Wenn das Böse erwacht - Judith Kelman - E-Book
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Wenn das Böse erwacht E-Book

Judith Kelman

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Beschreibung

Was geht in diesem abgelegenen Haus vor sich? Der packende Thriller »Wenn das Böse erwacht« von Judith Kelman jetzt als eBook bei dotbooks. Was ein harmloser Job sein sollte, führt in die tiefsten Abgründe der menschlichen Psyche ... Die junge Lektorin Erica erhält einen wichtigen Auftrag – vielleicht die einzige Chance, ihren Beruf und die Zukunft ihres ungeborenen Kindes zu sichern. Sie soll auf der abgelegenen »Bramble Farm« gemeinsam mit der berühmten Schriftstellerin Theresa Bricklin deren neues Manuskript vollenden. Doch vor Ort bekommt Erica von Theresas Mann Goodwin nur Teile des Manuskripts überreicht, denn die Autorin scheint schwer krank zu sein. Erica bleibt keine Wahl, als auf Bramble Farm zu bleiben, bis es ihr besser geht. Nach und nachwächst in ihr der Verdacht, dass etwas in diesem Haus nicht stimmt – doch als sie fliehen will, ist es längst zu spät ... Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Wenn das Böse erwacht« von Judith Kelman ist fesselnder Psychothriller für Fans von Joy Fielding und Harlan Coben. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 405

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Über dieses Buch:

Was ein harmloser Job sein sollte, führt in die tiefsten Abgründe der menschlichen Psyche ... Die junge Lektorin Erica erhält einen wichtigen Auftrag – vielleicht die einzige Chance, ihren Beruf und die Zukunft ihres ungeborenen Kindes zu sichern. Sie soll auf der abgelegenen »Bramble Farm« gemeinsam mit der berühmten Schriftstellerin Theresa Bricklin deren neues Manuskript vollenden. Doch vor Ort bekommt Erica von Theresas Mann Goodwin nur Teile des Manuskripts überreicht, denn die Autorin scheint schwer krank zu sein. Erica bleibt keine Wahl, als auf Bramble Farm zu bleiben, bis es ihr besser geht. Nach und nachwächst in ihr der Verdacht, dass etwas in diesem Haus nicht stimmt – doch als sie fliehen will, ist es längst zu spät ...

Über die Autorin:

Mit mehr als zwei Millionen verkauften Exemplaren ihrer Bücher ist Judith Kelman eine Meisterin der psychologischen Spannung. Sie wurde für ihren Thriller »Fürchte dich vor mir« mit dem Mary Higgins Clark Award ausgezeichnet und war Vorsitzende der Mystery Writers of America. Sie lebt in New York City.

Judith Kelman veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Thriller um Rechtsanwältin Sarah Spooner mit den Bänden »Wo das Dunkel herrscht« und »Wenn die Unschuld stirbt« sowie die Standalone-Thriller »House on the Hill«, »Schrei, wenn du kannst«, »Thornwood«, »Fürchte dich vor mir«, »Im Falle meines Todes« »Island of Fear« und »The Black Widow«.

***

eBook-Neuausgabe Mai 2024

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1986 unter dem Originaltitel »Prime Evil« bei Berkley Publishing Group, New York.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1986 by Judith Kelman

Published by Arrangement with Peter Lampack Agency, Inc. 350 Fifth Avenue, Suite 5300, New York, NY 10118 USA.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1990 by Wilhelm Goldmann Verlag, München

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Badun, Eric Isselee

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-98952-277-0

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Judith Kelman

Wenn das Böse erwacht

Thriller

Aus dem Amerikanischen vom Kollektiv Druck-Reif

dotbooks.

Prolog

Als der Lieferwagen den holprigen Weg erreichte, der zu dem Haus führte, verstummten die beiden Männer. Der eine von ihnen, ein großer, breiter Mann, der blaue Arbeitskleidung und eine Basketballmütze trug, zündete sich im Fahren eine Zigarette an. Das Zittern seiner Hand brachte die Streichholzflamme zum Flackern. Der andere, ein strenger, mürrischer Mann, zupfte nervös Fusseln von seinem schwarzen Anzug und begann dann, in seiner schäbigen Aktentasche zu kramen.

Der Lieferwagen trug keine Aufschrift, und seine Scheiben waren graublau getönt, damit man ihm seine traurige Bestimmung nicht ganz so deutlich ansah. »Hinten herum«, sagte der Beifahrer.

Der Fahrer nickte, lenkte den Wagen schwungvoll um die hohen Nadelbäume herum, bog um die makellose Steinfassade und kam mit quietschenden Bremsen vor der mit Fliegengittern geschützten Veranda zum Stehen. In die Mittagssonne blinzelnd, zündete er sich noch eine Zigarette an und legte sie neben die andere, die bereits im Aschenbecher schwelte. Dann wuchtete er sich von dem rissigen Kunststoffsitz und reckte seinen massigen Hals, um zu sehen, ob jemand zu Hause war.

Der Mann mit der Aktentasche summte leise vor sich hin und deutete mit einer Kopfbewegung zum Haus. Dort stand im tiefen Schatten einer Sumpfeiche ein gebeugter alter Hausdiener, der offenbar darauf wartete, ihnen den Weg zu zeigen. Als er sah, daß der Fahrer ihn entdeckt hatte, gab er ihm durch heftiges Winken zu verstehen, sie sollten zum Eingang der Terrasse kommen. Dann zog er sich mit schleppenden Schritten wieder in die angenehme Kühle des Hauses zurück.

Die beiden Männer stiegen gleichzeitig aus und gingen langsam den Kiesweg hinauf. Der erste öffnete die Verandatür und spähte hinein, wobei er seine Aktentasche wie einen Schutzschild vor sich hielt.

Nachdem seine Augen sich an das düstere Licht gewöhnt hatten, sah er das Mädchen auf den geblümten Kissen der kleinen geflochtenen Couch. Sie lag mit angezogenen Beinen auf der Seite, die bleichen Arme umfingen die sanfte Wölbung der mädchenhaften Brust, und das lange, honigblonde Haar fiel ihr über den Rücken.

Ein Kind, dachte der Mann. Ein schönes Kind.

Er winkte seinem Begleiter, ihm zu folgen, räusperte sich und ging quer durch das Zimmer auf das Mädchen zu. Der sanfte Fliederduft ihres Parfums stieg ihm in die Nase. »Maryann«, sagte er leise. Seine Stimme brach.

So viele Jahre, so viele Kinder. Noch immer traf ihn der Anblick des Todes, als sei sein eisiger Schmerz neu für ihn. So viele Kinder ...

Er räusperte sich abermals und drehte das Mädchen auf den Rücken. Die Totenstarre hatte bereits eingesetzt, die Gliedmaßen waren steif und unbeweglich, und die Todesangst stand ihr noch ins Gesicht geschrieben.

Auf der rechten Seite war der Schädel zertrümmert. Knochenstücke und Fetzen von Gehirngewebe klebten in blutigen Klumpen in dem goldenen Haar. Ein Auge war geschlossen, das andere, in dem der Ausdruck tiefsten Entsetzens stand, quoll aus der Höhle hervor. Mit zitternden Händen versuchte er, das Auge zuzudrücken, aber das Lid glitt immer wieder nach oben wie ein defektes Rouleau. Das kommt von der Schwellung, dachte er. Massives zerebrales Ödem.

Sie ist gestürzt, hatte das Hausmädchen gesagt, als sie anrief, um den Unfall zu melden. Gott. An jedem anderen Ort wäre das Mädchen mit einer Beule und ein bißchen Kopfweh davongekommen. Aber nicht hier. Sie war nur gestürzt, aber jetzt sah sie aus, als hätte sie irgendein Wahnsinniger mit einem Hammer erschlagen. Ein frisches Rinnsal Blut quoll aus der Wunde. Die Menschen, die in diesem Haus lebten, hatten kein Glück ... Den Mann fröstelte trotz der Hitze.

