House on the Hill - Judith Kelman - E-Book
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House on the Hill E-Book

Judith Kelman

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Beschreibung

Ihre Flucht führt sie mitten in die größte Gefahr ... Der psychologische Thriller »House on the Hill« von Judith Kelman jetzt als eBook bei dotbooks. Die kleine Abigail ist verzweifelt: Ein böser Mann zwingt sie immer wieder zu Dingen, die sie quälen und erniedrigen – aber weil jeder in der Kleinstadt Dove's Landing ihn als respektablen Bürger kennt, will niemand ihr glauben, nicht einmal ihre eigene Familie. Als er immer Schlimmeres von ihr verlangt, reißt Abigail aus. Aber ihr Peiniger hat sein Netz bereits gesponnen und die einzige Zuflucht, die Abigail findet, ist das alte Haus auf dem Hügel, das seit Jahren leer steht. Doch nun hat es einen neuen Bewohner – und wird für Abigail zu einer tödlichen Falle ... »Judith Kelman fesselt von der ersten bis zur letzten Seite!« Bestsellerautor Dean R. Koontz Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende Thriller »House on the Hill« von Judith Kelman wird Fans von Joy Fielding und Harlan Coben das Fürchten lehren! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 526

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Über dieses Buch:

Die kleine Abigail ist verzweifelt: Ein böser Mann zwingt sie immer wieder zu Dingen, die sie quälen und erniedrigen – aber weil jeder in der Kleinstadt Dove's Landing ihn als respektablen Bürger kennt, will niemand ihr glauben, nicht einmal ihre eigene Familie. Als er immer Schlimmeres von ihr verlangt, reißt Abigail aus. Aber ihr Peiniger hat sein Netz bereits gesponnen und die einzige Zuflucht, die Abigail findet, ist das alte Haus auf dem Hügel, das seit Jahren leer steht. Doch nun hat es einen neuen Bewohner – und wird für Abigail zu einer tödlichen Falle ...

»Judith Kelman fesselt von der ersten bis zur letzten Seite!« Bestsellerautor Dean R. Koontz

Über die Autorin:

Mit mehr als zwei Millionen verkauften Exemplaren ihrer Bücher ist Judith Kelman eine Meisterin der psychologischen Spannung. Sie wurde für ihren Thriller »Fürchte dich vor mir« mit dem Mary Higgins Clark Award ausgezeichnet und war Vorsitzende der Mystery Writers of America. Sie lebt in New York City.

Judith Kelman veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Thriller um Rechtsanwältin Sarah Spooner mit den Bänden »Wo das Dunkel herrscht« und »Wenn die Unschuld stirbt« sowie die Standalone-Thriller »Schrei, wenn du kannst« und »The Black Widow«.

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eBook-Neuausgabe Februar 2024

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1993 unter dem Originaltitel »The House on the Hill«. Die deutsche Erstausgabe erschien 1993 unter dem Titel »Das Haus auf dem Hügel« bei Goldmann.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1993 by Judith Kelman

Published by arrangement with Peter Lampack Agency, Inc. 350 Fifth Avenue, Suite 5300, New York, NY 10118 USA

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1993 by Wilhelm Goldmann Verlag, München

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/sumroeng chinnapan, Patrick Jennings, Iknatovich Maryia und AdobeStock/latypova

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-98690-921-5

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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In diesem eBook begegnen Sie möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. Diese Fiktion spiegelt nicht unbedingt die Überzeugungen des Verlags wider.

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Judith Kelman

House on the Hill

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Christine Strüh

dotbooks.

Für meinen Schatten-Zwilling

Kapitel 1

Der hellbraune Lieferwagen näherte sich dem Waldorf-Astoria.

Aus dem Schatten eines alten Ahornbaums heraus beobachtete Abigail Eakins, wie der Laster über ein Schlagloch der schmalen, ungeteerten Zufahrtsstraße holperte, schaukelnd die Brücke überquerte und am Gartentor haltmachte.

Der Fahrer, ein untersetzter Mann mit einer Baseballmütze, stieg aus. Abigail kannte ihn nicht, aber er war gekleidet wie die meisten Männer der Gegend: Jeans, kariertes Flanellhemd, beige Daunen weste. An seinen Stiefeln klebte eine dicke Schlammschicht – typisch für den Frühling in Vermont.

Nach kurzem Zögern trat der Mann durch das Tor und ging mit bedächtigen Schritten auf das Haus zu. Schließlich blieb er stehen, ein paar Meter vor der Hecke, die das verwitterte, im Kolonialstil erbaute Haus umgab. In dem breiten Erkerfenster des Waldorf spiegelte sich die Gestalt des Mannes als zersplittertes Puzzle.

Abigail konnte sehen, wie sich sein Mund bewegte, aber der Wind verschluckte seine Worte. Ein paar Sekunden später zog er zwei zerknüllte Papierstücke aus der Jackentasche, ließ sie auf den Boden fallen und marschierte zurück zu seinem Wagen. Dann sprang der Motor an, und der Lieferwagen bretterte los, so daß der Schotter zur Seite wegspritzte.

Es war wieder alles ruhig. Die gleiche düstere, abweisende Atmosphäre wie vorhin. Angeblich spukte es in dem alten Gebäude, aber Abigail wollte sich davon nicht einschüchtern lassen. Soweit sie wußte, diente das Haus in erster Linie als Unterschlupf für Jugendliche und als Müllplatz für gedankenlose Erwachsene wie diesen Mann mit seinem Lieferwagen. Sie hatte sämtliche Fluchtmöglichkeiten genau durchdacht und war zu dem Schluß gekommen, daß das Waldorf ihre beste Chance darstellte.

Abigail wartete, bis sie sicher sein konnte, daß der Lieferwagen nicht zurückkam. Sie mußte unbemerkt in das Haus schleichen, dann könnte niemand sie finden und überreden, ins Hotel zurückzugehen.

Nie wieder wollte sie dort auch nur einen Fuß hineinsetzen! Noch immer trieb es ihr das Blut in den Kopf, wenn sie daran dachte, was sie alles erlebt hatte. Und sofort spürte sie, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.

Wenn Mom bloß nicht diesen Charlie Brill geheiratet und sie gezwungen hätte, in dieses Kuhdorf zu ziehen. Wenn sie doch noch in Manhattan wohnen würden, wo Abigails Schule war, ihre Freunde und ihre Gymnastikgruppe und überhaupt ihr normales Leben.

Sie wurde richtig wütend, wenn sie an die Märchen dachte, die Mom ihr über Vermont erzählt hatte. Und darüber, wie wunderbar es sein würde, wenn sie im Hotel der Brills wohnten.

Abigail hatte den leeren Versprechungen geglaubt. Nach der Hochzeit von Mom und Charlie vor etwa vier Monaten hatte sie sich alle erdenkliche Mühe gegeben, sich einzuleben. Eine Weile hatte sie tatsächlich geglaubt, die Situation sei ausbaufähig.

Anfangs fand sie die meisten ihrer neuen Familie ganz nett, allen voran Großmama Brill, die Mim genannt wurde, und ihre Cousine Stephanie, die wirklich unglaublich nett war, offen und kein bißchen hochnäsig.

Eigentlich waren Mims geduldige Lektionen in Gärtnerei, Kochkunst und Blumenbinden immer ganz lustig gewesen: Aus Radieschen wurden Rosen und aus Rosen Radieschen. Überhaupt war nichts unmöglich, man mußte es nur wollen, predigte Mim. Niemand konnte einen zwingen, sich mit etwas abzufinden, das einem nicht gefiel.

Und Abigail wollte sich nicht abfinden. Sie hatte beschlossen, selbst den kühnen Sprung vom Radieschen zur Rose zu wagen. Stephanie, die schon beinahe sechzehn war, hatte ihr Nachhilfestunden in der Kunst des Schminkens und Frisierens gegeben. Stundenlang hockte sie neben Abigail vor dem Spiegel, um deren wasserblaue Augen mit einem dünnen braunen Stift und einem Hauch Wimperntusche besser zur Geltung zu bringen. Mit großer Fingerfertigkeit bändigte Stephanie Abigails hoffnungslos rotblonde Haarmähne zu einem makellosen französischen Zopf und zeigte ihr, wie sie Hüften und Schultern halten mußte, damit ihre Figur besser zur Geltung kam.

Solche Tipps schätzte Abigail sehr, auch wenn ihre Figur bisher nur hypothetisch vorhanden war. Wenn sie sich nackt im Spiegel betrachtete, sah sie eine Coladose mit Streichholzarmen und -beinen, und ihr Busen bestand aus zwei Mückenstichen. Das wäre noch entmutigender gewesen, hätte Stephanie ihr nicht gestanden, daß es bei ihr in dem Alter auch nicht mehr zu sehen gegeben hatte. Stephanie als Stiefschwester – das hätte Abigail fast mit dem Umzug nach Vermont versöhnt.

Dann fing es an.

Zuerst waren es nur Kleinigkeiten. Versteckte Drohungen. Sticheleien. Aber aus der Saat der Angst wurde mit der Zeit ein wahres Dornengestrüpp, in dem sie sich hoffnungslos verstrickte.

