Im Falle meines Todes - Judith Kelman - E-Book
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Im Falle meines Todes E-Book

Judith Kelman

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Beschreibung

Ein totes Mädchen, dessen Killer nie gefunden wurde und eine Ärztin im Visier des Bösen ... Ein alter Fall – ein neuer Killer? Zwanzig Jahre liegt der Mord an der jungen Martha zurück, den die Detektive Sam Bannister und Lenny Price aufklären sollen. Doch kurz bevor sie den Tatverdächtigen konfrontieren können, begeht er Selbstmord. So führt der Cold Case die beiden in die Praxis der renommierten New Yorker Psychiaterin Maggie Lyons, die den Mann behandelte. Als die Ärztin ihnen gestehen muss, dass sie eine auffällig hohe Zahl von Todesfällen zu beklagen hat, werden die erfahrenen Detektive hellhörig: Kann es sein, dass der Selbstmord gar keiner war – und es jemand auf Maggie Lyons abgesehen hat? »Eine außergewöhnliche Autorin« Publishers Weekly Ein Thriller, so atemlos spannend wie Mary Higgins Clark, so abgründig wie Harlan Coben.

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Seitenzahl: 533

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Über dieses Buch:

Ein alter Fall – ein neuer Killer? Zwanzig Jahre liegt der Mord an der jungen Martha zurück, den die Detektive Sam Bannister und Lenny Price aufklären sollen. Doch kurz bevor sie den Tatverdächtigen konfrontieren können, begeht er Selbstmord. So führt der Cold Case die beiden in die Praxis der renommierten New Yorker Psychiaterin Maggie Lyons, die den Mann behandelte. Als die Ärztin ihnen gestehen muss, dass sie eine auffällig hohe Zahl von Todesfällen zu beklagen hat, werden die erfahrenen Detektive hellhörig: Kann es sein, dass der Selbstmord gar keiner war – und es jemand auf Maggie Lyons abgesehen hat?

Über die Autorin:

Mit mehr als zwei Millionen verkauften Exemplaren ihrer Bücher ist Judith Kelman eine Meisterin der psychologischen Spannung. Sie wurde für ihren Thriller »Fürchte dich vor mir« mit dem Mary Higgins Clark Award ausgezeichnet und war Vorsitzende der Mystery Writers of America. Sie lebt in New York City.

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre Thriller um Rechtsanwältin Sarah Spooner mit den Bänden »Wo das Dunkel herrscht« und »Wenn die Unschuld stirbt« sowie die Standalone-Thriller »House on the Hill«, »Schrei, wenn du kannst«, »Thornwood«, »Fürchte dich vor mir«, »Im Falle meines Todes« »Island of Fear« und »The Black Widow«.

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eBook-Neuausgabe September 2024

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1993 unter dem Originaltitel »If I Should Die« bei Bantam Books, New York.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1993 by Judith Kelman

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1995 by Wilhelm Goldmann Verlag, München

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Iuliia Pilipeichenko, Bernie…33, Nadia Chi

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-98952-179-7

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13, 4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Judith Kelman

Im Falle meines Todes

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Bettina Zeller

dotbooks.

KAPITEL 1

Er wartete auf die Angst.

Gut ein Dutzend Schritte vor der Brücke hielt Theodore Macklin inne und ließ seinen Blick über den bedeckten Himmel schweifen. Düstere Wolken ballten sich am dunkelgrauen Horizont zusammen, und nur hier und da bahnte sich das Funkeln eines Sterns seinen Weg durch die Finsternis.

Unter der Brücke schwappte die Brandung in ständig gleichem Rhythmus gegen das Ufer. Macklin wandte sich um und betrachtete die Häuser, die sich an die Küste Rhode Islands schmiegten. Die kleinen, vorgelagerten Inseln schienen ganz nah zu sein, näher als die Häuser entlang des Strandes. Auf einer Insel, die nur halb so weit entfernt war wie das große Strandhotel, thronte ein Leuchtturm, dessen Licht sich unablässig im Kreis bewegte. Sein Schein übte auf Macklin eine beruhigende Wirkung aus. Er sog die salzig riechende Luft ein und spürte, wie die Aufregung von ihm Besitz ergriff.

Er machte einen Schritt, ballte die Fäuste und wappnete sich innerlich gegen den Schrecken, der normalerweise in so einer Situation in ihm aufkeimte. Da nichts geschah, zwang er sich, die Brücke zu betrachten: die hoch aufragenden, sandfarbenen Türme, die langen, herabhängenden Brückentrossen, an denen die Brücke selbst aufgehängt war, die blaßgrünen, seitlichen Verstärkungen. Zwei Reihen hoher Straßenlaternen warfen ausgefranste Lichtkegel auf die Straße.

Am ersten Laternenmast hing ein blauer Zettel mit der Nachricht: Allein, deprimiert, durcheinander, selbstmordgefährdet? Darunter stand der Name und die gebührenfreie Nummer einer Einrichtung, die sich um Selbstmordprävention bemühte. Aber weit und breit war kein Telefon zu sehen. Die Ironie dieses Hilfsangebots ließ ihn höhnisch grinsen, während er seine Taschen nach einer Zigarette durchsuchte.

Macklin war ein Mann von stattlicher Statur voller Kanten und Ecken. Seit vielen Jahren schlug er aus seiner gebieterischen Erscheinung Kapital. Das tiefe Vibrato seiner Stimme, seine rauhen, stark konturierten Züge, sein fester Blick hatten ihm immer zum Vorteil gereicht. Und durch unhöfliches und barsches Benehmen gelang es ihm immer wieder, den verängstigten kleinen Jungen zu verbergen, der in ihm schlummerte.

Nur wenige Menschen, die diesen Mann sahen oder kannten, hätten so etwas überhaupt vermutet. Seit Macklin denken konnte, stand er unter dem Einfluß unterschiedlicher unüberwindbarer Ängste, die jeden seiner Schritte beeinflußten, sein Bewußtsein leiteten und seine gesamte Existenz in eine beklemmend enge Gefängniszelle verwandelt hatten, in der er zu ersticken drohte. Auch jetzt wieder mußte er an all das denken, wovor er sich fürchtete: Käfer, tote Tiere, Blitze, Fahrstühle und Brücken.

Brücken.

Allein das Wort beschwor in ihm einen Wirbelsturm von Ängsten herauf, auf die er jetzt auch wieder voller Neugier und Anspannung wartete. Er wußte, daß in solchen Momenten sein Herzschlag dem Trampeln wilder Pferde glich und seine Kehle sich krampfartig zusammenschnürte. Er erwartete, das Gefühl für die Realität zu verlieren. Dieser Zustand überkam ihn ohne Vorwarnung und verwandelte ihn in ein Blatt, das von einem gewaltigen Sturm davongetragen wurde.

Die Angst war unerträglich, aber das Warten war noch viel schlimmer.

Macklin machte ein paar Schritte. Sein Schatten kroch über den Betonboden der Brücke. Er ging weiter, streckte die Hand aus und fuhr mit seinen Fingern über das feuchte und kalte Geländer, das ihn seltsamerweise beruhigte. Das metallene Rohr umklammernd, atmete er tief durch und wagte sich auf den furchteinflößenden Brückenkörper vor.

Die Psychiaterin in der Phobien-Klinik hatte ihm geraten, sich auf die Furcht einzustellen und mit ihr zu rechnen. Er sollte lernen, sie zu akzeptieren. Sie hatte ihn gedrängt, seinen nutzlosen Widerstand aufzugeben und die Angst zu durchleben. Der Schrecken werde nur eine oder zwei Minuten andauern, hatte sie ihm unbekümmert versichert. Und sie hatte ihm geschworen, daß die Panik nur über seinen Geist Macht habe und ihm etwas vorgaukele. Wirklich anhaben könne sie ihm nichts.

Trotz der Erleichterung und der Freiheit, die Macklin verspürt hatte, war es ihm schwergefallen, ihren Worten Glauben zu schenken. Er hatte sich in ihre fähigen Hände begeben, obwohl sie ihm viel zu jung und begehrenswert schien, um für ihn eine Leitfigur oder Autorität darstellen zu können. Anderseits hatte sie einen einwandfreien Ruf.

In Wahrheit erinnerte sie ihn an eine Frau, deren Bild auch nach Jahrzehnten noch immer in ihm lebendig war. Dieselben Augen: grüne Murmeln mit bernsteinfarbenen Einsprengseln. Wie ihr war es der Psychiaterin ohne große Mühe gelungen, seine Lust zu entfachen.

Während ihrer Sitzungen hatte sich seine Aufmerksamkeit immer wieder auf ihre üppigen Brüste, ihre verführerischen Schenkel, ihren flachen Bauch konzentriert. Wenn er auf der Ledercouch in ihrem Büro lag und ihr seine beschämenden Ängste und Schwächen gestand, sah er sie im Geist rittlings über seinem Körper knien. Auf ihm sitzen. Ihn in ihren Mund nehmen.

Aus diesem Grund hatte er beschlossen, sich gerade von dieser Ärztin behandeln zu lassen. Natürlich wußte er, wie wichtig es war, sein tödliches Verlangen im Zaum zu halten. Wenn er nur einen Moment die Übersicht verlor, endete alles möglicherweise so wie beim letzten Mal. Dann bekam die ganze Sache eine gewisse Eigendynamik, entzog sich seiner Kontrolle und verwandelte sich in einen bluttriefenden Alptraum.

Die Erinnerung an das letzte Mal half ihm, seine Begierde zu unterdrücken. Er zwang sich, die vorgefertigten Ratschläge und niedlichen Theorien der Ärztin anzuhören. Und er absolvierte das demütigende Therapieprogramm, obwohl keiner der dummen Tricks, keines der Hilfsmittel und keine Übung etwas zu bewirken schienen. Als der zehntägige Intensivkurs in der Klinik zu Ende ging, hielt er – einmal abgesehen von einer Rechnung – nichts Greifbares in Händen.

