Island of Fear - Judith Kelman - E-Book

Island of Fear E-Book

Judith Kelman

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Beschreibung

Sie will seine Rettung sein, doch sie könnte sein schlimmster Albtraum werden ... Für Bethany Logan ist es ganz selbstverständlich, dass sie als Lehrerin an einer Schule für Kinder mit Lernbehinderungen immer alles gibt. Stets erzielt sie Fortschritte mit ihren Schützlingen – nur nicht mit dem kleinen Pip Stafford, dem Sohn des Schulleiters, der eine Leseschwäche hat und häufiger mit ihr aneinandergerät. Heimlich stellt sie Nachforschungen an, um den Grund für sein Verhalten herauszufinden. Was sie entdeckt, ist unglaublich: Pip ist nicht Staffords Sohn, sondern wurde als Baby entführt! Nichts kann Bethany mehr davon abhalten, ihn zu seiner richtigen Familie zurückzubringen und so flieht sie mit ihm auf seine heimatliche Insel – ahnungslos, welches Grauen sie dort erwartet ... »Judith Kelman wird immer besser!« Mary Higgins Clark Atemlose Spannung für Fans von Harlan Coben – ein Psychothriller voll dunkler Wendungen.

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Seitenzahl: 472

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Über dieses Buch:

Für Bethany Logan ist es ganz selbstverständlich, dass sie als Lehrerin an einer Schule für Kinder mit Lernbehinderungen immer alles gibt. Stets erzielt sie Fortschritte mit ihren Schützlingen – nur nicht mit dem kleinen Pip Stafford, dem Sohn des Schulleiters, der eine Leseschwäche hat und häufiger mit ihr aneinandergerät. Heimlich stellt sie Nachforschungen an, um den Grund für sein Verhalten herauszufinden. Was sie entdeckt, ist unglaublich: Pip ist nicht Staffords Sohn, sondern wurde als Baby entführt! Nichts kann Bethany mehr davon abhalten, ihn zu seiner richtigen Familie zurückzubringen und so flieht sie mit ihm auf seine heimatliche Insel – ahnungslos, welches Grauen sie dort erwartet ...

Über die Autorin:

Mit mehr als zwei Millionen verkauften Exemplaren ihrer Bücher ist Judith Kelman eine Meisterin der psychologischen Spannung. Sie wurde für ihren Thriller »Fürchte dich vor mir« mit dem Mary Higgins Clark Award ausgezeichnet und war Vorsitzende der Mystery Writers of America. Sie lebt in New York City.

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre Thriller um Rechtsanwältin Sarah Spooner mit den Bänden »Wo das Dunkel herrscht« und »Wenn die Unschuld stirbt« sowie die Standalone-Thriller »House on the Hill«, »Schrei, wenn du kannst«, »The Black Widow«, »Thornwood«, »Fürchte dich vor mir«, »Im Falle meines Todes« und »Wenn das Böse erwacht«.

***

eBook-Neuausgabe Oktober 2024

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1996 unter dem Originaltitel »Fly Away Home« bei Bantam Books, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1999 unter dem Titel »Vertrau mir, wenn du kannst« bei Droemer.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1996 by Judith Kelman

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1999 bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nacht., München

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Victor Maschek, Mick Blackey, Ihnatovich Marya

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-98952-196-4

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13, 4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/egmont-foundation. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

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Judith Kelman

Island of Fear

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Ute Kofler

dotbooks.

In liebevollem Gedenken

an meine wunderbare Mutter

Kapitel 1

Irgendetwas war im Kinderzimmer nicht in Ordnung. Eva Haskel wurde von einem nicht zu überhörenden Knacken wach. Dann war es wieder still, bedrückend still. Eine schreckliche Ahnung legte sich wie eine Schlinge um ihren Hals.

Sie lauschte angestrengt und konnte die Vorboten eines nahenden Sturmes wahrnehmen. Regen prasselte, klatschend schlugen Äste aufeinander, und der Wind heulte leise.

Das Knacken wiederholte sich nicht Vielleicht hatte sie es sich nur eingebildet. Das Entsetzen ließ nach und verschwand langsam.

Neben ihr murmelte Cal im Schlaf. Eva betrachtete sein eckiges Kinn und die Linien seiner Wangenknochen. Sie kannte die Falten auf seiner Stirn, die sich dort vom vielen Grübeln eingezeichnet hatten. Die Nase war schmal und die Lippen, wie in der Zeichnung eines Kindes, voll und vertrauend. Behutsam zeichnete Eva die Konturen mit ihrer Zunge nach. Cais Augen bewegten sich im Traum hinter geschlossenen Lidern. Eva lehnte sich zurück und betrachtete seinen schlanken Körper. Sie ließ einen Finger über seine Brust gleiten, fuhr über die holprige Straße der Rippen hinab und beschrieb liebkosend einen Kreis um seine Leisten.

Cal stöhnte.

Ganz zart streichelte Eva ihn, beobachtete, wie er sich bewegte. Sie spürte Erregung in ihrem Schoß und fühlte eine beklemmende Sorge in sich aufsteigen. Morgen würde Cal sie verlassen; das tat er immer dann, wenn sie ihn am meisten brauchte. Wieder hörte sie das Geräusch. Schicksalsschlange, zischende Bedrohung.

Diesmal handelte sie, ehe die Angst sie lähmen konnte. Sie mußte im Kinderzimmer nach dem Rechten sehen.

Während sie den Gürtel um ihren Frotteemantel band, schob sie ihre Füße in die Samtslipper. Das Holz im Ofen mußte heruntergebrannt sein. Tagsüber war der Spätsommer immer noch spürbar, aber der Sonnenuntergang brachte einen Hauch herbstlichen Fröstelns. Ihr Magen rumorte. Die Kälte war schlecht für ein kleines Kind, sogar gefährlich. Die Kälte konnte durch die zarte Haut dringen, die spärlichen Abwehrkräfte niederringen und zu wer-weiß-was-führen. Inmitten der Schatten, die durch den Flur glitten, blieb Eva stehen, um sich zu beruhigen. Sorge füllte die Luft und ließ sie sauer erscheinen. Als ob man einem Kind geronnene Milch füttert, dachte sie und versuchte den aufsteigenden Ekel zu unterdrücken.

Ihre Stimmung hob sich, als sie das Zimmer des Babys betrat. Auf Wänden und Gardinen segelten leuchtende Boote. Kleine Leuchttürme, geschaffen nach dem Vorbild der Türme, die die gefährlichen Sandbänke der Norwalk Inselgruppe markierten, dienten als Lampen. Da standen Seemannspuppen, Piratenbären und eine Flotte leuchtender Spielzeugschiffe. Die Regale waren vollgestopft mit Märchenbüchern, die von heldenhaften Seefahrern, tapferen Fischern und mächtigen Bewohnern der Tiefe handelten. In den Möbeln aus glänzendem Nußholz waren seit sechs Generationen die Kinder der Familie Haskel gewiegt und gehätschelt worden.

Es ist nichts, Eva, gar nichts, nur deine dummen Nerven, die dir wieder einen Streich spielen.

Vielleicht sagten die Leute vom Festland deshalb, sie sei verrückt Erst letzte Woche, als sie mit der Fähre nach South Norwalk gefahren war, um Vorräte einzukaufen, hatte sie ein paar von ihnen darüber sprechen hören.

Eva war in das Water Street Café gegangen, um einen Eistee zu trinken. Er wurde dort so serviert, wie sie ihn mochte, mit einem Sproß frischer Minze und braunem Zucker.

Während sie an der Balustrade zum Anlegeplatz saß, konnte sie Bruchstücke der Unterhaltung des Paares auf der anderen Seite des Ganges hören.

»Ist das nicht die Haskel-Frau?«

»Die Mutter, meinst du?«

»Schsch, sie kann dich hören!«

Es waren Fremde, aber Eva kannte sie alle viel zu gut Als Kind war sie oft hinter ihrem Vater hergelaufen, wenn er die besten Speiselokale in Süd-Connecticut belieferte. Während Papa und die Angestellten die Säcke in die Küche schleppten, wartete Eva in der Fahrerkabine des Lieferwagens mit der Aufschrift HASKEL UND SÖHNE, ERSTKLASSIGE BLUEPOINT-AUSTERN SEIT 1863.

Um sich die Zeit zu vertreiben, beobachtete Eva die Damen, die in ihren Luxuswagen zum Lunch oder Tee heranfuhren. Sie sah ihnen zu, wie sie sich in ihren Ledersitzen drehten und vorwärts glitten, als wären sie auf Rollen montiert Eva lernte ihre Bewegungen: das Haar zurückzuwerfen und zu schreiten – schreiten mit erhobener Nase und unnahbarem Blick.

Es gab Hunderte von ihnen, und sie alle glichen sich wie Zwillinge. Jede von ihnen gehörte entweder zum Country Club oder zum Yacht Club oder zum Health Club oder zur Junior League, und alle waren sie ihr Leben lang herausgeputzt und verwöhnt worden.

