Wenn die Unschuld stirbt - Judith Kelman - E-Book
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Wenn die Unschuld stirbt E-Book

Judith Kelman

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Beschreibung

Kann sie ihre Tochter retten? Der fesselnde Thriller »Wenn die Unschuld stirbt« von Judith Kelman jetzt als eBook bei dotbooks. Sie hat Schreckliches gesehen – doch das hat Rechtsanwältin Sarah Spooner nur darin bestärkt, Gewalt gegen Kinder zu bekämpfen. Nun hat ein Triebtäter in New York vier kleine Mädchen grausam missbraucht und Sarah setzt alles daran, ihn zu stoppen, bevor er sein nächstes Opfer findet. Aber warum scheint Inspektor Bullard, der ihr an die Seite gestellt wurde, jede ihrer Bemühungen sabotieren zu wollen? Ihr Misstrauen wächst – und dann wird ihre kleine Tochter Allison entführt ... So atemlos spannend wie Nicci French, so abgründig wie Joy Fielding! Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der psychologische Thriller »Wenn die Unschuld stirbt« von Judith Kelman ist der zweite Band ihrer Reihe um Rechtsanwältin Sarah Spooner, der unabhängig von Band 1 gelesen werden kann. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 477

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Über dieses Buch:

Sie hat Schreckliches gesehen – doch das hat Rechtsanwältin Sarah Spooner nur darin bestärkt, Gewalt gegen Kinder zu bekämpfen. Nun hat ein Triebtäter in New York vier kleine Mädchen grausam missbraucht und Sarah setzt alles daran, ihn zu stoppen, bevor er sein nächstes Opfer findet. Aber warum scheint Inspektor Bullard, der ihr an die Seite gestellt wurde, jede ihrer Bemühungen sabotieren zu wollen? Ihr Misstrauen wächst – und dann wird ihre kleine Tochter Allison entführt ...

Über die Autorin:

Mit mehr als zwei Millionen verkauften Exemplaren ihrer Bücher ist Judith Kelman eine Meisterin der psychologischen Spannung. Sie wurde für ihren Thriller »Fürchte dich vor mir« mit dem Mary Higgins Clark Award ausgezeichnet und war Vorsitzende der Mystery Writers of America. Sie lebt in New York City.

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre Thriller um Rechtsanwältin Sarah Spooner mit den Bänden »Wo das Dunkel herrscht« und »Wenn die Unschuld stirbt« sowie die Standalone-Thriller »House on the Hill«, »Schrei, wenn du kannst« und »The Black Widow«.

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eBook-Neuausgabe Februar 2024

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1989 unter dem Originaltitel »Hush Little Darlings« bei der Berkley Publishing Group, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1991 unter dem Titel »Kinder der Dunkelheit« bei Wilhelm Goldmann

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1989 by Judith Kelman

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1991 by Wilhelm Goldmann Verlag, München

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Badun und AdobeStock/Anna

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)

ISBN 978-3- 8952-046-2

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

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Judith Kelman

Wenn die Unschuld stirbt

Thriller

Aus dem Amerikanischen vom Kollektiv Druck-Reif

dotbooks.

Kapitel 1

Von allen Opfern war Libby in der schlimmsten Verfassung. Sie hatte den leeren und erschreckten Blick eines verwundeten Tieres und kauerte in einem Mantel eisiger Distanz vor mir, in den sich nur ein Mensch hüllt, der Schutz sucht, aber nicht mehr daran glaubt. Ein matter Nebel bedeckte ihre glanzlosen Augen, wie Eis sich auf ein Fenster legt. Das Grauen hatte jede Farbe aus ihrem Gesicht verscheucht, die Haut war milchig weiß, und ihre jungen, zarten Gesichtszüge waren schlaff, als wären sie wie Wachs unter einer zerstörerischen Sonne geschmolzen. Grobe, tiefblaue Adern tanzten auf ihrer Schläfe wie ein Paar verführerisch dahingleitender Schlangen. Der Rest ihres Körpers war wie aus Stein, eine Statue nackten Entsetzens, beleuchtet von dem bleichen Licht des Wintertages, das durch das verschmierte Fenster eines Büros drang.

Ich saß neben ihr und wußte, daß ein einziges unglücklich gewähltes Wort dieses tief verletzte kleine Mädchen ein für alle Mal zerstören konnte.

»Libby?« Ich bemühte mich, ruhig zu sprechen, nicht zu laut und nicht zu leise. Ich mußte mehr als vorsichtig sein – als handelte es sich um eine schwierige Operation, bei der es auf Millimeter und Sekunden ankam. »Deine Mama hat mir gesagt, daß du bereit bist, mit mir darüber zu reden, mein Schatz.

Kannst du mir deine Geschichte erzählen – und am besten so genau wie möglich?«

Das kleine Mädchen blinzelte. Mit ungeheurer Behutsamkeit setzte sie sich wieder auf dem klobigen Stuhl zurecht, faltete mit peinlicher Sorgfalt die Hände, schlug die dünnen Beine übereinander und strich ihren kurzen Jeansrock glatt. Als sie damit fertig war, zog sie einen Mundwinkel nach hinten und starrte schweigend auf das Durcheinander in meinen Regalen, als suche sie dort nach einem Anhaltspunkt, den sie verloren hatte.

»Welche Geschichte?« fragte sie schließlich leise.

»Die Geschichte, die du auch der Polizei erzählt hast, erinnerst du dich? Du hast den Polizeibeamten doch erzählt, was geschehen ist.«

»Ich habe ihnen von meinem Traum erzählt, das war alles. Es ist nicht in Wirklichkeit passiert.«

Ich war dabei, mich mit bloßen Füßen auf einen Teppich voller Glasscherben zu wagen. »...Na gut, mein Schatz. Dann erzähl mir deinen Traum. Es war doch ein ganz besonderer Traum, nicht wahr?«

Sie sah mich an. Ihre dunklen Augen wurden groß und bittend.

»Muß ich wirklich alles noch einmal erzählen, Mrs. Spooner? Die ganze Geschichte?«

»Du kannst ruhig Sarah zu mir sagen«, schlug ich vor. Die Kleine sollte sich entspannen. Ich wollte, daß sie mir ein wenig Vertrauen schenkte, obwohl sich ihre Mutter, Mrs. Marshak, wirklich alle Mühe gegeben hatte, gleich zu Beginn alles zu vermasseln. Kaum hatte sie den Fuß in mein Büro gesetzt, hatte sie auch schon ihren Zeigefinger wie eine geladene Pistole auf mich gerichtet und eine Salve abgefeuert. Ihre einfühlsamen Worte schwebten auch jetzt noch über uns wie eine bedrohliche dunkle Wolke: »Libby, das ist die Anwältin, die die Sache mit den Triebtätern aufklären soll. Sie wird dafür sorgen, daß dieses Monster, dem wir deinen Zustand verdanken, seine gerechte Strafe bekommt. Sie bringt solchen Abschaum wie diesen Kerl hinter Gitter, und zwar für immer. Stimmt doch, oder, Mrs. Spooner?«

Ich versuchte, die Wortsalve zu entschärfen: Triebtäter, Monster. Und ich als professioneller Rächer, dazu auserkoren, die Gesellschaft von menschlichem Abschaum zu befreien. Diese Beschreibung meiner Tätigkeit behagte mir nicht besonders. Als stellvertretende Staatsanwältin für Sexualdelikte sah ich mich gern als Fürsprecherin der Opfer. Seit ich im Anwaltsbüro von Manhattan arbeitete, hatte sich die öffentliche Meinung über Sexualverbrechen Gott sei Dank geändert. Frauen waren nicht mehr unbedingt selbst dafür verantwortlich, wenn ein Mann über sie herfiel. Eine Vergewaltigung war nicht die natürliche, verständliche Reaktion auf tief ausgeschnittene Kleider, dick auf getragene Wimperntusche oder Nahtstrümpfe; das sahen die meisten inzwischen ein. Auch vor Gericht wurden Vergewaltigungsopfer nicht mehr gezwungen, ihr Sexualverhalten zu verteidigen. Heutzutage konnten die Frauen, die mit den traumatischen Folgen dieses brutalsten aller Verbrechen zu kämpfen hatten, auf Unterstützung und Verständnis zählen. Und ich war stolz auf den Beitrag, den ich selbst zu dieser Veränderung geleistet hatte.

Ich versuchte also, das Mädchen zu beruhigen. »Es gehört zu meinem Beruf, daß ich dir helfe, deine Geschichte zu erzählen. Das ist alles.«

Damit zog ich den Holzstuhl, auf dem ich saß, näher zu Libby heran, schlug ihre Akte auf und überflog einige Zahlen ihrer ersten auf Tonband aufgezeichneten Aussage. Mein Blick fiel auf den medizinischen Bericht. Kein Wunder, wenn es dem kleinen Mädchen schwerfiel, jemals wieder Vertrauen zu einem Menschen zu gewinnen.

Ich sprach weiter in dem besänftigenden Ton, in dem ich früher immer meinen Kindern Allison und Nicky zur Schlafenszeit vorgelesen hatte: Märchen, lustige Gedichte, stimmungsvolle Geschichten mit einem guten Ende.