Zumindest hatte er das geglaubt.

Und dennoch fühlte er sich jetzt merkwürdig entspannt. Keine Panik. Nicht die leiseste Aufregung. Sein Atem ging langsam und gleichmäßig, sein Herzschlag glich dem zahmen Flügelschlag einer kreisenden Motte. Seine Muskeln waren locker. Kein Schwindel. Das Blut floß gemächlich in seinen Adern.

Mit ungewohnter Gewandtheit setzte er zum Marsch über die Brücke an, wurde schneller, lief einmal auf die andere Seite und eilte dann zu seinem Ausgangspunkt zurück. Seine Sinne waren geschärft. Sein Geist befand sich in freudiger Erregung.

»Ja!«

Euphorie schwang in seiner Stimme mit. Sanft strich Macklin über das Geländer und zitterte vor Freude über den Sieg. Er trommelte mit den Fingern auf den Verstrebungen wie auf einem Xylophon. Er legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den durchbrochenen, sich verjüngenden Pfeiler. Keine Nebenwirkungen. Nicht ein Hauch von Schwindel oder Übelkeit. Keine Spur von Angst. Er stellte sich vor, ein Vogel zu sein, der seine Flügel spreizt und ungehindert der Unendlichkeit entgegenfliegt.

Macklin schlüpfte aus seinen handgearbeiteten, schwarzen Schuhen und marinefarbenen Seidensocken. Hektisch löste er die Krawatte und riß den gestärkten Kragen seines Hemdes auf. Nachdem er seine Anzugjacke abgelegt hatte, zog er sich auf das Brückengeländer hoch, saß für einen Augenblick ganz ruhig da und starrte in die undurchdringliche, schwarze Tiefe, die sich unter ihm ausbreitete.

Die Stille, die ihn umgab, entsprach seiner Stimmung. Er war eins mit sich und fühlte sich zum ersten Mal seit Ewigkeiten frei. Nur seine momentane Situation zählte, alles andere war völlig unbedeutend, selbst die vielen Probleme der vergangenen Woche. Sie hatten ihn erwischt, und nun war er dazu verdammt, sich den vernichtenden Konsequenzen zu stellen: Anklage, Verhandlung, öffentliche Ächtung und Gefängnis. Die einzige Ablenkung, die ihm eingefallen war, war diese hoffnungslose, furchteinflößende Flucht nach vorn.

Aber jetzt wurde er von einem atemberaubend guten Gefühl überwältigt. Seltsam.

Wunderbar.

Sich wieder am Geländer festhaltend, richtete er sich auf und fand das Gleichgewicht. Mit ausgestreckten Armen setzte er einen Fuß vor den anderen.

Eine sanfte Brise beflügelte seinen Tatendrang. Leichten Fußes setzte er zu einem kühnen Sprung an. Er war ein Akrobat mit Clownsnase, der auf einem Seil unter dem Zeltdach eine Vorstellung gab, seinen Schirm schwenkte und die gaffende Menschenmenge mit seiner Waghalsigkeit bezirzte.

›Meine Damen und Herren, ich möchte Sie bitten, Ihre Aufmerksamkeit auf den Mittelkreis zu richten, wo der weltbekannte Magnificent Macklin auf dem Hochseil unglaubliche Taten vollbringen wird, die todesverachtenden Mut erfordern. Bleiben Sie dabei bitte ganz leise.‹

Seine eigene Begleitmusik pfeifend, führte er ein paar kurze, tollkühne Pirouetten aus und landete auf den Fußballen.

»Ta – da!«

Macklin setzte zu einem übermütigen Sprung an, drehte sich vor Freude in der Luft und griff nach einem der Drahtseile. Nur noch ein kurzes Stück bis zur Straße dort hinten.

Außer Atem warf Macklin einen Blick über die Schulter und ließ seinen Blick über die Strecke schweifen, die er bereits zurückgelegt hatte. Dann blickte er zum Himmel hoch und hob herausfordernd die Faust. Als er wieder nach unten blickte, wurde er des reglosen Antlitzes der stillen Bucht gewahr.

Und plötzlich schlug wie eine Flutwelle der Schwindel über ihm zusammen. Die Wände der Welt begannen zu zittern und auseinanderzubrechen. Verzweifelt suchte er Halt, griff aber nur in die Weite des aufbrechenden Himmels.

Seine bloßen Füße führten einen verzweifelten Tanz auf.

Wo war das Geländert

Da – er spürte hartes Metall unter seiner Ferse.

Macklin dachte über eine Möglichkeit nach, seinen rechten Fuß auf sicheren Boden zu bringen. Die Zehen vorreckend, tastete er nach dem Geländer, das ihm Sicherheit bieten konnte. Aber er trat erneut ins Leere.

Wild um sich schlagend, spürte er den eisernen Griff seiner blinden Panik. Sein Herz schlug unregelmäßig, und es schnürte ihm die Kehle zu. Die Welt um ihn herum versank in einem wirbelnden Farbenspiel, während er krampfhaft versuchte, mit Vernunft seine Angst zu besiegen.

In der letzten Sekunde klammerte er sich verzweifelt an die Worte seiner Ärztin. Die Panik werde schnell vergehen, hatte sie ihm gesagt. Sie werde nur ein oder zwei Minuten dauern.

Doch soviel Zeit blieb ihm nicht mehr.

KAPITEL 2

Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich Sorgen zu machen.

Maggie Lyons warf die beunruhigende Notiz in ihre Schreibtischschublade, zog ihren Arztkittel aus und tauschte ihre Laufschuhe gegen ein Paar Pumps aus. Dann hetzte sie in Richtung Feuerschutztreppe, die die Psychiatrische Abteilung im zweiten Stock des East End Hospitals mit dem medizinischen Flügel auf West Drei verband. Ein Assistenzarzt mit einer Krankenakte in Händen begrüßte sie mit einem mißmutigen Blick.

»Sie ist da drinnen, Dr. Lyons. Und – offen gesagt – Sie sind herzlich willkommen, sich ihrer anzunehmen.«

Der junge Arzt, dessen Namensschild ihn als Mitchell Goldberg auswies, zeigte mit dem Finger auf einen Raum gegenüber dem Stationszimmer. Goldbergs Babygesicht spiegelte Verachtung wider.

»Die Frau ist völlig von Sinnen«, sagte er. »Durchgedreht. Hab’ keine Ahnung, warum die Notarztleute sie nicht gleich in eine Irrenanstalt gebracht haben.«

Maggie, die sich alle Mühe gab, ihm keine Beachtung zu schenken, wandte sich dem Zimmer zu, aber Goldberg fuhr mit seiner endlosen Litanei von Beschwerden fort.

»Ihre Zimmergenossin mußten wir mitten in der Nacht verlegen. Die arme, alte Dame konnte das ganze Durcheinander nicht verkraften. Bekam eine Migräne von dem vielen Herumgerenne. Und immer, wenn wir glauben, daß sie endlich aufhört, geht es von vorn los. Stellen Sie sich vor, wir haben ihr viermal Valium verabreicht, und sie gibt trotzdem keine Ruhe.«

Maggie blätterte die Akte durch und krauste die Stirn. Die Patientin hatte eine Dosis Beruhigungsmittel verabreicht bekommen, mit der man sogar einen Elefanten hätte schachmatt setzen können. »Hier steht, daß sie um zwei Uhr morgens eingeliefert wurde. Warum haben Sie mich nicht früher informiert?«

Goldberg zuckte mit den Schultern. Er hatte große Augen und kleine, weiche Locken, wie ein junges Lamm. In seinen Arztkittel mußte er nach Maggies Einschätzung noch hineinwachsen. Er sah wie ein Junge aus, der Doktor spielt. Na, vielleicht war es ja auch so.

»Ich dachte, ich sollte Sie lieber schlafen lassen und erst um eine anständige Uhrzeit herrufen, weil sich an ihrem Zustand ja doch nichts groß ändern würde.«

Maggie verkniff sich den Kommentar, der ihr auf der Zunge lag. Viele ihrer Kollegen betrachteten die Seele der Patienten als weitgehend verkümmertes Organ. Offenbar erschienen ihnen psychische Probleme im Vergleich zu körperlichen Krankheiten nicht so dramatisch und daher unwichtig zu sein. Zumindest nahm sie an, daß ihre Kollegen so dachten. Schließlich blutete die Seele nicht, sie riß nicht, brach nicht und rief keine beunruhigenden Laborergebnisse hervor. Menschen, die psychische Probleme hatten, konnten nicht mit Hightech-Apparaten behandelt werden. Und die Beschäftigung mit ihnen mündete nicht in bahnbrechende Untersuchungen, die auch bei Jurys, die Preise zu verleihen hatten, Aufsehen erregten. Hinzu kam noch, daß in diesem medizinischen Bereich keine hohen Profite erwirtschaftet werden konnten.

Seit sie vor drei Jahren hier im East End eingestellt worden war, um die neue Phobien-Klinik zu leiten, hatte Maggie stur an dem Bemühen festgehalten, ihre prähistorischen Kollegen aufzuklären. Keine Medizin war so wirkungsvoll wie psychisches Wohlbefinden. Einsamkeit, Verzweiflung und Selbsthaß konnten weitaus tödlicher sein als ein erhöhter Cholesterinspiegel und Bewegungsmangel. Der Mensch war beträchtlich mehr als die Summe seiner blauangelaufenen oder abgenutzten Körperteile.

In Maggies Augen stellten Grünschnäbel wie Mitch Goldberg die Sorte Arzte dar, die es am dringendsten zu bekehren galt. Mit dem ihr typischen und nicht kleinzukriegenden Optimismus beschloß sie, daß für den jungen Mann Hoffnung bestand. Zwar hatte dieser kleine Trottel einer Patientin stundenlang unnötigen Schmerz beschert, aber schließlich hatte er ja doch eingesehen, daß psychiatrische Hilfe vonnöten war.