Eva kam zu der Überzeugung, daß diese Frauen nur zur Zierde da waren, sie dienten keinem ernsthaften Zweck. Sie glichen Autos in einer Werbung: strahlend perfektes Äußeres, doch nichts Nennenswertes unter der Haube.

Dennoch schmerzten ihre Worte. Eva haßte es, wenn über sie gesprochen wurde, selbst wenn es anerkennend war. Ihre Wangen brannten, während sie so tat, als beobachtete sie den Hafen.

Stimmt, das ist sie, flüsterte eine. Ich habe sie in den Nachrichten gesehen.

Ein frisierter Kopf neigte sich in geheuchelter Anteilnahme. Rote Lippen sprühten vergiftetes Flüstern. Schrecklich. Ich habe gehört, sie soll den Verstand verloren haben.

Sieht jedenfalls so aus. Mein Gott, diese Haare!

Eva rührte ärgerlich in ihrem Tee und wirbelte einen Zuckerschleier auf. Diese dummen Hühner hatten nicht die leiseste Ahnung. Alle Frauen der Haskels hörten mit der Geburt des ersten Kindes auf, ihr Haar zu schneiden. Den genauen Grund hierfür kannte Eva nicht, aber die Tradition war jahrhundertealt und an sie weitergegeben worden, zusammen mit dem Blattmusterporzellan, dem handgestickten Taufkleid und der goldenen Uhr mit dem zerbrochenen Glas. Für Eva waren Familientraditionen so tief und unerbittlich wie die Gezeiten. Unmöglich, sie zu mißachten, unsinnig, es überhaupt zu versuchen.

Evas dunkle, störrische Mähne fiel ihr bis über die Taille. Sie bevorzugte formlose Hängekleider, die kaum ihren schmächtigen Körper berührten. Schuhe haßte sie, und Schmuck trug sie nie. Aber nichts davon bedeutete, daß sie nicht mehr bei Verstand wäre.

Oder doch?

Das beschäftigte sie, als sie jetzt im Kinderzimmer stand. Öffne die Augen und sieh dich um, Eva. Es ist alles in Ordnung. Der Sturm, der sein Unwesen treibt, muß das Geräusch verursacht haben.

Aber als sie hinüberging, um im Kinderbett nachzuschaun, hörte sie wieder das Geräusch. Es zischte hinter ihr. Als sie sich blitzschnell umdrehte, entdeckte sie die flackernde Birne. Die Lampe war ein Modell des Green’s Ledge Leuchtturmes. Auf einem Steinfuß stand der weiße Turm, den ein Metallgeländer zierte. Als das Flackern aufhörte, war das Licht schwächer, fast erloschen.

Eva wurde wütend. Sie hatte die Birne von einer dieser Wohltätigkeitsorganisationen gekauft, die sie ständig tun eine Spende anbettelten. Jedes Mal, wenn Jackson Quints Postboot anlegte, brachte es ihr eine Handvoll raffinierter Bittbriefe von der einen oder anderen Gruppe.

Sie konnte sich noch gut an diesen erinnern. »Helfen Sie, Licht in das Leben von blinden und sehbehinderten Kindern zu bringen«, lautete der Verkaufsslogan im Brief, auf dem das engelsgleiche Gesicht eines kleinen Jungen abgebildet war. Das Kind war überwältigend schön und vollkommen – bis auf die Augen, die aussahen wie dumpfe Monde, die in dichtem Nebel untergegangen waren. Diese traurigen Augen hatten direkt aus der Broschüre heraus Eva das Herz aus dem Leibe gerissen.

Gleich mit dem nächsten Postboot hatte sie ihre zwölf Dollar plus der zwei achtundneunzig für Porto und Versand abgeschickt Zwei Monate später brachte Jackson Quint ein Päckchen mit zwei lumpigen 60-Watt-Birnen vorbei. Ein aufwendiges Zertifikat, welches beigelegt war, garantierte, daß sie hundert Jahre halten würden. Natürlich hatte Eva das nicht ernst genommen, wer würde schon in hundert Jahren Reklamationen entgegennehmen? Und wer würde sie vorbringen? Trotzdem gefiel ihr der Gedanke, im Kinderzimmer eine besonders haltbare Lichtquelle zu haben. Babys hatten aus gutem Grund Angst vor der Dunkelheit. Dunkelheit war die Maske des Bösen, die Spielwiese des Todes. Nie hatte die Dunkelheit je etwas Gutes hervorgebracht bis auf den Morgen.

Das Lampenlicht flackerte wieder.

»Hab keine Angst, Liebling«, flüsterte Eva, »Marni ist hier.« Sie ließ die Bettwand herunter und fuhr mit ihren Händen unter das Deckenbündel.

Während sie es sich im Schaukelstuhl bequem machte, summte sie leise vor sich hin. Das rhythmische Knarren des Stuhls und der feste Druck gegen ihre Brüste ließ sie schläfrig werden. Wärme durchströmte sie, alles wurde licht und leicht Der wütende Sturm draußen schien Meilen entfernt »Marnis kleiner Liebling.«

Plötzlich zerriß ein Blitzstrahl den Nachthimmel. Eine heftige Erschütterung ergriff das Haus. Eva hörte die Mole knirschen, die aufgewühlte Brandung forderte die Wellenbrecher heraus. Sie zog ihr Bündel noch näher an sich, streichelte und beruhigte es. »Nur ruhig, mein Schatz, es ist nichts passiert«

Die Kleinen waren so ängstlich bei Sturm, am besten, man versuchte sie abzulenken. Eva sang den ersten Vers, der ihr in den Sinn kam: »Maikäfer, flieg«, Ruhe breitete sich in ihr aus, sie fühlte sich wohl.

»– dein Vater ist im Krieg –« Sie verschluckte die letzten Worte. Welch schreckliche Vorstellung. Weshalb beschäftigten sich so viele Kinderreime mit gewalttätigen und beunruhigenden Themen? Sie wollte es nicht zulassen, daß ihr Kind solche Dinge zu hören bekam. Es war Aufgabe der Mütter, alles Häßliche von ihren kostbaren Babys fernzuhalten.

»Marni wird dich immer beschützen, mein Liebling, immer.« Eva schloß die Augen und sperrte sich gegen die unfaßbare Wahrheit.

Die Decken in ihren Armen waren leer. Das Kinderbett enthielt nichts als eine verfilzte Staubschicht

Kapitel 2

Who saw him die?«

»I«, said the fly.

»With my little eye,

I saw him die.«

»Wer hat ihn sterben sehen?«

»Ich«, sagte die Fliege.

»Mit meinem kleinen Auge

habe ich ihn sterben sehen.«

Ich halte den Atem an. Kein Zwinkern, denn im Bruchteil einer solchen Sekunde könnte das Kind ertrinken.

»Haben Sie mich, Miß Logan?«

»Ja, Billy.«

»Bleiben Sie genau hier, Sie dürfen sich nicht von der Stelle rühren!«

»Das verspreche ich dir. Nun versuch mal ganz locker zu sein.«

Im Stillen zähle ich bis zehn. Ganz langsam ziehe ich die Hand zurück, die seinen Rücken unterstützt. Für einen Moment schwimmt der Junge, dann merkt er, daß ich ihn losgelassen habe.

»Hilfe!« Sein Körper zuckt wie ein Fisch an der Angel. Wild schlägt er mit den Armen um sich und geht unter. Ich ziehe ihn sofort wieder hoch, aber er ist bleich und prustet.

Blankes Entsetzen drückt mir die Kehle zu, ich muß kräftig schlucken. »Wie oft muß ich es dir noch sagen, Billy Brodsky? Im Nichtschwimmer wird nicht getaucht«

Billy bekommt wieder Luft und wirft mir einen vernichtenden Blick zu: »Sie haben versprochen, Sie würden mich festhalten.« »Ich habe gesagt, ich bleibe hier, und das tue ich auch.« Wütend dreht er sich um und stapft durch das hüfthohe Wasser auf die Leiter zu.

»Komm schon, Billy, wir versuchen es noch einmal.«

»Kann ich nicht, ich bin ein dummer, blöder Kerl.« Vernichtet läßt er den triefnassen Kopf hängen.

Ich werfe die Hände in die Luft. »Das war’s wohl. Ich darf zwar das Geheimnis von Paschas Schwimmzauber nicht offenbaren, aber vermutlich habe ich gar keine andere Wahl.«

Er wird langsamer, bleibt stehen, um den Köder aufzunehmen. »Wessen was?«

»Vergiß es, Billy. Es geht hier um einen sehr, sehr mächtigen Zauber. Ich glaube, dafür bist du einfach noch nicht alt genug.«

»Bin ich doch. Ich bin schon siebeneinhalb.«

»Die Geheimnisse um Pascha sind eine sehr ernste Angelegenheit, mein Lieber, die darf ich niemandem offenbaren, niemals.«

Er hat angebissen. »Ach kommen Sie«, bettelt er, »ich verspreche Ihnen, daß ich es niemandem erzählen werde.« »Bist du ganz sicher, daß ich mich auf dich verlassen kann?« »Ich schwöre es.«

»Du gehörst auch nicht zu irgendeinem Geheimdienst wie CIA oder ABCD? Versprichst du das?«

»Bei meinem Leben.«

Ich winke ihn näher heran und greife dann ins Wasser, um das Band heraufzuholen, das vom Bund seiner Tweety und Sylvester Badehose baumelt. Mit einem feierlichen »pst« begehe ich den Verrat »Dieses Band ist das Geheimnis«, flüstere ich ihm zu, »solange du dich daran festhältst, kannst du unmöglich untergehen.«

Billy runzelt die Stirn: »Na klar.«

Ich hebe zwei Finger zum Schwur: »Seit Anbeginn aller Zeiten ist kein Versagen bekannt geworden.«

Prüfend schaut er mich an, findet jedoch offensichtlich keinen Beweis für das Gegenteil. Mit einem Schulterzucken beugt er sich zurück bis sein Kopf das Wasser berührt. Langsam heben sich die Füße und mit ihnen die kleine Hand, die das Band umklammert.