Dann kamen die geheimen Treffen. Er hatte so lange gewartet, bis sie völlig wehrlos war und ihr nichts anderes übrig blieb, als mitzumachen. Falls sie jemandem davon erzählte, drohte er, würde er einfach behaupten, die ganze Sache sei einzig und allein ihre Idee gewesen. Sogar beweisen konnte er es: Er hatte Bilder, auf denen sie lachte und offensichtlichen Spaß zeigte. Abigail wußte, daß sie nur aus Scham gelacht hatte, aus Scham und aus Angst. Doch wer würde ihr glauben, wenn ihr Wort gegen das Seiner Majestät stand? Niemand – da machte sie sich gar keine falschen Hoffnungen.

Niemand außer Daddy.

Obwohl er dauernd in der Weltgeschichte herumgondelte, mußte Daddy inzwischen wenigstens ein paar von ihren Briefen bekommen haben. Vielleicht war er schon unterwegs zu ihr?! Fast konnte sie sein herzliches Lachen hören und seinen singenden Tonfall, dem man immer noch anmerkte, daß er aus den Südstaaten stammte. »Bist du das wirklich, Abby Gail? Du bist schon wieder mindestens einen Meter gewachsen, Mädchen, garantiert. Komm her, damit ich dich mal ordentlich knuddeln kann.«

Bestimmt würde er jeden Moment in seinem schimmernden schwarzen Lincoln auftauchen, den Ellbogen lässig ins offene Wagenfenster gestützt, das kastanienbraune Haar vom Wind zerzaust. Bald würde er kommen, ganz bald.

Vom Waldorf konnte sie das Hotel gut überblicken. Wenn Daddy ankam, würde sie es sofort merken. Er würde sie von hier wegholen, fort von den widerlichen Hänseleien und den häßlichen Geheimnissen, die ihr die Brust zu fest zum Atmen verschnürten.

Den Gymnastikbeutel fest unter den Arm geklemmt, spähte Abigail angestrengt zur Straße. Der Lieferwagen war längst in einer Staubwolke verschwunden. Kein Auto in Sicht, kein Laut zu hören, nur das Rauschen des Windes. Vom Straßenrand aus sah sie zum Hotel hinunter. Um diese Zeit war das gesamte Personal in der Küche oder in einem der drei Speiseräume beschäftigt, denn um halb sieben kamen die ersten Gäste zum Abendessen. Selbst in der verregneten Vorfrühlingszeit, wenn die meisten Gästezimmer leer standen, war das Vier-Sterne-Restaurant der Brills Abend für Abend ausgebucht. Der beste Zeitpunkt, um unbemerkt zu verschwinden.

Abigail holte tief Luft und rannte über die Straße, mit den graziösen Bewegungen einer durchtrainierten Sportlerin, leichtfüßig und sicher. Auf der anderen Straßenseite duckte sie sich unter die Büsche und lief gebückt den kurvigen Waldweg zu der überdachten Brücke. Ihr roter Nylonanorak raschelte bei jedem Schritt wie trockenes Herbstlaub.

Das Laufen hätte sie nicht angestrengt, aber die Verzweiflung bedrückte sie und zehrte an ihren Kräften. Als sie die Brücke überquerte, schlug ihr Herz wild; sie atmete flach und stoßweise. Ihr Gesicht war schweißnaß, das T-Shirt klebte feucht und kalt am Rücken. Jetzt verlangsamte sie ihre Schritte, ging zum Zaun des Waldorf hinüber, bückte sich und wollte unter ein paar verrotteten Latten durchschlüpfen. Ein plötzlicher Schmerz ließ sie zurückzucken.

Von den Strahlen der tiefstehenden Spätnachmittagssonne geblendet, hatte sie den grünen Draht nicht gesehen, der an die Zaunpfähle genagelt war. Sie stöhnte leise auf.

Noch vor knapp einer Woche war sie hier vorbeigeschlendert, während Mom für ihre Touristenbroschüre Fotos vom Waldorf gemacht hatte. Abigail war hundertprozentig sicher, daß es damals noch keinen Draht zwischen den Zaunpfosten gegeben hatte.

Wer mochte ihn angebracht haben? Und weshalb?

Es war jetzt nicht der richtige Moment, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Abigail warf ihren Gymnastikbeutel über den Zaun, sprang mit einem kräftigen Satz hinterher und landete sicher auf der anderen Seite. Nur wenige Schritte trennten sie noch von dem Haus. Am besten kletterte sie durchs Küchenfenster, dort würde niemand sie vermuten.

Plötzlich blieb sie stehen. Beunruhigt starrte sie auf das leerstehende Gebäude, die Hand beschattete die Augen, um das Blenden der Sonne zu mildern. Irgendetwas stimmte nicht.

Mechanisch registrierte sie die Veränderungen: Die verwilderte Wiese vor der Veranda war gemäht worden, jemand hatte die Treppe von den wuchernden Efeuranken befreit.

Aber da war noch etwas.

Eine innere Stimme drängte sie, so schnell wie möglich zu verschwinden. Die Augen immer noch gebannt auf das alte Haus gerichtet, zog sie sich Schritt für Schritt zum Zaun zurück. Irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht. Besser, sie würde woanders auf Daddy warten. Ihr würde schon etwas einfallen.

Nach ein paar Schritten drehte sie sich um, warf den Gymnastikbeutel über den Zaun und trat ein Stück zurück, um Anlauf zu nehmen. Ihr Herz pochte heftig. Bald wäre sie in Sicherheit.

Bevor sie zum Sprung ansetzen konnte, spürte sie hinter sich eine Bewegung. Sie wußte nicht, wie ihr geschah – Hunderte von Schlangenarmen packten sie gleichzeitig und verhinderten jede Gegenwehr.

Verzweifelt versuchte sie zu schreien, aber ein eiserner Würgegriff legte sich unerbittlich um ihren Hals und drückte zu.

Was für ein seltsames Gefühl. Ihr Kopf blies sich auf wie ein Luftballon. Ihre Gedanken verschwammen, die Angst verebbte. Das konnte nicht wahr sein – vielleicht träumte sie nur.

Ja, das mußte die Erklärung sein. Das Ganze war nichts weiter als ein häßlicher Traum. Gleich würde sie in ihrem Bett aufwachen, unter dem Spitzenbaldachin, müde und erschöpft von diesen schrecklichen Angstphantasien und eingebildeten Fluchtversuchen. Der Holzzaun löste sich auf. Die Pfosten schwebten auf den Schwingen des Windes wie Zauberteppiche davon.

Kampflos ergab Abigail sich dem Traum. Es waren Daddys Hände, die sie hielten, starke, schützende Hände. Noch einmal zwang sie sich, genauer hinzusehen, um über sich Daddys ozeangrüne Augen und sein liebevolles Gesicht zu entdecken.

Aber da war nur der Himmel, der langsam immer weiter in die Ferne rückte. Und die Sonne wurde schwarz wie der Tod.

Kapitel 2

Als Quinn Gallagher ihren Jeep durch das Tor lenkte, entdeckte sie sofort den Schatten hinter dem Wohnzimmerfenster. Reglos stand er da, die blinden Augen auf sie gerichtet; die Scheibe war beschlagen von seinem Atem.

Quinn sah schnell weg und versuchte, ihren Ekel abzuschütteln. Es war haargenau das gleiche Gefühl, das sie empfand, wenn ihr kleiner Bruder Brendon sie in die Reptilienabteilung der Zoohandlung in Rutland schleppte. Bren liebte Schlangen. Quinn war es, obwohl sie es ihrem Bruder zuliebe immer wieder versucht hatte, nicht gelungen, sich mit diesen kriechenden Kreaturen anzufreunden. Und außerdem fand sie, daß sie beruflich schon mehr als genug mit falschen Schlangen zu tun hatte.

Bei ihrem nächsten Blick zum Fenster war die Gestalt im Raum verschwunden. Dann konnte Quinn sehen, wie er zur Wand ging, umkehrte und langsam zum Fenster zurückkam. Sein Blindenhund, ein riesiger Schäferhund mit nebelgrauen Augen, folgte ihm wie ein Schatten.

Ein paar Minuten lang blieb Quinn in ihrem Jeep sitzen. Das war also der neueste Zuwachs ihrer Gruppe von auf Bewährung entlassenen Straftätern, für den man allerdings eine permanente polizeiliche Überwachung mit Hilfe eines ausgeklügelten computergesteuerten Sicherheitssystems angeordnet hatte.

Quinns Besuch sollte ihr ein etwas lebendigeres Bild von diesem Monster vermitteln, als die trockenen Fakten seiner Strafakte hergaben. Da sie Jahre mit ihm zu tun haben würde, interessierte es sie, nach welchen inneren Gesetzen dieser Mensch funktionierte und wo seine Probleme lagen.

Sein Name war Eldon Weir, auch bekannt als »Weird Ellie« – der perverse Ellie – oder Professor Qual. Vor ungefähr zwölf Jahren hatte Weir einen der brutalsten Morde der amerikanischen Geschichte begangen.

Quinn konnte sich noch erinnern, welchen Wirbel die Sensationspresse damals veranstaltet hatte. Eine Massenhysterie war ausgebrochen, bis Weir endlich dingfest gemacht werden konnte. Danach war der Professor rasch in Vergessenheit geraten – es gab genügend neue Greueltaten. Außerdem wurde die Öffentlichkeit in dem leider ungerechtfertigten Glauben gelassen, das Monster sei für immer hinter Gitter gewandert.