»Ich bin sicher, daß Sie versucht haben, rücksichtsvoll zu handeln, Doktor«, sagte sie so neutral wie nur irgend möglich. »Aber bei einem Notfall macht es mir nie etwas aus, wenn ich gerufen werde.«

»Dachte nicht, daß das einer sei.« Goldberg zuckte mit den Achseln und marschierte davon. Als ihr sein hochnäsiger Gang auffiel, beschloß Maggie, bei ihm sobald wie möglich mit der Überzeugungsarbeit zu beginnen. Dieser Typ verfügte über eine Menge aufkeimender Blödmann-Eigenschaften, die schnell chronisch werden konnten, wenn man nicht dagegen anging.

Maggie klopfte an die Tür des Krankenzimmers, wartete einen Moment und trat ein. Auf den ersten Blick wirkte der Raum verlassen. Die heruntergezogenen Jalousien malten ein Schattennetz auf Wände und Boden. Die Leintücher waren abgezogen und das karierte Bettzeug und der gestreifte Matratzenstoff von Flecken übersät. Die dünne Baumwolltagesdecke hatte ein faustgroßes Loch, die Kopfkissenbezüge sahen aus, als ob eine Katze mit frisch gewetzten Krallen über sie hergefallen sei. Der metallene Nachttischschrank lag mit der Rückseite nach oben neben dem Heizkörper. Orangensaft, Bananenstückchen, Frühstücksflocken und ein Tablett gaben dem Nachttisch einen farbigen Anstrich.

Hatte die Frau das Zimmer verlassen?

Auf dem Weg zum Fenster ließ sich Maggie noch mal Goldbergs leidenschaftslosen Telefonvortrag durch den Kopf gehen. »Ich hab’ hier eine zweiundvierzig Jahre alte Frau. Weiß. Wurde wegen möglicher Rauchvergiftung nach einem Hausbrand hier eingeliefert. Heißt Daisy Tyler, und ich würde sagen, daß die gute Daisy einen ordentlichen Sprung in der Schüssel hat. Aus diesem Grund hielt ich es für besser, Sie anzurufen.«

Goldberg hatte berichtet, daß die Frau eine schlimme Nacht hinter sich hatte: hysterische Anfälle und Phasen völliger Reglosigkeit hatten sich immer wieder abgewechselt. Niemandem und nichts, nicht einmal mit den überaus großzügig bemessenen Beruhigungsmitteln war es gelungen, die Patientin zu beruhigen oder aus ihr ein paar stimmige Antworten herauszubringen.

»Warum schauen Sie nicht mal herein und werfen einen Blick auf sie«, fragte er spontan. Er hätte sie in demselben Tonfall auch bitten können, sich ein undichtes Wasserrohr anzuschauen. Keine große Sache.

Als sie am Fußende des Bettes stand, hörte Maggie einen glucksenden Schrei, der aus der gegenüberliegenden Zimmerecke kam. Er war beinahe nicht zu hören.

»Miss Tyler?«

Als Maggie näherkam, schwoll das Jammern an und klang deutlich aufgeregter. Maggie blieb stehen und erklärte mit sanfter Stimme: »Ist schon gut. Mein Name ist Maggie Lyons. Ich bin Psychiaterin. Ich weiß, daß es Ihnen im Augenblick sehr schlecht geht. Ich möchte Ihnen helfen.«

Dem spröden Schweigen, das folgte, folgte bald wieder ein Aufschrei.

»Bringen Sie mich heim. Bitte bringen Sie mich nach Hause. Ich kann es nicht ertragen!« Das stundenlange Schreien hatte ihre Stimme heiser gemacht. »Bitte!«

Beim Näherkommen konnte Maggie erkennen, daß die Frau auf Knien hinter der Trennwand kauerte. Sie hatte die Arme verschränkt und schützend über den Kopf gelegt, als wollte sie sich gegen feindliche Angriffe schützen. Maggie kniete sich neben sie und legte ihr die Hand auf den bebenden Rücken. Das Krankenhausnachthemd war schweißgetränkt. Das lockige, graubraune Haar, das an kriechende Würmer erinnerte, ebenfalls. Daisy roch nach Rauch und nach Verzweiflung.

Maggie ließ ihre Hand sanft über den Rücken der Frau kreisen. Dr. Goldberg lag mit seiner übereilten Einschätzung falsch. Die Frau war keine Psychopathin. Für Maggie, die während der letzten zehn Jahre, in denen sie sich auf Phobien spezialisiert hatte, viele Patienten mit derartigen Störungen getroffen hatte, war das Problem offensichtlich. Daisy Tyler litt unter schwerer Agoraphobie, der Angst vor offenen Plätzen, wenn man den Begriff wörtlich übersetzte. Nachdem diese Menschen plötzlich und grundlos Anfälle von Panik durchlebt hatten, setzten sie alles daran, ihrem Gefühl nach möglicherweise gefährliche Situationen zu vermeiden. Im Lauf der Zeit verstärkte sich dieser Zustand, und das führte dazu, daß viele von ihnen nicht mehr Auto fuhren, reisten oder Besorgungen erledigten. Diejenigen, die am schlimmsten betroffen waren, fühlten sich nur noch in ihrer Wohnung sicher. Aber manche gingen sogar noch weiter und lebten ausschließlich in einem Raum. Wie Gefangene, die sich selbst eingesperrt hatten, oftmals lebenslänglich.

»Wie lange haben Sie denn Ihre Wohnung nicht mehr verlassen?«

Die Frau atmete zögernd durch. »Schon lange.«

»Zehn Jahre? Zwanzig?«

»Zweiundzwanzig.«

Maggie empfand Mitleid. Das halbe Leben lang hatte diese Frau sich vor ihren Ängsten versteckt. Und plötzlich war der einzig sichere Ort, den sie auf dieser Welt hatte, zerstört worden. Goldberg hatte Maggie erzählt, daß das kleine Vorkriegsgebäude auf der 78. Straße vollkommen ausgebrannt war, das Haus, in dem Daisy eine Dreizimmerwohnung bewohnte, in der sie sich zwei Jahrzehnte verkrochen hatte. Glücklicherweise – oder unglücklicherweise – konnte sie die nächste Zeit nicht an diesen Zufluchtsort zurückkehren. Vielleicht gar nie mehr. Damit war der schlimmste Alptraum, den eine Person wie Daisy Tyler haben konnte, Realität geworden.

»Haben Sie eine Familie? Enge Freunde? Gibt es jemanden, den Sie anrufen möchten?«

Daisy schüttelte den Kopf und zog sich tiefer in die schützende Ecke zurück.

»Ihnen wird nichts zustoßen«, beschwichtigte Maggie sie. »Egal, wie schrecklich Sie sich fühlen, Sie werden es durchstehen. Wir werden Ihnen dabei behilflich sein. Das verspreche ich.«

Die Frau hob zögernd den Kopf. Ihre tränennassen Augen funkelten vor Angst. »Ich kann nicht. Verstehen Sie denn nicht? Sie müssen mich nach Hause bringen. Ich werde sterben, wenn ich hierbleibe.«

»Nein, das werden Sie nicht. Es wird Ihnen gutgehen. Man hat Ihnen eine Menge Beruhigungsmittel verabreicht. Eine kleine Dosis hätte wirkungsvoll sein können, aber die Menge, die Sie eingenommen haben, erschwert Ihnen die Selbstkontrolle. Ich werde Ihnen ins Bett helfen und bei Ihnen sitzen, bis Sie eingeschlafen sind. Wenn die Wirkung der Medikamente nachläßt, werden Sie sich besser fühlen. Und dann werden wir daran arbeiten, daß Sie mit Ihren Ängsten umgehen lernen.«

»Ich kann hier nicht schlafen. Ich muß heim. Bittel«

»Das ist unmöglich, Daisy Denken Sie doch an das Feuer.«

Die Frau wollte widersprechen, konnte aber der niederdrückenden Wahrheit nicht entfliehen. »Meine Wohnung ist weg«, murmelte sie benommen.

»Ja.«

»All meine Sachen!«

»Ja, aber Dinge können ersetzt werden. Das Einzige, was wirklich zählt, ist, daß es Ihnen gutgeht. Und das tut es, Daisy. Aber Sie müssen sich jetzt ausruhen.«

Mit sanftem Nachdruck brachte Maggie die Frau dazu, endlich aufzustehen. Daisys Beine, von der Anspannung und Erschöpfung ganz zittrig, hatten alle Mühe, ihren kurzen, gedrungenen Körper zu tragen. Sich mit dem ganzen Gewicht auf Maggie stützend, bewegte sie sich zaghaft vorwärts. Sie tasteten sich am umgekippten Nachttisch vorbei und gingen langsam zum Bett hinüber. Mit der freien Hand glättete Maggie die verrutschten und zerknitterten Laken, legte Daisy dann behutsam aufs Bett und deckte die verängstigte Frau zu.

»Gut. Versuchen Sie jetzt, ein wenig zu schlafen.«

Sobald Maggie sie losließ, versteifte Daisy sich und legte schützend die Hände auf die Brust. »Mein Herz schlägt so schnell. Oh Gott, helfen Sie mir. Ich kriege einen Herzinfarkt.«

Das Symptom paßte perfekt ins Bild. Um sicherzugehen, überprüfte die Ärztin Daisys Werte. »Das ist nur die Panik, Daisy. Wenn man Angst verspürt, produziert der Körper eine Extraportion Adrenalin. Nur die Ruhe. Atmen Sie tief durch. Langsam. Und noch einmal. So ist es gut.«

Nach einer Stunde konsequenten Beistandes sank Daisy schließlich in Schlaf. Maggie beschloß, noch eine Weile am Bett sitzen zu bleiben, da sie fürchtete, daß eine Bewegung die Frau wieder aufwecken könnte.

