichen Lichtstrahl auffing und reflektierte.

Als sie schließlich damit fertig war, setzte sie eine Friede- Freude-Eierkuchen-Miene auf und quetschte meine Hand zwischen ihren beiden stattlichen Exemplaren ein. »Es ist wirklich sooo schön, Sie nach so langer Zeit endlich kennenzulernen, Emily. Ich bin schon seit langem eine gute Freundin und Nachbarin der Leutchen von der Thornwood-Kolonie. Wohne gleich da hinten – einfach immer die Straße hinunter. Ihre Tante Lizzie ist meine beste Freundin. Und für Ihren Vater, Gott hab ihn selig, war ich so etwas wie eine Familie. Ja, ich weiß wirklich nicht, was Lizzie zum Schluß ohne mich gemacht hätte. Sie hat Ihnen doch sicher schon erzählt, was für eine große Hilfe ich für sie war?«. Sie erinnerte mich an einen unangenehmen, eiskalten Windstoß, der urplötzlich auf einen einstürmt und einen fast umbläst. »Nicht direkt, Miß Prom. Tante Lizzie und ich haben in letzter Zeit wenig Kontakt miteinander gehabt.«

Sie machte ein mitleidiges Gesicht. »Ich weiß, meine Liebe. Kann mir vorstellen, wie schwer es für Sie war, wo Ihr Vater doch so krank war! Nein, das war sicher nicht leicht für Sie. Sie, noch so jung, und Ihr Vater will Sie nicht in seiner Nähe haben, Sie armes Ding. Glauben Sie mir, ich habe wirklich eine Gabe, mich in andere Leute hineinzuversetzen. Ich kann Sie sooo gut verstehen.«

Ich hoffte inständig, die Gabe zu verschwinden wäre ebenso ausgeprägt bei ihr. »Hat Lizzie gesagt, wann sie ungefähr zurückkommen wollte?«

»Ich fürchte nein, meine Liebe.« Sie tätschelte meinen Arm. »Ja, ja, ich weiß. Das Haus wirkt ganz leer ohne sie. Aber ich werde mir alle Mühe geben, ihren Platz hier einzunehmen. Überlassen Sie nur ruhig alles mir.«

Das war meine Chance. »Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Miß Prom, aber es ist wirklich nicht nötig. Glauben Sie mir.«

»Nein, nein, davon will ich gar nichts hören. Ich habe Ihrer Tante Lizzie versprochen, jeden Tag hereinzuschauen, um beim Kochen und Putzen zu helfen, und das werde ich auch tun. Wenn Sie wirklich die ganzen Sachen Ihres Vaters durchsehen wollen, wie Lizzie mir erzählt hat, brauchen Sie eine Menge Zeit, glauben Sie mir.«

Das Hamstersyndrom. Tante Lizzie hatte mir schon händeringend von seinem zwanghaften Drang, jede Kleinigkeit aufzuheben, berichtet. »Ich werde das schon schaffen, Miß Prom. Trotzdem vielen Dank.«

»Oh, Sie müssen sich nicht bei mir bedanken, meine Liebe. Es ist mir ein Vergnügen.« Damit drängte sie mich zur Seite und inspizierte mit neugierigem Blick den Raum. »Was für eine schreckliche Unordnung. Ich fürchte, die arme Lizzie hatte einfach nicht mehr die Kraft, das alles hier zu bewältigen. Nehmen Sie mir’s nicht übel, diese Frau ist zwar im Kopf noch ziemlich klar, aber die Kräftigste ist sie wohl nicht mehr.«

»Lizzie ist eine der zähesten und stärksten Frauen, die ich kenne, Miß Prom.«

»Aber natürlich ist sie das«, sagte sie ohne jede Spur von Gefühl. »Ich nehme einfach an, daß es ein furchtbarer Schock für sie war, als sie erfuhr, daß Sie die Kolonie an die Berkshire-Vereinigung abgeben wollen.«