Mechanisch preßte er die metallene Mündung des Stethoskops auf die kalte Brust des Mädchens. Dann warf er einen Blick auf seine altmodische Armbanduhr und kritzelte die Todeszeit auf das amtliche Formular. »Zwölf Uhr zehn.«

»Brauchen Sie irgendetwas?« Der große Mann flüsterte wie ein verängstigtes Kind. »Wollen Sie, daß ich nach Fingerabdrücken suche? Ich habe meine ganze Ausrüstung im Wagen.«

»Nein. Das hätte keinen Sinn.« Er kreuzte »Unfall« in der Spalte für »Todesursache« an und trug den Namen der jungen Frau ein. Den Rest würde er später erledigen, sobald die Familie sich von dem ersten Schock erholt hatte. »Schuld an allem ist nur dieses verdammte Gemäuer.«

Der dicke Mann holte einen großen schwarzen Plastiksack mit Reißverschluß aus dem Lieferwagen, legte ihn neben das tote Mädchen und hob ihren Körper hoch, als sei er schwerelos. »Komm, Maryann. Zeit zu gehen.« Er bettete sie vorsichtig in die Plastikhülle und strich ihr das Haar aus der Stirn. So schönes Haar, wie gesponnenes Gold und Sonnenschein. Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie er sie aus gebührender Entfernung angestaunt hatte, konnte den alten Schmerz des Begehrens wieder spüren, und den Stich der Eifersucht, als er damals erfuhr, daß sie sich mit dem jungen Calvert verlobt hatte. Maryann und Ray Calvert kamen beide aus einer anderen Welt, einer Welt, in der es für Leute wie ihn keinen Platz gab. Sie hatten ein schönes und erfolgreiches Leben vor sich, dachte er. Und jetzt ... Seine dicken Finger berührten leicht die Brust des Mädchens, und er zog hastig die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt.

Mit abgewandtem Blick zog er den Reißverschluß zu, nahm den Sack auf seine starken Arme und folgte dem Beamten des Gerichtsmedizinischen Instituts zurück in den Sonnenschein.

»Machen wir, daß wir wegkommen«, meinte der Beamte. »Ich kriege hier eine Gänsehaut nach der anderen.«

Nachdem er die Leiche in das schwarz verkleidete Innere des Wagens gebettet hatte, stieg der Fahrer ein und ließ den Motor an. »Warum ausgerechnet sie? Es ist so sinnlos.«

»Ich weiß, Larry, ich weiß.« Langsam, wie um ihrer traurigen Fracht Ehrfurcht zu erweisen, fuhren sie an der Vorderseite des Hauses entlang. Der Beamte der Gerichtsmedizin blickte über das Anwesen mit der hoch aufragenden Steinfassade des Hauptgebäudes und den gepflegten Beeten und Sträuchern.

Mit einem ironischen leisen Lachen dachte er daran, wie er das Grundstück zum ersten Mal gesehen hatte. Damals war er furchtbar neidisch gewesen. Die haben es gut, hatte er gedacht. Sie besitzen alles, was das Herz begehrt. Und dann hatte er sich vorgestellt, wie schön es wäre, wenn er sein kleines Zweifamilienhaus mit der winzigen Küche und der hohen Hypothek gegen diesen unglaublichen Reichtum eintauschen könnte.

Dann war er wieder hierhergekommen, immer wieder, um schöne junge Frauen und kleine Kinder abzuholen. Blühendes, verheißungsvolles Leben, zerstört in einer grausamen Laune des Schicksals. Im Büro, wo man den Tod behandelte wie einen schrecklichen Riesen, dem es die Stirn zu bieten galt, machten sie ihre Witze. »Man sollte das Haus umbenennen in ›Gottes Wartezimmer zum Himmel‹ oder so ähnlich.«

»Wie wäre es, wenn wir einen Verein gründen würden? Vielleicht ›Anonyme Leichen‹?« Sie versuchten zu lachen, aber das Gelächter war dünn und durchsetzt von angstvoller Hysterie. Auch der Beamte der Gerichtsmedizin haßte es, diesen traumhaft schönen Ort aufsuchen zu müssen, der so entsetzlich vom Schicksal heimgesucht wurde.

Wenn so etwas einmal passierte, konnte man es für einen unglücklichen Zufall halten, beim zweiten Mal war es schon eine schreckliche Tragödie. Aber auf diesem Ort schien ein Fluch zu lasten, dem immer wieder unschuldige Menschen zum Opfer fielen.

Beim letzten Mal hatte Larry es auf den Punkt gebracht. »Man sollte Benzin über das ganze verdammte Grundstück schütten und ein brennendes Streichholz hineinwerfen. Oder es in die Luft jagen, damit es ein für allemal weg ist. Wissen Sie, Doktor, ich bin ja nicht abergläubisch oder so was ...«

Jetzt war selbst der sonst so gesprächige Larry um Worte verlegen und saugte an seiner Filterzigarette wie ein trostbedürftiges Kind. Der Gerichtsbeamte legte ihm die Hand auf den Arm. »Wie wär’s, wenn wir die Kleine abliefern und uns dann volllaufen lassen?«

Eine Träne lief über Larrys stoppelige Wange. »Gute Idee. Das machen wir.«

Sie fuhren den langen, holprigen Auffahrtsweg hinab, der an den Stellen, wo Baumwurzeln und Frostschäden den Asphalt durchbrochen hatten, tiefe Schlaglöcher aufwies. Man kann es niemandem verübeln, wenn er dieses Anwesen verkommen läßt, dachte Larry. Hoffentlich war es bald unbewohnbar, bevor noch ein weiteres Menschenleben zu beklagen war.

Als sie wieder auf der Hauptstraße angelangt waren, fühlte sich der Gerichtsbeamte unendlich erleichtert. Er kurbelte das Wagenfenster herab und holte tief Luft. Larrys Zigarette war bis auf einen kalten Stummel heruntergebrannt, aber er behielt ihn zwischen den Lippen und starrte ins Leere.

Jeder, der einen Funken Verstand besaß, mied diesen verfluchten Ort.

Kapitel 1

Alles kam Erica so unwirklich vor. Innerhalb weniger Minuten war ihre Welt in Teile eines Puzzles zerfallen, die nicht mehr zusammenpaßten. Immer und immer wieder durchlebte sie die Szene. Brian saß ihr gegenüber im Marco’s, ihrem Lieblingsrestaurant in der Gegend. Eine Platte mit Antipasti und eine Flasche Chianti standen zwischen ihnen auf dem karierten Tischtuch. Sein Knie preßte sich an das ihre, ihre Hände berührten sich wie zufällig, und ihre Blicke trafen sich immer wieder in ungezwungener Vertrautheit.

Dann fielen die Worte. »Ich bin schwanger, Brian.« Erica war sich bewußt, daß es nicht einfach sein würde, ihm das mitzuteilen. Es gab für dieses Geständnis keinen passenden Moment. Immer wieder hatte sie sich den Kopf zerbrochen und die Situation in Gedanken durchgespielt. Auf Brians tatsächliche Reaktion aber war sie nicht vorbereitet.

Zuerst passierte gar nichts. Dann machte das ruhige, anziehende Lächeln einem häßlichen Grinsen Platz.

»Schwanger. Du machst wohl Witze. Was ist denn mit deinem angeblichen Problem, von dem du dauernd erzählst? Ich dachte, du könntest keine Kinder kriegen. Hast du wirklich gedacht, ich wäre so blöd? So leicht in die Falle zu locken? Probieren kann man’s ja mal, aber du hättest dir die Mühe auch sparen können. Damit mußt du allein fertig werden, Schätzchen.«

Sie hatte ihn niemals wirklich gekannt. Niemals.