Heute morgen, als ihr Chef Jake Holland Quinn den Auftrag erklärte und ihr Weirs Akte in die Hand drückte, hatte sie zu ihrem Entsetzen erfahren, daß der Prozeß gegen Weir an einer Formalität gescheitert war. Die Anklagepunkte Entführung, Vergewaltigung und Mord waren bereits bei einer vorläufigen Vernehmung fallengelassen worden. So konnte man ihn nur vor Gericht stellen, weil im Computer durch Zufall ein schwebendes Verfahren gegen ihn wegen schwerer Körperverletzung auftauchte, worauf eine Höchststrafe von zwölf Jahren stand. Man hatte alle möglichen Hebel in Bewegung gesetzt, damit diese peinliche Geschichte nicht an die Öffentlichkeit drang. Doch an den Tatsachen ließ sich dadurch nichts ändern.

Durch die Fensterscheibe konnte Quinn den Professor betrachten: ein kräftiger, breitschultriger Mann, ein zerfurchtes Gesicht mit verbissenem Ausdruck, die Lippen nicht mehr als dünne Striche, tote Augen, die zu bedrohlichen Schlitzen zusammengekniffen waren.

Kein schöner Anblick.

Quinn rief sich ins Gedächtnis, daß sie nicht hier war, um einen Märchenprinzen zum Ball auszuführen. Sie mußte lediglich den Babysitter spielen, solange dieses Ungeheuer unter Überwachung stand.

Sie stieg gemächlich aus dem Jeep und inspizierte erst einmal das Gelände. Im Garten und dem seit langer Zeit leerstehenden Haus waren geringfügige, aber grundlegende Veränderungen vorgenommen worden. Den Steinweg hatte man repariert und begradigt, den verwilderten Rasen gemäht. Zerbrochene Fensterscheiben waren ersetzt worden, und den maroden Lattenzaun verstärkte ein grünes Drahtgeflecht, das Tiere und Kinder fernhalten sollte.

Falls doch jemand durchschlüpfte, geriet er ins Visier von vier versteckten Kameras, welche die Aufnahmen unmittelbar an das hundertfünfzig Kilometer entfernte Polizeihauptquartier in Burlington übertrugen. Von dort wurden dann sofort die örtlichen Polizeidienststellen verständigt.

Abgesehen von diesen rein praktischen Maßnahmen hatte man die Renovierung aufs Innere des Hauses beschränkt. Die Behörden waren angewiesen, auf eventuelle Nachfragen aus der Bevölkerung zu erklären, der Eigentümer des Gebäudes sei momentan anderweitig beschäftigt, lasse das Haus jedoch renovieren, um es später zu vermieten. Weirs Einzug sollte so unauffällig wie möglich ablaufen, denn man hoffte in den zuständigen Kreisen, daß Weir sich in die Idylle dieser Gegend einfügte, als sei er einfach einer jener exzentrischen Künstlertypen. Schließlich hatte niemand ein Interesse daran, die braven Bürger von Dove’s Landing in Panik zu versetzen – und wenn die Bevölkerung die wahre Identität ihres neuen Nachbarn erfuhr, gäbe es sicher einige Aufregung.

Die Hoffnung, daß Weir nicht weiter auffiele, war nicht unbegründet, denn ins ländliche Vermont zogen sich viele schrullige Einsiedler und menschenscheue »Künstler« zurück. Viele legten großen Wert auf Anonymität – aus Gründen, auf die ihre Mütter wahrscheinlich nicht besonders stolz gewesen wären.

Sechs Meter vom Haus entfernt, markierte eine für den Laien kaum sichtbare Anordnung dünner, mit Kabel verbundener Pflöcke die Grenze, innerhalb der Weir sich frei bewegen durfte. Den meisten Straftätern unter elektronischer Bewachung gewährte der Computer fünfzig Meter Bewegungsspielraum, wenn sie in einer eigenen Wohnung untergebracht waren. Und fast alle durften sich aus dem Blickfeld der Monitore entfernen, um arbeiten zu gehen und selbständig alltägliche Erledigungen zu machen. Weir war auch in dieser Hinsicht ein besonderer Fall.

Knapp einen Meter vor der ausgesteckten Grenzlinie blieb Quinn stehen. Hier war sie für den Professor außer Reichweite, denn Weir konnte die Linie nicht überschreiten, ohne im Hauptquartier Alarm auszulösen.

Aufmerksam betrachtete sie das Haus. Beamte, die einen Straftäter beaufsichtigten, durften keine Waffe tragen. Quinn blieb als Schutz nur ihre eigene Wachsamkeit. Je genauer sie sich die Einzelheiten von Weirs Umgebung einprägte, desto größer waren ihre Chancen, in gefährlichen Situationen die Kontrolle zu behalten.

Jetzt hörte man von innen den Hund bellen und an der Tür kratzen. Weird Ellie dagegen schien nicht so erpicht darauf, von Quinns Anwesenheit Notiz zu nehmen. Noch immer ging er ruhelos auf und ab. Bei jeder Runde machte er am Fenster halt und richtete seinen leeren Blick nach draußen.

»Mr. Weir. Ich bin Officer Gallagher von der Polizeiaufsicht«, rief Quinn. »Machen Sie bitte auf, ich möchte mit Ihnen sprechen.«

Es dauerte eine Weile, bis Weir in der Tür erschien, den Hund dicht neben sich. Ein abweisendes, trotziges Gesicht über einem weiten, schwarzen Hemd, die langen dunklen Haare im Nacken zusammengebunden, ein rubinroter Ohrstecker im linken Ohrläppchen. Am rechten Handgelenk trug er das schwarze Plastikarmband, das ihn elektronisch mit der Computerzentrale in Burlington verband.

»Ich bin Ihre Bewährungshelferin vom hiesigen Revier«, erklärte Quinn. »Von jetzt an werde ich Sie regelmäßig besuchen, manchmal auch unangekündigt. Ich bringe Ihnen auch Ihre Lebensmittel, und was Sie sonst so brauchen. Heute will ich mich erst mal nur vorstellen und mich vergewissern, daß Sie über die Bedingungen informiert sind, unter denen Sie aus dem Gefängnis entlassen worden sind.«

»Oh, sehr erfreut«, säuselte Weir. »Treten Sie näher. Lassen Sie mich Ihr Gesicht fühlen.«

Seine Stimme klang durchdringend, heiser – und böse. Quinn zuckte zusammen, bemühte sich aber, möglichst gleichgültig zu klingen: »Kein Alkohol, keine Drogen, keine Waffen. Keine Besucher ohne vorherige Genehmigung. Anrufe werden Ihnen über meine Dienststelle und über den Computer durchgestellt, aber Ihr Apparat ist so installiert, daß Sie nicht nach draußen telefonieren können.«

»Sie mögen nicht, daß ich Sie berühre? Dann muß ich wohl versuchen, mir anhand Ihrer Stimme ein Bild zu machen.« Er runzelte die Stirn. »Eine hübsche Stimme. Sexy. Man hört, daß Sie eine gute Figur haben. Lange Beine, sehr lange Beine, ein knackiger, kleiner Hintern. Habe ich recht, Officer? Ist der Hintern klein und knackig?«

Zu einem Ohr rein, zum anderen wieder raus. Quinn war fest entschlossen, seinem Geschwätz keine Beachtung zu schenken. Aber unwillkürlich zog sie die Schultern nach hinten und fuhr sich mit der Hand durch die rote Haarmähne.

»Der Computer überwacht jede Ihrer Bewegungen im Haus mit einem konstanten, unhörbaren Signal, das von Ihrem Armband ausgeht. Im Haus, auf der Veranda, der Hintertreppe und dem Hof können Sie sich bis zu der Abgrenzung frei bewegen. Ihr Hund hat gelernt, diese Beschränkungen einzuhalten. Wenn Sie die Grenze überschreiten, werden Sie sofort verhaftet und wieder ins Gefängnis gebracht. Haben Sie das alles verstanden?«

»Oh, diese Stimme. Sie ist einfach wunderbar. Würden Sie mir einen großen Gefallen tun, Officer? Sagen Sie ein schmutziges Wort für mich.« Erwartungsvoll preßte er die Unterlippe gegen die Zähne und schloß die Augen. »Irgendeines.«

Jetzt konnte Quinn ihre Wut kaum noch bremsen. »Ich entscheide, wieviel und was Sie zu essen bekommen, Mr. Weir. Wenn Sie in diesem Stil weitermachen, dann lasse ich Ihnen jeden Tag Ölsardinen in der Dose bringen. Und zwar mit Gräten.«

»Ich wollte doch nur nett sein«, seufzte Weir.