Im Halbdunkel sitzend, lauschte sie dem Atem ihrer Patientin. Daisys Gesicht war aufgequollen, ihre Züge blieben immer noch angespannt, da die Furcht sie nicht einmal im Schlaf aus ihrem Würgegriff entließ. Glücklicherweise gibt es einen Weg, diesem Leid ein Ende zu bereiten, dachte Maggie. Die Behandlung erforderte Zeit und war schwierig, aber die Scherben, in die Daisy Tylers Leben zerbrochen war, konnten wieder gekittet werden, Stück um Stück.

Auf einmal mußte sie an die Nachricht denken, die sie heute morgen auf ihrem Schreibtisch vorgefunden hatte. Daisy Tyler war im Moment nicht die größte Herausforderung, die sie zu bestehen hatte. Darüber war sie sich im Klaren.

Alexander Ivys schnörkelige Handschrift hatte auf dem Zettel geprangt. Der Präsident der Klinik wollte Maggie Punkt fünf Uhr nachmittags in seinem Büro sprechen. Die Aufforderung klang wie ein Befehl. Eine Angelegenheit von äußerster Dringlichkeit, hatte er geschrieben. Aufgrund ihrer Erfahrungen mit diesem Mann wußte Maggie, daß es eine ganze Reihe von Gründen für eine derartige Unterredung geben konnte.

Und jeder dieser Gründe würde Schwierigkeiten bedeuten.

KAPITEL 3

Sam Bannister spähte aus dem Fenster des Leichenschauhauses. Seine Augen funkelten wütend. Drei Monate hatten sie in den verfluchten Fall gesteckt. Drei gottverdammte Monate, und jetzt, wo sie die verdiente Belohnung eigentlich schon hatten riechen können, hatte der Hauptverdächtige die Frechheit gehabt, einfach loszuziehen und sich umzubringen.

Bei dem Leichnam handelte es sich um Macklin. Daran bestand kein Zweifel. Selbst jetzt, wo er die Farbe von nassem Zement hatte und durch einen längeren Aufenthalt in der Narragansett Bay so aufgebläht war wie ein Kugelfisch, konnte man diesen Irren nicht verwechseln. Das kantige Kinn, der Frankenstein-Kopf und der aufsässige Zug um den Mund verrieten ihn auch im Tod.

»Zum Teufel mit dir, Macklin«, schimpfte Bannister. »Du ekelhafter, uneinsichtiger, häßlicher Mistkerl. Hättest du nicht warten können? Ein paar gottverdammte Wochen hätten dich sicherlich nicht umgebracht!«

Die Hand auf seiner Schulter wollte ihn beruhigen. »Vergiß es, Sam. Es ist vorbei. Er ist tot.«

Bannister drehte sich um und blickte in Lenny Prices freundliches, von den Jahren gezeichnetes Gesicht. Guter, alter Lenny. Egal, wie ungerecht oder nervtötend eine Situation auch war, dem Kerl gelang es immer, einen kühlen Kopf zu bewahren und die Sache vom philosophischen Standpunkt aus zu betrachten. Keine Wut. Keine Launen.

Das machte die Zusammenarbeit mit ihm wirklich einfach. Seit er vor fünf Jahren in Boston seine eigene Detektivagentur gegründet hatte, hatte er sich wenigstens ein Dutzend Male mit seinem alten Chef vom Manhattan South zusammengetan. Und Price hatte ihm nicht ein einziges Mal Schwierigkeiten gemacht. Aber Bannister wünschte wirklich, daß der Kerl sich über solchen Abschaum wie Macklin etwas mehr ereiferte.

»Du irrst dich, Lenny. Es ist nicht vorbei. Noch lange nicht. Der Dreckskerl mag tot sein, aber das heißt noch lange nicht, daß ich mit ihm fertig bin. Der hat vielleicht Nerven, mit uns so ’ne Nummer abzuziehen.«

Price seufzte. »Versuch, es nicht persönlich zu nehmen, Sam. Der Mann hat sich schließlich nicht das Leben genommen, um uns den Fall zu versauen.«

»Das ist deine Meinung.«

»Komm schon. Sei zur Abwechslung mal vernünftig. Macklin ist tot. Die Bullen haben es als Selbstmord deklariert. Dagegen können wir nichts tun. Fall abgeschlossen.«

Bannister knurrte durch zusammengebissene Zähne: »Was ist denn aus dem ›Glücklich-solange-sie-lebten‹-Schlußsatz geworden? Was ist mit unserem Lohn? Weißt du, was jetzt mit dem dicken, fetten Bonus passiert, nach dem wir gefischt haben? Auf und davon. Das passiert mit dem Scheck!«

»Du wußtest, daß du nicht fest damit rechnen kannst.«

»Natürlich hab’ ich fest damit gerechnet. Wollte mit dem Scheck all meine Schulden bezahlen. Vielleicht ein paar neue Reifen kaufen. Meine Kiste ist so alt, daß zehn Mäuse mehr wert sind als der ganze Schrotthaufen.«

»Was geschehen ist, ist geschehen, Sam. Dein Problem ist, daß du nicht loslassen kannst. Mach mal ein fröhliches Gesicht. Das Leben ist viel zu kurz, um dauernd miesepetrig herumzulaufen.« »Ich weiß nicht, wie man losläßt. Und außerdem beißt sich keiner so in eine Sache rein wie du, Price. Du folgst einer Spur durch eine Backsteinwand und wieder zurück, wenn’s sein muß.«

»Das ist etwas anderes. Ich spreche davon, daß man weiß, wann etwas zu Ende ist.«

»Und ich spreche von fünfzigtausend Dollars Belohnung.«

»Denk lieber an deinen Blutdruck, Sammy. Bist schon ganz rot im Gesicht.«

Bannister brachte den anderen mit einem Blick zum Schweigen. Price ließ seine Schultern hängen und nahm wieder seine natürliche Haltung ein. Alles an dem Mann fiel in sich zusammen. Augen, Kiefer, Bauch, die graue Strickjacke, die abgetragenen, braunen Kordhosen.

»Versuch mal, es von der anderen Seite zu sehen, Sam. Wir kriegen wenigstens unsere Zeit und unsere Spesen bezahlt. Mrs. Rafferty hat mir erzählt, daß sie heute morgen einen Scheck wegschicken will. Ist doch was, oder etwa nicht?«

Prices unbeirrbare Gelassenheit brachte Bannisters Blut zum Kochen. Frustriert schlug er gegen die Wand ein. Vor Schreck zog der Assistent des Gerichtsmediziners den Vorhang zu, um den Leichnam vor Bannisters Wutausbruch zu schützen.

»Gott sei Dank«, sagte Price, winkte verächtlich ab und putzte lautstark seine Knollennase. »Vergiß es. Willst du meinen Rat? Mach mal Urlaub! Wie lange ist es her, seit du weggewesen bist? Drei Jahre? Würde dir guttun, mal rauszukommen. Glaub mir.«

»Ja, sicher.« Den Blick auf das verhängte Fenster gerichtet, verfiel Bannister in grimmiges Schweigen. Seine dunklen Augen wurden zu schmalen Schlitzen, sein Mund eine verkniffene Linie. Damit verwandelte er sich optisch von einem Liebling der Frauen in einen ganz normalen Widerling.

»Ist mein Ernst. Du verlangst dir zuviel ab. Hast dich dauernd unter Druck gestellt. Wäre besser, wenn du mal ausspannst. Sam, du willst doch nicht wie Macklin enden.«

Wenige Augenblicke später strahlte Bannisters Gesicht auf einmal wieder. Die plötzliche Veränderung ließ Price instinktiv ein paar Schritte zurückweichen.

»Gesegnet seist du, Lenny. Hast mich gerade auf eine tolle Idee gebracht«, sagte Bannister voller Elan.

Price schüttelte den Kopf. »Dich und deine Ideen kenne ich, Sam. Woran du auch denken magst, tu es nicht.«

»Hör doch kurz zu, ja! Bitte: Ist genau, wie du sagtest. Macklin ist unter all dem Druck die Sicherung durchgeknallt. Hat aber bestimmt ’ne Zeitlang gebraucht, bis er verzweifelt genug war, um zu springen, richtig? In der Zwischenzeit hat er sich möglicherweise um Hilfe bemüht. Sich bei einem Seelenklempner ausgekotzt, oder was in der Art.«

»Es ist vorbei, Sam. Vergiß es!«

»Siehst du denn nicht? Vielleicht hat er alles erzählt. Eventuell sogar ein Geständnis abgelegt. Irgendwie hab ich das Gefühl, daß genau das passiert ist ... «

»Du und deine Gefühle.«

»Mein Instinkt ist unfehlbar, Price. Gib es zu.«

»Manchmal ja und manchmal so fehlbar wie bei jedem anderen.« Price mußte über seine eigene Bemerkung lachen.