Noch ganz betäubt von Wut und Schmerz ging Erica durch den langen, beige gestrichenen Korridor von Prescott Press. Ohne stehenzubleiben, um wie sonst ihre Kollegen zu begrüßen, lief sie an den Redaktionsbüros vorbei, unter anderem auch an ihrem eigenen vollgestopften Kabuff. Schließlich blieb sie vor Mel Underwoods Zimmer stehen. Alles war plötzlich so schwierig geworden. Sogar das Weglaufen. Wenn es doch nur möglich gewesen wäre, das, was ihr Schmerzen bereitete, einfach aus ihrem Leben zu entfernen. Eine saubere Amputation und fertig.

Als Mel sie erblickte, verschränkte er die Hände auf seinem mit Papieren übersäten Schreibtisch und runzelte die Stirn wie ein besorgter Vater. »Was ist los, Erica? Du siehst ja furchtbar aus.«

Furchtbar war vermutlich noch eine Untertreibung. Da Erica weder ein klares Ziel vor Augen hatte noch wußte, wohin sie gehen sollte, war sie die ganze Nacht auf und ab gegangen und hatte nachgedacht. Und noch immer wußte sie nicht aus noch ein. Ihr war lediglich bewußt geworden, daß sie eine Entscheidung treffen mußte. Das war nicht nur eine ungewollte Schwangerschaft, nicht irgendeine kleine Unannehmlichkeit, die man einfach aus der Welt schaffen und dann vergessen konnte. Jahrelang hatte Erica sich von ihren Ärzten immer wieder den gleichen mitleidigen Spruch anhören müssen: »Tut mir leid, Miß Phillips. Aber aufgrund der Untersuchungsergebnisse ist es höchst unwahrscheinlich, daß Sie jemals schwanger werden können. Natürlich steht Ihnen immer noch die Möglichkeit einer Adoption offen ... und neue Entwicklungen auf diesem Gebiet eröffnen auch noch andere Alternativen ...«

Die vernünftige Erica. Sie hatte sich mit einem Leben ohne Kinder abgefunden. Kein Problem. Es gab schließlich genug Leute, die sich freiwillig dafür entschieden, keine Kinder zu bekommen. Erica hatte wirklich genug damit zu tun, sich um sich selbst und um ihre Karriere zu kümmern. Sollte ihr das Schicksal noch einmal eine dauerhafte Liebesbeziehung bescheren, mußte ihr Partner eben damit fertig werden, daß sie keine Kinder haben würden, denen er seinen Familiennamen oder sonstige Eigenarten vererben konnte. Wenn Erica ihm wirklich etwas bedeutete, würde er damit zurechtkommen oder sich mit den »Alternativen« abfinden.

Aber jetzt ... jetzt war das »Unwahrscheinliche« eingetreten. Erica war schwanger; und sie mußte davon ausgehen, daß dies eine einmalige Gelegenheit war. Oder war es eher ein Fluch? Sie war schwanger. Das Wort hallte in ihrem Kopf wider, und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Ihre Mutter war bei einer Entbindung gestorben. Das kam vor. Es gab so vieles, was sie bedenken mußte. Es stand einiges für sie auf dem Spiel.

Erica hatte sich ihre Worte zurechtgelegt, und sie platzte damit heraus, ehe sie es sich wieder anders überlegen konnte. »Ich muß für eine Weile von hier weg, Mel. Persönliche Gründe. Du weißt, ich hasse es, etwas mittendrin hinzuschmeißen, aber es geht nicht anders. Hier sind das Davenport-Manuskript und die Ipswich-Serie. Ich bin sicher, daß Karen oder Elizabeth sich darum kümmern können. Sie haben bei beiden Projekten mit mir zusammengearbeitet.«

»Was ist denn los, Erica? Kann ich dir irgendwie helfen? Du weißt doch, wie sehr ich dich schätze.« Mel war als Chef eine seltene Mischung aus abgebrühtem Geschäftsmann und kuschelweichem Teddybär.

»Nein ... du kannst mir nicht helfen.« Erica wich Mels Blick aus. »Ich brauche ein wenig Zeit zum Nachdenken, Zeit, um mit den Dingen klarzukommen.«

»Ich will ja nicht neugierig sein.« Mels Stimme klang butterweich. »Aber ist irgendetwas mit deinem Freund Brian schiefgegangen?«

Erica wurde rot. »Schiefgegangen ist ziemlich untertrieben. Es ist aus zwischen uns. Aber das ist nicht alles, Mel. Es ist noch viel komplizierter.«

Mel lächelte verständnisvoll. »Ich will dich nicht verlieren, Erica. Du bist eine großartige Lektorin. Meinst du, du kannst die Sache regeln und dann zurückkommen?«

Erica schluckte. »Unmöglich wäre das nicht.«

»Ich hoffe es. Ich werde dich vermissen.«

»Ich dich auch, Mel.« Erica brachte ein halbherziges Lächeln zustande. »Ich habe wirklich gern hier gearbeitet.«

Mel stand auf und schloß sie ein wenig unbeholfen in die Arme. »Du kümmerst dich jetzt erst mal um deine persönlichen Angelegenheiten, ja? Dein Job hier läuft dir nicht weg.«

Als Erica wieder in ihrem eigenen Büro war, schloß sie die Tür hinter sich und ließ ihren Tränen freien Lauf. Mels Freundlichkeit machte alles noch viel schwerer für sie. Sie versuchte sich einzureden, daß sie die ganze Sache auf einfache Weise lösen und dann vergessen könnte. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, jemals wieder ein halbwegs normales Leben zu führen.

Ihr Schreibtisch war voller Erinnerungen. Sie nahm Brians Foto aus dem Plexiglasrahmen, knüllte es zusammen und warf es in den Papierkorb. Ein Stapel Geschäftskarten folgte: Erica Phillips, zweite Cheflektorin, Prescott Press. Sie war so stolz gewesen auf ihre Stellung. Prescott war der Cadillac unter den Verlagen. Mel wußte mit seinem natürlichen Gespür für diese Dinge immer ganz genau, wann er einen übereifrigen Mitarbeiter bremsen mußte, wann er vollkommene künstlerische Freiheit gewähren durfte und wann es zu trösten und zu beschwichtigen galt. Mels Weisheit war über jeden Zweifel erhaben, was schon die Qualität und das Format seiner Autoren bewiesen.

Ericas Kalender war voll mit Terminen und Verabredungen. Sie würde Claire, ihre Sekretärin, bitten müssen, alles abzusagen. Lange Erklärungen waren ihr im Moment zuwider. Ihre Kollegen würden ohnehin früh genug die Wahrheit erfahren.

Als nächstes holte Erica die gerahmten Urkunden von der Wand: die Urkunde zum Abschluß ihres Englischstudiums, das Magisterzeugnis in Amerikanischer Literatur, die Preise für ihre Kurzgeschichten, das Who’s Who der amerikanischen Frauen. »Ein aufsteigender Stern«, hatte Mel sie immer genannt. Erica seufzte. Jetzt war sie wohl eher ein abgestürzter Komet.

Sie verspürte den Drang, ihr Fenster im einundzwanzigsten Stockwerk zu öffnen und diesen ganzen Kram ein für alle Mal loszuwerden. Die Aktentasche, die Brian bei Mark Cross für sie gekauft hatte, würde als erstes aus dem Fenster fliegen. »Zur Feier deines ersten Bestsellers«, hatte er gönnerhaft gesagt und sie dabei selbstzufrieden angelächelt.