»Wenn Sie ärztliche oder sonstige Hilfe brauchen, können Sie die Grenze überschreiten und so den Alarm auslösen. Sollten Sie nicht in der Lage sein, die Linie zu übertreten, können Sie Hilfe herbeirufen, indem Sie den Stecker aus dem Telefon ziehen oder den Hörer von der Gabel heben oder Ihr Armband aufbrechen. Mit diesen Mitteln machen Sie unmittelbar auf sich aufmerksam. Verstanden?«

»Darf ich Sie etwas fragen?«

»Was denn?«

»Haben Sie samtweiche Haut?« Weir trat aus dem Türrahmen und kam mit ausgestreckten Armen auf Quinn zu. »Ist Ihre Haut schön weich?«

Quinns Sommersprossen glühten, sie kochte innerlich. Zwei Zentimeter vor der elektronischen Grenze blieb Weir stehen und sog die Luft ein. »Sie brauchen keine Angst zu haben«, flötete er. »Ich bin vollständig resozialisiert. Ich habe begriffen, was mich dazu gebracht hat, diese schrecklichen Dinge zu tun, und ich weiß, wie ich in Zukunft solchen Versuchungen widerstehen kann. Ich bin absolut harmlos, Officer, sanft wie ein Lamm.«

Wie ein tollwütiges Lamm, dachte Quinn. »Wenn Sie nicht aufpassen, lösen Sie noch Alarm aus, Mr. Weir. Bewegen Sie sich lieber nicht weiter.«

»Dann kommen Sie doch herein! Ich mache Ihnen eine Tasse Tee und zeige Ihnen meine Wohnung. Man hat mir gesagt, sie sei sehr schön.«

Das war sie auch. Durch das Fenster konnte Quinn die weiße Ledergarnitur und die großen, modernen Lithographien im Wohnzimmer sehen. Direkt dahinter lag das Eßzimmer, in dezentem Pfirsichton gehalten. Darin stand ein Marmortisch mit einem extravagant geformten Chromfuß und drum herum gepolsterte Holzstühle.

Weirs Verbrechen hatten sich für ihn vielleicht nicht ausgezahlt, hatten aber eine Menge Unkosten verursacht. Denn einschließlich des Blindenhundes war die ganze Ausstattung vom Direktor der Langdon Industries in Georgia Center zusammengestellt und finanziert worden. Weir hatte dort mit einigen anderen Sträflingen aus dem Gefängnis von St. Albans unter Aufsicht gearbeitet und bei einem Chemieunfall das Augenlicht verloren.

Aufgrund dieser Behinderung hatte man ihn unter der Bedingung, daß er permanent überwacht wurde, vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen, denn keines der sechs Staatsgefängnisse war auf die besonderen Bedürfnisse von blinden Gefangenen eingerichtet. Weir hatte ohnehin nur noch knapp zwei Jahre abzusitzen, und so lohnte es sich nicht, seinetwegen einen Gefängnistrakt umzubauen. Quinn glaubte nicht, daß auch nur einer im Gefängnis Weir eine Träne nachweinte.

Das Telefon klingelte, aber Weir reagierte nicht.

»Das ist wahrscheinlich der Kontrollanruf von der Zentrale, Mr. Weir. Gehen Sie lieber dran.«

»Aber Sie haben doch gesagt, ich soll mich nicht von der Stelle rühren.«

»Gehen Sie ans Telefon!«

Seinen Hund im Schlepptau tappte Weir zum Apparat im Flur und nahm den Hörer ab. Quinn kannte die routinemäßigen Abläufe und Weir scheinbar auch. Zügig gab er die Antworten auf die vom Tonband abgespielten Fragen, anhand derer man in der Zentrale seine Stimme identifizierte. Darauf nannte er Uhrzeit und Datum, die auf einer kleinen Blindenuhr neben dem Telefon angezeigt waren. Außerdem mußte er jeden Tag eine andere Frage zu seiner persönlichen Geschichte beantworten. Heute sollte er den Geburtsnamen seiner Mutter nennen: Koswick.

Auf ein bestimmtes Signal hin steckte er dann eine Erhebung an seinem Armband in eine Vertiefung des rechteckigen schwarzen Kastens, der am Telefon angebracht war. Ein Piepton bestätigte, daß das richtige Armband angeschlossen worden war.

Weir bewegte sich für einen Blinden erstaunlich sicher, wenn man bedachte, daß er das Haus noch keine vierundzwanzig Stunden bewohnte. Offenbar lernte er schnell – seine Intelligenz war allerdings auch nie in Frage gestellt worden. Zweifel bestanden allenfalls an seiner Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung.

Mit zwölf Jahren hatte er in seiner Heimatstadt Douglastown im Staat New York eine Klassenkameradin namens Jennifer Buckram grausam verstümmelt und ermordet. Ein Nachbarsjunge, der beobachtet hatte, wie Weir das Mädchen in ein Wäldchen hinter der Schule zerrte, brachte die Polizei auf seine Spur. Weir wurde schuldig gesprochen und zur Höchststrafe verurteilt: zehn Jahre Jugendgefängnis. Wie es das Gesetz vorschrieb, wurde sein Strafregister nach der Entlassung gelöscht.

Innerhalb der nächsten drei Jahre zog Weir von Connecticut nach New York und von dort schließlich nach Bennington in Vermont. Er besuchte verschiedene Abendkurse und arbeitete halbtags als Koch in einem Imbiß.

Ein paar Monate, nachdem Weir sich in Bennington niedergelassen hatte, wurde dort ein kleines Mädchen vermißt. Seine Leiche entdeckte man wenig später auf einem Müllplatz in der Nähe der Schule. Ihr Zustand entsetzte selbst hartgesottene Polizisten, und aus Rücksicht auf die Familie des Opfers wurde kein Bildmaterial über das Verbrechen veröffentlicht. Dennoch sickerten genügend Informationen durch, die die ungeheuerliche Brutalität des Täters beschrieben.

Im Laufe der Ermittlungen erkannte ein Polizeibeamter von Bennington Weir bei der Arbeit im Imbiß. Zufällig war der Beamte in Queens aufgewachsen, nicht weit von dort, wo Weir seine Kindheit verbracht hatte. Sofort fiel ihm der Buckram- Mord wieder ein, und er zählte zwei und zwei zusammen. Das Mädchen aus Bennington sah Jennifer Buckram sehr ähnlich; außerdem gab es noch weitere verblüffende Parallelen zwischen den beiden Fällen. Also wurde Weir festgenommen und vor Gericht gestellt.

Die Presse stürzte sich auf den Fall, und die Öffentlichkeit forderte lautstark Weirs Kopf. Doch bei einer Vernehmung kurz vor Prozeßbeginn beantragte Weirs Verteidiger Lane Heckerling, alle Anklagepunkte gegen ihn fallenzulassen. Heckerling behauptete, die Verhaftung sei unzulässig – es gäbe nicht genügend Anhaltspunkte, um Weir den Mord anzulasten.

Richmond Brown, der vorsitzende Richter, sah das ein. Seiner Meinung nach war es durchaus möglich, daß jemand das Mädchen aus Bennington absichtlich auf eine Art und Weise verstümmelt hatte, die an die Ermordung von Jennifer Buckram erinnerte. Die Presseberichte über den Mord hatten damals mehrere Nachahmungen provoziert, die nie aufgeklärt werden konnten.

Natürlich kannte Quinn die ganzen unangenehmen Details aus Weirs Akte. »Der Angeklagte hat schließlich nicht seine Initialen oder seinen Namen auf dem Körper seines Opfers hinterlassen«, lautete die makabre Argumentation des Richters, »und da wir kein stichhaltiges Beweismaterial besitzen, meine ich, daß die Verhaftung voreilig erfolgte, unter Verletzung der verfassungsmäßig garantierten Rechte des Angeklagten, nach denen wir von seiner Unschuld ausgehen müssen.«

Weil er keine ausreichenden Indizien in der Hand hatte, war der Staatsanwalt gezwungen, die Anklage fallenzulassen.

Weir wäre wahrscheinlich gänzlich ungeschoren davongekommen, hätte eine Computerkontrolle nicht im letzten Moment einen Haftbefehl wegen schwerer Körperverletzung zutage gefördert: Kurz nach seinem Einzug in Vermont hatte Weir bei einem Streit um einen Parkplatz sein Recht mit Hilfe eines Schürhakens zu erzwingen versucht.

Die Staatsanwaltschaft beantragte die Höchststrafe von zwölf Jahren Zuchthaus und kam damit auch durch.

Bei Fällen wie diesem dachte Quinn immer, daß die Gerechtigkeit vielleicht lieber mit einem Maulkorb als mit einer Augenbinde dargestellt werden sollte.

Inzwischen hatte Weir aufgelegt und kam wieder zur Tür. »Macht es Ihnen Spaß, mich zu beobachten, Officer? Finden Sie es erregend, meine Gespräche zu belauschen?«

»Passen Sie auf, Mr. Weir. Wir können uns das Leben gegenseitig schwermachen oder einigermaßen vernünftig zusammenarbeiten, ganz wie Sie wünschen.«

Er machte ein Gesicht wie ein geprügelter Hund. »Verzeihen Sie, Sie haben ja recht. Ich könnte vor Scham im Boden versinken.«

»Das glaub’ ich Ihnen sofort.« Quinns ironischer Unterton war kaum zu überhören.