Wenn ich doch nur solche netten kleinen Geschichten auch Libby erzählen könnte! Aber dafür war es zu spät. Dunkle, drohende Schatten lagen nun über ihrer Kindheit. Namenloses Grauen hatte sich in die verborgene Welt der Seele dieses neunjährigen Mädchens eingegraben.

»...Du warst also in einem ganz, ganz dunklen Raum«, half ich nach. »Und die Wände waren aus weichem, schwarzem Samt ...«

Libby trommelte mit den Fingern auf die Armlehne ihres Stuhls. Ihre Augen verschleierten sich wieder, und ihre Stimme war kaum hörbarer als ein Windhauch.

»... Die Wände waren aus weichem, schwarzem Samt. Und es spielte diese hübsche Musik.« Sie summte zögernd einige Töne einer altbekannten, eingängigen Melodie.

»Und dann hast du ein Kitzeln gespürt?«

Sie riß die Augen ruckartig auf, ihr Gesicht verzerrte sich verächtlich. »Ein Streicheln war es, kein Kitzeln. Es war wie ... wie ...« Sie blies die Backen auf, hielt einen Moment den Atem an und ließ dann die Luft mit einem erleichterten Prusten wieder entweichen. »Es war wie warmer Pudding. Wie warmer Erdbeerpudding, den man im Topf rührt, damit er keine Klumpen kriegt.« Gierig sog sie die Luft ein und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, so lebhaft steigerte sie sich in ihre Phantasievorstellung hinein. »Dicker, warmer süßer Erdbeerpudding, in dem man rührt und rührt. Und dabei zuschaut, wie er Blasen wirft. Ein Streicheln, verstehen Sie?«

Ich nickte behutsam und versuchte weiterhin, in einem möglichst normalen Ton zu reden. »Eine sanfte Berührung?«

Voller Entrüstung stieß sie die Luft durch die Lippen heraus. »Nein. Ein Streicheln, das hab’ ich Ihnen doch gesagt.« Diesmal schlossen sich ihre Augen, die Lider flatterten wie Blätter im Wind.

»... Später, als er abgekühlt war, durfte ich welchen probieren, und er schmeckte wie süßer, kühler Schnee, erfrischend und weich und klebrig. Weil er so gut war, hab’ ich viel zuviel gegessen – so viel, daß ich ein bißchen Bauchschmerzen gekriegt habe, aber nicht besonders schlimm.«

»Bauchschmerzen hast du bekommen?«

»Es war ja nicht schlimm«, antwortete sie mit scharfer, ungeduldiger Stimme. »Ich habe kurz die Augen zugemacht, wie ich es sollte, und da gingen die Bauchschmerzen gleich weg. Und als ich die Augen dann wieder aufmachte, da sah ich diese wunderschöne, riesige purpurrote Blume mitten in dem Zimmer aus Samt. Sie hatte ein rosafarbenes Licht in der Mitte. Wie ein Stern.

Und ganz weiche Blütenblätter, mit denen sie einen umarmen konnte.«

»Hast du im Traum irgendjemanden gesehen?«

Sie zog ein mürrisches Gesicht. »Es war ein Traum ohne Leute. Das habe ich der Polizei auch schon gesagt. Es war niemand da außer mir. Und es ist nichts Schlimmes passiert. Es ist überhaupt nichts passiert. Es war bloß ein Traum. Ein dunkler, süßer, samtener Blumentraum mit Erdbeeren. Das war alles.«

»Und niemand hat dir weh getan?«

»Es war niemand da. Nur ich allein, das hab’ ich Ihnen doch gesagt. Es war so ein dusseliger Traum. Weiter nichts! Ich weiß nicht, warum alle so viel Trara darum machen. Wieso könnt ihr mich denn nicht alle in Ruhe lassen?«

»Wir möchten doch nur wissen, wie du verletzt worden bist, Libby. Wir wollen ganz sichergehen, daß dir so etwas nicht noch einmal zustößt. Weder dir noch jemand anderem.«

Libbys Augen zogen sich zu wütenden Schlitzen zusammen; Haß sprühte aus ihnen hervor. »Ich habe doch schon dem Polizisten gesagt, daß ich einen kleinen Unfall oder so etwas gehabt haben muß. Ich erinnere mich nicht mehr. Aber es ist schon viel besser jetzt. Kein Grund zur Aufregung.«

Ein kleiner Unfall. »Was für ein Unfall könnte das denn gewesen sein? Kannst du mir etwas darüber sagen?«

Sie war jetzt so wütend, daß sich rote Flecken auf ihrem Hals zeigten und ihre Stimme bebte: »Nein, kann ich nicht. Das habe ich doch schon hunderttausendmal gesagt. Ich kann mich nicht daran erinnern, ich kann mich nicht daran erinnern, ich kann mich nicht daran erinnern. Würden Sie mich jetzt bitte, bitte in Ruhe lassen!«

»In Ordnung. Beruhige dich. Wir wollen nicht mehr darüber reden. Ich möchte dich nur noch darum bitten, daß du dir dieses Buch hier anschaust, von dem dir der Polizeibeamte schon erzählt hat. Das Buch mit den Bildern. Sag mir einfach, ob dir irgendjemand darin auch nur ein kleines bißchen bekannt vorkommt.«

Libby seufzte und senkte resigniert den Kopf. Ich holte das große schwarze Album aus dem Schreibtisch und legte es ihr aufgeschlagen auf den Schoß. »Nur ganz kurz, mein Schatz. Dann kannst du nach Hause gehen, okay?«

Das Album war vollgestopft mit vergilbten Plastikhüllen, in denen sich grobkörnige Fotos von Verbrechern befanden. Es waren alles Bilder von Männern, die Kinder sexuell belästigt oder gar vergewaltigt hatten. »Pädophil« nannte man sie, was mit bitterer, an Sarkasmus grenzender Ironie nahelegte, daß diese Männer die unschuldigen Kreaturen tatsächlich liebten, die sie brutal mißhandelten und für immer mit blutigen, unsichtbaren Narben zeichneten.

Ich sah zu, wie Libbys Finger über die Seiten glitt und ihre Augen von einem Bild zum anderen sprangen. Ihre freie Hand spielte mit ihrem Ohrläppchen, das unter der dicken Haarmähne mit den blonden Strähnen hervorlugte. Sie knetete daran herum, bis das ganze Ohr knallrot angelaufen war.

»Na, kommt dir jemand bekannt vor?«

Libby ließ weiter den Finger über die Reihen der Gesichter wandern und drückte ihn dabei so heftig auf die Bilder, daß die Fingerspitze ganz weiß wurde. »Nein. Nein. Und noch mal nein. Niemand. Nichts. Nirgends. Kann ich ein Glas Wasser haben oder so was? Ich habe Durst.«

»Ja sicher, mein Schatz. Aber ich möchte, daß du dir zuerst die Bilder noch ein bißchen anschaust. Noch eine Minute. Okay?«

Ein mechanisches, krächzendes Geräusch drang aus ihrer Kehle. Es wurde lauter, und getrieben von Angst und Wut gipfelte es in einem verzweifelten Schrei. »Es ist nichts passiert. Ich hab’ es Ihnen doch gesagt ... nichts ... ist ... passiert! Können Sie mich denn nicht endlich in Ruhe lassen!«

»Beruhige dich, mein Schatz, ist ja gut. Wir machen Schluß für heute.« Ich versuchte, das Buch von ihrem Schoß zu nehmen, aber ihre Hände hatten sich wie ein Fangeisen darum geschlossen. Die Finger waren wie in einem Krampf erstarrt, ihr Gesicht verfärbt, war knallrot angelaufen. Schließlich riß sie den Mund unnatürlich weit auf, als wollte sie einem Schrei Luft verschaffen, der tief in ihrem Innern gefangen saß.

Sie fing an, krampfhaft zu husten, und schließlich löste sich der Schrei, brach aus ihr hervor und erfüllte den ganzen Raum. »Es ist nichts passiert!« Sie trommelte mit den Fingerknöcheln auf die Bilder, kratzte mit ihren zerbissenen Nägeln über die Plastikseiten. »Nichts ... niemand. Es war ein Traum. Ich hab’ es Ihnen doch gesagt. Ich hab’ es dem Arzt gesagt. Ich hab’ es allen gesagt. Nichtsnichtsnichtsnichts ist passiert!«

»Beruhige dich, Libby. Hör auf damit.« Wie ein elektrischer Schlag bahnte sich ihre Wut einen Weg in mein Inneres. »Hör auf damit. Ich ... sagte ... Schluß.«

Dieses Kind. Alle diese Kinder. Dieser ganze, gräßliche Fall wuchs sich allmählich zu einem tückischen Strudel aus, der mich in die Tiefe ziehen wollte.

»Hör auf!«

Plötzlich ließ Libby ihre Glieder hängen und war totenstill. Einen Moment lang flatterte ihr Blick noch über mein Gesicht wie ein verspielter Schmetterling, dann erstarrte er wieder und wurde kalt und leer.