Der Hieb saß. Ich verspürte plötzlich ein völlig unbegründetes Schuldgefühl. Lizzies Wünsche hatte ich in meine Entscheidung einfach nicht mit einbeziehen können. Außerdem hatte sie schon vor Jahren davon gesprochen, sich bald zurückzuziehen. »Ich habe keine andere Wahl. Ich sehe keine Möglichkeit, mich selbst um die Kolonie zu kümmern. Ich hoffte, sie würde das verstehen.«

Sie tätschelte mich schon wieder. »Nicht doch. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ihre Tante Lizzie wird schon darüber hinwegkommen. Sie wissen doch, wie die alten Leutchen manchmal sind. Es braucht eben seine Zeit, bis sie sich an Veränderungen gewöhnen.«

»Das ist in keinem Alter leicht.«

»Also dann«, sie ließ ihre riesigen Pranken zusammenklatschen, »werde ich mich um das Haus und das Essen kümmern. Und natürlich passe ich auch gerne ein bißchen auf die Kinder auf. Ich liebe Kinder über alles.«

»Ich sagte Ihnen doch, daß das nicht nötig sein wird, Miß Prom. Ganz bestimmt nicht.«

Sie wehrte meine Worte mit einer Handbewegung ab. »Also, wirklich. Kein Wort mehr davon! Es ist schon alles ausgemacht. Sie möchten doch Ihre Tante Lizzie nicht in noch mehr Ungelegenheiten stürzen, oder?«

Ihre Sturheit brachte mich zur Verzweiflung. »Ich bin sicher, daß Tante Lizzie mich verstehen wird, Miß Prom. Wir kommen hier ganz bestimmt gut zurecht. Und falls wir doch noch etwas brauchen sollten, komme ich gern auf Ihr Angebot zurück.«

»Aber, aber, meine Liebe. Es ist abgemacht und damit basta. Keine Widerrede. Und bitte nennen Sie mich Granny, ja? Das tun nämlich alle.«

In dem Moment erschien Rachel in der Tür. »Wer ist das?«

»Das ist Granny Prom, eine Nachbarin von uns. Sag ihr schnell noch guten Tag, denn ich vermute, sie ist sehr beschäftigt und will gerade gehen.«

Alma Prom streckte eine fleischige Hand in Richtung Rachel aus. »Ja, was haben wir denn hier für eine hübsche, junge Dame? Komm einmal her, Schätzchen, und laß dich ansehen.«

Die Rachel, die ich kannte, wäre im gleichen Augenblick knurrend aus dem Zimmer gestürmt. Diese gerissene Schwindlerin aber hatte sich plötzlich in ein liebenswertes, schüchternes Mädchen verwandelt und tat, wie ihr geheißen.

Granny Prom hielt Rachels kleines Kinn zwischen zwei fetten Fingern und drehte es hin und her, um ihr Gesicht eingehend von allen Seiten zu betrachten. Dann sog sie geräuschvoll die Luft ein und stieß sie mit einem leisen Pfeifen wieder aus. »Sehen Sie sich diese Wangenknochen an. Und erst die Haut! Wie Meißner Porzellan, ich schwör’s. Wie schaffst du das nur, ganz ohne Make-up, du Glückspilz?«

Rachel strahlte über das ganze Gesicht und dämpfte ihre Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »In meiner Klasse gibt es ein Mädchen, es heißt Julie Morris, und das hat immer so viel rosa Lippenstift aufgetragen, daß es aussieht, als ob ein riesiger Kaugummi um ihren Mund herum zerplatzt wäre. Und dann nimmt es so viel Wimperntusche, daß man glaubt, es hätte Spinnen auf den Augen sitzen. Richtig eklig ist das.« Sie klebte an Granny, als wäre diese Frau das Zentrum eines starken Magnetfeldes.