Aber Bannister blieb hartnäckig. »Wir können jetzt nicht aufgeben, Lenny. Nicht nach all dem, was wir in diese Sache reingesteckt haben.«

Price schüttelte wieder den Kopf. »Ich habe Ruthie versprochen, mich auf keine unmöglichen Missionen mehr einzulassen.«

»Was ist mit dir los? Mußt du die Erlaubnis deiner kleinen Frau einholen, bevor du aufs Klo gehst, oder was?«

Price strich sich sein feines graues Haar aus dem Gesicht und zog die Schultern hoch. »Absolut nicht. Sie hat mir eine Blankoerlaubnis zu unserer Silberhochzeit gegeben.«

»Kneifen diese Schürzenbänder nicht nach einer gewissen Zeit? Ich könnte wetten, du bist schon ganz wundgescheuert.«

»Spotte, solange du willst. Zufälligerweise haben Ruthie und ich eine gute Beziehung. Wir lieben uns und unterstützen einander. Und – egal, was du denkst – sie hält mich nicht an der kurzen Leine.«

»Woran dann?«

»Ist eine Schande, daß du seit deiner Scheidung einen so schlechten Eindruck von der Ehe hast. Du hast dir die Falsche ausgesucht, das ist alles. Ruthie hat sich mir nie in den Weg gestellt.«

Ein böses Funkeln leuchtete in Bannisters Augen auf. »Gut zu hören, Lenny Denn ich brauche dich bei dieser Sache. Wir werden alles brauchen, was wir zu bieten haben, Partner. Aber wir werden’s schaffen.«

»Ich sagte nein, Sam. Kommt nicht in Frage!«

Bannister legte seinen Arm um Prices Schulter und schob ihn aus dem Gebäude in Richtung Wagen. »Ich hab’ bei dieser Sache wirklich ein gutes Gefühl, Kumpel, wart’s nur ab. Macklins Selbstmord könnte genau der Knackpunkt sein, nach dem wir suchen.«

Resigniert hob Price die Hände. »Hör zu. Als ich heute morgen mit Mrs. Rafferty gesprochen habe, hat sie ihren Standpunkt deutlich gemacht. Nachdem wir nun sichergestellt haben, daß Macklin als Wasserleiche aus dem Meer gefischt wurde, ist sie draußen. Keine Belohnung mehr, keine Spesen. Ich laß nicht zu, daß du einen neuen Schildhauer anleierst. Dieses Fiasko hat uns eine schöne Stange Geld gekostet.«

Bei der Erinnerung an jenen Fall lief Bannister vor Wut rot an. Moe Schildhauer war ein schmieriger Ganove, der Hunderte von alten Leuten mit einem groß angelegten Versicherungsschwindel um ihre Lebensersparnisse gebracht hatte. Das personell unterbesetzte Büro des Staatsanwaltes hatte zahllose Beschwerden erhalten und den Fall Bannister übertragen, der sich gleich an den pensionierten Price wandte und ihn zur Zusammenarbeit überredete.

Die beiden Männer hatten sich vor zwanzig Jahren in New York City kennengelernt, als Bannister Price unterstellt wurde, der mit einer Spezialeinheit den Mord an Martha Rafferty untersuchte.

Obwohl sie völlig gegensätzliche Charaktere waren, hatten sich die beiden Männer perfekt ergänzt. Bannister hatte Nerven wie Drahtseile und konnte sich auf seine Intuition verlassen. Price verfügte über ein unglaublich weites Netzwerk an Kontakten und eine nie versiegende Quelle an Hinweisen und Informationen. Außerdem konnte Price Bannisters loses Mundwerk stopfen. Bei der Untersuchung eines Falles hatte Bannister gewöhnlich den Rammbock gespielt, während Price sich langsam, methodisch und oft auf Umwegen der Lösung genähert hatte. Als die Spezialtruppe aufgelöst wurde, verband die beiden eine tiefe und enge Freundschaft.

Selbst nachdem sie der New Yorker Polizei den Rücken gekehrt hatten, fanden sie immer wieder Gründe zur Zusammenarbeit. In den Schildhauer-Fall hatten sie sechs Monate Zeit und Energie gesteckt. Im Lauf der Ermittlungen fand Price heraus, daß Moe an einer einträglichen Kinderpornoproduktion in Brasilien beteiligt war. Daß sie dieser Sache nachgegangen waren, hatte sie entscheidende Wochen gekostet. Als sie schließlich genug Fakten gesammelt hatten, um dem Mistkerl den Versicherungsschwindel anzuhängen, hatte er von ihrem Interesse an seiner Person Wind bekommen und war mit dem verfluchten Beweismaterial nach New Hampshire gezogen.

Wegen der äußerst komplizierten Lage – in diesem Fall ein neues Gesetz – verlor der Staat das Interesse und beschloß, den Fall ad acta zu legen. Aber Sam Bannister war bei weitem nicht so praktisch veranlagt und versöhnlich gestimmt wie der Bundesstaat Massachusetts. Und sein Naturell ließ nicht zu, daß er die Flinte ins Korn warf.

Als Moe Schildhauer neun Monate später vor Gericht stand, war Bannister endlich zufrieden, aber dieser Triumph hatte ihn eine Menge Zeit, Kunden und eine ordentliche Stange Geld gekostet. Gutmütig wie immer hatte Price ihm angeboten, die Hälfte der Schulden zu übernehmen, die sich im Lauf der Ermittlungen angehäuft hatten. Trotzdem wurde Bannister nur äußerst ungern an diesen Fall erinnert.

»Das war eine Frage des Prinzips, Lenny.«

»Ich weiß, Sam. Aber allzu oft können wir uns das nicht leisten.«

Bannister klopfte Price auf den Rücken. »Habe ich gesagt, daß wir die Kosten tragen müssen? Mrs. Rafferty wird uns liebend gern finanziell unterstützen. Sie weiß es nur noch nicht.«

»Sie hat sich eindeutig dazu geäußert. Jetzt, wo Macklin tot ist, ist sie draußen.«

»Bis jetzt hat sie meine unglaubliche Überredungskraft noch nicht kennengelernt.«

»So wie es sich angehört hat, dürfte es damit nicht getan sein.«

Bannister rutschte hinter das Lenkrad seines betagten Camaros. Erst vor kurzem war eine Scheidungsvereinbarung mit seiner Exfrau zum Tragen gekommen: Sie hatte das funkelnagelneue Cabriolet erhalten, das Schnellboot, das fast schuldenfreie Haus in Newton Highlands, einem Vorort von Boston, und das traumhafte Ferienhäuschen an einem See in den Berkshires.

Bannister hatte sich auf den Kuhhandel eingelassen, weil er Angst hatte, daß ihm das liberale Besuchsrecht gestrichen werden könnte. Außerdem hatte er seine dreizehnjährige Tochter Chloe vor zusätzlichen Streitigkeiten bewahren wollen, was seine Exfrau – halb Italienerin, halb Piranha – voll ausgenutzt hatte.

»Bitte, mach aus dieser Sache keinen zweiten Schildhauer, Sam. Meine Rücklagen sind fast aufgebraucht.«

»Okay, geht klar. Wenn du willst, daß Macklin das letzte Wort hat, dann halte ich die Klappe.«

Price seufzte. »Du weißt ganz genau, daß ich das nicht möchte. Mir hat viel an der Bestrafung dieses Schurken gelegen. Vielleicht sogar noch mehr, aber ... «

»Und jetzt kommt er nach all diesen Jahren mit dem Mord davon. Keine große Sache. Der Kerl war ein richtig kluger Bursche, oder nicht? Hat mir besonders gut gefallen, wie er versucht hat, die ganze Sache diesem zurückgebliebenen Jungen in die Schuhe zu schieben. Hat Behinderte eingestellt und so weiter. Vielleicht sollten wir einen Kranz zur Beerdigung schicken.«

Price seufzte wieder, und diesmal konnte Bannister hören, daß er zum Einlenken bereit war.

»In Ordnung, Sam. Du hast gewonnen. Aber nur, wenn Mrs. Rafferty zustimmt. Ruthie spielt immer wieder darauf an, daß wir mit meiner Pension diese Ferienwohnung in den Keys hätten kaufen können. Hast du eine Ahnung, wie viele Golf-Matches ich in den vergangenen fünf Jahren verpaßt habe?«

»Ich hab’ schon verstanden, Lenny! Überlaß Mrs. Rafferty mir. Wenn ich erst einmal ihre Zustimmung habe, dürften uns die Ermittlungen nicht mehr als ein paar Wochen kosten. Höchstens drei. Außerdem könnte der Zeitpunkt gar nicht besser gewählt sein. Im Augenblick gibt es in der Agentur nicht gerade viel zu tun. Schätze, daß das Wetter zu gut ist. Im Augenblick kommt niemand darauf, einen herumstreunenden Ehemann oder Angestellten, der was mitgehen läßt, zu überwachen. Und das Wetter soll so bleiben.«

»Du greifst vor, Sam. Wir werden nur etwas unternehmen, wenn Mrs. Rafferty ihre Zustimmung gibt. Vergiß das ja nicht!«

»Die kriege ich. Kannst dich drauf verlassen.«

Price seufzte und stierte mißmutig durch die verdreckte Windschutzscheibe, während Bannister rückwärts von dem Parkplatz zurücksetzte. »Ich habe keine Ahnung, wie du die Frau überreden willst. Macklin ist tot. Die Belohnung bezog sich auf die Verhaftung und Verurteilung des Schuldigen.«

»Dann bringen wir sie eben dazu, ihre Meinung zu ändern. Sie ist eine vernünftige Frau. Solange wir die Ware liefern, kann sie sich doch freuen.«

Price verdrehte die Augen. »Vielleicht ist Macklin nicht der einzige, der einen Sprung in der Schüssel hat.«

»Ich bin ganz normal und so zurechnungsfähig wie eh und je.«

»Genau das wollte ich damit sagen.«

Bannister schaltete das Uralt-Radio ein. Beschwingt von den neuen Aussichten stimmte er in das rhythmische Rauschen ein.

»Verflucht, wieso lasse ich mich immer wieder von dir zu derartigen Albernheiten überreden, Sam?«

»Weil das Leben aus mehr als Kursen und Büchern und Treffen mit irgendwelchen Leuten und Golf-Matches besteht. Es reicht nicht, jeden und alles auf dieser Welt zu kennen. Ab und zu brauchst du ein bißchen Aufregung. Bringt ein bißchen Farbe in dein Gesicht.«

»Ruthie hat ganz recht mit dir. Du bist klug und siehst gut aus, aber du bedeutest Arger.«

»Die gute Ruthie. Immer zu Scherzen aufgelegt.« Bannister boxte Price in die Seite. »Mach dir keine Sorgen, Lenny. Wird alles so ablaufen, wie du gesagt hast. Wir werden einen Weg finden, diesen verdammten Fall zu lösen. Und dann können wir ihn vergessen.«

KAPITEL 4

Ordnung war das Allerwichtigste. Im Leben kam es vor allem auf Präzision an, auf Anstrengungen, die in regelmäßigen Abständen aufeinander folgten. Das Leben mußte einem ordentlichen Kleiderschrank gleichen, in dem die Kleiderbügel in gleichmäßigen Abständen aufgereiht waren.