»Nein, wirklich. Im Grunde bin ich ein anständiger Kerl. Vollständig resozialisiert. Einer meiner Therapeuten meinte, solche Ausrutscher seien lediglich ein Zeichen verdrängter Berührungsängste. Nichts weiter als ein unangenehmer Reflex, vollkommen harmlos, das können Sie mir ruhig glauben.«

»Offen gestanden interessieren mich Ihre Reflexe nicht besonders, Mr. Weir. Wenn Sie die Regeln befolgen, läuft alles nach Plan.«

Weir legte den Finger an seine faltige Wange. Wie ein Röntgenauge traf sein leerer Blick Quinn; der Mund war zu einem verächtlichen Grinsen verzogen. »Aber Sie müssen zugeben, daß ich Sie neugierig mache, Mrs. Gallagher. Sie wüßten nur zu gern, was in meinem Kopf vor sich geht, was mich in der Vergangenheit dazu gebracht hat, bestimmte ... bestimmte Dinge zu tun.«

»Halten Sie sich an die Regeln, Mr. Weir. Das ist alles, was mich interessiert.«

Ein häßliches Kichern kam aus Weirs verkniffenem Mund. »Mir brauchen Sie nichts vorzumachen, Officer. Ich kann Ihre Gedanken lesen.«

»Dann müßten Sie auch meinen einzigen Wunsch kennen: Ich möchte nämlich nur sichergehen, daß Sie Ihre Auflagen verstehen und sich entsprechend verhalten.«

In gespielter Verzweiflung verzog Weir den Mund. »Sie glauben mir also nicht. Aber ich sage Ihnen die Wahrheit. Ich besitze das zweite Gesicht. Eine Kombination von Telepathie und Hellseherei. Ich sehe, was ist und was sein wird. Erlauben Sie mir, es Ihnen zu demonstrieren.« Weir machte eine Pause und richtete seinen Blick starr auf die untergehende Sonne. Als er weiterredete, klang seine Stimme verändert: ein sanfter, verführerischer Singsang.

»Ich sehe großen Kummer, Mrs. Gallagher. Sie haben einen schrecklichen Verlust erlitten. Völlig unerwartet. Eine Tragödie. Vielleicht ein Unfall?« Zögernd hielt er inne.

»Ja, nun sehe ich es. O Gott, wie schrecklich! Überall Blut, Glasscherben, Feuer. Und die Opfer – die Frau steckt fest, bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Sie ist tot, aber der Mann lebt noch. ›Helft mir doch‹, stammelt er. ›Rettet sie, bitte! Hört mich denn keiner?‹

Moment. Jetzt hustet er. Ein Röcheln entweicht seiner Brust. Noch einmal versucht er zu sprechen, aber das Husten raubt ihm die letzte Kraft. Ein schrecklicher, blutiger Husten. Ein Todesröcheln. Krampfhaft greift er an seinen Hals, ringt nach Luft. Hilfe! O nein! Er ist ...« Weir zuckte krampfhaft und fiel in sich zusammen, ein grotesker Anblick.

Quinn lief es eiskalt den Rücken hinunter. Ihre Eltern waren tatsächlich bei einem Autounfall ums Leben gekommen, bei einem Frontalzusammenstoß. Der Wagen war in Flammen aufgegangen, und ihre Mutter und ihr Vater waren noch am Unfallort gestorben. Verzweifelt versuchte Quinn, die Fassung wiederzuerlangen und die schauerlichen Bilder zu verdrängen, die Weir in ihr heraufbeschworen hatte.

Doch Weir war noch nicht fertig. »Ich sehe auch einen kleinen Jungen. Er ist ebenfalls verletzt, aber nicht durch einen Unfall. Vielleicht hat er emotionale Wunden davongetragen? Ja, das sind seelische Narben.«

Langsam hob er das Kinn und kniff die Augen zusammen. »Aha, nun wird das Bild klarer. Ein rothaariger kleiner Junge, dünn, sommersprossig. Er ist nicht Ihr Sohn. Ihr Bruder, nicht wahr? Augenblick. Das ist seltsam. Um ihn herum entsteht eine dunkle Aura. Haben Sie Probleme mit ihm, Officer? Ist er Ihrem persönlichen Glück im Wege?«

»Jetzt reicht es aber«, fauchte Quinn. »Für solchen Unsinn habe ich keine Zeit.«

»Selbstverständlich. Ich verstehe, daß Sie auf dieses Thema empfindlich reagieren. Wenn beide Eltern unter solchen Umständen ums Leben kommen und wenn man dann auch noch entdecken muß, daß der Vater ...«

»Was wollen Sie? Haben Sie etwa Heimweh nach dem Gefängnis, Mr. Weir?«

Weir überschlug sich fast vor falscher Zerknirschung. »Sie haben vollkommen recht, Mrs. Gallagher. Es ist sehr unhöflich von mir, an diese schmerzlichen Erinnerungen zu rühren. Das Wichtigste ist doch, daß Sie trotzdem zurechtkommen. Das ist nicht immer leicht, stimmt’s? Ein attraktives junges Mädchen wie Sie muß die volle Verantwortung für den kleinen Bruder übernehmen. Wenn man nur daran denkt, was Sie seinetwegen alles aufgegeben haben: einen Job, der Ihnen gefiel, einen Liebhaber. Und der Kleine hat auch noch jede Menge Probleme, nicht wahr? Leidet unter Lesestörungen, macht ins Bett.« Höhnisch schnalzte Weir mit der Zunge. »Das Bettnässen ist eine Plage, was, Officer? Wissen Sie, man kann es ihm austreiben – mit einer ganz simplen Elektroschocktherapie. Ich erkläre Ihnen gern, wieviel Volt Sie brauchen, damit der Junge das Pinkeln sein läßt. Vielleicht ist es für ihn kein Vergnügen, aber für Sie könnte es recht amüsant sein. Man versieht einfach eine Neun-Volt-Batterie mit zwei Kabeln und verbindet die beiden Enden mit dem kleinen Penis. Dann muß man …«

Quinns Zähne taten weh, so sehr mußte sie sie zusammenbeißen. »Ich habe gesagt, es reicht!«

In gespielter Verzweiflung hob Weir die Hände zum Himmel. »Aber ich dachte, es interessiert Sie.«

Halt dich zurück, Quinn. Weir ist schließlich nicht der erste moralische Analphabet, mit dem du dich abgeben mußt. Wenn du dir den Quatsch zu Herzen nimmst, hat er gewonnen.

»Ich brauche Ihre Ratschläge nicht. Außerdem, Weir – versuchen Sie es gar nicht erst, ich hab’ schon andere von Ihrem Kaliber kleingekriegt.«

»Meinesgleichen gibt es nicht. Ich bin einzigartig. Einmalig.«

»Erstaunlich – genau das sagen sie alle«, gab Quinn spöttisch zurück. Dann machte sie kehrt und ging.

Bei ihrem Jeep blieb sie eine Weile stehen und blickte über die idyllischen Wiesen und Felder, hinunter zu dem ländlichen Hotel, den wenigen verschlafenen Geschäften an der sogenannten Hauptstraße, den vereinzelten Häuschen in der Ferne. Bestimmt gab es hier genügend Opfer für Weir, falls er es schaffte, seinen Bewachern zu entschlüpfen.

Eine grauenhafte Vorstellung.

Jake Holland hielt das Überwachungszentrum für unfehlbar, und Quinn konnte nur hoffen, daß keiner der Beteiligten die Technologie über- oder Weir unterschätzte.

Wenn etwas schiefging, schob man die Schuld dafür Quinn zu, das wußte sie. Ein elektronischer Schaltkreis eignete sich schlecht als Sündenbock, ebenso wenig wie ein Fehler im Sicherheitssystem. Sie würde den Kopf hinhalten müssen und riskieren, wieder in tiefe, dunkle Abgründe zu stürzen. Aber sie hatte zu hart, zu lange gekämpft – es durfte nicht noch einmal passieren.

Entschlossen stieg sie in ihren Wagen und ließ den Motor aufheulen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie im Wohnzimmer die schweren Vorhänge zugezogen wurden. Weir starrte aus dem Spalt, der zwischen ihnen freiblieb. Im Rückspiegel verschwammen die kleinen Butzenscheiben des Fensters zu einem glatten Ganzen, das auch den Professor verschluckte.

Kapitel 3

Das Hotel von Dove’s Landing befand sich seit sechs Generationen in den Händen der Familie Brill. Die ersten Eigentümer, irische Einwanderer, hatten hier Sklaven versteckt, die sich auf der Flucht nach Kanada befanden.

Ursprünglich war es ein gutgehender, Milchwirtschaft betreibender Bauernhof gewesen, doch im Lauf der Jahre hatte es sich nach und nach zu einem Touristendomizil und Feinschmeckerrestaurant entwickelt. Die zentralen Gästezimmer, die alle in ehemaligen Nebengebäuden des Bauernhofs untergebracht waren, trugen Namen, die an ihre frühere Funktion erinnerten: Zuckermühle, Apfelpresse, Geräteschuppen Eins und Zwei, Schmiede und so weiter.

Die verschiedenen Gebäude waren untereinander mit überdachten Gängen verbunden und hufeisenförmig um einen Innenhof mit Zierbeeten angeordnet, in dessen Mitte der Swimmingpool lag. An der vierten Seite des Hofes lag das ursprüngliche Hauptgebäude, in dem nun die Büros, das Restaurant, die Gemeinschaftsräume, die Küche und der Weinkeller untergebracht waren.

Dieses Haus war das Herz der Hotelanlage. Außerhalb des Vierecks lagen verstreut noch ein paar Bungalows – teils für Gäste, teils waren es Privatwohnungen der Besitzerfamilie -, sowie der Tennisplatz, die Gewächshäuser und noch etliche kleinere Bauten, die als Lagerhäuser dienten oder je nach Jahreszeit unterschiedlich genutzt wurden.