»Ja, so etwas ist wirklich traurig. Aber es gibt nun einmal Mädchen, die brauchen all das Zeug, sonst würde ihr Gesicht überhaupt nicht zur Geltung kommen. Sogar ich benutze ab und zu einen Hauch von Make-up. Nicht viel, weißt du. Aber es kann eben nicht jede eine so natürliche Schönheit sein wie du. Vielleicht eine aus einer Million. Glaub mir, ich kenne mich da aus. Hab früher den berühmtesten Leuten die Haare und das Gesicht zurecht gemacht. Hast du schon mal was von Betty Grable oder Joan Crawford gehört?«

»Ich ... ich glaube schon.«

»Na ja, macht nichts. Die waren ganz schön weit oben, zu ihrer Zeit, das kannst du mir glauben. Alle Männer lagen denen zu Füßen, und täglich waren Fotos von ihnen in der Zeitung. Sexsymbole hat man sie genannt.« Sie verdrehte die Augen. »Die Wahrheit ist, daß die meisten von ihnen sich morgens nicht aus dem Haus trauen konnten, bevor ich sie unter den Fingern hatte. Es dauerte Stunden, bis ich alle ihre Knochen bemalt hatte.«

»Sie haben wirklich das Make-up für Filmstars gemacht?« fragte Rachel.

»Und die Haare.« Sie griff mit einer ihrer fleischigen Pranken in Rachels Pferdeschwanz und drapierte ihn provisorisch um ihren Kopf. »Auch hier hat es die Natur gut mit dir gemeint. Glänzendes, fülliges Haar. Wir können verschiedene Frisuren ausprobieren, wenn du willst. Vom französischen Zopf bis zum Pagenschnitt. Ich wette, dir stehen die meisten.«

»Das wäre toll.«

Es lag ein merkwürdiger Ausdruck in ihrem Gesicht, und auch in ihrer Stimme schwang ein neuer, ungewohnter Ton mit: Rachel war aufgeregt und begeistert. Ich konnte beim besten Willen nicht verstehen, weshalb.

Adam kam aus der Küche galoppiert, mit David im Schlepptau. Sogleich drängten sie sich dicht an mich und klammerten sich an mir fest wie zwei kleine Äffchen.

»Wer is die da?« Adam zeigte empört auf Alma Prom.

»Das ist Granny Prom, Addie. Granny, das hier sind Adam und David. Wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen wollen, aber die beiden müssen unbedingt in die Badewanne. Und vielen Dank für die Kasserolle.«

Sie raffte den Rock ihres schäbigen Leinenkleides ein wenig und quälte sich zu den Kleinen hinab. Ihre Knie krachten dabei wie morsches Geäst. »Also, nun sieh einer diese süßen kleinen Rauschgoldengel an. Ich mußte Tante Lizzie versprechen, euch ganz fest von ihr zu drücken.«

Adam versteckte sich erschrocken hinter meinen Knien, während David geradewegs auf die merkwürdige, gebückte Fremde zuging und einen Finger in ihre aufgedonnerte Frisur steckte. »Aufpustet.«

Sie tätschelte seine Backe und kicherte. »Also wirklich, was für ein Schlingel. Tatsächlich: ›aufgepustet‹.« Dann wandte sie sich mit einem betulich ernsten Gesicht an Rachel: »Ich wette, du paßt immer gut auf diese kleinen Rabauken auf. Nicht wahr, mein Schätzchen?«

»Ich glaube schon«, antwortete sie. »Die können eine ziemliche Plage sein.«

»Oh ja.« Granny zog verständnisvoll die Stirn kraus. »Das kann ich mir vorstellen. Aber mach dir keine Sorgen. Nun ist ja Granny da. Ab jetzt gibt es hier nur noch eitel Sonnenschein.«