Erica schaute auf die Menschen hinab, die von hier oben aussahen wie Ameisen. Wie leicht wäre es, einen Schritt nach draußen zu machen und loszulassen – ein klares, schnelles, dramatisches Ende. Aber damit hätte sie nichts gewonnen, denn so würde sie Brian sein mieses Benehmen nicht heimzahlen können. Seine Reaktion auf ihren Selbstmord konnte sie sich lebhaft vorstellen. »Wirklich? Allen Ernstes? Sie ist aus dem Fenster gesprungen, echt? Wenn ich das bloß gewußt hätte, dann hätte ich ein paar Filmleute vorbeigeschickt.«

Jemand klopfte leise an Ericas Tür. Dann öffnete sie sich einen Spalt breit, und Mels ausgestreckte Hand erschien. »Darf ich reinkommen?«

»Ja, natürlich, Mel!« Erica richtete sich auf, strich sich das Haar glatt und versuchte, ruhig und gelassen zu wirken. »Was gibt’s?«

Mel ließ seinen Blick über das Chaos in Ericas Büro schweifen und schüttelte den Kopf. »Hast du eigentlich irgendwelche Pläne, Erica? Ich meine, wohin willst du gehen? Was wirst du anfangen?«

»Ich weiß es noch nicht genau. Aber du brauchst dir meinetwegen keine Sorgen zu machen. Ich bin doch eine kluge, unabhängige junge Frau und werde die Sache schon regeln. Meinst du nicht auch?« Die Worte purzelten leblos aus Ericas Mund.

»Du wirst es bestimmt schaffen. Aber das ist es nicht ...« Mel sah aus wie ein müder alter Jagdhund. »Ich habe nur überlegt ...«

»Was? Raus damit, Mel. Gute Ratschläge kann ich im Moment unheimlich gut gebrauchen. Alles andere – vergiß es.« Großartig, daß Mel sich des Scherbenhaufens annahm, der von ihrem Leben übriggeblieben war. Irgendjemand mußte es ja tun.

Mel seufzte und schien seinen ganzen Mut zusammenzunehmen. »Ich habe da etwas, das vielleicht etwas für dich wäre. Aber ...«

»Na los, Mel. Spann mich nicht auf die Folter.« Mels Augen trübten sich, als grübelte er angestrengt über etwas nach. Das war sonst gar nicht Mels Art. Ganz und gar nicht.

»Mel?« versuchte Erica nachzuhelfen.

Er setzte sich auf die Schreibtischkante und verschränkte resigniert die Arme. »Letzte Woche habe ich einen Anruf von einem gewissen Hemphill bekommen. Seine Frau ist Schriftstellerin und hat vor einiger Zeit einen Schlaganfall erlitten, von dem sie sich nur langsam erholt. Ihr Gesicht ist halbseitig gelähmt, und vermutlich sieht sie ziemlich seltsam aus. Sie hatte Depressionen und wollte lange Zeit außer den Ärzten und Therapeuten niemanden sehen. Bis jetzt hat sie niemand anderen an ihren Manuskripten arbeiten lassen.

Na ja, nach dem, was ihr Mann sagt, ist sie jetzt bereit, jemand anderen Ordnung in ihre Texte bringen zu lassen. Sie hat bisher mit Brown and McEvoy zusammengearbeitet, aber ihr dortiger Lektor hat gekündigt. Hemphill sucht einen klugen jungen Menschen, der für ein paar Monate bei ihnen wohnen und arbeiten kann. Er sagt, daß er von Prescott Press bisher nur Gutes gehört hat. Ein Wust von Papieren müßte geordnet werden – das ganze Haus ist voll davon. Und dann gibt es wohl auch noch ein paar unveröffentlichte Texte – na ja, du weißt schon. Die beiden haben ein großes Anwesen in Connecticut. Du hättest dort eine Menge Platz zum Nachdenken. Und viel Zeit, um mit dir wieder ins Reine zu kommen. Vielleicht wäre das jetzt genau die richtige Umgebung für dich. Aber ...«

»Aber was? Eigentlich bin ich ja nicht besonders scharf auf so etwas. Eine alte kranke Frau und ein paar verstaubte Manuskripte sind so ziemlich das letzte, was ich jetzt brauchen kann.«

»Darum handelt es sich hier auch nicht, Erica. Zufällig weiß ich, daß die Arbeit dieser Schriftstellerin alles andere als verstaubt ist. Ich weiß sogar, daß die Frau so etwas wie ein Idol für dich ist.«

»Du willst damit doch nicht etwa sagen, daß es ... Theresa Bricklin ist, Mel? Ich habe gehört, daß sie einen Schlaganfall hatte, dachte aber, sie wäre so ziemlich am Ende –«

Mel hob beschwichtigend die Hand. »Langsam, langsam. Bevor du anfängst, vor Begeisterung auf dem Schreibtisch zu tanzen – irgendetwas ist merkwürdig an diesem Hemphill. Der Mann hört sich an, als sei er reif für die Klapsmühle.« Mel hatte noch immer Hemphills schrille, drängende Stimme im Ohr: »Wirklich, Mr. Underwood. Ich rechne fest mit Ihrer Unterstützung. Sie müssen mir helfen. Es ist dringend.« Hemphill hatte sich aufgeführt, als ginge es um Leben und Tod.

»Das stört mich nicht, Mel, damit werde ich schon fertig. Denk doch nur mal daran, wieviel Erfahrung ich mit Verrückten habe. Dein Vorschlag ist großartig, Mel! Du bist wundervoll!« Erica gab ihm einen lauten, schmatzenden Kuß. »Theresa Bricklin! Ich kann es gar nicht fassen. Ich glaube, du hast mir das Leben gerettet.«

Mel schaute sie gedankenverloren an. »Ich weiß nicht, ob du den Job wirklich annehmen solltest. Okay, die Sache klingt gut, aber ... Ich weiß auch nicht, aber irgendetwas stimmt nicht mit diesem Hemphill.« Der Mensch war ihm vorgekommen wie ein verstimmtes Instrument: mißtönend und völlig unharmonisch. Von einer Sekunde auf die andere klang sein Tonfall plötzlich nicht mehr bittend, sondern drohend. »Ich verlasse mich darauf, daß Sie die Angelegenheit mit äußerster Diskretion behandeln, Mr. Underwood. Ich möchte meine Privatangelegenheiten nicht vor den gierigen Augen der Öffentlichkeit ausgebreitet wissen«, hatte er erklärt. »Guten Tag.« Als Hemphill auflegte, schnitt Mel dem Hörer eine Grimasse und verspürte dabei eine unerklärliche Erleichterung ...

Erica wischte seine Bedenken mit einer Handbewegung beiseite. »Ich bin schon mit ganz anderen Dingen fertig geworden, Mel. Dieser Hemphill ist schließlich der Mann von Theresa Bricklin. Also kann er doch nicht so schlimm sein.«

Mels Lächeln wirkte gezwungen und wenig überzeugend. »Klar, wahrscheinlich mache ich mir einfach zu viele Gedanken. Also, geh und bring Theresa Bricklins gesammelte Werke in Ordnung und schau, daß du deine eigenen Probleme löst. Und dann kommst du zu uns zurück.«

»Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen, Mel. Ich werde mit dem Kerl schon zurechtkommen. Verrücktheit ist ja schließlich nicht ansteckend.«

»Klar, natürlich, Erica«, sagte Mel zögernd. Er schien immer noch in Gedanken versunken. Merkwürdig. Mel war kein Mensch, der sich unnötig Sorgen machte. Erica versuchte sich einzureden, daß selbst der siebte Sinn von Mel Underwood nicht unfehlbar war. Kein Mensch konnte ständig recht haben ...

»Na komm, Mel. Ich krieg das schon hin. Was kann denn schon passieren?«

Mel zuckte die Achseln. »Hör nicht auf mich, Erica. Wahrscheinlich werde ich langsam alt. Wenn einem erst mal die Haare ausfallen, wird man anfällig für den größten Blödsinn. Ich weiß selbst nicht, weshalb mir dieser Hemphill so unheimlich war. Wahrscheinlich hast du recht. Was kann schon passieren?«

Er zwang sich zu einem Lächeln. »Abgesehen von Hemphill ist der Job eine große Chance für dich. Wenn du für Theresa Bricklin gute Arbeit leistest, wirkt sich das bestimmt positiv auf deine Karriere aus.«

»Sicher, Mel. Ich weiß ... und vielen Dank.« Erica sah Mel nach, als er ihr Büro verließ. Behutsam schloß er die Tür hinter sich. Er arbeitete nun schon jahrelang in dieser Branche, die es sich zur Aufgabe machte, die menschliche Natur zu beschreiben, und so wußte er nur zu gut, wie bösartig sie sein konnte. Auf dem Weg zu seinem Büro hatte er das Gefühl, als trage er eine schwere Last auf den Schultern. Du siehst schon Gespenster, Mel, sagte er sich. Du wirst alt.