Ich massierte ihr mit der flachen Hand ganz sanft den Rücken. Unter ihrem flauschigen Pullover fühlte sich ihr Körper an wie Gummi über einem harten Gestänge. Die einzigen zuverlässigen Lebenszeichen waren die schlangengleichen Pulsadern, die weiterhin auf ihren Schläfen pulsten. Ich hatte den Kontakt zu ihr verloren.

»Ist ja gut, mein Schatz. Genug für heute.« Das Album ließ sich jetzt ohne weiteres aus ihren ermatteten Händen ziehen. Ich legte es zurück an seinen Platz und brachte Libby zur Tür.

Im Flur wartete ihre Mutter. Bei ihr stand Inspektor Al-John Bullard, der die Ermittlungen bei dieser verwirrenden Serie von Kindesvergewaltigungen leitete. Zuerst war ich ganz begeistert, daß ausgerechnet er mit diesem Fall beauftragt worden war. Bullard war ein ehemaliger Football-Star, der dafür bekannt war, daß er stets greifbare Ergebnisse lieferte. Aber er hatte sich verändert, seit wir vor über einem Jahr das letzte Mal zusammengearbeitet hatten. Ich konnte nicht genau sagen, woran es lag, aber er wirkte kraftlos auf mich – wie ein riesiger Heißluftballon mit einem winzigen Loch, aus dem ganz langsam die Luft entweicht. Sein Temperament und seine zupackende Art waren nach wie vor beeindruckend, aber sein forsches selbstbewußtes Auftreten schien ihm jetzt wesentlich mehr Mühe zu bereiten. Zu viel Mühe für meinen Geschmack.

Ich hatte etwas läuten hören von familiären Schwierigkeiten, einer schwangeren Geliebten, einer Niederlage im Kampf gegen den Alkohol. Was auch immer der Grund für sein bedauernswertes Nachlassen sein mochte – fest stand, daß er sich kaum einen ungünstigeren Zeitpunkt dafür hätte aussuchen können.

Als ich ihm durch Handzeichen zu verstehen gab, daß mein Gespräch mit Libby beendet war, warf er mir einen gequälten Blick zu und verdrehte seine trüben Augen. Anscheinend war der Umgang mit Libbys Mutter nicht einfacher als der Umgang mit ihrer Tochter.

Mrs. Marshak stand auf und kam auf mich zu, um Libby in Empfang zu nehmen. Obwohl insgesamt ein wenig weicher, sah sie ihrer Tochter doch sehr ähnlich: kurzgeschnittenes, hellbraunes Haar, rundes Puppengesicht. Unter dem weichen Fettpolster einer Frau mittleren Alters war ihr zarter Körperbau noch zu erkennen. Ihre Nervosität war ansteckend, und in ihren dunklen Augen lag eine tiefe, erdrückende Traurigkeit. Ich wünschte mir von ganzem Herzen, ich könnte sie aufmuntern, aber ich selbst wußte nur zu gut, was es bedeutet, wenn das eigene Kind verletzt wird. Oder ihm noch Schlimmeres geschieht. Seit dem Tod meines Sohnes vor drei Jahren fühlte ich jedes Mal den Schmerz am eigenen Körper, wenn andere Menschen einen unbegreifbar schmerzlichen Verlust erlitten.

»Ich glaube, Libby hat für heute genug, Mrs. Marshak«, sagte ich. »Könnten Sie vielleicht morgen vor der Schule noch für ein paar Minuten vorbeikommen? Ich habe da noch ein paar Fragen, die ich ihr gern stellen würde.«

Sie seufzte. »Noch mehr Fragen? Na ja, wenn es nicht anders geht. Wir tun ja alles, wenn Sie nur diesen Wahnsinnigen hinter Schloß und Riegel bringen. Sie müssen dafür sorgen, daß er unschädlich gemacht wird.«

»Ich weiß, Mrs. Marshak. Deshalb ist es ja auch so wichtig, daß Libby uns alles sagt, was sie weiß.«

Mrs. Marshak legte ihren Arm quer über Libbys Brust. Ihr Gesicht war schmerz verzerrt. »Sie ist doch noch ein kleines Mädchen, wissen Sie. Man kann nicht zuviel von ihr verlangen. Vor allem nach ...«

Eine Woge des Mitgefühls überflutete mich. Wäre Libby meine Tochter gewesen, hätte ich auch alles tun wollen, um sie vor der schlechten Welt zu beschützen. Wäre sie meine Tochter ... unmöglich. So etwas Schreckliches würde Allison nie zustoßen. Niemals.

»Bestimmt werden wir Sie und Libby danach nicht mehr belästigen müssen, Mrs. Marshak. Ich weiß Ihre Unterstützung sehr zu schätzen.«

»Das arme Ding ist gar nicht mehr sie selbst, seit ...« Mrs. Marshaks Unterlippe zitterte. »Wie kann ein Mensch nur so etwas tun? Was für ein krankhafter ...«

Libbys Körper verkrampfte sich.

»Ich wollte doch nur, daß sie mal ein ganz normales, glückliches Leben führt. Aber jetzt. Jetzt ist mein Baby ...« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie schüttelte den Kopf, fuhr mit zitternden Fingern durch Libbys Haar und kniff das Mädchen leicht in die Wange, um ein wenig Farbe in ihr Gesicht zu bringen. »Einer muß dafür bezahlen, das können Sie mir glauben. Irgendjemand wird diesen Schaden wiedergutmachen.«

»Na, dann alles Gute, Mrs. Marshak«, mischte sich Bullard ein und winkte ihr zu. »Und passen Sie auf sich auf.«

»Es bleibt mir ja keine andere Wahl«, fauchte Libbys Mutter erbost. »Man kann sich wahrhaftig nicht darauf verlassen, daß die Polizei auf einen aufpaßt, weder auf mich noch auf sonst jemanden. Ganz bestimmt nicht.«

Diese Frau war so verzweifelt, daß ihr jede Gelegenheit recht war, auf irgendjemanden die Schuld zu schieben. Genauso hatte ich mich nach der Sache mit Nicky auch gefühlt ...

Nicky. Drei Jahre waren seit dem Tod meines Sohnes vergangen, und noch immer war die Erinnerung wie eine eiternde Wunde. Noch immer konnte ich mir jede Einzelheit des Begräbnisses vor Augen rufen, hatte ich die leeren Worte des Pfarrers im Ohr, der gepredigt hatte, ich solle Trost suchen in dem, was mir geblieben sei ...

Das schrille Klingeln des Aufzugs brachte mich in die Gegenwart zurück, und ich sah Mutter und Tochter in seinem gähnenden Metallschlund verschwinden. Bullard blieb zurück; offensichtlich paßte es ihm gar nicht, wieder einmal die Zielscheibe von Mrs. Marshaks Wutausbruch gewesen zu sein. Er konnte ohnehin nichts tun, ihren Schmerz zu lindern. Keiner von uns konnte etwas für sie tun, wenn wir diesem Alptraum nicht bald ein Ende bereiteten.

Wir werden den Schaden wiedergutmachen, Libby, versprach ich der Stille, die sie hinterlassen hatte. Wir werden den Kerl finden und dafür sorgen, daß er verurteilt wird.

»Die Frau ist total übergeschnappt«, erklärte Bullard mit einem mitleidigen Kopfschütteln.

»Ich kann nicht behaupten, daß ich ihr das übelnehme.«

Er zuckte die Achseln. »Was passiert ist, ist passiert. Es ist doch sinnlos, ständig herumzujammern. Ihr ewiges Lamentieren bringt uns auch nicht weiter, richtig?«

»Nein, aber die Frau müßte ein Herz aus Stein haben, wenn sie ruhig und gefaßt bliebe nach allem, was ihrer Tochter passiert ist.«

Ein behäbiges Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Und was ist mit Ihnen? Sie haben auch kein Herz aus Stein, richtig, Frau Staatsanwältin?«

»Ich finde diesen Fall scheußlich und empörend, falls es das ist, was Sie meinen, Bullard. Jedes menschliche Wesen würde das gleiche empfinden.«

Bullard schnalzte mit der Zunge. »Sie lassen sich viel zu sehr persönlich in den Fall hineinziehen, Frau Staatsanwältin. Sie nehmen sich den ganzen Schlamassel viel zu sehr zu Herzen, richtig? Andererseits ist das wahrscheinlich auch gar kein Wunder, nach allem, was Sie durchgemacht haben. Eine unangenehme Scheidung, hab’ ich mir sagen lassen. Und die Umstände, unter denen Sie Ihren Sohn verloren haben. Es wäre das Beste, wenn Sie ein bißchen langsamer treten und erst einmal tief Luft holen würden. Das ist jedenfalls meine Meinung.«

»Offen gestanden, liegt mir nichts daran, Inspektor. Ihre Meinung interessiert mich nicht.«

»Wenn Sie weiter auf Ihre Gefühle hören, haben Sie die Sache bald nicht mehr im Griff, Sarah Spooner. Sie wollen doch bestimmt erstklassige Arbeit leisten, da müssen Sie schon alle sieben Sinne beisammenhalten.«

»Und das bedeutet, daß Sie jetzt ruhig wieder gehen können.«

»Schon gut, schon gut. Ich verstehe den Wink mit dem Zaunpfahl.« Er tippte mit dem Finger an seinen Hut und stieg in den nächsten Lift. »Bis später, Frau Staatsanwältin. Denken Sie gelegentlich mal nach über das, was ich Ihnen gesagt habe.«

Während sich die Türen hinter ihm schlossen, versuchte ich, mir Bullards Haltung zu erklären. Wie kam es nur, daß ihn dieser widerliche Fall so unberührt ließ? Und wenn für ihn ein mehrfacher Kindesvergewaltiger wirklich nicht mehr war als irgendein langweiliger Fall wie jeder andere, wieso hatte er sich dann überhaupt bereit erklärt, die Ermittlungen in dieser Geschichte zu übernehmen? Bullard arbeitete normalerweise in der Mordkommission.