Nora führte den Bürgermeister der Stadt zu seinem gewohnten Tisch in der Ecke des rundum verglasten Gartenzimmers und warf einen raschen Blick über die Gästehäuser hinweg zum Fenster ihrer Tochter im zweiten Stockwerk. Das Licht brannte zwar, aber sonst gab es kein Zeichen für die Anwesenheit von Abigail. Für gewöhnlich lag sie ausgestreckt auf ihrem Himmelbett oder übte vor dem antiken Spiegel Handstand, was Nora ihr eigentlich strikt verboten hatte.

Auf dem antiken Empfangspult aus Ahornholz blinkte hektisch ein Signallicht – ein Telefonanruf. Nora nahm ihn entgegen und buchte ein Hochzeitstagsessen für zwölf Personen am zweiten Samstag im Juni. Sorgfältig notierte sie alle Details, vom gewünschten Tisch im Sonnenzimmer bis zur Haselnußcremetorte, auf der stehen sollte: »Alles Gute zum Zehnten, Sally und Ken!« Nachdem Nora aufgelegt hatte, wanderten ihre Gedanken wieder zu Abigail. Sie machte sich Sorgen um ihre Tochter.

Es war schon fast halb zehn. Normalerweise wäre das Mädchen um diese Zeit schon mindestens zwei- oder dreimal vorbeigekommen, um sich bei Nora über die Hausaufgaben oder Cousin Hughs ständige Ärgereien zu beklagen oder darüber, daß sie sich bedroht fühlte – letzteres höchstwahrscheinlich ein Auswuchs ihrer lebhaften Fantasie.

Nie hätte Nora sich vorgestellt, daß der Umzug nach Vermont für ihre Tochter so problematisch sein würde. Abigail war sonst so ausgeglichen, hatte sogar die Scheidung ihrer Eltern erstaunlich gelassen hingenommen, obwohl sie ihren Vater nach wie vor abgöttisch liebte und sicher nie verstehen würde, was Nora dazu gebracht hatte, sich von ihm zu trennen.

Auch mit der eher gespannten finanziellen Lage nach der Trennung war Abigail gut zu Rande gekommen. Die Arbeit als freischaffende Fotojournalistin hatte Nora zwar Lob und Anerkennung eingebracht, aber lukrative Aufträge hatte sie eher selten bekommen: die unangenehme Kehrseite der Selbständigkeit. Raymond war, was die Unterhaltszahlungen anging, genauso unzuverlässig, wie Nora es erwartet hatte. Nach einer Weile gelang es ihr jedoch, einen finanziell lohnenden Nebenjob zu ergattern, und so konnte sie die notwendigen Ausgaben bestreiten und brauchte Abby nicht von der Privatschule zu nehmen. In puncto Luxus – für die Klassenkameraden ihrer Tochter eine Selbstverständlichkeit – mußten sie sich allerdings ziemlich einschränken. Aber auch das hatte Abigail widerspruchslos akzeptiert. Aus diesem Grunde war Nora irrtümlicherweise davon ausgegangen, daß Abby sich ebenso leicht mit ihrer zweiten Heirat und dem Umzug abfinden würde. Charlie Brill war ein warmherziger, offener und umgänglicher Mann, der Abigail von Anfang an mochte und sie fast so eifrig umwarb wie Nora. Auch seine Familie gab sich große Mühe, Abigail das Gefühl zu geben, daß sie dazugehörte.

Nach all den Vorsichtsmaßregeln und Verboten, um die man in New York City nicht herumkam, hatte Nora erwartet, daß ihre Tochter Vermont als angenehme Abwechslung empfinden würde. In Dove’s Landing stolperte Abigail auf dem Schulweg nicht über Junkies oder schlafende Obdachlose, kein Bettler und kein halluzinierender Irrer bedrängte sie. Es gab keine geistesgestörten Amokläufer und keine blutigen Schießereien. In diesem verschlafenen kleinen Städtchen war die schlimmste Form der Gewalt der legendäre Sport des Kuhschlagens.

Aber nichts klappte so, wie Nora es sich ausgemalt hatte. Nach dem Umzug wurde Abigail zusehends niedergeschlagener und zog sich immer mehr zurück. Bei der kleinsten Zurechtweisung brach sie in Tränen aus, im rechten Auge hatte sie nervöse Zuckungen, die einen verrückt machen konnten, und ihre Schulleistungen gingen in den Keller. Abgesehen von Charlies Nichte Stephanie zeigte sie keinerlei Interesse an anderen Kindern.

Niemand hatte eine Lösung parat: weder Charlie noch der Hausarzt noch der Kinderpsychologe, an den sich Nora hilfesuchend gewandt hatte – nicht einmal Charlies Mutter, Mim, die sonst für alles einen pragmatischen, klugen Rat wußte. Noras Mutter, die in Fort Lauderdale lebte und oft mit Nora telefonierte, war fest davon überzeugt, man müsse Abigail nur genug Zeit lassen, dann würde sich alles einrenken. Aber wieviel Zeit brauchte sie denn noch? Und wieviel Unannehmlichkeiten mußten sie alle bis dahin über sich ergehen lassen?

Manchmal wäre Nora am liebsten vor den ganzen Problemen, Fragen und Selbstvorwürfen davongelaufen. Nur das Allernötigste hätte sie mitgenommen: ihre Traumbilder von einem Leben ohne Schwierigkeiten. Das war kindisch und unrealistisch, aber Nora fand die Vorstellung sehr verlockend.

Sie war so in ihre Grübelei versunken, daß ihr vor Schreck die Luft wegblieb, als ihr plötzlich von hinten jemand den Arm um die Taille legte. Beinahe hätte sie das Telefon vom Tisch gefegt, so schnell drehte sie sich um. Hinter ihr stand Charlie, und bei seinem Anblick wurde ihr wie immer warm ums Herz. Sie liebte alles an ihm: sein Kinn mit dem kleinen Grübchen und seine ausdrucksvollen braunen Augen; selbst seine kleinen Unvollkommenheiten gefielen ihr, zum Beispiel sein Mund, den er immer schief verzog, wenn er besonders ernst sein wollte; die kastanienbraunen Haare, die schon ein wenig schütter waren; der Rettungsring um den Bauch, gegen den er mit einem recht abenteuerlichen Programm aus Liegestützen, guten Vorsätzen und Schokoladentorten ankämpfte.

Raymond, Noras erster Ehemann, war ganz anders gewesen. Er besaß ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein, das fast an Arroganz grenzte. Ein unbeirrbarer Egozentriker. Nora konnte sich vorstellen, mit Charlie alt zu werden. Mit Ray wäre sie sicher auch alt geworden, aber wesentlich früher als vorgesehen.

»Hab’ ich dir heute abend schon gesagt, wie schön du bist?« murmelte Charlie und knabberte zärtlich an ihrem Ohr.

»Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern. Sag es mir ruhig noch einmal.«

»Du bist die schönste Frau der Welt. Du machst mich verrückt, weißt du das? Ich möchte dich am liebsten auf der Stelle als Dessert vernaschen. Was hältst du davon?«

»Ich glaube, ich wäre nicht so lecker als Dessert. Und außerdem, Sie kennen doch die Regel, Mr. Brill: Lassen Sie sich niemals mit dem Personal ein!«

»Es tut mir leid, daß du schon wieder einspringen mußt«, meinte Charlie mit einem Stirnrunzeln. »Was für ein Leiden plagt meine liebe Schwester denn diesmal?«

»Kopfschmerzen, soviel ich weiß.«

»Sie macht ihren Mitmenschen Kopfschmerzen, das ist das Problem.«

»Ist schon okay, mir macht es nichts aus, hier zu sitzen.«

Sorgfältig achtete sie darauf, daß ihr Lächeln erst verschwand, als Charlie außer Sichtweite war. Normalerweise half sie gern aus, auch wenn Victoria, ihre Schwägerin, eine skrupellose Simulantin war, die die Faulheit schon fast zur Kunstform erhoben hatte. Charlies Schwester lebte seit längerer Zeit von ihrem Mann getrennt und hielt sich ihre Kinder so weit vom Halse, daß sie sich auf die einzige wahre Liebe ihres Lebens konzentrieren konnte: auf sich selbst.

Victorias Tagesablauf bestand aus einer verwirrenden Vielfalt von Maniküren, Massagen, Restaurantbesuchen mit ihren Freundinnen und ausgedehnten Einkaufstouren. Verständlicherweise blieb ihr da nicht mehr viel Kraft für so lästige Nebensächlichkeiten wie die Arbeit im Hotel, und sie mußte wohl oder übel in allen möglichen modischen Erkrankungen Zuflucht suchen: Handwurzelknochenreizung, Migräne, Epstein-Barr-Virus, chronisches Erschöpfungssyndrom. Jeder diagnostizierte natürlich das wahre Leiden als Allergie gegen regelmäßige Arbeit, doch bisher hatte niemand das Heilmittel dagegen gefunden.

Nora leistete gern ihren Beitrag zur Erledigung der Aufgaben, die im Hotel anfielen. Um den Betrieb über die jahreszeitlich bedingten Flauten zu retten, gingen die meisten Mitglieder der Familie Brill noch einem anderen Beruf nach. So leitete Charlie beispielsweise ein Architekturbüro, und Mim arbeitete als Innenarchitektin. Sogar Victorias Kinder, Hugh und Stephanie, verdienten sich mit Ferienjobs ein zusätzliches Taschengeld. Im Gegensatz zu ihrer Schwägerin war Nora alles andere als arbeitsscheu, und außerdem hatte sie sich genau wie der größte Teil der Familie Brill Hals über Kopf in das gemütliche Landhotel verliebt.