Erica machte sich wieder ans Packen. Noch vor wenigen Minuten hatte sie sich gefühlt wie ein Kind, dem gerade jemand den langersehnten kleinen Hund geschenkt hat. Aber langsam übertrug sich Mels Besorgnis auf sie ... Ihr schauderte. Mel war weder senil noch hysterisch, und wenn er Hemphill gegenüber Vorbehalte hatte, so täte sie wahrscheinlich gut daran, die Finger von der Sache zu lassen. Aber vielleicht würde sich eine solche Chance nie wieder ergeben!

Theresa Bricklin ... Erica hatte jahrelang ihre Bücher studiert und analysiert; sie hatte den Wunsch, das Genie dieser Frau ganz zu verstehen. War dieses Angebot eines jener Ereignisse, die einfach zu schön sind, um wahr zu sein? Nein, Erica. Laß nicht zu, daß deine überspannte Phantasie deinem gesunden Menschenverstand davonläuft. Eine alte Frau und ihr exzentrischer Ehemann. Was kann daran so schlimm sein?

Erica räumte ihre letzten Habseligkeiten vom Schreibtisch und blickte sich noch einmal in ihrem Büro um. Sie hörte, wie draußen im Flur eine Tür zuschlug. Das Geräusch hatte etwas Endgültiges an sich.

Kapitel 2

Der Mittagszug war halb leer. Das rhythmische Schlingern des Waggons versetzte Erica in einen angenehmen Dämmerzustand. Sie lehnte sich mit dem Gesicht an den blauen Kunststoffsitz und starrte nach draußen, wo das frische Frühlingsgrün und das Grau der Fabrikmauern vorüberrauschten.

Das Telefongespräch mit Hemphill ging ihr wieder und wieder durch den Kopf. Erica konnte Mels Besorgnis gut verstehen. Hemphill redete ununterbrochen. Die Worte sprudelten nur so aus ihm hervor, aber seine Stimme klang sonderbar monoton und hohl, als habe jemand zu einer Melodie den falschen Text gewählt. »Sie ahnen ja nicht, wie viel mir diese Sache bedeutet, Miß Phillips. Und wie sehr sich die liebe Tessa darüber freut. Trotz aller gegenwärtigen Probleme, trotz all der widrigen Umstände, die sich ihrem unbezwingbaren Geist entgegenstellen, spüre ich doch, daß ihr Werk für sie nach wie vor an erster Stelle steht. Ihre Hilfe kommt wahrlich wie gerufen, Miß Phillips.«

»Ich bin froh, ihr behilflich sein zu können«, sagte Erica, verbesserte sich aber gleich darauf: »Ich meine, ich hoffe, daß ich ihr helfen kann.« Der Gedanke, daß sie an Theresa Bricklins Roman mitarbeiten würde, schüchterte sie ein. Es war, als sollte sie eine Laubsäge benutzen, um einen seltenen Diamanten zu schleifen.

Der Schaffner kam, um ihre Fahrkarte zu kontrollieren. Erica fuhr sich mit dem Kamm durch die Haare, zog den Lippenstift nach und legte etwas Rouge auf. Man sieht mir nichts an, sagte sie sich immer wieder. Das gleiche blasse Gesicht, die gleichen Haare mit den kupferfarbenen Strähnen, die gleiche spitze, sommersprossige Nase. Die Augen wirkten vielleicht vom vielen Weinen und den schlaflosen Nächten noch ein wenig grüner, aber sonst war ihr äußerlich nichts anzusehen. Ihr Bauch war flach wie immer. Geistesabwesend berührte sie ihn mit der Hand. Dann schloß sie die Augen und versuchte, sich das winzige Lebewesen vorzustellen, das da in ihrem Bauch herumschwamm. Ein Baby. Das Baby von ihr und Brian. Nein. Nur ihres. Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen.

Wieso hatte Brians Reaktion sie so überrascht? Es war doch gerade seine kindlich genießerische Lebenseinstellung, die sie von Anfang an so fasziniert hatte. Sie war es damals so leid gewesen, immer vernünftig und verantwortungsbewußt zu sein. Sie hatte genug davon, immer alles im Voraus zu planen und sich über mögliche Folgen den Kopf zu zerbrechen. Als ihre Mutter starb, war Erica gerade zwölf Jahre alt gewesen. Danach war ihr Leben viel zu ernst, zu beengend und kompliziert gewesen. Sie nahm für ihre drei jüngeren Geschwister so viel Verantwortung auf sich wie eine Erwachsene. Die Haushälterinnen, die ihr Vater einstellte, konnten das Bedürfnis der Kinder nach mütterlicher Zuwendung nur in sehr geringem Maß erfüllen. Als Ericas Vater schließlich zum zweiten Mal heiratete, waren auch die letzten Hoffnungen, daß sie je wieder eine wirkliche Mutter bekommen würde, zunichte gemacht. Monika, ihre Stiefmutter, war zwar eine intelligente, witzige, charmante, starke und abenteuerlustige Frau. Sie verfügte also über eine Menge guter Eigenschaften, aber man hätte ihr bestimmt nicht nachsagen können, sie sei mütterlich. Monika übernahm die Rolle einer wohlmeinenden älteren Schwester und war stets lustig und ausgelassen. Aber Erica wurde das Gefühl nicht los, daß mit Monika ein viertes Kind in die Familie gekommen war, auf das sie aufpassen mußte.

Das Leben mit Brian war vollkommen anders. Seine Welt war eine Märchenwelt in Cinemascope. Eine zauberhafte Welt mit außerirdischen Wesen, aufregenden Weltraumexpeditionen und glanzvollen Premieren. Brians erstes Filmprojekt war ein Kassenknüller, der als zeitgenössischer Peter Pan hochgejubelt wurde. Der Film spielte über fünfzig Millionen Dollar ein und machte aus dem bis dahin fast völlig unbekannten Brian den neuen Wunderknaben der Filmbranche. Mittlerweile standen Brian auf dem Gelände von Continental Films eigene Büros und Tonstudios zur Verfügung.

Erica begegnete Brian zum ersten Mal, als sein Agent mit einem Redakteur von Prescott Press Kontakt aufnahm. Es ging um die Romanfassung von Brians Film. Mel übertrug Erica das Projekt. »Brian Bregman ist eine sichere Sache«, betonte er. »Gib ihm bloß keinen Korb.«

Ein prophetischer Satz. Das erste Treffen der beiden war noch nicht vorüber, da hatte Brian Erica schon um den Finger gewickelt. Er verkörperte für sie all das, was ihrem eigenen Leben fehlte. Zwei Wochen später zog sie zu ihm in sein Penthouse an der Eastside. Nach einem Monat hatte sie die Zeit vor Brian bereits vergessen und konnte sich ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen. Er war humorvoll, spontan und sprühte vor Ideen. Was konnte man sich mehr erträumen? Wenn Erica jetzt auf diese Zeit zurückblickte, kam ihr die ganze Episode vor wie das Drehbuch zu einer romantischen Komödie ohne Happy-End. Und sie hatte die Hauptrolle spielen dürfen.

»Greenwich ... Greenwich Station ...« ertönte die Stimme des Schaffners. Erica zog ihre Reisetasche von der Gepäckablage herunter. Noch einmal musterte sie prüfend ihr Spiegelbild im Abteilfenster. Man sah ihr nichts an. Sie war unverändert – äußerlich jedenfalls.