»He, schaun Sie nur, es klappt«, triumphiert er.

»Das ist großartig.«

Großartig ist eine ziemliche Untertreibung, denn dies ist ein einmaliges Wunder von einem Meter zwanzig und zweiundfünfzig Pfund. Selbst der Schauplatz ist grandios. Glitzernde Sonnenflecken tanzen auf der bewegten Wasseroberfläche des Pools und in ihrer Mitte schwimmt der Junge und strahlt Ich sehe sein Herz hämmern und das schnelle Auf und Nieder der Rippen über seinem Atem. Sein Haar fächert sich zu einer Krone von fließendem Gold.

»He, schaun Sie her, Miß Logan, sehn Sie doch!«

Der Augenblick nimmt mich völlig gefangen, alles andere verschwindet im Hintergrund. Undeutlich höre ich in der Ferne Autos auf der Zufahrtsstraße vorbeijagen. Den Aufschlag eines Baseballschlägers. Vom Rasen hört man das Aufbrausen und Abflauen lärmender Stimmen.

»Passen Sie auf mich auf«, befiehlt Bill.

»Keine Angst.«

»Nicht Weggehen.«

»Bestimmt nicht. Kann ich gar nicht. Bei einer so wichtigen Wette würde ich mich nie vom Heck rühren.«

Die Angst, die dieses Kind vor dem Wasser hat ist ein Nichts im Vergleich zu meiner.

Vor Jahren habe ich jemanden ertrinken sehen. Ich habe den Kampf des Opfers beobachtet mit angehört, wie ihre Schreie immer schwächer wurden, als sie sich langsam der Übermacht des Meeres ergab.

Lange Zeit nachdem ihr Kopf in der Brandung verschwunden war, stiegen immer noch Blasen auf. Sie kamen in wilder Anordnung, wie ein höhnischer Morsecode: Du hast schuld, Bethany Logan. Du hättest etwas unternehmen müssen. Du hättest es verhindern müssen. Mein Tod ist allein deine Schuld.

Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich diese Luftblasen immer noch sehen.

Ich gebe mir Mühe, mir keine Mühe zu geben.

Der Vorfall hat mich dem Festland verpflichtet. Wasser in Behältern kann ich akzeptieren, aber je größer die Behälter werden, um so unsicherer werde ich. Am glücklichsten fühle ich mich weitab von jedem Küstenstrich. Angesichts der widerlichen Weite des Meeres schrumpfe ich, werde ein kleines Würmchen oder gar noch weniger.

Das erklärt zum Teil, weshalb ich nach Grangeville gekommen bin, um an der Hinsdale School zu arbeiten. Hier beschützt mich der Rest von New Hampshire und ganz Maine vor dem monströsen Atlantik. Natürlich hat dieser Ort noch wichtigere Vorzüge. Ich liebe die moosbedeckten Herrenhäuser, den ausgedehnten Besitz und die hochaufragenden Eichen, die ihre Äste über uns breiten wie beschützende Eltern. Die Luft scheint so kräftigend zu sein wie selbstgekochte Bouillon.

Schule und Stadt teilen eine gewisse Zeitlosigkeit. Beide wurden in den Jahren um 1860 gegründet und verbinden die Würde des Alters mit dem Staunen und den leuchtenden Augen der Jugend. Sowohl Grangeville als auch Hinsdale sind freundlich und offen, außer, wenn es um unnütze Veränderungen geht.

In vieler Hinsicht sind Erscheinungsbild und Arbeitsweise von Hinsdale School seit dem Bürgerkrieg unverändert geblieben. Jeder Tag beginnt und endet mit einer Zusammenkunft aller im Versammlungshaus, welches sich an die Kapelle anschließt Die Schüler tragen jagdgrüne Blazer, verziert mit Messingknöpfen und dem Hinsdale-Emblem: ein silbernes Schwert des Wissens durchdringt ein flach gesticktes »H«. Alte Rituale und Rivalitäten sind sorgfältig bewahrt worden. Mädchen, die aufgenommen werden wollen, werden immer noch an die Towne School am oberen Ende der Straße verwiesen.

Auch Grangeville hat sich Wesen und Gangart einer früheren Zeit bewahrt. Bisher ist die Stadt verschont geblieben von goldenen Bögen, Fabrikverkaufsstellen und Kaffeeboutiquen. Nirgendwo in Grangeville bekommt man Nagelverlängerungen, signierte Salatsaucen mit den Namen von Prominenten oder die diversen Erscheinungsformen von Tofu als echtes Lebensmittel verkauft. Es fiele keinem Kaufmann ein, etwa Kinderschuhe für einhundert Dollar oder ein Kleidungsstück von Chanel in sein Sortiment zu nehmen. Die Auswahl an Frisuren beschränkt sich auf einen geraden Schnitt oder einen Stufenschnitt in Lester Parrishs Einheitssalon auf der High Street. Nachdem Lester mich bei meinem ersten Besuch gemustert hatte, empfahl er den geraden Schnitt für mein kastanienbraunes Haar, und er paßt zu mir. Wie fast alles hier. Vor allem aber kommt mir Hinsdales Philosophie entgegen. Die Schule hat sich dem Grundgedanken verschrieben, daß Vielfältigkeit eine Tugend und Erfolg eine Frage der Definition ist. Sicher, auch Hinsdale hat ihren Anteil an berühmten und hervorragenden Absolventen, aber sie weigert sich, dem Trend zu folgen und nur ein unterwürfiges Glied in der Hackordnung der namhaften Schulen zu sein. Zusätzlich zu den Internatsschülern mit Designergenen und enormen Vorteilen unterrichtet diese Schule soviel örtliche Bewerber, wie die Räumlichkeiten und das Stipendienbudget erlauben.

Ich leite das Unterstützungsprogramm für solche Kinder, die zusätzliche, individuelle Hilfe brauchen. Viele von ihnen haben sich jahrelang mit beängstigender grauer Theorie herumschlagen müssen und haben dabei tiefe psychische Wunden oder einen ernsthaften Knacks davongetragen. Einige laufen sogar Gefahr, daß das »H« von Hinsdale für sie die Bedeutung von »hoffnungslos« bekommen könnte, aber seit ich vor fast einem Jahr angefangen habe, hier zu arbeiten, ist meine Erfolgsquote außerordentlich gut gewesen.

Eltern und Kollegen glauben, daß ich die geborene Lehrerin bin. Mein eigentliches Geheimnis ist meine enorme Beharrlichkeit Ich bleue meinen Schülern die Zuversicht regelrecht ein, ich erdrücke sie förmlich mit Lob. Mein Motto lautet jedes erfolgversprechende Mittel ist recht Wenn alles nichts bringt – versuch irgend etwas. Kein Kind kann sich so angegeben haben, daß es sich meinem unendlich positivem Denken nicht ergibt und anfängt zu lernen.

Dies ist auch der Grund, weshalb ich in diesem Sommerhalbjahr Billy Brodsky das Schwimmen beibringe. Billy vertraut mir. Gemeinsam haben wir die erste Klasse überstanden. Schwimmen können ist eine der wenigen unabänderlichen Bedingungen, die Hinsdale stellt Eine Frage der Sicherheit behauptet die Schulleitung. Weniger als eine Woche bleibt noch von diesem Schulhalbjahr, das das traditionelle Sommercamping mit Förder- und Fortgeschrittenenunterricht verbindet Vor Ablauf dieser Frist muß Billy sich, auf dem Rücken liegend, treiben lassen und Wasser treten können. Nachdem ich die Lebensgeschichten von Dick und Jane auswendig gelernt und einen Berg von Lutschern gezählt habe, um soweit zu kommen, bin ich nicht bereit zuzulassen, daß der junge Herr Brodsky in ein paar Zentimeter gefiltertem, beheiztem und gechlortem Wasser untergeht. Aus irgendeinem Grund entgleitet ihm das Band. Er reißt die Augen auf. Eine verzweifelte Hand klammert sich an mein Handgelenk.