Ich ging zurück in mein Büro und schloß die Tür hinter mir. Dann fischte ich die neueste Akte aus dem Stapel, der sich auf meinem Schreibtisch türmte, öffnete sie und kritzelte die Einzelheiten meiner nicht sehr erfolgreichen Begegnung mit dem kleinen Mädchen auf den eingehefteten Berichtbogen.

Es war immer wieder die gleiche Geschichte. Immer wieder dieselben unerklärlichen Ereignisse. Und immer wieder dieses Phantasiebild: Wände aus schwarzem Samt, Blumen, sanfte Musik. Und daneben wie ein Alptraum die kalten klinischen Fakten aus dem Bericht der Ärzte. Verletzungen in mehrsilbigen medizinischen Fachausdrücken: Hautabschürfungen an den Schamlippen. Anzeichen erzwungener Penetration, schwere Verletzungen an den Geschlechtsteilen.

Jetzt waren es bereits vier kleine Mädchen.

Kapitel 2

Um die Mittagszeit war es soweit: ich hielt es nicht mehr länger aus ohne die Hilfe eines mitfühlenden Zuhörers mit einer kräftigen Portion Menschenverstand. Ich versuchte, Dr. Shulamith Mizrachi im Institut für Verhaltensforschung zu erreichen.

Nach etlichem Hin und Her und dem gesamten Einsatz meiner Überredungskünste schaffte ich es schließlich, sie ans Telefon zu bekommen. Sie war sofort damit einverstanden, sich mit mir zu treffen – falls es mir nichts ausmachte, wenn sie während unserer Unterhaltung eine Reihe experimenteller Tierversuche im Labor überwachte.

Ein unglaublich glücklicher Zufall. Dr. Mizrachis Zeit war äußerst knapp bemessen, denn sie mußte sie aufteilen zwischen ihren Verpflichtungen als Direktorin des Instituts, ihrer Lehrtätigkeit an der psychologischen Fakultät der Columbia University und einer Vorlesungsreihe, bei der sie aufgrund ihres ausgezeichneten Stils und des Niveaus ihrer Beiträge sehr gefragt war.

Ich selbst hatte sie während des T. L. C. Kinderhort-Prozesses kennengelernt. Als es Probleme gab und wir schon fürchteten, den Prozeß zu verlieren, gelang es meinem Chef, Bezirksstaatsanwalt Bernham Hodges, sie als Zeugin der Anklage zu gewinnen.

Mizrachis Zeugenaussage wurde zum zentralen Punkt der Anklage gegen Glenda Highsmith, der Mary-Poppins-Imitation, die den Kinderhort geleitet hatte. Diese Frau war des sexuellen Mißbrauchs an zwölf der zwei- bis vierjährigen Kinder in über zweihundert Fällen angeklagt worden.

Die Verteidigung hatte mit allen Mitteln das Gericht davon zu überzeugen versucht, daß es ein wahres Zauberkunststück wäre, eine Gruppe von dickköpfigen Vorschulkindern überhaupt dazu zu bringen, etwas zu tun, was man von ihnen verlangte. Wie sollte es dann jemand fertigbringen, sie zu den abscheulichen Dingen zu zwingen, die sie mit und für »Miß Glenda« taten?

Der Verteidiger war ein junger inkorporierter Jurist, der es meisterhaft verstand, die Geschworenen zu irritieren.

»Haben Sie schon einmal versucht, ein dreijähriges Kind dazu zu bringen, zu einer normalen Zeit ins Bett zu gehen?« fragte er. »Das ist ein unmögliches Ding der Unmöglichkeit, meine Damen und Herren. Und wenn Sie mir nicht glauben, dann stelle ich Ihnen meinen dreijährigen Sohn Trevor zur Verfügung. Bitten Sie ihn um irgendetwas, und ich garantiere Ihnen, daß Trevor mit seinem Lieblingswort antwortet: Nein!«

Wie vorauszusehen, hatten die Geschworenen mit Gelächter und verständnisvollem Nicken reagiert. Sie waren erleichtert, daß man ihnen eine Möglichkeit bot, der schrecklichen Wahrheit nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Jeder wäre darüber erleichtert gewesen.

Die Verteidigung hatte vorläufig alle zwölf Geschworenen um den Finger gewickelt.

Aber dann war Dr. Mizrachi in den Zeugenstand getreten und hatte eine glänzende Rede gehalten über Einschüchterungstaktiken und Manipulation. Sie sprach über etliche der unerfreulichen Methoden, die Sexualverbrecher einsetzen, um ihre kleinen Opfer gefügig zu machen und sie zum Schweigen zu bringen.

Zum gängigen Repertoire solcher Menschen gehörte es beispielsweise, dem Kind zu drohen: Wenn du jemandem von dem Verbrechen erzählst, wird dir oder deiner Familie ein furchtbares Unheil zustoßen. Oft wurden kleine Tiere verstümmelt oder abgeschlachtet, um dem Kind eindrucksvoll zu zeigen, was ihm oder den Menschen, die es liebte, passieren konnte, wenn es das Geheimnis verriet.

Beinahe noch teuflischer war eine andere Methode: Dem Opfer wurde gesagt, daß es einen »Freund« gäbe, der sich im Gerichtssaal alles anhören würde, und dieser Freund wäre in eine lange schwarze Robe oder eine dunkelblaue Uniform gekleidet. Diese Kinder waren dann wie gelähmt vor Schreck, wenn sie Richter, Polizisten oder Gerichtsdiener zu Gesicht bekamen, denn sie glaubten ganz sicher, daß alles, was sie ihnen sagten, sofort ihrem Peiniger hinterbracht wurde.

Dr. Mizrachi hatte mehrere der betroffenen Kinder im T. L. C.-Fall beobachtet und befragt, und nach dem, was sie erfahren hatte, vermutete sie ein solches Vorgehen. In einer beweiskräftigen Videoaufzeichnung, die trotz des heftigen Protests der Verteidigung vorgeführt wurde, zeigte sie einem engelhaften kleinen Mädchen das Bild eines Richters. Er lächelte und trug eine Robe. Sofort waren bei dem Kind sämtliche Anzeichen entsetzlicher Angst zu sehen. Sie riß die Augen weit auf vor Schreck, ihr Mund öffnete sich zu einem gellenden Schrei.

Dieses Bild nahmen die Geschworenen mit sich in die Beratung, die geschlagene zehn Stunden dauerte und mit einem Schuldspruch in allen Anklagepunkten endete. Mary Poppins würde ihren Regenschirm eine ganze Weile nicht mehr brauchen. Und das alles dank dem fachmännischen Scharfblick, den ich im Moment so verzweifelt nötig hatte.

Ich brauchte nicht einmal eine halbe Stunde zum Institut. Die Forschungseinrichtungen waren in einem zehn Stockwerke hohen Gebäude aus Glas und Stahl untergebracht, das an der Upper West Side in der Nähe des Campus der Columbia University lag. Das Institut, kurz IVF genannt, wurde sowohl mit öffentlichen als auch mit privaten Stiftungsgeldern kräftig unterstützt und war ein Wallfahrtsort für die Erforschung des Zusammenspiels von Geist und Körper, Anlage und Erziehung, normalen und abwegigen Reaktionen. Dr. Mizrachis Name hatte genügt, die führenden internationalen Größen der Verhaltensforschung nach New York City zu locken, um ihre wegweisende Tätigkeit in den vorzüglich ausgestatteten Labors voranzutreiben.

Am Empfangspult erhielt ich einen Besucherausweis, und man schickte mich zu einem Labor im hinteren Teil des zweiten Stockwerks. Auf dem Weg zur Treppe kam ich an mehreren Institutsangestellten vorbei. Alle hatten sie es furchtbar eilig mit ihren Klemmbrettern und ihren T-Shirts, die groß die Aufschrift IVF trugen. Laborassistenten schoben große Metallwagen vor sich her, auf denen sich Käfige mit Versuchstieren, Monitorausstattungen, Computerausdrucke, Kaffee und Doughnuts befanden.