Erica schleppte ihre Habseligkeiten die Bahnhofstreppe hinunter und stellte sich unter die unbeleuchtete Markise eines Kinos. An der Kasse stand eine platinblonde Frau, kaute Kaugummi und blätterte im Enquirer. Eine bucklige Alte mit langen silbergrauen Zöpfen und einer verblichenen, beigen Wollmütze auf dem Kopf trottete an Erica vorüber; ihren gesamten weltlichen Besitz zog sie in einem verrosteten Einkaufswagen hinter sich her. An der Straßenecke stand eine Gruppe Jugendlicher, die Eis aßen. Sie schubsten einander freundschaftlich herum. Es roch nach Flieder und frisch gebackenem Brot.

Ein schwarzer Bentley, der von einem Chauffeur gesteuert wurde, bog um die Ecke und hielt direkt vor Erica. »Miß Phillips?« fragte eine Männerstimme aus dem Fond.

»Ja. Sind Sie Mr. Hemphill?«

»Es tut mir so leid, daß ich mich verspätet habe. Der Verkehr war einfach entsetzlich.«

Erica betrachtete die fast ausgestorbenen Straßen und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. ›Entsetzlich‹ war wohl etwas übertrieben. »Das ist nicht so schlimm. Ich bin auch erst vor ein paar Minuten angekommen.«

Der Chauffeur lud Ericas Gepäck in den Kofferraum, und Erica setzte sich zu Hemphill auf den Rücksitz. Dieser begrüßte sie mit einem feuchten, schlaffen Händedruck und dem angestrengten Lächeln eines Menschen, dem Fröhlichkeit fremd ist. »Herzlich willkommen, Miß Phillips. Ich freue mich außerordentlich, daß Sie gekommen sind.« Sein hellbeiger, schlechtsitzender Leinenanzug ließ seine Haut milchig blaß erscheinen; seine Augen waren hinter einer Sonnenbrille mit Spiegelgläsern verborgen. Er trug ein bleistiftdünnes Schnurrbärtchen und auf dem Kopf ein billiges, schwarzes Toupet. »Tessa ist ganz außer sich vor Begeisterung über Ihr Kommen. Ich habe sie seit Beginn ihrer unglückseligen Krankheit nicht mehr so lebhaft gesehen. Das ist ganz gewiß ein gutes Zeichen.«

»Ich kann es kaum erwarten, Ihre Frau zu begrüßen, Mr. Hemphill. Sie ist meine Lieblingsschriftstellerin.«

»Ich freue mich, das zu hören, Miß Phillips. Es ist wichtig, daß Tessa dazu ermuntert wird weiterzuarbeiten, auch wenn sie noch nicht wieder ganz gesund ist. Das ist die schwere, aber lohnende Aufgabe, die jedem wirklich großen Geist auferlegt ist.«

»Ich werde bestimmt mein Bestes tun. Aber ich muß zugeben, daß es mir nicht leichtfällt, den Platz einer Autorin einzunehmen – vor allem, wenn es sich um eine so bedeutende Schriftstellerin handelt wie Ihre Frau.«

»Nun, nun, meine Liebe. Falsche Bescheidenheit möchte ich vergleichen mit einem störenden Dornenkranz um eine zarte Blume – sie ist vollkommen überflüssig, das können Sie mir glauben. Ihre Referenzen sind tadellos, und Ihr Mr. Underwood hat immer wieder ausdrücklich betont, wie gut Sie sich in Tessas Arbeit auskennen. Sie sind, so hat er mir versichert, eine Expertin auf diesem Gebiet. Genau eine solche Person haben wir gesucht. Wir freuen uns schon jetzt auf die Früchte Ihrer Bemühungen.«

Erica mußte ein Grinsen unterdrücken. Hemphills Sprache wirkte wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, und seine Gesten waren so ausladend und bombastisch wie die eines Schmierenkomödianten. Er kam Erica wie eine Parodie vor – sie wußte nur nicht, wovon.

Entspannt lehnte sie sich zurück. Der Bentley hatte weiche, dunkelrote Ledersitze, von denen ein warmer, holzartiger Geruch ausging. Durch die getönten Fensterscheiben sah Erica, wie sie das Stadtzentrum verließen und auf einer engen, kurvenreichen Straße nach Norden fuhren. Die adretten viktorianischen Häuschen der Innenstadt wichen großzügig angelegten modernen Bauwerken mit Fassaden aus Zedernholz und breiten Glasfronten. Die Gebäude wurden zusehends prunkvoller, je weiter man sich vom Stadtzentrum entfernte. Sie sah Tudor-Villen und efeubewachsene Bauten im Kolonialstil der Südstaaten, Gebäude, die den Baustil der Nordstaaten nachahmten, und große Backsteinhäuser, wie man sie aus Georgia kannte. In einem ausgedehnten, rosa getünchten Häuserkomplex mit Schieferdach hätte man bequem die gesamte Einwohnerschaft eines mexikanischen Dorfes unterbringen können. Obwohl die Villen immer weiter von der Straße zurückwichen, erspähte Erica eine verblüffend ähnliche Nachbildung des Weißen Hauses und kurz danach das Ebenbild der New York Public Library samt den großen steinernen Löwen und der gewaltigen Vortreppe. Schließlich verschwanden die Gebäude ganz hinter uralten, dichten Nadelbäumen und kunstvollen Zäunen.

Der Wagen bog jetzt scharf rechts von der Hauptstraße ab und schlängelte sich durch ein Labyrinth schmaler, kurviger Sträßchen, in denen Erica ganz die Orientierung verlor. Gewaltige Bauwerke blickten streng und unnahbar auf die weitgehend verwaisten Straßen herab.

Erica bekam nur selten einen Menschen zu Gesicht. Ein rotes Oldtimer-Cabrio brauste an dem Bentley vorbei; das Pärchen in seinem Innern hielt sich so eng umschlungen, daß man sie von weitem für einen einzigen Menschen mit zwei Köpfen halten konnte. Ein alter Mann bearbeitete mit einem Rechen in aller Ruhe den gepflegten Rasen vor einem elektronisch gesicherten Tor. Ein Polizist, der im Privatauto seine Runde durch den Bezirk fuhr, tippte im Vorbeifahren grüßend an die Mütze. Erica hatte den Eindruck, als sei man in dieser Wohngegend ängstlich darauf bedacht, den Rest der Welt auf Distanz zu halten. Man wollte unter sich bleiben.

Sie versuchte, im Vorüberfahren die verschnörkelten Namenszüge auf den Messingschildern zu entziffern. »Bolton, Silver Meadows«, stand auf einem. »The Hillards at the Elms«, »Van Aken – The Mill«. Jedes dieser Grundstücke hatte seinen eigenen Namen und wohl auch seine eigene Geschichte. Erica mußte daran denken, daß auch sie bald in einer ähnlichen Villa wohnen würde, wenn auch nur vorübergehend. Anscheinend hielten sich in ihrem Leben die schlechten Scherze und die unverhofften Überraschungen die Waage.

»Wir sind da«, verkündete Hemphill endlich.

Sie bogen in eine lange Privatstraße ein. An der Abzweigung sah Erica eine verwitterte Bronzetafel, einen verbeulten Briefkasten und zwei Torpfosten. Der Weg war uneben und voller Schlaglöcher, so daß sie nur sehr langsam fahren konnten. »Eine Menge Arbeit ist hier vonnöten«, bemerkte Hemphill, als habe er Ericas Gedanken erraten. »In früheren Zeiten war dies eines der prächtigsten Grundstücke der Gegend. Aber der Eigentümer ließ den Besitz verkommen, und schließlich wurde er zur Pfändung ausgeschrieben. Tessa faßte gleich eine große Zuneigung zu dem Anwesen. Sie besitzt einen sicheren, unbestechlichen Geschmack; davon werden Sie sich selbst überzeugen können. Und mit ihrem unwiderstehlichen Charme überzeugte sie mich, das Grundstück bei der Versteigerung zu erwerben, welche kurz vor ihrer Erkrankung stattfand. Wir haben bereits große Pläne für die vollständige Wiederherstellung des Anwesens.«

Jetzt verdunkelte sich Hemphills Gesicht plötzlich, und seine Finger trommelten nervös auf die lederne Armlehne. Das Verhalten dieses Mannes erinnerte Erica an den Himmel über dem Meer, der eben noch klar und friedlich ist, und an dem im nächsten Moment drohende graue Wolken aufziehen.