»Hilfe!«

»Keine Panik, Meister«, beruhige ich. »Wer einmal das Band in seinen Händen gehalten hat für den hält der Zauber lange, lange Zeit an.«

»Mm – mm, nicht für mich.«

»Ganz bestimmt –« beim Anblick seines Gesichtsausdruckes trete ich den Rückzug an, »– bis morgen.«

Ich winde mich aus seinem Griff und massiere mein Handgelenk, um die Durchblutung wiederherzustellen. Diesmal binde ich das Band mit einem doppelten Knoten an seinen Zeigefinger. »So, Freundchen, jetzt kannst du es nicht wieder verlieren.«

Zögernd lehnt er sich zurück. Behutsam trägt das Wasser ihn in einer schaukelnden Bewegung, und langsam entspannen sich seine Muskeln.

»Schau dir das an!« Ich könnte vor Freude jauchzen, aber der Augenblick ist viel zu zerbrechlich.

»Ich kann’s!« Er versucht es zu begreifen und genießt das Gefühl. »Ich schwimme richtig.«

»Du sagst es, mein Freund.«

Er riskiert ein verstohlenes Lächeln. »Wie ein Pascha?« »Besser als jeder Pascha, den ich zu Gesicht bekommen habe.«

Losgelöst wie Seetang treibt er jetzt Die Sonne geht schon unter, Schatten sammeln sich und ziehen über das untere Ende des Pools. Wenn sie zu uns kommen, wird die Temperatur schlagartig sinken. Die späten Augusttage bedeuten für New Hampshire, daß der Winter nicht mehr weit ist.

Ich beschließe, Billy so lange wie möglich treiben zu lassen, um sein Vertrauen nachhaltig zu stabilisieren. Morgen früh werde ich als erstes Richard Bruce, den Leiter für Sport dazu bringen, die Schwimmprüfung vorzunehmen.

Das Kind ist völlig entspannt Ich spüre seine Befriedigung. Gibt es etwas Schöneres?

Mir fällt ein Spiel ein, das bei den ganz Kleinen beliebt ist »Mein kleines Auge sieht ganz weit jemanden, der wie eine Wolke am Himmel treibt«

Billy lächelt Das ist Kinderkram, aber mir zuliebe läßt er sich herab. Mit geschlossenen Augen liefert er seinen Beitrag:

»Mein kleines Auge muß nicht lange suchen, es sieht eine Lehrerin, so rund wie ein Heidelbeerkuchen.«

Soviel zu seiner lausigen visuellen Wahrnehmungsfähigkeit, aber momentan will ich diesem Kind alles verzeihen, sogar die Sünde der Aufrichtigkeit. Frische Luft und Grillabende haben meiner Sammlung zu ein paar weiteren Pfunden verholten. Ich würde sie gern loswerden und habe die feste Absicht, ebenso wie ich auf eine Weltreise gehen und einen Nobelpreis gewinnen möchte – allerdings nicht heute.

Die Schatten ziehen sich zu, es wird Zeit zu gehen. »Ich sehe mit meinem kleinen Auge, es wird Zeit und das Abendbrot steht bald bereit.« Ich möchte ihn im Glanze seines Ruhmes aus dem Pool geleiten. »Stoß dich mit den Füßen ab, Sportsfreund, ich wette, du schaffst es bis zum Beckenrand.«

Er ist zu allem bereit Ich bleibe neben ihm, während er zur Treppe paddelt.

»Ich kann’s, Miß Logan, sehen Sie doch!«

»Ganz toll.«

Er strahlt über das ganze Gesicht. Über die Schulter prüfe ich die Entfernung bis zum Rand. Noch eineinhalb Meter, und der Sieg gehört ihm.

»Fast geschafft, Billy«, melde ich.

»Wie weit noch?«

Ehe ich antworten kann gibt es einen mörderischen Schrei. Irgendetwas streift hinter meinem Rücken vorbei und stürzt sich kopfüber in den Pool, wo es mit einem enormen Platschen um Haaresbreite auf Billy landet Es folgt ein verwirrendes Durcheinander. Verzweifelt versuche ich, mein wild um sich schlagendes Zubehör auseinanderzusortieren. Ehe es mir gelingt, verliere ich den Halt, und schäumendes Wasser schlägt mir ins Gesicht Ich sacke bis auf den Grund des Pools.

Schnell kämpfe ich mich wieder an die Oberfläche. Was ich unter mir sehe, während ich nach Atem ringe, trifft mich schwer. Dort unten ist Billy, regungslos mit hervorquellenden Augen.

Ich tauche wieder unter, packe den Jungen um die Brust und zerre ihn nach oben. Er ist wie ein Stein, schwer und unbeweglich.

»Billy?«

Keine Antwort.

»Billy, antworte mir! Bist du okay?«

Ich ziehe ihn an den Rand, trage ihn die Leiter hinauf und lege ihn auf den Rasen. Dann untersuche ich ihn: Farbe, Puls, Pupillen, Gliedmaße.

Nichts beschädigt außer seinem Stolz. Das Kind ist immer noch zu Eis erstarrt, aber sonst unverletzt.

»Alles in Ordnung, Sportsfreund, es wird dir gleich bessergehen.«

Als er einen Augenblick später den Schock überwunden hat, beginnt er loszuheulen wie die Alarmanlage eines Autos. Ich helfe ihm sich aufzusetzen, löse das Band von seinem Finger und wickele ihm ein Handtuch um die Schultern.

In der Zwischenzeit unternimmt der Verursacher seines Elends eine Siegesrunde im tiefen Teil. Nach einer schnellen Wende kommt das andere Kind auf uns zu. Noch ehe es bei uns ist, windet Billy sich los. Schluchzend zieht er ein Sweatshirt über.

»Du hast das wunderbar gemacht, mein Junge, einfach großartig«, sage ich, obwohl ich weiß, daß diese Worte nutzlos sind. Ein zerbrochener Zauber ist wie ein mißratener Kuchen: Man muß die traurigen Überbleibsel in den Abfall werfen und von vorn anfangen. Meine Wut richtet sich gegen den Eindringling. Sein mit Zahnlücken verziertes Grinsen riecht nach schmutziger Zufriedenheit. Ich weiß, daß dieser Angriff mir galt. Die meisten Kinder mögen mich oder tolerieren mich zumindest, aber dieses hat nur ein Ziel: mich in den Wahnsinn zu treiben.

Letzte Woche hat er absichtlich die preisgekrönte Arbeit eines anderen Kindes auf die Erde geworfen und ist darauf herumgetrampelt. Die Woche davor hat er die Napfkuchen, die ich zum Geburtstag einer Mitschülerin gebacken hatte, umgeworfen. Seit wir vor vier Monaten begonnen haben zusammenzuarbeiten, hat dieses Kind nicht eine niederträchtige Gelegenheit ausgelassen.

Ich habe versucht, vernünftig mit ihm zu reden, ihm Sympathie und Verständnis angeboten. Ich bin bis zur Bestechung und ernsthaft einschüchternder Drohung herabgesunken, aber nichts hat seine offene Verachtung aufbrechen können.

»Das war gemein«, fauche ich.

»Was habe ich denn getan?«

Er ist ein mageres Kind, nur Haut und Knochen. Grüne Augen mit kupferfarbenen Einsprengseln leuchten aus einem mit Grübchen versehenen Puppengesicht. Wenn man die Hörner verdeckte, könnte man das kleine Biest für einen Engel halten – allerdings nur kurzfristig.

Es ist nicht einfach, ihm böse zu sein, aber ich schaffe es. »Du weißt sehr wohl, was du getan hast! Entschuldige dich bei Billy.«

Billys Schmerz ist zu einem Wimmern geschrumpft. Seine geschwollenen Augen sind auf mich gerichtet, eine Entschuldigung könnte helfen.

»Warum sollte ich?« fragt der Junge herausfordernd.

Mehrere sehr unangemessene Antworten schießen mir durch den Kopf, aber ich beherrsche mich. So werde ich nicht die Oberhand über dieses Kind gewinnen, vor allem dann nicht, wenn er die Regeln bestimmen darf.

»Zieh dich um und geh in das Büro des Direktors, ich werde dich dort um fünf treffen.«

Mit einem Grinsen schießt er über den Rasen davon. Traurig und entmutigt sehe ich ihm nach. Der Junge ist acht, viel zu jung, tun einen so dicken Schutzpanzer zu tragen.

Mein gescheiterter Pascha kämpft sich in seine Turnschuhe. Ich lege meine Hand auf seine magere Schulter und begleite Billy zu seinem Haus.

Kapitel 3

Tell tale tit,

Your tongue shall be slit,

And all the dogs in our town

Shall have a little bit.

Kannst du den Mund nicht halten,

wird dir die Zunge gespalten,

und alle Hunde unserer Stadt

sollen ein Stückchen erhalten.

Die jüngsten Schüler von Hinsdale hausen in Weldon House, einem weiträumigen viktorianischen Gebäude am Ende der großen, in der Mitte gelegenen Rasenfläche. Ich übergebe Billy seiner Hausmutter, Patsy Culvert, die ihn überschwänglich empfängt. Es ist nicht zu übersehen, daß Miß Culvert auch die Schauspielgruppe leitet. Sie ist ein menschlicher Wonderbra: steif, unecht und für Männer unwiderstehlich.