Als ich die schwere Tür zu Dr. Mizrachis Labor öffnete, drang mir sofort das ständige Piepsen der elektronischen Geräte und das asthmatische Keuchen von Filtern und Kompressoren ins Ohr. Der Raum war weiß getüncht und makellos sauber, die Deckenlampen waren in Reih und Glied angeordnet und sorgten für das nötige Licht. Dr. Mizrachi beugte sich gerade über eine lange Reihe von Drahtkäfigen. Sie überprüfte eine Reihe weißer Mäuse, an deren Kopf Elektroden angebracht waren und die außerdem eine Art winzigen Sattel zu tragen schienen.

»Sarah? Sind Sie’s? Kommen Sie rein, ich bin gleich fertig.« Sie machte mehrere Eintragungen auf einem Datenvordruck, ging weiter zum nächsten Käfig und unterzog ihn derselben Prüfung.

»Du meschuggene Maus«, meinte sie in einem flotten Mischmasch aus Englisch, Jiddisch und Lower-East-Side-Amerikanisch. »Was soll ich bloß mit dir machen?« Sie faßte durch den Deckel des Drahtkäfigs, fischte ein winziges Mäuschen heraus, das sich in ihrer Hand drehte und wendete, und hielt es so, daß sich seine zuckende Schnauze ein paar Zentimeter vor ihrer Nase befand. Dr. Mizrachi hatte ein eindrucksvolles Gesicht: kluge braune Augen, schmaler Mund, Adlernase, tief eingegrabene Falten. Ihr Haar war unter einer khakifarbenen Haube versteckt, nur ein paar ungebärdige Locken kringelten sich vor ihrer Stirn. Unter dem weißen Laborkittel trug sie einen marineblauen Wollrock mit passender gerippter Strickjacke, darunter das allgegenwärtige IVF-T-Shirt mit dem blauen Halsbündchen und dem Firmenzeichen in Form eines menschlichen Gehirns. Ihre Füße steckten in gestreiften Socken und weißen Turnschuhen.

»Sehen Sie diese Maus hier, Sarah – meinen Morris? Er sieht doch aus wie eine ganz gewöhnliche kleine Maus, oder nicht? Aber der kleine Teufel schafft es, sich die Elektroden selbst abzunehmen. Er ist ein regelrechter Entfesselungskünstler.« Sie gab einen Tropfen Gel auf den Hinterkopf der Maus und befestigte damit das winzige Plättchen wieder an seinem Platz. »So, jetzt kannst du wieder laufen. Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten und laß die Finger von meinen Elektroden.«

Sie setzte die Maus wieder in den Käfig, wusch sich an dem glänzenden Metallwaschbecken die Hände, dann nahm sie mich in die Arme und drückte mich an sich. »Es ist so schön, Sie wiederzusehen, meine Liebe. Sie sehen wunderbar aus. Wie geht’s Ihnen denn?«

»Ganz gut. Ich stecke bis über beide Ohren in einem besonders scheußlichen Fall, aber sonst geht’s mir gut.«

»Uber den Fall habe ich schon etwas gelesen.«

Sie deutete mit einer Kopfbewegung zum Tisch, auf dem die Nachmittagsausgabe der NEWS lag. Mein Blick fiel auf die riesige Schlagzeile: Die Samtviper geht um unter den Kindern New Yorks.

Ich überflog den ersten Absatz, und mir wurde ganz flau im Magen. Viel zu viele Einzelheiten. Vertrauliche Informationen. »Wie sind die bloß in so kurzer Zeit an all das rangekommen? Bezirksstaatsanwalt Hodges hat alles Menschenmögliche getan, damit nichts an die Öffentlichkeit dringt.«

Dr. Mizrachi seufzte. »Es braucht eben nur einer den Mund aufzureißen. Sie wissen doch, daß es Leute gibt, die sich einfach nicht zurückhalten können, wenn sie die Chance haben, gegenüber der Presse etwas auszuplaudern.«

Die Samtviper. Ich konnte Hodges förmlich vor mir sehen, wie er vor Wut schnaubte. Jetzt hatte unser Bösewicht wenigstens den erforderlichen anschaulichen Spitznamen. Gesegnet seien die Medien. Man konnte sich immer darauf verlassen, daß sie nicht ruhten, bis ein ohnehin schon äußerst heikler und widerwärtiger Fall zu allem Überfluß noch eine Panik in der Bevölkerung auslöste. Und genau das hatte der Bezirksstaatsanwalt um jeden Preis vermeiden wollen.

Angeekelt stieß ich einen heftigen Seufzer aus. Morris, der hektisch in seinem Käfig herumrannte, hielt einen Moment inne, rümpfte die Nase und sah mich tadelnd an. Ich hielt seinem Blick stand. »Du hast gehört, was Dr. Mizrachi gesagt hat. Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten.«

»Siehst du?« unterstützte mich Dr. Mizrachi. »Wie oft hab’ ich es dir schon gesagt. Keiner mag verrückte kleine Mäuse.« Sie wandte sich wieder an mich. »Also, Sarah. Erzählen Sie mir ein bißchen mehr über Ihren widerwärtigen Fall.«

Sie fuhr mit ihrer Arbeit an den Käfigen fort. Ich erzählte das Wenige, was wir bisher über die vier Opfer wußten, und beschrieb die seltsamen Einzelheiten, die alle vier von ihren Halluzinationen berichtet hatten. Dr. Mizrachi unterbrach mich von Zeit zu Zeit, um mir eine gezielte Frage zu stellen oder um eine Kleinigkeit an dem Versuchsaufbau zu ändern. Ansonsten hörte sie mir mit der geballten Konzentration einer geistigen Hochspannungsanlage zu.

»So weit sind wir also bis jetzt gekommen«, schloß ich meinen Bericht. »Eigentlich haben wir bisher kaum Fortschritte gemacht. Wir treten auf der Stelle. Am Anfang neigten wir zu der Annahme, daß die Halluzinationen von einer Droge hervorgerufen wurden. Aber man fand nichts dergleichen bei den kleinen Mädchen, obwohl die Leute vom Labor die Blut- und Urinproben der Kinder wirklich auf jeden erdenklichen Stoff untersucht haben. Alles, was uns sonst noch in den Kopf gekommen ist, klingt viel zu sehr nach einer Story für einen zweitklassigen Film: Massenhysterie, Gehirnwäsche, exotisches Hexengebräu aus irgendwelchen Kräutern, Voodoo. Alles nicht gerade Dinge, die dazu angetan sind, die Geschworenen zu überzeugen. Jedenfalls nicht, solange sie nüchtern sind.«

Dr. Mizrachi hantierte an einem der Monitore herum und runzelte die Stirn. »Ich würde zu diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit ausschließen, so weit hergeholt sie auch erscheinen mag. Und ich würde ganz bestimmt nicht den Fehler machen, den Gegner zu unterschätzen. Denn das krankhafteste Gehirn ist oft das klügste und gerissenste.«

»Das höre ich gar nicht gern. Ich mag es viel lieber, wenn die Täter dumm und unvorsichtig sind.«

Sie blickte mich verständnisvoll an. »Wer wünschte sich das nicht? Aber die Dinge liegen selten so einfach, das wissen Sie ja nur zu gut.«

»Vierzehn Jahre arbeite ich jetzt schon in diesem Bereich, und es fällt mir immer noch schwer, diese Kreaturen, die sich als Menschen ausgeben, zu begreifen. Ich frage mich manchmal, ob ich mich je daran gewöhnen werde.«

Dr. Mizrachi holte tief Luft. »Ich glaube nicht, daß man sich wirklich daran gewöhnen kann. Aber je mehr man sieht, desto weniger Überraschungen gibt es. Es kann einen nichts mehr schockieren.«

»Ich habe auch gedacht, daß mich nichts mehr schockieren könnte, aber dieser Fall hat etwas an sich, das ... Der Inspektor, mit dem ich zusammenarbeite, meint, ich sei überempfindlich. Und ich bin mir keineswegs so sicher, ob er nicht vielleicht recht hat. Ich denke immer, solange dieser Irre noch frei herumläuft, könnte es jedes Mädchen sein, das er sich als nächstes schnappt ... auch meine Tochter. Was ist, glauben Sie jetzt auch, daß ich dabei bin, den Verstand zu verlieren?«

Ihre Augen lächelten mich an. »Nein. Ich finde, Sie sind hoffnungslos normal.«

Die Worte dieser Frau waren Balsam für meine Wunden. »Danke. Genau das wollte ich von jemandem hören, den ich schätze.«

»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, antwortete sie. »Erzählen Sie mir doch etwas über Ihre Tochter. Ist sie eine ebenso strahlende Schönheit wie ihre Mutter?«

»Na ja, wenn Sie meine ganz objektive Meinung hören wollen – sie ist eine wundervolle junge Frau. Klug, sensibel, künstlerisch veranlagt. Schön von innen und von außen. Natürlich, wenn Sie meinem Urteil nicht vertrauen, dann müssen Sie meine Mutter fragen. Sie ist wirklich objektiv in dieser Angelegenheit.«

Dr. Mizrachi lachte. »Ich glaube Ihnen. Haben Sie nur dieses eine Kind?«

Da war sie wieder einmal, diese Frage. »Ich hatte noch einen Sohn. Er ... ist tot.«