Rachel legte ihre Finger in die derben Pranken von Alma Prom. »Ich mag dich.«

Die faltigen Lippen strafften sich zu einem einstudierten Lächeln. »Also, was für ein glücklicher Zufall, mein kleines Fräulein. Komischerweise hab ich dich nämlich auch sehr gerne. Es geht doch nichts über ein kleines Mädchen.«

»Weißt du wirklich, wie man einen französischen Zopf macht? Kannst du mir nicht jetzt gleich einen flechten?«

»Wir müssen noch auspacken, Rachel. Und ich bin sicher, daß Granny auch noch einiges zu erledigen hat«, warf ich schnell ein. Ich hatte nur den einen Wunsch, daß diese Frau so schnell wie möglich durch die Haustür verschwinden würde. »Vielleicht ein anderes Mal.«

Aber sie hob mir nur abwehrend eine manikürte Hand entgegen. »Aber das ist doch kein Problem, Emily. Ich mache dem Kind erst den Zopf und helfe ihm dann beim Auspacken.« Sie strich Rachel über den Kopf. »Wart noch einen Moment, Schätzchen. Ich will nur schnell die Kasserolle in den Ofen schieben, dann komm ich zu dir.«

»Das kann ich erledigen«, versetzte ich.

»Nein, nein, Emily. Warum ruhen Sie sich nicht einfach ein bißchen aus? Mir scheint, Sie sind eine von diesen ... wie sagt man doch gleich? Ein Arbeitstier. Hab ich recht?« Sie drängte sich an mir vorbei in die Küche. Ich hörte, wie sie die Ofenklappe öffnete und mit einem lauten Knall wieder zufallen ließ. Und ihre schrille Stimme verfolgte mich mit der Penetranz einer blutrünstigen Stechmücke: »Die jungen Leute heutzutage nehmen einfach alles viel zu schwer. Hab ich nicht recht? Kein Wunder, daß jeder einen Herzanfall oder ein Magengeschwür kriegt. Einfach schrecklich!«

Ich mußte ein paarmal tief durchatmen, um mich zu beruhigen.

Langsam glätteten sich die Wogen meiner Wut, und als sie aus der Küche hereinstürmte, war ich gewappnet. »Sie müssen entschuldigen, Miß Prom, aber wir haben einen langen, anstrengenden Tag hinter uns. Ich denke, es ist das Beste für die Kinder, wenn wir einen ruhigen Abend ganz unter uns verbringen.«

Sie wackelte beleidigt mit dem Kopf. »Also, ich wollte mich wirklich nicht aufdrängen, Emily. Ich habe nur getan, worum mich Ihre Tante Lizzie gebeten hat. Es liegt mir wirklich fern, irgendwo hereinzuplatzen, wo ich nicht erwünscht bin.«

Rachel warf mir einen giftigen Blick zu, ging zu Granny hinüber und schlang einen Arm um die beachtliche Taille der alten Frau. »Bitte geh nicht, Granny. Du hast doch versprochen, mir einen französischen Zopf zu machen.«

»Tut mir leid, Schätzchen. Aber ich merke, wenn ich überflüssig bin. Deine Mutter möchte, daß ich gehe – also gehe ich.«

»Bitte, bleib hier!« Rachels schrille Stimme überschlug sich fast. »Sei doch nicht so, Emily. Kann Granny denn nicht hierbleiben? Bitte, bitte«, bettelte sie.

War ich vielleicht ungerecht? Selbstsüchtig? Was war schon dabei, wenn diese Frau unerträglich taktlos war und so massiv wie der Mount Everest? Niemand ist vollkommen. Sie machte Rachel glücklich – und wenn es nur für ein paar Minuten war. »Gut. Auf ein paar Minuten kommt es ja nicht an.«

Granny rieb sich die fleischigen Hände und schmatzte mit ihren scharlachroten Lippen. »Fein. Dann komm mal her, Schätzchen. Fangen wir gleich mit dem Zopf an.« Dabei ließ sie ihre Augen im Zimmer umherwandern, als mache sie im Kopf eine Liste der Dinge, die zu erledigen waren. »Und morgen mache ich mich dann an die Hausarbeit, Emily. Sie brauchen sich also um überhaupt nichts zu kümmern.«