Und auch jetzt konnte sie sich an dem geschmackvollen Ambiente freuen: Sie betrachtete die Nischen des Speisesaals. Auf den Tischen lagen bodenlange, elfenbeinfarbene Tücher, fächerförmig gefaltete Servietten und antikes Silberbesteck. In Kristallvasen prangte jeweils eine einzelne purpurrote Rose – passend zum dezenten Blumenmotiv der Tapete und zu dem kleingeblümten Rand des Teppichbodens. Die Arbeit hier war ihr noch nie langweilig geworden.

Wenn sie ihre obligatorischen Runden zwischen den voll besetzten Tischen machte, um nachzusehen, ob die Gäste zufrieden waren, wurde sie oft Zeugin interessanter Szenen und schnappte im Vorübergehen immer wieder amüsante Gesprächsfetzen auf.

Heute abend saß zum Beispiel an Tisch Drei ein turtelndes Pärchen, während an Tisch Sieben eine erhitzte Diskussion zwischen zwei Eheleuten stattfand. Sie verhandelten ziemlich lautstark, ob der Vater des Mannes, der zu Besuch kommen sollte, ein wiedergeborener König Salomo oder ein seniler Trottel war, und beide Seiten brachten durchaus zwingende Argumente vor. Im Gartenzimmer hatte sich eine Vierergruppe versammelt, und nach der dritten Runde doppelter Martinis nahm man kein Blatt mehr vor den Mund. Unverhohlen flirtete man mit dem Partner des anderen. Nora notierte im Hinterkopf, daß sie dem Barkeeper Bescheid sagen mußte, er solle das Grüppchen beim Weggehen abfangen und ihnen ein Taxi bestellen, damit alle wohlbehalten nach Hause gelangten. Vielleicht wäre es sogar noch besser, gleich zwei Taxis zu rufen. Allerdings konnte man momentan noch nicht mit Sicherheit sagen, wer dann zu wem einsteigen würde.

Für gewöhnlich verging die Zeit wie im Flug, und Nora hatte Feierabend, ehe sie auch nur auf die Idee kam, nervös oder müde zu werden. Doch heute verspürte sie den dringenden Wunsch, sich so bald wie möglich mit ihrer Tochter zu unterhalten.

Am Nachmittag war ihr Abigail noch bedrückter vorgekommen als sonst. Als sie aus der Schule kam, stürmte sie ohne ein Wort durch die Hotelhalle und verschwand sofort in ihrem Zimmer. Nora sah sie nur kurz und fand, daß ihr kleines Mädchen schrecklich gereizt und verspannt wirkte, als wäre sie drauf und dran durchzudrehen.

Als Nora dann aber zu ihrem Bungalow ging, um nachzusehen, was los war, fand sie die Tür zu Abbys Zimmer verschlossen und mit zitternder, mühsam gefaßter Stimme hatte Abigail ihre Mutter gebeten wegzugehen – sie wollte allein sein.

Eine Weile versuchte Nora, Abigail doch noch zu überreden, ihr aufzumachen, aber dann beschloß sie, den Rat ihrer Mutter zu beherzigen und ihrer Tochter Zeit zu lassen. Sie ging in ihre provisorische Dunkelkammer im Schuppen hinter der großen Scheune und machte sich an die Probeabzüge für die neue Touristenbroschüre von Vermont. Weil sie Victoria so oft vertreten mußte, lag sie mit ihrer eigenen Arbeit immer ein ganzes Stück hinter dem vorgesehenen Zeitplan.

Als sie mit dem Vergrößern fertig war, zeigte die Uhr schon nach sechs. Jetzt war Maisie, Mims Haushälterin, sicher gerade dabei, für die Kinder und Charlies Vater Abendessen zu machen – in dem hübschen Haus der Großeltern drüben am See.

Poppa, wie Charlies Vater von allen genannt wurde, litt an der Alzheimerschen Krankheit. Sein Gedächtnis war lückenhaft geworden, und manchmal wurde er ohne ersichtlichen Grund schrecklich unruhig. Dann wieder war er ganz der Alte und hinreißend charmant. Mim sorgte dafür, daß sein Tag nach festen, eisernen Regeln ablief. Andererseits fand sie, daß der Umgang mit den Kindern in wohlbemessenen Dosen durchaus einen therapeutischen Effekt auf ihn ausübte.

Auch die Kinder schienen das Zusammensein mit Poppa zu genießen, vor allem dank Poppas unerschöpflichem Anekdotenschatz, den er mit Begeisterung zum Besten gab, wenn er gerade in der entsprechenden Verfassung war.

Nora wollte im Bungalow warten, bis Abigail mit dem Essen fertig war. Danach konnten sie sich in Ruhe aussprechen. Aber sie war noch nicht halb den Gartenweg hinunter, als Mim sie abfing und fragte, ob sie nicht wieder einmal für Victoria einspringen könnte.

Jetzt blickte Nora nervös auf die alte Standuhr neben dem Empfangspult. Schon viertel vor zehn, und noch immer keine Spur von Abigail. Hoffentlich kam Nora hier wenigstens los, bevor ihre Tochter eingeschlafen war.

In einer Woche begannen die Frühjahrsferien. Nora und Charlie hatten vor, mit Abigail nach New York zu fahren. Eigentlich sollte es eine Überraschung werden, aber heute nachmittag hatte Nora beschlossen, es Abigail jetzt schon zu erzählen. Die Aussicht auf die Reise würde ihre Tochter hoffentlich ein wenig aufmuntern – Nora konnte es einfach nicht ertragen, wenn es dem Mädchen so schlecht ging.

Wie immer um diese Zeit kam Mim herein, um nach den Stammgästen zu sehen. Sie trug ein elegantes, blaues Chiffonkleid mit dazu passenden, flachen Seidenpumps; das silbergraue Haar hatte sie zu einem Knoten hochgesteckt. Eine stolze, selbstbewußte Frau. Trotz der Belastung durch die Krankheit ihres Mannes hörte man von Mim nie ein Wort der Klage. Sie verbrachte allerdings mehr Zeit mit Poppa als früher und konnte deshalb weniger im Hotel arbeiten. Jetzt ruhten ihre sanften grauen Augen nachdenklich auf Nora.

»Was ist los mit dir, Liebes?«

»Nichts, ich hab’ nur nachgedacht.«

Doch Mim entging nie etwas. »Abigail?«

»Was sonst.«

»Dann geh doch lieber zu ihr. Poppa schläft schon, und ich vertrete dich gern ein Weilchen.«

»Bestimmt?«

»Klar. Geh schon – und gib ihr einen dicken Kuß von mir.«

Nora verließ das Restaurant durch den kerzenbeleuchteten Salon. Hinter der Theke stand Jory Albert, ein junger Mann aus Neuseeland mit hochfliegenden Ambitionen und einer Vorliebe für Skifahren. Er bediente die Gäste, die nach dem Essen noch einen Drink nahmen. Im Gesellschaftszimmer saßen ebenfalls noch mehrere Grüppchen auf den Sofas um das knisternde Kaminfeuer und schlürften genüßlich ihren Mokka. Der Raum war mit ausgesuchten Antiquitäten dekoriert: In der blankpolierten Kaminplatte und in den alten Kupferkesseln, die von der gemauerten Feuerstelle herabhingen, spiegelten sich die angeregten Gesichter der Gäste. Aus den Lautsprechern erklang ein schwungvoller Vivaldi.

An der Tür zum Hof begegnete sie Reuben Huff, dem Hausmeister des Anwesens. Huff war ein klapperdürrer Mann mit hängenden Schultern und bleich wie ein Schwindsüchtiger. Er hatte die unangenehme Angewohnheit, einem viel zu nah auf die Pelle zu rücken, wenn man sich mit ihm unterhielt. Unwillkürlich wich Nora zurück. Am liebsten hätte sie einen weiten Bogen um seinen abgestandenen Tabakatem und den durchdringenden Schweißgeruch gemacht.

»Soll ich nach der Treppe im zweiten Abstellraum sehen?« fragte er. »Die ist ziemlich wacklig.«

»Das müßten Sie mit Charlie oder mit Mrs. Brill besprechen, Reuben.«

»Die Treppe ist gefährlich. Eines Tages wird sich da noch jemand den Hals brechen. Ich könnte sie entweder selbst reparieren oder mir den Mann aus Wilmington holen, der mir schon beim Geräteschuppen geholfen hat. Hauptsache, niemand kommt zu Schaden.«

»Natürlich. Charlie ist im Büro. Gehen Sie doch zu ihm und fragen Sie ihn, was er dazu meint.«

Nora wollte so schnell wie möglich weg, aber Huff versperrte ihr die Tür. »Entschuldigung, Reuben, würden Sie mich bitte vorbeilassen?«

»Wollen Sie zu Abigail?«

»Lassen Sie mich bitte durch.«

Widerwillig wich er einen Zentimeter zur Seite. Mit angehaltenem Atem drängte sich Nora an ihm vorbei. Auf dem Hof mußte sie erst einmal tief durchatmen. Die Luft roch angenehm nach Tannennadeln, und der Wind zerzauste ihre hellbraunen Haare. Schon besser. Als sie den Hof schon halb durchquert hatte, merkte sie, daß die Tür hinter ihr immer noch nicht ins Schloß gefallen war.