Die dramatischen Fähigkeiten von Miß Culvert kommen ihr in ihrem Job als Hausmutter äußerst gelegen. Sie spielt die Rolle der Florence Nightingale ebenso meisterhaft wie Mary Poppins oder die Übermutter. Angesichts Billys Kummer inszeniert sie ein herzzerreißendes »armer Kleiner«. Sie umfängt das triefende Kind mit einer Umarmung, nicht ohne sorgfältig darauf zu achten, daß ihre hellblonden Haare nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Sein Gesicht, zwischen ihren Busen gedrückt, sieht nicht gerade unglücklich aus, ich kann also gehen.

Mein Weg zum Büro des Direktors führt mich an den Unterkünften der Angestellten an der Ostseite des Schulgeländes vorbei. Ich bewohne eine Dreizimmerwohnung im obersten Stock von Hammond Hall. Mir bleibt gerade noch genügend Zeit, um hinaufzulaufen und mir etwas Ordentlicheres als mein übergroßes T-Shirt und meine reizenden Plastiklatschen überzustreifen.

Aunt Sadie erwartet mich schon an der Tür, schweigend, doch ihrem Gesicht ist das Mißfallen deutlich abzulesen. Wie immer hat sie in meiner Abwesenheit die Wohnung aufgeräumt, denn Aunt Sadie haßt die Unordnung, die ich beständig hinterlasse, und schiebt deshalb, sobald ich gehe, das Durcheinander außer Sichtweite. Leider kann sie meine Sachen bestenfalls hinter den Vorhängen oder unter dem Teppich verstecken. Sie verfolgt die besten Absichten, und obwohl selbst der anspruchsvollste Hund für die Hausarbeit unzulänglich ausgestattet ist, besteht sie trotzdem darauf. Ich vermute, sie gibt sich der vagen Hoffnung hin, daß ich eines Tages »stubenrein« werden könnte.

Aunt Sadie ist eine Ureinwohnerin von Grangeville; sie wurde hier geboren, Jahre bevor ich eintraf. Man erzählte mir, sie sei ein Kind der Liebe zwischen einer erstklassigen Irish Setter Hündin und einem streunenden Köter aus dem benachbarten Independence Center. In Ungnade geboren, so geht die Sage, wurde Sadie an Mary-Beth Campbell übergeben, die das IGA leitet. Da sich herausstellte, daß Daryl, der älteste Sohn von Mary-Beth, allergisch reagierte, wurde Sadie ein Ladenhund. Ich vermute, daß sie damals gelernt hat, drohendes Unheil zu wittern und abzuwehren.

Jahre später entwickelte Mary-Beth eine Allergie gegen Sadie, die noch schlimmer war als die ihres Sohnes. Sie brachte einen Zettel in der Backwarenabteilung an und bot den Hund zur Adoption feil. Am selben Tag führte mich das Schicksal, gegen meinen Willen, in das IGA, um ein Brownie zu kaufen. Sadie kam aus dem angrenzenden Raum gesprungen, um mir davon abzuraten. Trotz ihrer Herrschsucht war ich überwältigt von ihrem weichen beigen Fell, dem stolzen Gang und den lebhaften schwarzen Augen. Seither wird das meiste Unheil, das Sadie verhindert, von mir verursacht Sie achtet darauf, was ich esse, begutachtet meine Garderobe und bekämpft meinen Hang zum Leichtsinn. Sie ist energisch und eigensinnig und hat viel zu oft recht damit. Ich nenne sie »Aunt« Sadie, weil sie sich weigert, auf»›Attila« zu hören. Sadie ist sogar noch sturer als ich, weil sie sich mit vier Füßen gegen alles stemmen kann.

Sie knurrt, als ich mein nasses Hemd und den Badeanzug im Wohnzimmer auf den Boden fallen lasse, gehorsam hebe ich sie auf. Ich bin von Natur aus unordentlich, das ist keine böse Absicht Die Wohnung ist herrlich, und ich teile die Ansicht des Köters, daß sie sorgsam behandelt werden sollte.

Das Schulgelände war früher die Sommerresidenz eines New Yorker Finanziers, und Hammond Hall war sein Gästehaus. Meine Wohnung, damals als Gartensuite bezeichnet, besteht aus hohen, luftigen Räumen, bleiverglasten Fenstern, schwerem alten Mobiliar und einem breiten offenen Kamin. Die Decken sind gewölbt und der Stuck ist gnädigerweise vom Anstrich verschont geblieben. Handgekachelte Blumenmosaike zieren die Wände des Badezimmers. Dort gibt es eine riesige Badewanne auf Klauenfüßen, einen altertümlichen Duschstand und ein mit Seerosen bemaltes Keramikbecken.

Ich dusche mich schnell und werfe meine vorteilhafteste Ausstattung über: schwarze Hosen und eine smaragdgrüne Tunika, die meine Augenfarbe unterstreicht und meine Taille geschickt kaschiert.

Ich finde, daß der kleine Racheengel die wenigen Minuten, die ich brauche, um meine Wimpern zu tuschen und etwas Rouge aufzulegen, warten kann. Aunt Sadie trottet in mein Schlafzimmer, ein Traum von zerzaustem Beige. Sie schmiegt sich an mich und hebt den Kopf.

»Wie lautet das Urteil? Sehe ich ordentlich aus?«

Ihre Antwort ist ein unverbindliches Niesen. Sie läßt sich niederplumpsen und schläft, die Schnauze auf den Pfoten, umgehend ein.

Als ich fertig bin, umrunde ich ihre schnarchende Gestalt und verlasse das Zimmer auf Zehenspitzen. Doch noch ehe ich die Tür erreiche, ist der Hund aufgesprungen und bellt Sie schießt hinter mir her in den Flur. Mit scharfen Warnlauten drängt sie mich an den Schrank. Ganz offensichtlich soll ich eine Jacke anziehen, aber ich stelle mich dumm. Wenn ich dem Köter nur einen Zentimeter nachgebe, wird sie mich im Nu dressiert haben.

»Bis später, mein Mädchen.«

Verärgerung grummelt tief in ihrer Brust.

Sie umkreist den Schrank wie ein mürrischer hellbrauner Bär, entschlossen, ihren Standpunkt durchzusetzen.

»Tschau, Süße.« Ich dränge mich hinter ihr durch und schlüpfe hinaus. Im Nu öffnet sie mit ihrem Houdini-Trick die Tür und folgt mir. Während sie um mich herumspringt und keucht, so daß ich den heißen Atem an meinem Schienbein fühle, versuche ich, sie zu ignorieren.

Am Rande der großen Rasenfläche, deren Betreten für sie verboten ist, gibt der Hund auf. Ihr verzweifeltes Kläffen wird mich noch eine Ewigkeit verfolgen.

Als ich auf das Hauptgebäude der Anlage zukomme, dem Sitz von Verwaltung und der individuellen Betreuung, sehe ich im Parterre, im Büro des Direktors, die Lampen brennen.

Die Sekretärin ist schon gegangen. Auf mein Klopfen antwortet Adam Staffords voller Bariton. Als ich eintrete, telefoniert er.

Er bedeutet mir, auf einem der dunkelroten Lederstühle, die vor seinem Schreibtisch stehen, Platz zu nehmen.

Stafford ist zuvorkommende und attraktive Einmeterzweiundachtzig. Dichtes, grau werdendes Haar innschließt ein gutgeschnittenes Gesicht.

Aus seinen dunklen Augen strahlt Intelligenz, und seine Körpersprache verrät ungebrochene Selbstsicherheit Ein paar kräftige Brusthaare spitzen aus seinem offenen blauen Hemdkragen hervor. Seine aufgekrempelten Ärmel enthüllen muskulöse Unterarme, und seine Hände sind schmal mit langen, spitz zulaufenden Fingern. Ich habe oft gedacht sie würden sich ausgezeichnet eignen, um auf einem Instrument zu spielen, beispielsweise meiner Haut.

Was ich von der Unterhaltung mitbekomme, läßt mich vermuten, daß er einen Spender umwirbt »Wunderbar, Sean«, sagt er, »ich bin sicher, Sie wissen, wie sehr Hinsdale Ihre Freundschaft schätzt«.

Dank Staffords überzeugendem Charme ist die Schule in Rekordhöhe mit Spendengeldern versorgt Gelände und Gebäude sind in bestem Zustand, ebenso der Stipendienfonds. Plötzlich werde ich nervös. Der Direktor weiß, wie man den Verlauf gewisser Dinge beeinflußt ich möchte nicht selbst in solche Dinge verwickelt werden.

Als er auflegt, verschwindet das Verkäuferlächeln. »Was kann ich für Sie tun, Bethany?«

»Ich habe Pip gebeten, Sie aufzusuchen, war er hier?«

»Nein. Was ist los?«

»Ich mache mir Gedanken, er hat sich danebenbenommen.« »Wie das?«

Ich winde mich unter seinem prüfenden Blick. »Da sind verschiedene Dinge.« Ich berichte, was mit Bill Brodsky im Pool passiert ist.