»Ihr Angebot ist wirklich sehr freundlich ... Aber ich würde diese Arbeit lieber selbst erledigen.«

Sie knallte mir einen ihrer riesenhaften Handteller auf die Schulter und meinte: »Spannen Sie einfach mal aus, Emily. Ich mache das schon.«

Es gab in der Tat Bollwerke, die etwas nachgiebiger und zugänglicher waren als diese Frau. »Wir brauchen Ihre Hilfe nicht, Granny. Aber trotzdem, vielen Dank.«

Rachel sah mich haßerfüllt an.

Aber Granny warf ihr einen verschwörerischen Blick zu und sagte: »Nun komm schon, Schätzchen. Machen wir uns an diesen französischen Zopf. Ich wette, du siehst einfach umwerfend aus, wenn ich mit dir fertig bin.«

Rachel hakte sich besitzergreifend bei Granny unter und stolzierte erhobenen Hauptes mit ihr in die Küche. Adam und David folgten in sicherem Abstand. Diese neue Seite ihrer Schwester, die plötzlich Spaß an sich selbst zu haben schien, war ihnen offensichtlich nicht ganz geheuer.

»Macht, daß ihr wegkommt, ihr blöden Zwerge«, zischte sie ihnen über die Schulter hinweg zu.

»Aber, aber«, mischte sich Granny ein, »ich glaube nicht, daß sie uns stören werden. Nicht, wenn wir zwei zusammen auf sie aufpassen.«

Rachel schmolz sofort wie Butter in der Sonne. »Bestimmt hast du recht.«

»Braves Mädchen«, lobte Granny, während sie die Küchentür aufstieß. »Du wirst die schönste Zeit deines Lebens hier in Thornwood erleben, das versprech ich dir. Warte nur ab.«

Kapitel 3

Die Nacht war in wirre, abstruse Fragmente zerstückelt. Unzählige Male riß mich eine Stimme, die nur das Werk meiner Einbildung war, aus dem Schlaf; immer wieder drang das Gefühl der Bedrohung in meine Träume ein und zerstörte die kurzen Momente der Vergessenheit, die diese Nacht mir bot. Die Ereignisse des Tages mischten sich bruchstückhaft mit den Bildern meines Unterbewußtseins und quälten mich mit bizarren, immer wiederkehrenden Phantasien: Ich befinde mich an einem Ort völliger Finsternis. Es ist totenstill. Ich starre in die beängstigende Leere, lausche ins Nichts und warte ... Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Plötzlich ferne Schreie. Und da, in unmittelbarer Nähe, das harte, metallische Geräusch eines Schlages. Ich zucke zusammen, bin wie gelähmt vor Schreck. Mein Atem stockt. Ich will schreien, doch ich kann nicht. Kann nur warten, ohnmächtig warten ... Nein!

Es dämmerte bereits, als ein neues Gefühl des Unbehagens mich endgültig weckte. Mein Körper fühlte sich völlig zerschlagen an; meine Augen waren rot angeschwollen und tief umrändert. Ich bemühte mich, den Schleier von Müdigkeit abzuschütteln und das hartnäckige Gefühl der Bedrohung zu verscheuchen.

Von unten hörte ich ein Geräusch, als ob sich irgendjemand dort zu schaffen machte. Das sind die Jungen, sagte ich mir. Es müssen die Jungen sein ...

Wer sonst?

Ich schlüpfte rasch in meinen weißen Morgenrock und tappte über die alten Dielen, wobei ich mich bemühte, jedes Geräusch zu vermeiden. Ein ziemlich schwieriges Unterfangen, wie ich feststellte: Ich mußte mich bei jedem Schritt langsam vortasten, um ja kein verräterisches Quietschen oder Knarren zu verursachen.