Jede Veränderung der gewohnten Routine erforderte detaillierte Vorbereitungen. Die Anrufe waren mit äußerster Sorgfalt getätigt worden, vor einer Woche, genau einen Tag nachdem das Päckchen im City-Büro von Federal Express abgeliefert worden war. Die Nachrichtensendungen hatte er genauso sorgfältig verfolgt. Das Paket war als Eilsendung verschickt worden, was garantierte, daß die Lieferung am folgenden Geschäftstag vor zehn Uhr morgens eintraf. Insofern war es berechtigt gewesen, daß er baldige Ergebnisse erwartete.

Jetzt gingen jeden Morgen exakt um zwei Minuten vor halb zehn die Anrufe im Büro des Mannes ein, zehn Minuten nach dem Eintreffen der Sekretärin. Der Anruf bei der Lokalredaktion der hiesigen Zeitung erfolgte um zehn vor zwölf, kurz vor dem Redaktionsschluß der Nachmittagsausgabe. Um vier Uhr nachmittags erhielt der Gesellschaftskolumnist, der auch für die Todesanzeigen zuständig war, einen Telefonanruf. Ab vier Uhr wurden keine Anzeigen mehr angenommen.

Die Falle hätte eigentlich gleich zuschnappen sollen. Aber bis jetzt hatte sich nichts Ungewöhnliches ereignet, einmal abgesehen davon, daß der Mann die Stadt überraschend verlassen hatte. Laut Aussage der Sekretärin hatte er vor zwei Tagen eine Geschäftsreise angetreten.

Unmöglich.

Die Störung des normalen Ablaufs bewirkte ein leises Unwohlsein, ganz so, wie wenn man etwas schwer Verdauliches zu sich nimmt.

Warum dauerte es so lange? Nach dem so sorgfältig ausgearbeiteten Plan müßte der erste Anschlag inzwischen längst ausgeführt sein. Ja, eigentlich müßte der nächste schon in Vorbereitung sein. Vielleicht sogar bereits der übernächste.

Es war unfaßbar, daß der Plan nicht funktionierte. Bei Tierversuchen hatte die Droge eine erstaunliche Wirksamkeit bewiesen. Macklin, das erste menschliche Testobjekt, hatte jetzt über mehrere Wochen hinweg die notwendige Dosis erhalten. Mit dieser Menge Drogen im Körper verlor er bestimmt jegliche Hemmung. Er würde sicherlich eine besonders wagemutige Tat begehen, wahrscheinlich so kühn, daß die Medien sich dafür interessierten. Im besten Falle würde er sich so rücksichtslos verhalten, daß er seiner nutzlosen Existenz ein Ende bereitete.

Wie auch immer. Theodore Macklin war das erste in einer ganzen Reihe von tollkühnen Opfern. Die unfaßbare Unbesonnenheit dieser Menschen würde sicherlich der Behandlung von Dr. Maggie Lyons zugeschrieben werden. Sie allein mußte dann die Konsequenzen für das unbesonnene Verhalten ihrer Patienten tragen, für die Unfälle und Verletzungen, die damit einhergingen. Der Gedanke an diese unausweichlichen Folgen genügte, um die Belastungen, die dieses Unterfangen für ihn bedeutete, abzuschwächen. Und diese Frau dabei jeden Tag zu sehen und zu wissen, daß sie keine Ahnung von dem Verhängnis hatte, das auf sie wartete, erfüllte ihn mit besonderer Freude.

Zuerst würde Dr. Maggie Lyons mit ihrer Klinik bezahlen müssen. Sie würde die Arbeit verlieren, die ihr so sehr am Herzen lag. Ihr Ruf würde vernichtet, ihre Zukunft ein leeres Blatt werden. Maggie Lyons mußte mit Ächtung und Schande rechnen, vielleicht mit finanziellem Ruin und Strafandrohung. Aber egal, welchen Preis sie bezahlte, er war nichts im Vergleich zu all dem Schmerz und Leid, das sie heraufbeschworen hatte.

Und dennoch bestand die Notwendigkeit, sich an die Reihenfolge zu halten. Eins nach dem anderen. Zuerst mußte Dr. Lyons alles verlieren, was ihr wichtig war, bis nur noch Verzweiflung und Verwirrung übrigblieb. Wenn das erreicht war, war die Zeit gekommen, diese Hexe von ihrem Leiden zu erlösen.

KAPITEL 5

Die Büroräume des geschäftsführenden Vorstandes des East End Hospitals waren in der fünften Etage eines Backsteingebäudes untergebracht, direkt gegenüber dem Krankenhaus, das einen ganzen Block in Manhattans Yorkville-Viertel einnahm. Maggie beendete die Therapiesitzung, die um vier Uhr begonnen hatte, diktierte eine kurze Notiz für die Patientenakte und verließ das Büro.

Im Flur wurde sie von Francis Kennedy aufgehalten, einem jungen Mann mit roten Haaren und dazu passender Gesichtsfarbe, der am Phobien-Programm mitarbeitete. Als er sie sah, trat er einen Schritt von den Bildern zurück, die er gerade zurechtgerückt hatte. Für Maggie ein Beweis für Francis’ ausgeprägtes Bedürfnis, den Korridor in Ordnung zu halten. Die Pflanzen standen parallel zu den Bildern. Im Wartezimmer waren die Zeitschriften alphabetisch geordnet und in exakten Abständen ausgelegt. Die Nachrichten am Brett hingen vollkommen gerade. Im Vergleich zu Francis Kennedy wirkte Maggies Assistent Henry, ein Muster an Ordnung, geradezu schlampig.

»Guten Tag, Maggie. Ist das Wetter heiß genug für Ihren Geschmack?«

»Dürfte wohl für jeden heiß genug sein. Entschuldigen Sie mich. Ich muß mich beeilen.«

Er wich ihr nicht von der Seite. »Wie wäre es mit einem Drink, wenn Sie hier fertig sind? So gegen sieben?«

»Nein, danke. Ich habe heute abend etwas vor.«

»Für einen kleinen Schluck müßten Sie doch Zeit haben?«

Maggie zwängte sich an ihm vorbei. »Gute Nacht, Francis.«

Bemüht, den halsstarrigen Mr. Kennedy zu vergessen, eilte sie über die Straße.

Es war ein brütend heißer Tag. In der Stadt herrschten etwas mehr als 35 Grad, und die Luftfeuchtigkeit erinnerte an einen tropischen Regenwald. Die Luft glich feuchten Handtüchern und lastete schwer auf den Straßen. Kaum zwei Minuten draußen, begann Maggie zu schwitzen. Ihre Schuhe drückten, ihr beiges Leinenkostüm glich einer zerknitterten, braunen Einkaufstüte. Der Schwall klimatisierter Luft, der ihr entgegenschlug, als sie die reich verzierte Eingangstür öffnete und in die elegante Halle des Backsteingebäudes trat, tat ihr unendlich gut.

Das ehemalige Wohnhaus mit seiner luxuriösen Innenausstattung war vor zwei Jahren dem Krankenhaus vermacht worden. Der mit Intarsien versehene Marmorboden im Foyer funkelte im Lichtschein des venezianischen Kristallleuchters. Farbige Tiffanyglasfenster verliehen dem Ganzen subtile Eleganz. Ein antiker Aubusson-Läufer in Pfirsich und Türkis war auf der imposanten Treppe ausgelegt.

Maggie hatte nicht die Zeit, auf den alten, klapprigen Fahrstuhl am Ende der Halle zu warten. Sie eilte die Stufen hoch und stand Punkt fünf Uhr vor dem Büro des Präsidenten. Atemlos schenkte sie Vivian, der blassen, ältlichen Sekretärin, ein Lächeln. Die Sekretärin, das Büro und die Stellung waren vor einem Jahr vom Vater auf den Sohn übergegangen.

»Guten Tag, Viv. Würden Sie ihm bitte sagen, daß ich hier bin.« Die Sekretärin warf ihr über die rahmenlose Brille einen Blick zu und meldete ihr Eintreffen an. Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, lächelte sie Maggie entschuldigend an. »Ist besser, wenn Sie Platz nehmen. Es scheint noch etwas zu dauern.«

Das überraschte Maggie nicht. Alexander Ivy war wirklich jedes Mittel recht, um seine Macht zu demonstrieren. Er bestand auf Pünktlichkeit, damit er genug Zeit hatte, den Betreffenden warten zu lassen. Rief niemals persönlich an. Wartete wenigstens drei Tage, bevor er zurückrief. Manchmal meldete er sich sogar noch später oder überhaupt nicht, je nachdem, welchen Platz auf seiner Abschußliste man belegte.

Wie schnell und mühelos Ivy im East End akzeptiert worden war, hatte sie ziemlich überrascht. Ein Großteil der Angestellten schien gewillt zu sein, seine rüpelhaften Umgangsformen und sein hyperaktives Ego zu übersehen. Oder – diese Vermutung hatte einmal einer von Maggies Assistenten geäußert – vielleicht hatten sie diese Seite des Mannes einfach nie kennengelernt.

Warum also war ihr dieses Glück beschert?

Maggie betrachtete ihr Spiegelbild im gerahmten Foto von Vivians Enkeln, das auf dem Schreibtisch stand. Dasselbe alte Gesicht. Mit dem kurzgeschnittenen kupferfarbenen Haar, den großen grünen Augen und der kleinen, doofen Nase, die sich geweigert hatte, mit dem restlichen Körper mitzuwachsen, konnte sie immer noch als Peter Pans Schwester durchgehen. Keine Warzen, keine krummen Zähne, keine durchscheinenden Adern. Nichts, was die Animositäten des neuen Krankenhauspräsidenten rechtfertigte. Mit anderen Menschen kam sie sonst eigentlich ganz gut zurecht.