Stafford runzelt die Stirn. »Wollen Sie damit sagen, daß Pip absichtlich versucht hat Billy zu verletzen?«

»Er könnte das am besten selbst beantworten.«

Sein Blick verdüstert sich. »Sie sagen, Sie hätten ihn aufgefordert, Sie hier zu treffen?«

»Vor zehn Minuten, ja.«

Der Direktor wählt eine Nummer innerhalb der Schule. Während er auf Antwort wartet, lehnt er sich im Stuhl zurück und reibt sein Nasenbein. Seine Stimme wird freundlicher, als Patsy Culvert sich meldet.

»Patsy, hallo, hier ist Adam Stafford. Ist Pip bei Ihnen? In Ordnung – danke.« Als er auflegt, wird seine Stimme wieder gereizt

»Er ist unterwegs.«

Während wir warten, beschäftigt sich Stafford mit seinen Unterlagen. Er korrigiert einen Stapel Notizen und zeichnet sie ab. Er blättert zu einer Seite in seinem Kalender und sieht die zahlreichen Termine für den morgigen Tag durch. Aus den auf dem Kopf stehenden Buchstaben kann ich entziffern, daß er mit dem Gouverneur zu Mittag ißt und sich nachmittags mit dem Direktor der hiesigen Bank trifft. Davor und danach finden Gespräche mit Fachlehrern, einem der wichtigsten Spender, einem Radioreporter und einem Beamten vom staatlichen Kultusministerium statt. Das offizielle Abendessen wird zugunsten der Bücherei von Grangeville gegeben. Danach, hat er mit Bleistift eingetragen, Kaffee mit einer Gruppe Eltern der älteren Schüler.

Die Bürotür öffnet sich und Pip kommt hereingeschlendert. Ohne Notiz von mir zu nehmen, geht er hinüber zum Schreibtisch und erhebt seine magere Hand, damit Stafford zur Begrüßung einschlagen kann.

»Was ist los?« will Pip wissen. »Jonah wartet draußen.« »Er kann warten, setz dich, bitte.«

Der Junge setzt sich auf den Stuhl neben mir. »Okay, und?« »Miß Logan erzählt mir, daß du dich ungehörig benommen hast«

»Habe ich nicht.«

Stafford läßt nicht locker. »Und wer ist heute in den Pool gesprungen, als Billy seinen Unterricht hatte?«

»Sie war im Wege, Billy habe ich gar nicht gesehen. Ich wollte mich doch nur nach dem Softballspiel abkühlen.«

»Da bist du ganz sicher?« fragt Stafford.

»Natürlich.« Er zielt einen giftigen Blick in meine Richtung. »Sie will mich doch nur in Schwierigkeiten bringen.«

Stafford wartet, daß ich auf die Anschuldigung antworte.

»Nein, Pip, wirklich nicht, aber ich mache mir Sorgen um dich.«

»Ja, natürlich. Sie kümmert sich doch nur um Billy, er ist ihr kleiner Liebling«, sagt er spöttisch.

»Das ist doch lächerlich!« Meine Verteidigung fällt so schrill aus, daß ich selbst zusammenzucke.

»Frag doch irgendwen, frag Jonah. Sie ist die schlechteste Lehrerin der ganzen Schule. Jeder haßt sie!«

Stafford ballt seine Hände zu Fäusten. »Das reicht, Pip. Du gehst jetzt zum Abendessen, wir werden später noch darüber sprechen.« Nachdem das Kind gegangen ist, sieht der Direktor mich offen an. »Das klingt mir nach einem ganz einfachen Persönlichkeitskonflikt, Bethany. Ich werde jemanden anderen benennen, der ab Herbst mit Pip arbeiten kann.«

»Das wird das Problem nicht lösen. Pip ist ärgerlich auf mich, weil sein Leseproblem ihm zu schaffen macht. Ich stehe für all das, was er vergessen möchte.«

»Es scheint mir etwas übertrieben, das ein Problem zu nennen. Viele Jungen seines Alters haben Schwierigkeiten beim Lesen.«

»Wie ich Ihnen schon gesagt habe, ist das etwas anderes. Pip ist Legastheniker.«

»Sie wissen, was ich davon halte, jemanden abzustempeln.« »Ich stempele ihn nicht ab, ich versuche nur zu erklären, warum er soviel Schwierigkeiten hat. Pip sieht und hört in einer atypischen Art und Weise. Er hat Probleme mit Buchstabenumkehrungen und unterscheidenden Lauten.«

Staffords Lippen werden schmal. »Ich werde nicht zulassen, daß irgendein Hinsdale-Schüler durch Testergebnisse verdammt wird.«

»Das schlage ich auch gar nicht vor. Er wird lernen, wie er das ausgleichen kann, aber das wird Zeit und harte Arbeit erfordern.«

»Offen gestanden, da bin ich anderer Meinung. Ich glaube Pip besser zu kennen als Sie.«

»Selbstverständlich, schließlich sind Sie sein Vater.«

Der volle Name des Jungen ist Adam Phillip Stafford der Dritte, aber »Pip« paßt besser zu ihm. Abgesehen vom Hindernis Lesen ist er eines der begabtesten Kinder seiner Klasse und ihr furchtloser Anführer. Außerdem ist der Kleine ein erstklassiger Sportler, schnell und nach außen selbstsicher. Die meisten meiner Kollegen sind diplomatisch genug, nur freundliche Gedanken über den Sohn des Chefs zu äußern, doch ich spüre tief innen, daß das flotte Mundwerk des Kindes und seine Prahlerei Zeichen für Probleme sind. Der Junge ist verletzend und sein tückischer Unfug ist ein Schrei nach Hilfe.

»Je länger er das Problem umgehen kann, umso schwieriger wird es zu beheben sein«, beharre ich.

Staffords Kiefer zuckt. »Sie müssen mich nicht belehren, Bethany, ich weiß, was für meinen Sohn das Beste ist!« »Sicher wissen Sie das, aber –«

»Kein aber! Pip wird neu zugeteilt und Schluß damit!«

Ich bin sprachlos. Ich habe Stafford häufig mit seiner Geduld kämpfen sehen, aber es ist nicht bekannt, daß er sie je verloren hätte. Der Mann ist ein Fels, und Felsen brennen nicht.

Sein Brustkorb weitet sich und beruhigt sich wieder, er ebenfalls. »Ich weiß, daß Sie es gut meinen, Bethany, aber Ihre Sorge ist hier fehl am Platze. Pip hat mit verschiedenen Schwierigkeiten fertig werden müssen, die sein Entwicklungsmuster geprägt haben. Ich habe das schon erlebt, er schafft es.« Stafford ist bekanntermaßen vorsichtig, wenn es um seinen persönlichen Hintergrund oder den seines Sohnes geht. Ich weiß, daß Pips Mutter ohne Belang ist, aber nicht, wo sie sich aufhält Es geht die Sage, daß sie mit einem guten Freund des Direktors durchgebrannt ist, obwohl ich mir schwer vorstellen kann, daß sich jemand aus den Armen dieses kraftvollen, anziehenden Mannes fortlocken ließe.

Das Eis ist hauchdünn, aber ich gebe ihn ja ohnehin ab. »Welche Art Schwierigkeiten?«

»Das sind persönliche Dinge.«

»Verstehe, aber es ist sehr nützlich, die Lebensgeschichte eines Kindes zu kennen. Es kann erklären –«

»Alles, was für Pips Erziehung wissenswert ist, befindet sich in seinen Unterlagen.«

»Aber –«

»Wie ich schon sagte, Pip wird das schon machen, und das ist ja sowieso nicht mehr Ihre Angelegenheit.« Demonstrativ sieht er auf seine Uhr. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden ...«

Ich widerstehe dem Drang, ihn weiter in die Enge zu treiben. Der Mann ist nicht gewillt, sich zu beugen. Wie dem auch sei, er hat mich auf eine bessere Idee gebracht.

Der Gedanke daran läßt mich plötzlich frösteln.

Kapitel 4

There was a man in our town,

And he was wondrous wise.

He jumped into a bramble bush

and scratched out both his eyes.

In unserer Stadt lebte einst ein Mann,

der war erstaunlich weise,

er sprang in einen Brombeerstrauch

verlor seine Augen am Reise.

Mit Ausnahme von Staffords Büro ist das Hauptgebäude verlassen. Als ich über die Schulallee gehe, einen schmalen Fußweg, der die verschiedenen Campusgelände miteinander verbindet, knacken unter meinen Füßen trockene Zweige und das erste Herbstlaub. Ein Geruch von verbrannten Kiefern liegt in der Luft. Die Sonne sinkt auf einen dunklen Horizont zu.

Es ist kalt. Ich umfasse mich mit beiden Armen, aber es hilft nichts. Ich hätte auf Aunt Sadie hören und eine Jacke mitnehmen sollen.

Das Essen wird in Grantham Hall serviert, das sich an das Fußballfeld anschließt. Das gedrungene Gebäude aus Quadersteinen hat Böden aus Marmorfliesen, Fenster aus bemaltem Glas und schwere, schmiedeeiserne Kronleuchter. Ich bleibe an der ächzenden Heizung in der Halle stehen, um mich aufzuwärmen. Als mein Blut wieder frei ist von größeren Eisbrocken, gehe ich in die Cafeteria.