»Das tut mir leid.«

Meine Kehle schnürte sich zusammen. Jedes Wort war wie eine brennende Wunde. Ich versuchte, den Kloß hinunterzuschlucken, der in meiner Kehle steckte. »Wenn ich ehrlich sein soll – ich bin noch immer nicht ganz darüber weg. Ich glaube nicht, daß ich das jemals schaffen werde. Deshalb habe ich auch so schreckliche Angst, daß Allison etwas zustoßen könnte. Wenn ich sie verliere ...«

Dr. Mizrachi nickte; ihre Augen waren voller Mitgefühl. »Es ist ganz natürlich, daß Sie so empfinden, meine Liebe.«

»Natürlich oder nicht, vielleicht hat Bullard ja doch recht. Vielleicht bin ich einfach nicht imstande, diesen Fall mit klarem Kopf anzugehen.«

Sie verzog das Gesicht. »Was weiß denn der schon? Er ist ja schließlich keine Mutter.«

»Nun, ich bin mir nicht sicher, aber ich denke, nein.«

»Gut«, lachte sie. »Ihr Humor funktioniert also noch. Ich möchte behaupten, daß in diesem Falle bei der Patientin Aussichten auf vollständige Heilung bestehen.«

»Wenn ich diesen Fall überlebe, vielleicht bin ich dann tatsächlich ein für alle Mal geheilt.«

»Sie werden den Fall lösen, und es wird Ihnen immer besser gehen. Glauben Sie mir, an Dienstagen irre ich mich niemals. Aber zur Sache – wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«

»Sie könnten mir sagen, was für eine Art Mensch wir Ihrer Ansicht nach vor uns haben.«

Ganz wie ich es gehofft hatte, entwarf sie ein anschauliches Bild eines typischen Pädophilen. Die Störung, die bei diesen Menschen vorlag, beruhte auf einer gehemmten Sexualentwicklung vor der Pubertät, erklärte mir Dr. Mizrachi. Oft war diese auf schweren sexuellen Mißbrauch und andere körperliche Gewalttätigkeiten zurückzuführen. Solche Männer blieben im Stadium unreifen sexuellen Experimentierverhaltens stecken, besessen vom Drang, ihre sexuellen Bedürfnisse an Kindern zu befriedigen.

Auch andere Aspekte einer gestörten emotionalen Entwicklung waren typisch. Kinderschänder waren häufig unflexibel und zwanghaft. Manche von ihnen hatten tödliche Angst vor Bakterien und Schmutz. Manche vollzogen bei ihren gestörten Sexualpraktiken komplizierte abergläubische Rituale.

Eine erfolgreiche, reife Beziehung einzugehen, war für alle Menschen mit dieser Störung unmöglich, aber viele von ihnen versuchten es dennoch immer wieder. Das Ergebnis war immer unbefriedigend, und manchmal nahm die Sache ein tragisches Ende. Es gab Fälle, in denen ein Pädophile die erwachsene Frau, mit der er eine Beziehung eingegangen war, aus Wut und Frustration vergewaltigt, gefoltert oder sogar getötet hatte. Manche Fachleute gingen davon aus, daß dies eine symbolische Rache an dem Erwachsenen war, der den Täter selbst als Kind mißhandelt und damit das krankhafte Verhalten ausgelöst hatte. Meist handelte es sich hierbei um ein Elternteil.

Dr. Mizrachi vertrat die Ansicht, daß wir es in unserem Fall mit der brisantesten und gefährlichsten Art der Pädophilie zu tun hatten, die den Täter vor nichts zurückschrecken ließ, wenn es darum ging, seine krankhaften Triebe zu befriedigen.

»Sie müssen sehr vorsichtig sein mit diesem Mann, Sarah. Nach dem, was Sie mir über die Verletzungen der Opfer berichtet haben, müssen wir davon ausgehen, daß dieser Mann von gewalttätigen, sadistischen Impulsen getrieben wird. Glauben Sie bitte nicht, daß er Sie oder sonst jemanden nicht angreifen würde, wenn man ihm zu nahe kommt. Dazu ist der Zwang, unter dem ein solcher Mensch steht, viel zu gewaltig. Wenn er sich in die Enge getrieben fühlt ...«

»Aber er ist infantil geblieben, haben Sie gesagt. Müßte er da nicht leichter zu schnappen sein als ein normaler Mensch?«

»Nicht unbedingt. Er ist infantil in seinen Neigungen, ungeschickt in menschlichen Beziehungen, aber das heißt noch lange nicht, daß er dumm wäre. Ganz im Gegenteil, er kann eine geradezu diabolische Schlauheit entwickeln, wenn es darum geht, das zu bekommen, was er will. Was er braucht ...«

Eine teuflische Schlauheit. »Und Sie glauben, daß wir es in unserem Fall mit einem solchen Menschen zu tun haben?«

Sie blickte mich ernst an. »Ich glaube, daß Sie diese Möglichkeit zumindest ins Auge fassen müssen. Denken Sie an die Halluzinationen und daran, daß diese ganze Gruppe kleiner Mädchen nicht gegen ihn aussagen will oder kann. Er versteht es also außerordentlich gut, sein Geheimnis zu wahren.«

»Glauben Sie, er hat die kleinen Mädchen so beeinflußt, daß sie alles abstreiten?«

»Das ist eine Möglichkeit, aber nur eine von vielen. Einem Kinderschänder steht eine ganze Trickkiste zur Verfügung, aus der er sich bedienen kann: Angst, Isolation, Versprechungen, Drohungen, Sinnestäuschungen, Drogen, Folter.«

»Aber die kleinen Mädchen waren nur für kurze Zeit verschwunden, nie länger als einen Tag. So viel konnte er doch eigentlich in dieser Zeit gar nicht mit ihnen anstellen.«

»Das hängt davon ab, wie groß seine Trickkiste ist und wie wirksam seine Methoden sind«, antwortete sie ernst. Mit einem entschlossenen Kopfnicken verscheuchte sie den sorgenvollen Ausdruck in ihrem Gesicht und klopfte mir ermutigend auf die Schulter. »Machen Sie nicht so ein betretenes Gesicht, meine Liebe. Sie werden ihn finden. Diese Irren haben alle den gleichen Fehler: Sie wollen, daß man ihre Leistung anerkennt, daß man ihnen applaudiert. Es ist schwer zu begreifen, aber sie sind tatsächlich stolz auf ihre grotesken Handlungen. Irgendwann können sie dem Drang nach Bestätigung nicht mehr widerstehen und setzen alles daran, um die Aufmerksamkeit zu bekommen, die sie ihrer Meinung nach verdient haben.«

»Ich fürchte nur, ich kann nicht auf dieses ›irgendwann‹ warten, Dr. Mizrachi. Wir müssen den Kerl finden, und zwar bald, bevor er sich noch ein weiteres Opfer sucht.«

Sie ergriff meine Hand, als wir zur Tür des Labors gingen. »Lassen Sie mich gelegentlich einen Blick in die Akte des Falls werfen. Vielleicht fällt mir ja irgendwer oder irgendwas dazu ein. Ich gebe Ihnen dann in ein, zwei Tagen Bescheid. Versuchen Sie inzwischen einmal, in die Haut des kranken Täters zu schlüpfen, Sarah. Sie müssen sich in ihn hineindenken, dann wissen Sie auch, wo Sie suchen müssen.«

Kapitel 3

Wie Peitschenhiebe fegte der Schneeregen über die Centre Street, als ich aus dem Nordausgang des Justizgebäudes von Manhattan herauskam. Staatsanwälte und Verteidiger, deren Prozeß vertagt worden war, hatten das zweifelhafte Vergnügen, durch den niederprasselnden Wolkenbruch zu hetzen.

Ein blau-weißer Gefängniswagen stand am Straßenrand; sein Auspuff stieß dicke, schwarze Rauchwolken in die Luft. Durch die vergitterten Fenster sah ich mindestens zwölf Männer, die mit mürrischen Gesichtern dicht gedrängt in dem Wagen hockten. Sie warteten auf die Aufnahme ihres Verfahrens. Danach würden sie darauf warten müssen, vor Gericht gestellt zu werden, dann auf eine Freilassung gegen Kaution, auf Termine für die Vernehmung, auf die Hauptverhandlung, auf Zubilligung einer Bewährungsfrist, auf eine Gefängnisstrafe, auf Berufung und Revisionen. Ein Verbrechen war schnell geschehen. Aber für die Strafprozedur im Fegefeuer der Justiz brauchte man eine Engelsgeduld.

Ich verkroch mich noch tiefer in meinen Kamelhaarmantel und versuchte, den wütenden Blicken der Gefangenen auszuweichen. Sie haßten mich inbrünstig, weil ich frei war, weil ich eine Frau war und weil ich die ungeheure Frechheit besaß, zu existieren. Ich klemmte meine Aktentasche fester unter den Arm und machte mich mit raschen Schritten auf den Weg zur U-Bahn-Station, die ein paar Blocks entfernt in der Canal Street lag.