Unglücklicherweise bildete der junge Mr. Ivy da eine rühmliche Ausnahme. Es war Abscheu auf den ersten Blick gewesen, und danach war es nur noch schlimmer geworden.

Ironischerweise war Alex’ Vater, Lawrence Ivy, seit ihrer ersten Begegnung auf einer Psychologen-Konferenz in San Francisco über zehn Jahre ihr Freund und Mentor gewesen. Der alte Ivy hatte Maggie von ihrem Job als stellvertretende Direktorin im Johns Hopkins Hospital weggelotst, um im East End ein Programm zur Behandlung von Angstzuständen zu entwickeln. Mit seiner Ermunterung und unablässigen Unterstützung hatte Maggie hier eines der ersten Behandlungszentren für Phobien in Amerika aufgebaut.

Schwere gesundheitliche Probleme hatten Lawrence Ivy gezwungen, in Pension zu gehen, und der kleine Alex trat wie selbstverständlich in die Fußstapfen seines Vaters. Das Krankenhaus war von Lawrence Ivys Vorfahren gegründet worden und zu einem erheblichen Prozentsatz immer noch abhängig von der finanzkräftigen Ivy-Stiftung. Als einziger Nachkomme des Clans, war es die natürlichste Sache der Welt, daß Alexander die Position seines Vaters einnahm. Die Ahnentafel verlieh dem jungen Alex eine gewisse Selbstgefälligkeit. Wo es ihm gefiel, da nistete er sich ein. Und nun gefiel es ihm, Maggie das Leben schwerzumachen.

Die Giftspritze Ivy!

Sie hatte sich schon öfter mit ihrem Freund und Assistenten Henry Most über dieses Problem unterhalten. Henry glaubte, daß Eifersucht die Quelle allen Übels war. Nach seiner Meinung mißgönnte Ivy Maggie die Zuneigung, die sein Vater ihr entgegenbrachte. Daran hatte auch die schwere Krankheit ihres Gönners nichts geändert.

Doch diese Erklärung war für Maggies Geschmack zu einfach. Als langjährige Beobachterin des menschlichen Verhaltens wußte sie, daß die Dinge selten so einfach waren. Ebenso gut möglich war es, daß sie einer von Alexanders Kinderfrauen glich, die nicht nett zu ihm gewesen war, oder einer sadistischen Lehrerin, die ihm in der siebten Klasse in Mathematik eine schlechte Note gegeben hatte. Aber egal, wodurch die Animosität ihres Chefs entstanden war, sie würde um keinen Preis zulassen, daß dies schlechte Verhältnis ihre Arbeit behinderte. Die Klinik war für viele Patienten außerordentlich wichtig. Und natürlich auch für sie.

Das Telefon klingelte. Vivian hob den Hörer ab, lauschte und nickte dann Maggie zu.

Als sie das Büro betrat, beugte sich der Präsident des Krankenhauses gerade über seinen antiken Chippendale-Schreibtisch und studierte einen Stapel Computerausdrucke. Der Raum war mit dunklem Walnußholz getäfelt. In einem Bücherschrank mit Glastüren, der eine ganze Wand einnahm, standen zahllose Erstausgaben und feines Porzellan. Seidenbrokatvorhänge in Rosa- und Goldtönen schmückten die Fenster. Eine Reihe kleiner Sofas und Stühle war mit dem gleichen Stoff bezogen. Grußlos bedeutete Alexander Maggie, sie solle Platz nehmen.

Der Mann war ein moderner Napoleon. Gerade mal einsfünfundsechzig groß trotz der erhöhten Absätze seiner Krokodilslipper. Wie üblich trug er einen Armani-Anzug und ein Hermes-Hemd. Sein espressofarben-getöntes Haar war exzellent frisiert. Und das Lächeln, mit dem er sie bedachte, als er sie endlich anschaute, wirkte sorgfältig einstudiert.

»Danke, daß Sie gekommen sind«, sagte er. »Ich hoffe, das Treffen macht Ihnen keine Umstände.«

»Kein Problem.«

Er blickte ihr tief in die Augen. »Unglücklicherweise gibt es hier ein Problem.«

Ivy drehte den Stapel Computerausdrucke in ihre Richtung und zeigte auf eine Reihe Zahlen. »Die Phobien-Klinik zeigt seit längerem enttäuschende Ergebnisse. Offen gesagt, ich hatte gehofft, endlich ein paar Fortschritte erkennen zu können.«

Maggie überflog die Aufstellung aller Einnahmen, die dieser Bereich erwirtschaftet hatte. »Neunzig Prozent unserer Patienten melden, daß sich ihre Lebensqualität nach unserer Behandlung entschieden verbessert hat, Mr. Ivy. Fünfundachtzig Prozent geht es auch noch zwei Jahre nach Beendigung der Therapie wesentlich besser. Ich möchte meinen, daß das ausgezeichnete Ergebnisse sind.«

Ivy blinzelte verschlagen. Seine saphirblauen Kontaktlinsen verrutschten, und Maggie stellte fest, daß seine Augen eigentlich jauchegrubenbraun waren. »In diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten können wir nicht darauf verzichten, die Einkünfte, die jeder Bereich erwirtschaftet, genau zu betrachten, Dr. Lyons. Wir führen hier ein Unternehmen und keinen Kreuzzug.«

Maggie verspürte das dringende Bedürfnis, ihrem Gegenüber an die Gurgel zu gehen. »Das ist wahr, und zufälligerweise ist Gesundheit unser Geschäft. Meine Abteilung mag vielleicht keine Goldgrube sein, aber wir liefern unseren Patienten wertvolle, dauerhafte Hilfe. Und außerdem haben wir einen nicht unwesentlichen Beitrag zum guten Ruf dieses Krankenhauses geleistet.«

Ivy kicherte höhnisch. »Wenn Sie auf Ihre schamlose Eigenwerbung anspielen, Dr. Lyons, dann bin ich, ehrlich gesagt, nicht beeindruckt. Sie haben eine gute Werbekampagne geführt, na und?«

»Ich habe keine Werbekampagne geführt, ich habe nur ein Programm erstellt, das die Menschen von schwerem Leid befreien kann. Der einzige Grund, weshalb ich Interviews gebe, ist der, daß ich so besser an die Menschen herankomme, die dringend Hilfe benötigen. Außerdem werden Sie wohl nicht behaupten wollen, daß die positive Presse, die wir erhalten haben, East End schadet, oder?«

Er winkte gelangweilt ab. »Ich habe Sie nicht hierher gebeten, um mit Ihnen zu diskutieren. Mit geht es allein darum, daß die Phobien-Klinik sich nicht selbst trägt, was ich aber von jeder Abteilung verlange. Sie haben sechs Monate, um das Ruder herumzureißen. Wenn Sie dann nicht mit Ergebnissen aufwarten können, werden wir die Räume anderweitig nutzen. Ambulante Rekonstruktion bringt saftige Gewinne, auf die wir dringend angewiesen sind, um expandieren zu können.«

Maggie stockte der Atem. Nicht im Traum war sie dazu bereit, sich über die Notwendigkeit von kosmetischen Operationen wie das Abflachen von Bauchdecken oder das Anheben von Po- backen zu unterhalten.

»Was genau möchten Sie in sechs Monaten erreicht sehen?« fragte sie in betont gelassenem Tonfall, der ihr einiges an Schauspielkunst abverlangte.

»Eine zwanzigprozentige Gewinnsteigerung. Mindestens.

Und einen realisierbaren Plan für ein kontinuierliches Wachstum im nächsten Geschäftsjahr. Wenn Sie mir das liefern, bin ich durchaus bereit, die Kliniktüren offen zu halten. Wenigstens fürs erste.«

Zwanzig Prozent. Er hätte genausogut von ihr verlangen können, ein Programm für eine Weltraumstation auszuarbeiten oder von nun an nur noch buddhistische Mönche zu behandeln, die eine unerklärliche Angst vor Ziegenkäse haben. Die Klinik arbeitete schon mit einer unvorstellbar knappen Finanzierung und war deshalb auf freiwillige Mitarbeiter und Spenden angewiesen. Maggie leistete soviel Überstunden, daß sie nur selten Zeit für einen Luxus wie Schlaf und Nahrungsaufnahme erübrigen konnte. Insgeheim hatte sie darauf gehofft, zusätzliches Personal einstellen zu können, was dringend gebraucht wurde.

Wie, um alles in der Welt, sollte es ihnen gelingen, einen zusätzlichen Profit von zwanzig Prozent zu erwirtschaften? Mit Kuchenverkauf am Straßenrand? Auftragsmorden? Maggie wußte ganz genau, wem sie zuallererst ein Paar Betonschuhe verpassen würde. Nach einem kurzen Blick auf seine Krokodil-Guccis taxierte sie diese auf Größe sieben. Ziemlich klein, genau so kleingeistig wie der Mann.

»Alex, ich bitte Sie, seien Sie vernünftig! Sie wissen doch selbst, daß es keine Möglichkeit gibt, einen derartigen Profit aus der Klinik zu schlagen.«

»Ich bin ganz sicher, daß es Möglichkeiten gibt, die allgemeinen Kosten zu senken. Zuallererst könnten Sie ja wieder in den 15. Stock ziehen, dort sind Räume frei. So viele Patienten haben Sie nun wieder nicht. Es besteht kein Grund, wertvolle Quadratmeter zu belegen. Das würde Ihre Raumkosten erheblich senken. Also, raus aus dem Erdgeschoß.«

Er wollte sie ködern, aber Maggie weigerte sich, anzubeißen. »Sie wissen, daß das unmöglich ist. Einige unserer Patienten haben Höhenangst, andere können keinen Fahrstuhl besteigen. Darüber haben wir uns schon mal unterhalten.«

»Ich versuche ja nur, Ihnen zu helfen, Dr. Lyons. Sie behandeln Erwachsene. Wenn die Angst vor dem schwarzen Mann haben, muß ich dann eine Wache im Flur aufstellen? Diese Menschen wie rohe Eier zu behandeln kann doch nicht förderlich sein, ihr unsinniges Verhalten zu verändern. Wenn die Phobien-Klinik in den 15. Stock ziehen würde, kämen auch die Patienten irgendwie dorthin. Es sei denn, die Klinik ist ihnen nicht so wichtig, wie Sie sich das einbilden.«

Maggie sah keinen Sinn darin, ihm zu widersprechen. Er hatte ja recht, Phobien konnte man rational nicht erklären. Aber dennoch waren sie ebenso wirklich und belastend wie jede andere Krankheit. Vielleicht sogar noch schlimmer.