»Die Gegend hier gefällt mir sehr gut. Ich war noch nie in Greenwich.« Brian hatte immer davon geredet, im Frühling einmal ein Picknick in New England zu veranstalten, aber daraus würde ja nun nichts mehr werden.

»Green Witch, die grüne Hexe«, stieß Hemphill hervor. »Der Dämon der Habgier wohnt in ihrem niederträchtigen Busen. Die gesamte ländliche Gemeinde eilt herbei, um sich hier gütlich zu tun. Wie Kinder, die nach langer Not am Verhungern sind.«

Erica überlief es kalt bei Hemphills Worten. »Wie Sie das sagen – es klingt richtig beängstigend.«

»Wirklich?« Hemphill ließ ein trockenes Kichern vernehmen. »Sie dürfen meine harmlosen Bemerkungen nicht falsch interpretieren, meine Liebe. Das wäre ein schwerwiegender Fehler.«

Sie fuhren jetzt durch immer dichter werdendes Gestrüpp, durch düsteres Blattwerk, das kein Tageslicht durchließ, vorbei an herabbaumelnden Rankengewächsen und wuchernden Brombeerhecken. Die dornigen Äste streiften die Seiten des Bentleys mit einem so seltsamen und bedrohlichen Geräusch, daß Ericas Körper sich angstvoll verkrampfte. Im trügerischen Dämmerlicht waren die Brombeerranken wie unzählige lange Hexenfinger, deren dornenbewehrte Krallen ihr heimtückisch auflauerten. Du bist albern, Erica, schalt sie sich selbst. Du mußt lernen, deine Phantasie im Zaum zu halten, sonst geht sie noch mit dir durch.

»Die Nachricht von Miß Bricklins Schlaganfall hat mich sehr erschüttert«, sagte sie, um auf andere Gedanken zu kommen. »Wie geht es ihr denn jetzt?«

»Ihre rechte Seite ist gelähmt, natürlich nur vorübergehend. Ihre Gesichtszüge sind leicht entstellt – ebenfalls nur vorübergehend. Doch Tessa leidet sehr darunter – aus Eitelkeit, wie ich fürchte. Aber eine Frau, die so hübsch ist wie Tessa, hat wohl ein Anrecht auf eine solche kleine Schwäche. Trotzdem ist diese Schwäche unter den gegebenen Umständen recht belastend, denn eine Zeitlang wollte Theresa überhaupt keinen Besuch empfangen. Meine liebe, gesellige Frau spielte trotz all meiner leidenschaftlichen Überredungsversuche die Einsiedlerin. Wir haben zweifellos eine harte Zeit hinter uns. Jedoch leidet Theresa wohl am meisten unter einem anderen Problem: Noch immer kann sie sich kaum verständlich machen. Eine grauenvolle Ironie des Schicksals, daß so etwas ausgerechnet eine Frau wie Tessa trifft. Worte sind ihr Leben, sie sind die Fenster zu ihrer zarten Seele. Natürlich wird es besser werden ... irgendwann. Aber das braucht eben seine Zeit.« Hemphill sprach ruhig und bedächtig, rang dabei aber unablässig die Hände.

Erica schauderte. »Es muß wirklich furchtbar für sie sein, daß sie ihre Gedanken nicht äußern kann.«

»Ja. Es ist sehr frustrierend für sie. Aber man darf sie deswegen nicht verhätscheln. Auf gar keinen Fall. Das ist äußerst wichtig, verstehen Sie mich? Ich werde es nicht zulassen!« Hemphills Stimme überschlug sich, sein Gesicht lief rot an, und er preßte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Erica konnte in den Gläsern seiner Brille ihr eigenes erschrockenes Gesicht erkennen. »Tessas Geist muß genährt und angespornt werden. Durch tägliche Arbeit und konsequentes Training wird sie wieder gesund werden. Dafür werde ich sorgen.« So rasch sein Ärger aufgeflammt war, begann er sich auch wieder zu legen, bis auf seinem Gesicht nur noch ein verbindliches Lächeln zu sehen war.

»Sicher haben Sie recht, daß Disziplin bei jedem Heilungsprozeß eine gewisse Rolle spielt«, brachte Erica mühsam heraus.

»Sie müssen mich Goody nennen, das ist eine Abkürzung für Goodwin. Ich weiß, gemeinsam werden wir beide viel erreichen – Sie und ich.«

»Und Theresa«, fügte Erica schnell hinzu.

»Natürlich. Und Theresa.«

Der Bentley fuhr jetzt durch ein reich verziertes schmiedeeisernes Tor, das jedoch an manchen Stellen schon fast durchgerostet war. Sie erreichten eine schäbige, kreisförmig angelegte Auffahrt, die mit Ziegelsteinen eingefaßt war. Vor ihnen ragte das Hauptgebäude auf, ein massiver Steinbau, umrankt von Efeu und ungepflegten Weinreben. Ein steinerner Brunnen stand davor, er war rissig und wurde offenbar als Abfalleimer für trockenes Laub und Zigarettenkippen mißbraucht. Auf den ehemaligen Zierbeeten wucherte das Unkraut. Risse durchzogen die Bleiverglasungen der schweren Mahagonitür, und ein großer Türklopfer aus matt gewordenem Messing hing seltsam schief an einem einzigen, rostzerfressenen Nagel. Alles wirkte ziemlich heruntergekommen und vernachlässigt.

Erica stand im Schatten der düsteren Hausfront und fröstelte. »Ich komme mir vor wie in einem mittelalterlichen Schloß«, bemerkte sie.

»Sie messen Äußerlichkeiten zu viel Bedeutung bei, meine Liebe. Das ist eine verhängnisvolle Neigung, und Sie täten gut daran, diese zu korrigieren.«

Erica unterdrückte den Ärger, der in ihr hochstieg. Sie durfte das gar nicht beachten. Dieser Mann war ein Sonderling, weiter nichts. Ein wetterwendischer, launenhafter Kauz. Sie war schon mit viel Schlimmerem fertig geworden – zuletzt mit einem sturen, egozentrischen Liebhaber. Jedenfalls hatte sie hier Wichtigeres zu tun, als sich über Hemphills unberechenbare Persönlichkeit und seine ungebetenen Kommentare zu ärgern.