Am Ende des Blocks mußte ich über die Straße, und mein rechter Fuß landete prompt in einer eisigen Pfütze. Auf der anderen Seite erwischte mich ein Hagel von halbgefrorenem Matsch, den ein plötzlich um die Ecke biegendes Taxi auf mich abfeuerte. Ich hatte sofort die Stimme meiner Mutter im Ohr: »Siehst du wohl, Sarah, so geht es einer Frau, die einfach davonläuft und von einer Ehe, die vollkommen intakt war, auf einmal nichts mehr wissen will. Sie kriegt nasse Füße, sie fängt sich eine Erkältung ein, und ehe sie’s sich versieht, hat sie eine Lungenentzündung, und zwar eine, mit der nicht zu spaßen ist.«

Zu unserem dreiundzwanzigsten Hochzeitstag vor ein paar Monaten hatte ich als Geschenk für Ben die Scheidung eingereicht. Den letzten Rest gab mir die Sache mit Grace – oder wie auch immer diese Person geheißen hatte. Es war nichts Neues, daß Ben seine kleinen Affären hatte, aber diesmal blieb das gewohnte leere Gefühl von Wut und Enttäuschung einfach aus. Kein Hämmern in meinem Kopf, daß ich betrogen worden war. Vielleicht war ich seit Nickys Tod abgestumpft gegen kleine Unannehmlichkeiten wie Bens Neigung, herumstreunende Nymphomaninnen aufzulesen. Jedenfalls wurde mir klar, daß wir unsere Ehe schon zu lang nur noch künstlich am Leben erhielten.

Jetzt war ich also wieder eine alleinstehende Person. Oder ich litt an einer vorübergehenden geistigen Umnachtung, wie meine Mutter es auszudrücken pflegte. Sie war nach wie vor der festen Überzeugung, die Sache werde sich wieder einrenken. Mindestens einmal in der Woche rief sie mich aus Fort Lauderdale an, um sich nach den neuesten Entwicklungen zu erkundigen.

»Also?« begann sie immer. Dann folgte ein langes Schweigen, in dem ich ihren schweren Atem hörte.

Ich wußte genau, was sie von mir erwartete. Ich sollte die andächtige Stille brechen und ihr erzählen, ich hätte mich mit Ben zu einem romantischen Abendessen getroffen, dann sollte ich eingestehen, daß ich alles bereute, und ihr meinen Entschluß mitteilen, mich wieder mit ihm zu verheiraten. Natürlich in aller Stille, mit einem netten, kleinen Empfang im engsten Familienkreise. Keine Vettern zweiten Grades.

Sie konnte es einfach nicht fassen. »Was erwartest du denn von ihm, Sarah? Um Himmels willen, er ist doch nur ein Mann!«

Nach der Scheidung beschloß ich, von Stamford, Connecticut, wo Ben und ich mehr als zwanzig Jahre gelebt hatten, nach Manhattan zu ziehen. Nachdem ich vierzehn Jahre lang jeden Morgen im Acht-Uhr-zehn-Zug und jeden Nachmittag im Siebzehn- Uhr-achtundzwanzig-Zug gesessen hatte, verzichtete ich nur allzu gerne auf die zweifelhaften Freuden eines Pendlerlebens. Und ich verzichtete auch gerne auf unser gemeinsames Haus. Es enthielt viel zuviele belastende Erinnerungen. Seit Nickys Tod hatte ich in manchen Räumen oft das Gefühl gehabt, ich bekäme plötzlich keine Luft mehr. Ohne jegliche Vorwarnung war mein Hals plötzlich wie zugeschnürt, und ich stürzte in die schwärzesten Abgründe nackter Verzweiflung.

Monatelang hatte ich den entmutigenden Wohnungsmarkt von New York abgegrast. In der Zwischenzeit lebte ich bei meiner Schwester Honey in ihrem monumentalen Tempel der Protzerei, der im fünfzehnten Stockwerk eines noblen Appartementhauses an der Ecke von Park Avenue und 71st Street lag. Ich war sehr dankbar, daß sie mich bei sich aufgenommen hatte, aber das Zusammenleben mit meiner Schwester war noch nie etwas für zaghafte Seelen. Also beruhigte ich mich immer wieder damit, daß ich mir sagte, es ist ja nicht für ewig. Das gleiche kann man sich allerdings auch sagen, wenn man beim Essen eine Gräte verschluckt.

Der Nachtportier pflegte mich mit einem steifen Kopfnicken und hochgezogenen Augenbrauen zu begrüßen. Er war daran gewohnt, daß die Bewohner dieses Hauses von standesgemäßen Beförderungsmitteln unter dem dollargrünen Baldachin abgeliefert wurden, und nicht, daß sie völlig außer Atem, durchnäßt und verdreckt auf ihn zustürzten und zu allem Überfluß noch den Geruch eines nassen Schafs verbreiteten.

Der Aufzug war mit purpurfarbenem Teppichboden ausgelegt und hatte eine weiche, bordellrote Tapete. Der Kristalllüster warf kleine Lichtflecke auf meinen durchweichten Mantel und meine halb erfrorenen Arme und Beine, so daß ich aussah, als hätte ich die Masern. Der Aufzugführer war ein freundlicher Mensch mit dem schönen Namen Argus. Er bot mir einen Kaugummi ohne Zucker an und klärte mich über den neuesten Stand an der Börse auf.

Während der Lift sich nach oben bewegte, versuchte ich, mich in die angemessene geistige Verfassung für eine Begegnung mit Honey zu bringen. Meine Schwester und ich liebten uns heiß und innig, aber wir hatten massive Verständigungsprobleme, und zwischen unserer Lebenseinstellung gähnte ein unüberbrückbarer Abgrund.

Für Honey war es eine seelische Erschütterung, sich den Fingernagel abzubrechen, oder – Gott behüte! – eine Kollagen-Allergie zu bekommen. Meine Scheidung war dagegen kaum erwähnenswert, es sei denn, die Gesprächsthemen gingen einem aus, während man mit seinem Gymnastiklehrer das tägliche Pensum an Liegestützen und Kniebeugen absolvierte.

Eine Ehe war keine große Sache, versicherte sie mir immer wieder. Honey legte Männern gegenüber eine sehr entspannte Haltung an den Tag: Wenn sie einem nicht mehr paßten, legte man sie ab wie einen aus der Mode gekommenen Pelzmantel. Meine Schwester konnte überhaupt nicht verstehen, warum ich soviel Zeit brauchte, mich in meine veränderte Lebenssituation hineinzufinden. Für sie war eine Scheidung immer nur das Vorspiel zu einer noch großartigeren Ehe gewesen – und das hieß bei ihr die Erschließung noch großartigerer Geldquellen. »Du mußt lernen, dem Scheißkerl auch noch den letzten Pfennig aus der Nase zu ziehen«, predigte sie mir mit Vorliebe, und ihre Stimme nahm dabei den Tonfall an, den man bei geduldigen Kindergartentanten so gerne hört. Dann machte sie eine Pause und musterte mich prüfend. Hatte ich etwa noch immer nicht verstanden, worum es ging?

Ich verstaute meine feuchten Klamotten im Wandschrank in der Diele und stapfte ins Wohnzimmer.

Die ganze Wohnung wirkte wie ein Sinnbild für jede Art von erdrückender Überladenheit: Übertrieben hohe Räume mit schimmernden Wänden, Fenster mit zentnerschweren Vorhängen und eine alarmierende Überfülle antiker Möbelstücke aus einer Zeit längst dahingeschiedener Könige.

Keine Spur von Honey. Wunderbar. Rasch streifte ich meine feuchten Schuhe und Strümpfe ab und ließ mich auf das cremefarbene Seidenbrokatsofa sinken. Eine herrlich schwere Müdigkeit kam über mich. Wie ein Stein ließ ich mich in die Tiefen des Schlafs und des Vergessens fallen. Wie angenehm das war.

»Sarah! Hier bist du also! Beeil dich und reiß dich ein bißchen zusammen. In zehn Minuten ist er hier.«

»Er?« Honey schwebte über mir wie eine duftende kleine Wolke. »Wer ist ›er‹?«

Alles an ihr knisterte förmlich vor überschüssiger Energie, sie eilte geschäftig im Zimmer hin und her, schüttelte die makellosen Kissen auf und rückte die Rahmen der wertvollen Kunstwerke gerade, die in Reih und Glied an den mit Glanzlack bearbeiteten Wänden hingen.