»Wir können nicht in den 15. Stock ziehen. Das ist unmöglich. Und es ist auch unmöglich, Ihren Forderungen nachzukommen.«

Langsames, bedächtiges Nicken. »Nun gut. Dann werde ich demnächst bekanntgeben, daß wir das Programm einstellen. So oft, wie Sie in den Medien erschienen sind, dürften Sie keine Probleme haben, einen neuen Job zu finden.«

»Das wollte ich damit nicht sagen.« Maggie, die diese Klinik gegründet und aufgebaut hatte, hatte selbstverständlich ein sehr starkes Interesse daran, daß die Programme hier fortgeführt wurden. Sie konnte nicht zulassen, daß die Klinik geschlossen wurde. Sie wollte es nicht zulassen. »Sechs Monate«, sagte sie mehr zu sich selbst. »In sechs Monaten werden Sie Ihre zwanzigprozentige Profitsteigerung haben.«

»Na gut. Und wenn nicht, dann können Sie einpacken, Dr.

Lyons. Guten Tag.«

Maggie stürmte aus dem Büro und warf die Tür hinter sich ins Schloß. Sie hatte alles, nur keinen guten Tag.

KAPITEL 6

Vorsichtig, Jessie!

Jason Childs stand am Fenster und beobachtete seine kleine Schwester. Sein Atem beschleunigte sich, und ein eiskalter Schreckensschauer lief ihm den Rücken hinunter. Ohne an die lauernden Gefahren zu denken, rannte sie wie ein Wirbelwind durch den Garten. Ihr dünnes, blondes Haar schwebte wie ein Seidenschal durch die Luft. Als sie stehenblieb, um den Kopf in die Büsche zu stecken, konnte er an der Art und Weise, wie sie ihren Kopf neigte, erkennen, mit welcher Konzentration sie an die Arbeit ging. Ihre Lippen waren geschürzt. Jetzt, wo endlich ihre Schneidezähne rausgekommen sind, übt sie wahrscheinlich pfeifen, dachte er. Mit Volldampf rauschte sie durchs Leben und würde ihn – eher als es ihm recht war – weit hinter sich lassen. Und sich über ihn lustig machen, wie all die anderen.

Er klammerte sich an ihren Anblick, als wäre sie ein Samenkorn, das jeden Augenblick aus der Kapsel fallen mußte, um vom Wind weggetragen zu werden. Auf ihrem Kleid, einem formlosen Hauch aus blaßrosa Baumwolle, prangten winzige Blüten. Weil es schon ein Jahr alt und deshalb viel zu klein war, bedeckte der Saum kaum ihre molligen kleinen Oberschenkel.

Ihre Beine waren von einem Muster aus Kratzern und blauen Flecken überzogen. Dieses Kind hatte die unbändige Gier, andauernd etwas Neues und Gefährliches auszuprobieren: Rollschuhfahren, Fahrrad, Skateboard. Die Gefahr schien ihr nichts auszumachen. Oder vielleicht war sie noch viel zu jung, um sich ihrer bewußt zu sein.

Jason versuchte, sich daran zu erinnern, wie er in ihrem Alter gewesen war. War er auch mit dieser Leichtfüßigkeit und Unbedachtheit vorgegangen? Leider war die Erinnerung in dem dunklen schwarzen Loch vergraben, das sein Leben seit Jahren bestimmte. Niedergeschlagen kehrte er in die angsterregende Gegenwart zurück.

Sie lief barfuß herum. Ihre Füße waren eigentlich hübsch. Die Zehen glichen pinkfarbenen Perlen, die Fersen waren glattpolierte Vollgummibälle. Weil die Bodenplatten zu heiß waren, flitzte sie flink wie ein Wiesel über das verdorrte, braune Gras neben dem Gehweg. In regelmäßigen Abständen steckte sie den Kopf in die Hecke vor dem Haus. Für einen kurzen Moment verlor er sie aus den Augen.

Gütiger Gott. Was, wenn dort etwas lauert? Nimm dich in acht!

Jessie! Vorsicht, du kleiner Hitzkopf.

Dort. Sie war wieder draußen. Sah bekümmert aus. Mit dem Saum ihres Kleides wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Der dünne Stoff war voller Schmutzflecken.

An diesem Morgen hatte sie mit der betörenden Autorität einer Sechsjährigen verkündet, daß die Hitzewelle, unter der sie zu leiden hatten, rekordverdächtig war. Mürrisch mußte Jason sich eingestehen, daß sie ein kluges, kleines Ding war. Jess hatte stillschweigend die Familientradition übernommen und informierte ihn über alles. Sie brachte die Welt zu ihm, damit er nur dann, wenn es absolut notwendig war, hinaustreten und sich den Monstern stellen mußte.

Sieht sogar heiß aus, ging es ihm mißmutig durch den Kopf. Für eine Minute ließ er sie aus den Augen. Sie zu beobachten war fast genau so schlimm, als wäre er selbst dort draußen, ungeschützt und verletzbar. Und als würde er riskieren, einem von ihnen über den Weg zu laufen.

Um diese unerträgliche Vorstellung abzuschütteln, richtete er den Blick auf den schattigen Vorhof. Sie wohnten in Bayside in Queens, kaum eine halbe Stunde von Manhattan entfernt, obwohl man es dem verschlafenen Viertel nicht anmerkte. Ihr Block bestand aus sechs hübschen, gut in Schuß gehaltenen Häuschen, in denen nette, freundliche Menschen wohnten. Gepflegte Rasenflächen und gestutzte Hecken. Immer und immer wieder versicherte er seiner Familie, daß es ihm reiche, sich im Haus aufzuhalten. Mehr wollte er gar nicht. Warum begriffen sie das nicht? Warum hörten sie nicht auf, ihn zu piesacken und zu drängen.

Warum ließen sie ihn nicht in Ruhe?

Jason genoß den gleichbleibenden Rhythmus der Nachbarschaft, die beruhigende Routine, die hier herrschte. Hinter seinem Fenster fühlte er sich sicher. Von hier aus beobachtete er die Menschen, die bei Sonnenaufgang in ihren Autos davonfuhren und jeden Abend wieder heimkehrten. Er sah den Kindern zu, die sich jeden Nachmittag zum Spielen versammelten. Er bekam mit, wie Mrs. Gavin mit dem Baby spazierenging und wie Mr. Loring allmorgendlich die Post austrug. Wenigstens einmal pro Tag fuhr der UPS-Wagen durch die Straße und lieferte bei Mrs. Hauptmeyer Pakete mit Dingen ab, die ihr im Fernsehen in einem der zahlreichen Einkaufsprogramme ins Auge gestochen waren.

Wenn er wollte, konnte er die Gleichförmigkeit des Bildausschnittes ändern, indem er sich woanders hinstellte. Von einem strategisch günstigen Punkt aus gelang es ihm sogar, Paul Haskel und Susie Weiss dabei zu beobachten, wie sie auf der Verandaschaukel knutschten. Und die gedrungenen Ziegans-Zwillinge, die auf dem Hof miteinander kämpften und sich wie Dschungelalligatoren anfauchten, konnte er ebenfalls sehen. Ein paar Meter weiter tranken sich Dr. und Mrs. Ziegans mit ihren Martini-Gläsern zu und fütterten sich gegenseitig mit aufgespickten Oliven. Obwohl sich niemals etwas Seltsames oder Unerwartetes oder auch nur vage Gefährliches ereignete, spürte Jason unterschwellig das unsichtbare Böse. Ja, selbst hier.

Auch jetzt.

Selbst in dieser Sekunde konnte einer dort draußen lauern. Im Schatten warten. Keuchen. Mit eingezogenem Schwanz, der die böse Absicht verriet.

Und sie warteten nur darauf, daß er ihnen in die Falle lief.

Die Blätter der Bäume raschelten nicht. Die Luft hing wie ein öliger Teppich vor dem Fenster. Wahrscheinlich schlecht für die Lungen, dachte Jason griesgrämig. Zuviel Ozon oder Kohlenmonoxid oder irgendein anderes unsichtbares Gift, das tödlich war. Eine Hitze wie diese mußte für Menschen mit Herz- oder Lungenproblemen kritisch sein, sonst würde der Mann vom Wetterdienst sie nicht auffordern, im Haus zu bleiben. Wie sollte er wissen, ob er nicht unter einer dieser Krankheiten litt? Vielleicht gehörte er zu der Gruppe von Menschen, die gefährdet waren, und wußte nichts davon. Seine letzte medizinische Untersuchung lag Jahre zurück. Nun drängten sie ihn, einen Arzt aufzusuchen, aber er betete zu Gott, daß sie ihm erlaubten, diesen dummen Termin abzusagen.

Sie mußten ihm unbedingt die Erlaubnis dazu geben!

Seine Schwester stand inzwischen auf Zehenspitzen vor der Garage und spähte durch eines der kleinen, quadratischen Fensterchen in der Tür. Sein Herz machte einen Satz, als ihm Bilder von einem böse funkelnden Augenpaar durch den Kopf schossen, das im Dunkeln in einem Hinterhalt auf sie wartete. Still. Lauernd.

Mach die Tür nicht auf, Jess! Um Gottes willen, sei vorsichtig!