Das Unterrichten an einer Internatsschule bietet mir einen besonderen Vorteil: Das Essen hier ist auf den Geschmack der Kinder abgestimmt. Durch glückliche Umstände ist mein Geschmackssinn nie über das Stadium der Vorpubertät hinausgereift. Ich kann mir nicht vorstellen, jemals Spaghetti mit Sauce Bolognese oder mit Käse überbackene Makkaroni überdrüssig zu werden. Zucker und Ketchup sind meine bevorzugten Würzmittel. Nachtisch verteidige ich standhaft als Grundrecht bürgerlicher Freiheit. Wenn ich für einen einsamen Aufenthalt in der Wildnis nur zwei massive Gegenstände einpacken dürfte, würde ich ohne jede Frage Erdnußbutter und Mel Gibson wählen.

Am Eingang zur Essensausgabe inhaliere ich den berauschenden Duft von Wiener Würstchen, Bohnen, Wackelpudding mit Zitronengeschmack und Himbeersaft. Ich häufe von allem etwas auf meinen Teller, denn Hinsdales Koch ist bekannt dafür, daß er wichtige Nährstoffe an den merkwürdigsten Stellen versteckt.

Der Eßsaal für die Schüler enthält ein Netz von länglichen Tischen. Die Kinder sitzen klassenweise zusammen, die jüngsten, die noch am meisten beim Essen kleckern, vorn. Ich grüße bekannte Gesichter, die mit Senfbärten verziert sind und beim Lachen purpurrote Zungen sichtbar werden lassen. »Hallo, Michael. Wie geht es dir, Jason?«

Die Zuneigung, die ich spüre, schwindet beim Anblick von Pip Stafford dahin. Herausfordernd hält er die Arme verschränkt, blanker Haß entstellt sein Gesicht. Während er mich fest im Auge behält, beugt er sich zu seinem Freund Jonah hinüber und sagt in einem Bühnenflüstern:

»Paß auf! Da kommt die dicke, fette Riesenhexe!«

»Hallo Pip, hallo Jonah«, sage ich freundlich. »Schöner Abend, ein bißchen Stichelei in der Luft.«

Die Jungs bersten vor Lachen. Entschlossen gehe ich an ihnen vorbei; solche Dummheit darf mich nicht beeindrucken, schließlich bin ich eine erwachsene Frau. Kein dürres, kleines Zwergenmonster wird mich jemals fertigmachen.

Sofort schäme ich mich. Einem boshaften Achtjährigem mit gleicher Münze heimzuzahlen kann wohltuend sein, aber es ist eindeutig keine Antwort auf das Problem.

Wenn ich nur wüßte, was da war.

Viele der Lehrer wohnen nicht auf dem Campus und essen normalerweise abends zu Hause, aber heute ist der Eßsaal für das Personal randvoll. Am Abend werden in einer Feierstunde die Preise für besondere schulische, sportliche und staatsbürgerliche Leistungen verliehen, und es wird erwartet, daß jeder daran teilnimmt.

Ich setze mich auf den leeren Platz an meinem üblichen Tisch. Wie die Kinder neigen auch die Lehrer dazu, immer nur mit ihresgleichen zusammen zu sein. Die Trainer sitzen bei den Sportlehrern. Chemie- und Physiklehrer sitzen mit den Mathelehrern zusammen. Die Fachschaft Englisch beansprucht zwei Tische, einen für den allgemeinen Unterricht, den anderen für Literatur. Die Fremdsprachler sitzen zusammen, die Franzosen à la tête – und die Italiener a piedi. Die Verwaltung sitzt gesondert Der erste Tisch im gerundeten Erker wird für die kirchlichen Mitarbeiter freigehalten. Es ist sattsam bekannt daß die Sekretärinnen Hauptschlagader und Rückgrat einer jeden Schule sind. Alle anderen, mit Ausnahme des Hausmeisters, sind entbehrlich.

Meine Gruppe besteht aus den diversen anderen. Da ist Norma Molina für Sprechunterricht, Hal Kreidman für Computerkurse, Francine Effren für Biologie, der Medienspezialist Danny D Amato und Patsy Culvert für Hysterie.

»Mein Gott, Bethany, hast du den Verstand verloren?« tobt Patsy, als ich meine Teller vom Tablett auf den lisch stelle. Fast sieht sie angezogen aus in ihrem kurzen Pullover, dem winzigen Rock, hohen schwarzen Stiefeln und riesigen, reifenförmigen Ohrringen.

»Nicht, daß es mir aufgefallen wäre.« Warum, würde ich gern fragen, hast du etwa einen gefunden?

»Man beschwert sich nicht über den Sohn des Direktors, meine Liebe, eine schlechte Idee, eine sehr schlechte sogar.«

»Wirklich? Tja, daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht« Auf Patsys Plastiknase sprießt ein Pickel, ich hoffe, er tut weh.

»Du brauchst gar nicht sarkastisch zu sein, Bethany, ich versuche nur, dich vor dir selbst zu retten.«

Ich spüle einen Bissen Hotdog mit einem langen, kühlen Schluck Saft hinunter. Patsy knabbert nacktes Grün und nippt an einem Evian.

»Jedenfalls vielen Dank«, sage ich zu ihr.

»Stafford wird zum Löwen, wenn es um Pip geht. Ich würde einen Rückzieher machen, wenn ich du wäre – ehrlich.« »Jedenfalls vielen Dank, Patsy. Ehrlich.«

Ich drehe mich um und rede mit Hal Kreidman. Hal ist der Mann meiner Träume, und das weiß er auch. Er ist intelligent süß, hübsch und liebenswert. Er hat einen außergewöhnlich klaren Verstand und einen enormen Sinn für Humor. Unsere Freundschaft begann bei meiner Ankunft in Hinsdale vor einem Jahr, als Hal mich umgehend unter seine Fittiche nahm. Ich habe schon mehr als einmal versucht sie etwas enger zu gestalten, aber Hal leistet Widerstand. Aus seinen lahmen Ausflüchten entnehme ich, daß er einfach nicht interessiert ist Er reitet ständig auf so unbedeutenden Dingen wie den vierzig Jahren Altersunterschied herum. Ich halte dagegen, daß Jugend eine Krankheit ist von der wir uns alle rechtzeitig erholen werden. Hals Antwort ist ein Lächeln und die Bemerkung, daß ich ihn an seine Enkeltochter Ellen erinnere: die mit der großen Klappe.

»Wie geht es dir, Hal?«

»Prima, Beth, und dir?«

»Sie ist lebensmüde, das ist es«, sagt Patsy.

»Wie das?« Hals helle Augen unter den buschigen Brauen werden schmal. Sein schütteres Haar ist schneeweiß, was durch das blaue Hemd und einen marineblauen Pullover mit V-Ausschnitt gut zur Geltung kommt

»Pip Stafford wegen disziplinärer Maßnahmen melden, das ist es.« Um die Anklage zu unterstreichen, reckt Patsy ihre verunstaltete Nase.

»Gut gemacht, Beth.« Und zu Patsy gewandt: »Das ist nicht lebensmüde, meine Uebe, so was nennt man Integrität«.

»Integrität, arbeitslos, was auch immer.« Patsys Hand winkt zum Abschied. Hals Nacken rötet sich vor Ärger.

»Bethany ist zu aufrichtig und zu engagiert, um das Wohl eines Kindes – eines jeden Kindes – zu vernachlässigen.«

Gedehnt sagt Patsy und deutet dabei auf sich selbst »Meine Mama hat mir beigebracht daß ich das Wohl dieses Kindes zuerst bedenke.«

»Du solltest deinen Salat essen, Patsy, ehe er kalt wird«, meint Hal.

Für den Rest der Mahlzeit plaudere ich mit Hal, Fran Effren und Denny D’Amato. Miß Culvert und Norma Molina tauschen einstudierte Monologe aus. Ich verdrücke zwei Hot dogs, einen Haufen Chips und eine Schale Pudding, denn ich befürchte, ich werde meine Kräfte brauchen.

Um sieben verteilen sich die letzten Schüler in Saxton Hall, der Aula, die sich an die Kapelle anschließt. Hochaufstrebende, palladianische Fenster rahmen wuchtige Ölgemälde ein, die die Brüder Ardus und Sylvan Hinsdale, die Begründer der Schule, darstellen. Reihen von miteinander verbundenen Stühlen sind auf die Bühne ausgerichtet, wo die Flagge unserer Nation sich gegen ein Mammutbanner in den Hinsdalefarben Grün und Weiß zwergenhaft ausnimmt

Der Dielenboden ist durch ein Jahrhundert begeisterten Herumtrampelns stumpf geworden. Aus altmodischen Halterungen sickern diffuse Lichtinseln. Bronzeplaketten erinnern an ehemalige Schüler, die ihr Leben in verschiedenen Schlachten verloren haben. Jener echten Helden allerdings, die Geld für den Stiftungsfonds gespendet haben, wird durch größere und leuchtendere Plaketten gedacht. Die Ehrentafel, eine breite hinter Glastüren verschlossene Platte, listet Studenten auf, die während der letzten fünf Jahre hervorragende Leistungen auf verschiedenen Gebieten erzielt haben. Ihre Reihen werden noch durch jene Jungs anwachsen, die heute abend genannt werden.