» ›Er‹ – das ist Ron Cohen. Ich habe dir doch schon von ihm erzählt. Ein Theaterproduzent. Maisonette im River House. Landhaus in Quogue, Ferienhaus für die Wintersaison in Anguilla. Außerdem ein Bungalow in den Cotswalds und eine Villa in Cannes. Schwerreich. Ein toller Typ!«

Sie zog geräuschvoll die Luft ein. »Jedenfalls ... du glaubst nicht, was für Zufälle es manchmal gibt. Ich habe heute im Lutèce zu Mittag gegessen, und da saß Ron höchstpersönlich am Tisch direkt neben mir. Natürlich habe ich die Gelegenheit sofort beim Schopf gepackt und ihm alles über die Schönheit und die sonstigen Qualitäten meiner Schwester erzählt, und er meinte, er würde schrecklich gern auf einen Drink vorbeikommen und dich kennenlernen. Ich habe ihm gesagt, daß du spätestens um sechs von der Arbeit zurück bist. Also beeil dich. Du hast nur noch ein paar Minuten, um dich ein bißchen zurechtzumachen.«

»Die Sache interessiert mich nicht, Honey. Trotzdem vielen Dank.«

»Mach dich nicht lächerlich. Natürlich interessiert dich das. Ron Cohen ist ein anständiger Mann, treu und ehrlich. Er stiehlt nicht, oder jedenfalls kaum, liebt seine Mutter, spendet für wohltätige Zwecke, benutzt Zahnseide. Was kann man sonst noch verlangen? Ron ist der ideale Mann, glaub mir. Bei ihm irre ich mich bestimmt nicht. Ich sag’ dir, ich habe buchstäblich Ohrensausen, so ideal ist er. Zieh das schwarze Kreppkleid an. Da kommen deine erstklassigen Titten so richtig zur Geltung, ein Rauf und Runter wie beim Grand Canyon, super. Und mach was mit der Putzwolle auf deinem Kopf. Steck sie hoch oder irgendwas.«

Wie üblich steckte Honey in einer sensationellen Aufmachung: weißes Chanel-Kostüm mit Zubehör, das von den gefährdetsten Tierarten der Welt stammte. Sie verschränkte die Arme vor ihrem massiven Brustkorb, ein Fuß in einem schwarzen Krokodillederpumps klopfte nervös auf den antiken Orientteppich. »Beeil dich, ja? Ron ist ausgesprochen pünktlich.«

»Dein Mr. Cohen ist bestimmt so außergewöhnlich, wie du ihn schilderst, Honey. Aber ein Treffen mit ihm oder mit sonst jemandem interessiert mich nicht. Vor allem nicht heute abend. Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir und bin todmüde. Also, ich verschwinde jetzt. Sag ihm, ich hätte nicht rechtzeitig kommen können.«

»Ach komm, Sarah«, bettelte Honey. »Man hat schließlich nicht alle Tage die Chance, einem Ron Cohen zu begegnen.«

»Und dafür bin ich dankbarer, als du dir überhaupt vorstellen kannst. Hoffentlich habt ihr miteinander einen schönen Abend.«

Schmollend verzog sie den Mund, und in ihrer Stimme lagen alle Anzeichen eines bevorstehenden Wutanfalls. »Sei doch kein Trottel, Sar. Dieser Mann ist phantastisch, glaub mir. Probier es wenigstens einmal aus. Nimm doch Vernunft an.«

Ich blieb ganz ruhig. »Ich fürchte, du würdest nicht einmal dann merken, was Vernunft ist, wenn sie sich direkt am Tisch neben dir im Lutèce niederlassen würde. Ich bin momentan nicht im Mindesten daran interessiert, Sankt Ron oder sonst jemanden kennenzulernen. Danke für deine Mühe. Was würde ich nur ohne deine unpassenden Einmischungsversuche anfangen?«

Honey hatte meinen Arm gepackt, zerrte wie wild an ihm und gab dabei seltsame keuchende Geräusche von sich, als müßte ihre Lunge dringend einmal geölt werden. »Sei doch kein Idiot, Sarah. Ron ist die Entdeckung. Lern ihn doch wenigstens erst einmal kennen, dann wirst du schon sehen, daß ich recht habe.«

Ich blieb sitzen wie ein Bleiklotz. »Nehmen wir mal an, du hast recht, Honey. Vielleicht ist dieser Ron Cohen wirklich der Heilige Gral, hinter dem ganz New York her ist. Vielleicht hat das Schicksal beschlossen, daß ich mich eines schönen Tages Hals über Kopf in Ron Cohen verliebe und daß er mich in eine seiner zahlreichen Wohnstätten entführt, um mit mir ein Leben in häuslicher Glückseligkeit zu fristen. Trotz allem bleibt aber die Tatsache bestehen, daß ich im Moment kein dringenderes Bedürfnis habe, als ein langes, heißes Bad zu nehmen und dann ohnmächtig ins Bett zu sinken. Würdest du mich also jetzt bitte entschuldigen -«

Aber Honey ließ nicht locker. Sie zerrte weiter an meinem Arm und stieß ein drolliges leises Grunzen aus.

»Komm schon, Sarah. Hör auf mit dem Unsinn. Zeit zum Umziehen.«

Jetzt warf sie Anker aus, das heißt, sie stützte sich fest auf einen der hohen Absätze ihrer Pumps und zog noch einmal mit aller Kraft an meinem Arm. Ich jedoch behauptete meine Stellung und beobachtete voller Genugtuung, daß Honeys Tausend-Dollar-Handcreme ihre garantierte Wirkung nicht verfehlte und meine Schwester ganz langsam und humpelnden Schrittes nach hinten torkelte und ...

Sie stieß einen wilden Schrei aus, rappelte sich auf und näherte sich mir erneut, um die Kraftprobe fortzusetzen. Meine Schwester war noch nie der Typ Mensch gewesen, der klein beigibt. Sie streckte den Arm aus und wies mit einer ihrer knallroten Krallen in Richtung Gästezimmer. »Genug mit dem Quatsch. Ich habe Ron gesagt, daß du dich freust, ihn kennenzulernen. Also los, zieh dich an. Sofort!«

Ich wollte eigentlich lachen, aber was herauskam, ähnelte eher dem verängstigten Maunzen eines gefangenen Kätzchens. Irgendjemand hatte die Luft aus mir herausgelassen, hatte einfach den Stöpsel herausgezogen. Ich war zu erledigt, mich konnte nicht einmal das pubertäre Vergnügen locken, mit Honey, der Amazonenkönigin, ein ordentliches Gefecht auszutragen.

»Hör zu, ich weiß, daß du es auf deine eigene unnachahmlich einfühlsame Art gut mit mir meinst. Aber ich will den Mann wirklich nicht sehen. Ich kann noch nicht einmal wieder daran denken, jemanden kennenzulernen. Falls ich jemals daran gezweifelt hätte, wäre mir der Abend mit Max Black eine Lehre gewesen. Ich bin einfach noch nicht bereit dafür. Das ist alles.«

Sie machte ein Geräusch wie ein angestochener Autoreifen. »Nur weil dein Richter Black ein Trottel ist, kannst du doch jetzt nicht gleich das gesamte männliche Geschlecht abschreiben, um Himmels willen. Ich weiß nicht, was ich mit dir machen soll, Sar. Ich weiß es wirklich nicht.«

»Du solltest mich einfach in Ruhe lassen, nichts weiter. Du solltest mich mein eigenes Leben leben lassen, auch wenn nicht immer alles läuft wie geschmiert. Meine Entscheidungen muß ich allein treffen, Honey, und zwar in meinem ganz persönlichen Tempo.«

Ihre Stimme wurde weinerlich. »Aber du hast ja überhaupt kein Tempo, das ist ja das Problem. Du machst nichts aus deinem Leben, du läßt es ungenutzt in der Ecke liegen. Wie einen Fußabstreifer oder so was.«

»Genau. Und das ist mir auch ganz recht so.«

»Aber das führt doch zu nichts«, quengelte sie weiter. »Ich kann das nicht mit ansehen.«

»Ich weiß, und ich kann auch verstehen, daß es dir so geht. Ehrlich.« Ich tätschelte ihre Hand, ging über den Flur zum Gästezimmer und begann, meine Kleider in den Koffer zu werfen. Wenn ich hierbliebe, würde ich mich andauernd abstrampeln müssen, um nicht unterzugehen, sagte ich mir. Ich spürte den überwältigenden Drang, von hier weg zu kommen.

Honey stand im Türrahmen und lamentierte: »Wo, zum Teufel, willst du denn hingehen, Sarah? Draußen gießt es in Strömen, um Himmels willen.«

»Ich suche mir irgendwo eine Wohnung, wo ich mein eigenes Leben leben kann, ohne damit dir oder sonst jemandem auf die Nerven zu gehen. Das hätte ich von Anfang an tun sollen.«

»Aber du hast doch bisher noch keine anständige Wohnung gefunden, hast du das etwa vergessen? Wir haben doch beschlossen, daß du dir Zeit lassen und in Ruhe suchen solltest, Sarah. Du kannst doch nicht einfach irgendwo hinziehen! Und du kannst auch nicht mitten in der Nacht ganz allein draußen herumlaufen. Man wird dich vergewaltigen und ermorden. Mindestens! Du bist hier schließlich in New York. Ich verstehe wirklich nicht, was in dich gefahren ist.«

Ich unterdrückte meinen Ärger und zwang mich zu einer ruhigen Antwort. »Beschlossen hast nur du etwas, liebe Honey, nicht wir. Du hast mich nur zu den ›besten‹ Maklerbüros geschleppt, die mir erstklassige Häuser in den nobelsten Gegenden anbieten. Weißt du, was in mich gefahren ist, Honey? Du bist in mich gefahren, du bist es, die mir so zu schaffen macht.«

»Das stimmt doch einfach nicht! Dieser verrückte Fall ist daran schuld. Er macht dich so fertig, daß du überhaupt nicht mehr weißt, was du tust. Du bist richtig besessen von dieser Geschichte, gib es doch zu.«