»Nun kommen Sie schon, Erica«, drängte er in einem Ton, als sei Erica ein Kind, das auf dem Weg zur Schule trödelte. »Es gibt viel zu tun.«

Kapitel 3

Ein gebeugter alter Mann mit einem blassen, ausdruckslosen Gesicht nahm Ericas Gepäck. Mit langsamen, schleppenden Schritten tappte er um den Wagen herum, um für Erica und Hemphill die Tür zu öffnen, dann schlurfte er wieder ins Haus. Erica schüttelte den Kopf. »Ihr Angestellter macht den Eindruck, als müßte eigentlich er bedient werden.«

»Dieser Mann ist ausgesprochen tüchtig, das können Sie mir glauben«, wehrte Hemphill entrüstet ab. »Es ist heutzutage so nervenaufreibend, gutes Personal zu finden. Das Alter ist hier wirklich irrelevant.«

»Selbstverständlich. Ich wollte nur einen Scherz machen.«

»Offenbar schaffen Sie es, auch in den abwegigsten Situationen noch ein Fünkchen Humor zu entdecken«, seufzte Hemphill. »Vielleicht ist das in unserer unsteten Zeit ja tatsächlich von Vorteil.«

»Ich finde eben, man sollte die Dinge nicht allzu ernst nehmen, wenn es nicht unbedingt sein muß.«

»Vielleicht färbt etwas von dieser unbeschwerten Lebenseinstellung auf mich ab, meine Liebe. Ich gestehe, daß ich eher eine Veranlagung zum Grübeln habe.«

»Wir sind eben so, wie wir sind, Mr. Hemphill.« Erica folgte dem Hausdiener durch mehrere schwere Holztüren zu einer Eingangshalle mit marmornem Fußboden. Die Wände waren mit einer verblichenen Stofftapete verkleidet, und überall hingen dilettantisch gemalte überdimensionale Porträts finster dreinblickender Ahnen. Anscheinend neigte der Hemphill-Clan zu gedrungenem Körperbau, säuerlichem Gesichtsausdruck und kleinen, krummen Händen.

»Ja, meine Liebe«, nahm Hemphill das Gespräch wieder auf, »wir sind tatsächlich so, wie wir sind, obgleich das durchaus nicht immer des Schicksals letzter Ratschluß sein muß. Es ist ein weit edleres Bestreben, das Beste aus seinem Leben zu machen, als über die Gaben eines launenhaften Schicksals zu jammern und zu klagen.«

Im Innern des Hauses war es düster und muffig. Sicher, alles sehr erlesen eingerichtet: robuste alte Möbel, abgetretene orientalische Läufer, edle Wandteppiche, riesige Kristalllüster. Aber die ganze Pracht machte einen heruntergekommenen und verwahrlosten Eindruck. Sie war bestenfalls ein trauriger Abklatsch der Eleganz, die diese Stücke einmal besessen hatten, bevor ihr Glanz verblaßt und die reich verzierte Uhr aus Großvaters Zeiten an irgendeinem längst vergangenen Tag um neun Uhr zweiundzwanzig stehengeblieben war. Diese Atmosphäre vergangener Noblesse war so erstickend, daß Erica den Drang verspürte, die schweren zugezogenen Vorhänge herunterzureißen und die Fenster weit zu öffnen.

»Es ist wahrhaftig eine Schande, daß die früheren Eigentümer diesen herrlichen Besitz derart haben herunterkommen lassen«, seufzte Goody. »Ich mußte Dutzende von Handwerkern einstellen, um die schlimmsten Schäden auszubessern, bevor mit den Renovierungsarbeiten begonnen werden konnte. Mittlerweile habe ich den Ostflügel des Gebäudes ganz absperren lassen. Ich muß Sie warnen: Gehen Sie lieber nicht dorthin. Der Fußboden ist nicht mehr stabil genug, fürchte ich, und Sie könnten dort böse verunglücken. Momentan habe ich mein Atelier in einer der Stallkammern untergebracht. Die Malerei ist mein schlimmstes Laster, fürchte ich.«

»Vor dem Tod meiner Mutter habe ich auch ein wenig mit Wasserfarben gemalt.«

»Dann müssen Sie unbedingt wieder damit anfangen, meine Liebe. Man muß alle Fähigkeiten ausnutzen, die einem gegeben sind.«

Alle Fähigkeiten, die man besitzt, dachte Erica. Auch diejenigen, die einem bedrohlich und problematisch erscheinen. »Sie haben sicher recht, Mr. Hemphill. Goody, wollte ich sagen.« Der Vorname hinterließ einen komischen Geschmack auf Ericas Zunge, aber immerhin hatte sie jetzt eher das Gefühl, mit ihm auf der gleichen Stufe zu stehen. »Würden Sie mir bitte mein Zimmer zeigen? Ich möchte gern meine Sachen auspacken und mich ein wenig frisch machen.«

»Aber selbstverständlich. Mrs. Ohringer wird Sie zu Ihrem Zimmer bringen.« Hemphill bewegte fast unmerklich den Fuß, und schon erschien eine dicke Frau mit einem Vollmondgesicht und wasserstoffblondem Haar. Sie trug eine gestärkte Uniform mit einer weißen Schürze. »Bitte, Sir?«

»Zeigen Sie bitte Miß Phillips ihr Zimmer, Mrs. Ohringer. Und sorgen Sie dafür, daß sie sich wohl fühlt«, sagte Hemphill und fügte, zu Erica gewandt, hinzu: »Wir nennen das Zimmer übrigens ›Der gefallene Engel‹.«

»Der gefallene Engel? Das ist einer meiner Lieblingsromane«, rief Erica überrascht. »Sind alle Räume nach den Werken von Theresa Bricklin benannt?«

Hemphill nickte bestätigend. »Alle Schlafzimmer. Das Kind Salomos, Der Schuldner, Belinda und so weiter. Aber es bleibt nicht bei dem Namen, meine Liebe. Wenn ein Zimmer in seinen ursprünglichen gepflegten Zustand zurückversetzt worden ist, bemühen wir uns, es nach der Stimmung des jeweiligen Romans zu gestalten. Das ist eine Aufgabe, die uns viel Vergnügen bereitet. Außerdem ist es eine angemessene Huldigung gegenüber dem Genius meiner lieben Frau, die ganz gewiß eine wohltätige Wirkung auf Tessas Stimmung ausübt. Und dies wiederum könnte ihre Genesung befördern.«

Seltsam, dachte Erica. Unter den Werken von Theresa Bricklin gab es kein einziges, nach dem sich ein angenehmer und gemütlicher Raum gestalten ließe. Ihre Romane waren faszinierend, aber alles andere als beruhigend. Sie stieg hinab in die Abgründe des nackten Entsetzens und versuchte, das Böse in seiner grausamsten, widerwärtigsten Form zu gestalten. Sie beschrieb die verstörendsten Aspekte der menschlichen Natur; besinnungslose Wut, blinden Haß, Mord um des Mordens willen.

Das Haus war ein Labyrinth aus Treppen und Gängen. Erica folgte Mrs. Ohringer durch eine Reihe finsterer Korridore und mußte eine ganze Menge Treppen hinauf- und hinuntersteigen. »Ich glaube, hier brauche ich eine Landkarte.«

»Ja, unglaublich, nicht wahr?« bestätigte Mrs. Ohringer. »So ein Haus ist mir noch nie untergekommen. Man geht jeden Tag so viele Treppen rauf und runter, daß einem abends fast die Füße abfallen.« Erschrocken hielt sie sich den Mund zu. »Ich sollte wahrscheinlich lieber die Klappe halten. Geht mich ja schließlich nichts an. Tut mir leid. Bitte sagen Sie Mr. Hemphill nichts. Mein Job hier ist wirklich okay. Philly würde mich umbringen, wenn man mich wegen meinem vorlauten Mundwerk an die Luft setzt.«

»Keine Sorge, ich spioniere nicht für Ihre Arbeitgeber. Sie haben völlig recht: Es gibt wirklich eine Unmenge Treppen hier.«

»Ja. Gott sei Dank hat man wenigstens ein paar Zimmer absperren lassen.« Mrs. Ohringer deutete auf einen mit Brettern abgeriegelten Gang, der links von Erica abzweigte. »Man kommt sich vor wie in irgendeinem riesengroßen alten Hotel. Ich hab es schon ein paarmal versucht, die Zimmer zu zählen, aber schon nach den ersten zwanzig bin ich völlig durcheinandergekommen. Unglaublich, was manche Leute alles besitzen, wo anderen gerade bloß die Kleider gehören, die sie auf dem Leib tragen. Und manchmal nicht mal das. Komisch, daß die beiden ganz allein hier in diesem alten Gemäuer hausen. Ich hab schon zu Philly gesagt, sie könnten doch auch ein paar Räume vermieten.«

»Natürlich.«