Nachdem sich alle Schüler gesetzt haben, nimmt Grace Amundsen, die Leiterin des Fachbereiches Musik, an der Orgel Platz. Grace und die Orgel sind von gleicher Machart. Beide sind breite, polierte Typen mit hölzerner Körperhaltung und großen, beeindruckenden Stimmen. Gleich darauf wird die Aula von der Schulhymne erfüllt. Jeder ist aufgestanden und singt nach der düsteren Melodie von »0 Tannenbaum«:

Auf grünem Feld

Herz und auch Sinn

sich immer wieder spiegelt.

Das Schwert gereckt,

unser Banner winkt,

Hinsdale auf ewig in mir klingt.

Es ist alberner Blödsinn, aber meine Augen werden feucht Ich bin auf Long Island aufgewachsen in einer uniformen Vorstadtsiedlung ohne »Persönlichkeit« und »kostbare kleine Seele«. Als meine Mutter gestorben war, zog Dad mit uns von einem Ort zum nächsten, als ob er und die Spedition Adas Van Lines die häßliche Wahrheit irgendwie von uns hätten fernhalten können.

Meine Erziehung war ein Mischmasch. Ich bin in Dorfschulen gegangen, wo alle Kinder zusammengewürfelt wurden wie bei einem hastig zusammengewürfelten Fleischeintopf, wenn der Gefrierschrank streikt.

Ich bin in Stadtschulen gegangen, in denen eine Durchschnittsklasse vierzig Schüler umfaßte und der Lehrer nur ein Ziel hatte: zu überleben. Nirgendwo war ich lange genug, um mich zu Hause zu fühlen. Ich habe nie die selbstgefällige Wichtigkeit genossen, die man sich zumißt, wenn man ein erfahrener Insider ist. Bethany, die Neue, das war ich, eine pummelige, grünäugige Kuriosität.

Ich habe oft davon geträumt, ein bleibender Bestandteil von etwas zu sein, Wurzeln zu schlagen. Aber Laufen ist eine Gewohnheit, die sich schlecht abstellen läßt. Mit zweiunddreißig haben sich die hohen Erwartungen an Dutzende von glänzenden Ideen verschlissen. Ich habe Karrieren, Städte, Männer und Ziele so oft gewechselt, daß ich Mühe habe, mich zu erinnern, wer und was mir wo begegnet ist.

In Hinsdale habe ich zum ersten Mal aufgehört, mich gegen den Wind zu stemmen, der mich ununterbrochen vorwärtstreibt. Ich fühle mich von der quälenden Ruhelosigkeit befreit. Hinsdales warme Umarmung überwältigt mich jedes Mal, und auch heute abend sehe ich in den strahlenden Augen um mich herum: ich bin nicht allein. Das Lied ist beendet; Grace leitet zu einem feurigen Marsch über. Alle sind aufgestanden, als Fahnenträger aus der Unter-, Mittel- und Oberstufe ihre Farben hereintragen. Die Leiter der jeweiligen Stufen, Deans Halloway, Perkins und Rawson, gehen hinterher. Adam Stafford bildet das Schlußlicht Selbst im Talar, den die hohen Tiere zu solchen Gelegenheiten anlegen, sieht der Direktor verdammt sexy aus. Ich stelle mir vor, wie ich erst meine Hand unter das Gewand gleiten lasse und dann mich. Stafford erfüllt mich mit einer sonderbaren Mischung aus Lust und Entsetzen. Nichts würzt einen Hormoneintopf so gut wie eine Prise TNT, vermute ich.

Ich suche mir einen Platz im Gang auf der Rückseite des Auditoriums. Ich habe Billy Brodsky zur Auszeichnung für eine hervorragende Leistung benannt, und ich möchte nicht versäumen sein Gesicht zu sehen, wenn er aufgerufen wird. Glücklicherweise kommt er früh dran. Sobald er wieder auf seinem Platz sitzt, seine Urkunde samt Schleife fest umklammert und über das ganze Gesicht strahlt, verdrücke ich mich.

An der Kapelle vorbei bleibe ich im Schatten, danach kann ich von der Aula aus nicht mehr gesehen werden. Ich beeile mich, um diesen Schwachsinn schnell hinter mich zu bringen.

Es ist noch kälter geworden, ein scharfer Wind beißt mich in die Finger. Der Arrowhead Trail ist ein schmaler Fußweg, der an der Grenze zum Verwaltungsbereich verläuft. Frierend laufe ich über den Rasen auf das Campuszentrum zu. Das Gebäude am Rande des Rasens türmt sich in der Dunkelheit wie ein urzeitliches Raubtier auf.

Mein Atem geht heftig. Weiter hinten schließe ich neben dem Müllschlucker eine Tür auf und schlüpfe hinein. Mein Büro liegt auf halbem Weg den Flur hinunter, an der Seite des Gebäudes. Um sicherzugehen, offre ich die Tür und knipse meine Schreibtischlampe an. Wenn ich erwischt werde, kann ich behaupten, vorbeigekommen zu sein, um etwas zu holen, das ich vergessen habe.

Wie meinen Verstand.

Ich habe keinen Schlüssel für das Hauptbüro, aber es gibt einen Weg durch die Hintertür, über den Kopierraum. In der Dunkelheit schlängele ich mich vorbei an Unmengen von Kopierpapier und Stapeln von Dokumenten, die darauf warten, geklont zu werden. Die Unterlagen der Schüler sind in drei hohen Aktenschränken untergebracht, die hinter einem Quartett von Bürotischen stehen. Die Buchstaben M bis Z befinden sich in dem rechten Schrank, STA bis TRU sind im dritten Auszug von oben. Ich ziehe am Griff – abgesperrt

Ich verliere kostbare Minuten, weil ich den Schreibtisch der Sekretärin nach einem Schlüssel durchwühle. Erst nachdem ich alle Schubladen durchsucht habe, erinnere ich mich, wie es das letzte Mal war, als ich herkam, um die Unterlagen für einen Schüler anzufordern. Es fällt mir wieder ein, daß Arnel Witte, die Assistentin des Betreuungslehrers, den Schlüssel oben vom Schrank gefischt hatte.

Mit einem Meter fünfundsiebzig ist Arnel gut fünfzehn Zentimeter größer als ich. Ich schaffe es einfach nicht, bis auf den Schrank zu reichen. Also ziehe ich einen Schreibtischstuhl heran und bringe mich fast um, als ich auf das Ding steige, das unter mir davonrollt. Doch nach einem Balanceakt auf mehreren Telefonbüchern finde ich den Schlüssel.

Licht zu machen wäre viel zu riskant, weil dieses Büro auf die große, zentralgelegene Grünfläche hinausgeht. Jeder, der zufällig vorbeikäme, würde sich sicherlich wundern, was jemand um diese Zeit hier zu suchen hätte. In der Dunkelheit blättere ich durch dichtgepackte Akten auf der Suche nach Pip Staffords Unterlagen. Wie der Direktor schon erwähnt hatte, habe ich eine Kopie von Pips sogenannter Akte in meinem Büro. Ich bekomme Unterlagen der Schüler zusammen mit dem Überweisungsformular für die besondere Schulung, aber viele Informationen fehlen natürlich. In vertrauliche medizinische Berichte oder finanzielle Daten werde ich nicht eingeweiht Ich bekomme auch die »grünen« Abschnitte nicht zu sehen, besondere Blätter, die angelegt werden, um der Verwaltung einen Wink zu geben, wenn Sorgerechtsvereinbarungen vorliegen, Eltern vorübergehend inhaftiert sind, an einem Entzugsprogramm teilnehmen oder es sich um andere Dinge »delikater« Natur handelt. Was ich über Pip erhalten habe, ist besonders spärlich. Ich mußte die skelettartige Information durch standardisierte Tests und das wenige, was ich aus erster Hand erfahren konnte, ausfüllen. Den meisten Kindern bereitet es ein Vergnügen, sich zu offenbaren, doch nicht Pip Stafford. Wenn das Thema auf ihn selbst oder seine Familie kommt, klappt er zu wie eine Auster. Das Bild, das ich von seinem Wesen habe, ist bedauernswert unvollständig.

Es ist zu dunkel, um die Namen auf den Aufklebern lesen zu können. Ich schnappe mir einen Armvoll aus der Schublade und gehe zum Fenster hinüber. Dort im Mondlicht gelingt es mir, die Namen zu entziffern, Pips ist nicht dabei.

Nachdem ich den Vorgang mehrere Male wiederholt habe, fische ich schließlich die Akte gekennzeichnet »Stafford, Adam Philipp III« heraus. Die Schrift der mit Schreibmaschine getippten Seiten ist zu schwach, um sie lesen zu können. Ich gehe um die Ecke zur Kopiermaschine und taste nach dem Schalter.

Die Kopiermaschine läuft lärmend an. Ich halte den Atem an und horche auf zornige Schritte, herausfordernde Worte, wütendes Geschrei – nichts.