An dem Schild mit der blutroten Aufschrift »Draußen bleiben« vorbei, das an Rachels Zimmertür direkt über einem mit gekreuzten Knochen verzierten Totenkopf angebracht war. Sie kam langsam in das Alter, in dem man bis in den Nachmittag hinein zu schlafen pflegt.

Ich spähte hoffnungsvoll in das Zimmer der Jungen. Aber wie ich befürchtet hatte, lagen sie beide friedlich in ihren Betten und schliefen fest. Adam hatte sich quer über seine Matratze ausgestreckt; seine rosafarbenen Füßchen baumelten über die Bettkante. David dagegen hatte sein Gesicht tief in das Kopfkissen vergraben, und sein Hinterteil ragte in die Höhe wie ein aufgegangener Hefeteig.

n Es war ein Fremder im Haus.

Ich versuchte ruhig zu bleiben, aber eine entsetzliche Angst ergriff mich und lähmte meine Entschlußkraft. Vor sechs Monaten war in unsere Wohnung zu Hause eingebrochen worden. Wir hatten mit den Kindern Freunde in Riverdale besucht, um bei unserer Rückkehr die Haustür aufgebrochen vorzufinden. In der Wohnung herrschte ein völliges Chaos: Sämtliche Gegenstände, soweit sie nicht gestohlen waren, in allen Räumen verstreut, die Möbel waren aufgeschlitzt worden, ihre Füllung hing heraus und verteilte sich über dem Fußboden wie die Eingeweide eines geschlachteten Tieres. Dieses Bild sinnloser, brutaler Gewalt würde ich nie vergessen: Man hatte nicht nur meine Wohnung, sondern auch mein Innerstes aufgebrochen. Aber hier draußen, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagten, hatte ich mich in Sicherheit gewähnt ...

Ich schnappte mir Adams leider etwas mickrigen Baseballschläger, der hinter der Zimmertür lehnte, und schlich die Treppe hinab. Sie kam mir endlos lange vor ...

Bitte, bitte, lieber Einbrecher, sei nur Einbildung. Verrückte Emily. Immer hört sie irgendwelche Geräusche. Immer rechnet sie mit dem Schlimmsten.

Ein Schatten streifte durch die Küche.

»Wer ist da?« rief ich mit kläglich zitternder Stimme. »Machen Sie, daß Sie hier rauskommen. Ich habe eine Pistole.«

Der Schatten wurde größer und fiel durch die Küchentür in den Korridor ... Mir stockte der Atem.

Die spärlichen Strahlen des Morgenlichtes gaben der Gestalt langsam menschliche Konturen. »Oje. Das tut mir aber leid, Emily. Ich Dummerchen. Ich hätte Ihnen sagen müssen, daß ich heute schon früh kommen würde. Sie müssen sich ja zu Tode erschreckt haben, Sie armes Ding.«

»Granny? ... Und ich dachte, ein ...« Ich ließ den Schläger lässig hinter meinen Beinen baumeln und versuchte unbefangen dreinzuschauen. »Irgendetwas nicht in Ordnung«?

Sie wischte sich ihre Hände an einer rosageblümten Schürze ab, grabschte sich ihren Ring von einer Untertasse auf dem Fensterbrett und zwängte ihn über die dicken Gelenke ihres Fingers. Heute hatte sie ihr Haar senffarben getönt und trug es in der Mitte gescheitelt. Am Haaransatz blitzte ein schmaler, grauer Streifen hervor wie eine dünne Rauchfahne.

»Also wirklich. Ich Dummerchen. Alles meine Schuld. Ich hätte wirklich dran denken sollen, Sie vorzuwarnen. Sie haben sich bestimmt unnötig Sorgen gemacht.«

Unnötig. Allerdings. »Sie überraschen mich, Granny. Ich habe Ihnen doch gestern gesagt, daß ich gut ohne Sie zurechtkomme.«