Hastig drehte sie sich um und sah, daß Huff reglos dastand und ihr nachstarrte. »Was ist denn noch, Reuben?«

In alles mußte dieser Kerl seine Nase stecken. Mim und Poppa hatten im Lauf der Jahre alle möglichen Vagabunden eingestellt, von denen sich jedoch die meisten als loyal und fleißig entpuppten. Wenn sie fair war, mußte Nora zugeben, daß man Huff nichts vorwerfen konnte, was Zuverlässigkeit und Arbeitsmoral anging. Aber er war ihr zutiefst unsympathisch, und sie traute ihm nicht über den Weg.

Huff zuckte die Achseln und gaffte sie weiter an. »Ich glaube nicht, daß Sie Abigail im Haus finden werden.«

»Warum denn nicht?«

»Ich glaub’s einfach nicht.« Damit verschwand er endlich, und die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.

Nora unterdrückte die Unruhe, die in ihr hochstieg. Durch einen Torbogen kam sie zu den äußeren Gästezimmern und überquerte dann die matschige Wiese zu ihrem Bungalow.

Abigails Zimmer lag im oberen Stockwerk. Nora klopfte. Keine Antwort. Nichts.

Wieder pochte sie an die Tür und rüttelte am Türknauf. Das Zimmer war abgeschlossen. Wenn Abigail schlief, konnte nur eine Bombe sie wecken, aber sonst schloß sie zum Schlafen niemals die Tür ab. Wäre sonst alles normal gewesen, hätte Nora die Sache auf sich beruhen lassen und bis zum nächsten Morgen gewartet. Doch weil ihr Reuben Huffs seltsame Andeutungen Sorgen machten, ging sie nach nebenan zu Victoria, um Stephanie zu interviewen.

Victoria öffnete sofort; anscheinend war sie durch ein Wunder plötzlich wieder gesund geworden. Ihr Anblick war umwerfend: eine Liz Taylor ohne Gewichtsprobleme. Nora erklärte ihr, sie mache sich Gedanken wegen Abby. Ob Steph vielleicht wußte, was das Kind bedrückte? Betont lässig winkte Victoria sie herein. Möglicherweise trocknete sie auch gerade ihren Nagellack und wedelte deshalb so mit den Händen.

Als Nora an Hughs Zimmer vorbeikam, bebte der Boden unter ihren Füßen – die Stereoanlage war voll aufgedreht, und die Bässe dröhnten. Im Nebenzimmer hing Stephanie am Telefon, und man hörte ihre singende Stimme, die plapperte und kicherte. Nora klopfte.

»Herein!«

Charlies Nichte hatte die Schönheit ihrer Mutter geerbt: ebenholzschwarzes Haar, blasse Gesichtshaut, faszinierende grüne Augen, fein geschnittene Züge. Aber im Gegensatz zu ihrer Mutter verfügte Stephanie über ein ausgeglichenes Temperament. Nichts von Victorias erstickender Selbstverliebtheit. Ihren Vater hatte Nora nie gesehen, aber man erzählte sich, er sei ein ausgemachter Trottel gewesen. Demzufolge müßte Stephanie eine Art genetische Mutation sein – wie wenn man zwei Zwiebeln miteinander kreuzt und eine Flasche Parfüm dabei herauskommt.

Leider wußte auch sie nichts Näheres: Sie hatte Abigail den ganzen Tag nicht gesehen. Abby war nicht zum Abendessen erschienen, aber dabei hatte sich niemand etwas gedacht, denn es kam oft genug vor, daß sie sich in der Hotelküche etwas holte.

Als Nora in ihrer Verzweiflung auch bei Hugh nachfragte, bekam sie als Antwort lediglich ein Grunzen und eine Grimasse. Das war keine außergewöhnliche Reaktion für den mürrischen Siebzehnjährigen, den die Natur nicht mit dem gleichen Wohlwollen behandelt hatte wie seine Schwester: Seine Züge waren härter und nicht so ebenmäßig, der Kontrast von dunklem Haar zu heller Gesichtshaut zu extrem.

Überhaupt war Hugh ein problematischer Junge. Er war trotzig und aufbrausend, und seine Kommunikationsformen orientierten sich an jugendlich-anarchischen Maßstäben: ohrenbetäubende Musik, Haßposter an der Wand, eine Leck- mich-am-Arsch-Garderobe, bestehend aus Fetzen und schwarzem, nietenbeschlagenenen Leder. Lediglich Mim und Poppa gegenüber legte er so etwas wie Respekt an den Tag, obwohl man selbst da einige Phantasie brauchte, um es zu merken.

Was war mit Abby los? Nora eilte zurück zum Büro, wo der Hauptschlüssel hing. Um nicht noch einmal Reuben Huff in die Arme zu laufen, nahm sie den Haupteingang. Als sie am Speisesaal vorbeikam, warf Mim ihr einen verständnisvollen Blick zu, auf den Nora aber nur mit einem verkrampften Lächeln reagieren konnte.

Im Büro war niemand. Durch die Wand hörte Nora, wie Charlie sich in der Küche mit Chefkoch Villet unterhielt. Offenbar eines ihrer üblichen Gespräche: Charlies sanfte Vernunft im Wettstreit mit Villets Temperament eines tropischen Unwetters. Der Küchenchef war ein ausgesprochenes Genie – jedenfalls hielt er sich selbst dafür.

Nora holte den Schlüssel vom Bord neben dem Telefon und ging rasch zurück zum Bungalow. Dabei versuchte sie sich einzureden, daß sie keinen Grund zur Aufregung hätte, aber ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen, und ihr Kopf brummte.

Während sie Abigails Türschloß öffnete, versuchte sie sich vorzustellen, wie ihre Tochter dort drinnen im Bett lag, im Traum versunken, für den Rest der Welt unerreichbar. Gleich würde sie diese wunderbare Mischung aus Wut und Erleichterung empfinden wie damals, als Abigail nicht von der Schule nach Hause gekommen war. Eine Stunde später, nach mindestens zwanzig besorgten Telefongesprächen, hatte sie erfahren, daß Abby zu einer Freundin gegangen war und einfach vergessen hatte, sich abzumelden.

Es dauerte eine Weile, bis Nora den altertümlichen Schloßmechanismus drehen konnte. Endlich ging die Tür mit einem leisen Quietschen auf.

Das Zimmer war leer.

Mit Mühe kämpfte Nora die aufsteigende Panik nieder. Vielleicht hatte sich Abigail irgendwo versteckt, um sie zu erschrecken. Nora sah sich um. Das Himmelbett war unberührt, die blaue Daunendecke und die Spitzenkissen lagen ordentlich an ihrem Platz. Exakt symmetrisch hingen die gepunkteten Baumwollvorhänge am Fenster, was bedeutete, daß niemand sie berührt hatte, seit Greta, das Zimmermädchen des Hotels, sie heute morgen aufgezogen hatte. Auf dem Fensterbrett standen mehrere Porzellanvasen mit frischen Blumen aus Mims Gewächshaus: Zinnien und Dahlien in Lavendel- und Rosétönen, abgestimmt auf das Apricot und Weiß der Einrichtung. Mitten auf dem Toilettentisch prangte Abbys geliebte Spieldose, ein Geburtstagsgeschenk ihres Vaters. Wenn man sie aufzog, tanzte auf dem Deckel eine Ballerina in einem winzigen, rosafarbenen Tüllröckchen. Nora drehte ein paarmal an der Uhr, und sofort klimperte sie ihre Melodie: »Dieses Lied vergeß’ ich nie. . .«

Noras Blick fiel auf den Schreibtisch: Kreuz und quer lagen Abigails Bücher herum. Sie suchte nach dem Gymnastikbeutel, den Abigail für gewöhnlich mit sich herumschleppte, doch der fehlte. Reiß dich zusammen, Nora. Bestimmt gab es eine ganz einfache, vernünftige Erklärung.

Auch in Abigails Badezimmer und in den übrigen Räumen des Obergeschosses war das Kind nicht zu finden. Nora hastete durch sämtliche Zimmer, sah hinter den Vorhängen und in allen Ecken und Winkeln nach.

Nichts. Nora ging zurück in Abbys Zimmer, durchforschte die Schränke und entdeckte dabei, daß ein paar der Lieblingssachen ihrer Tochter fehlten: ihr neuer roter Anorak, ihr gestreifter Gymnastikanzug. Verschwunden waren außerdem das kostbare Adreßbuch und das Briefpapier mit dem eingravierten Namenszug, das Raymond ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschickt hatte.

Möglicherweise trieb sich Abby ja irgendwo in der Nähe des Hotels herum. Nora beugte sich aus dem Fenster, konnte aber nichts entdecken – nichts als den schweren grauen Himmel, begrenzt von dunklen Wolken und schroffen, schwarzen Bergen.

Sie mußte ihr kleines Mädchen finden, unbedingt, und zwar so schnell wie möglich. Doch wo sollte sie beginnen? Sie fröstelte. Dutzende von Möglichkeiten jagten ihr durch den Kopf: Freunde, Verwandte, Bekannte. Theoretisch konnte sie überall dort sein, wo sie ihren Vater zu finden hoffte. Ein unerträglicher Gedanke, daß Abby irgendwo da draußen frierend und einsam unter dem endlosen Himmel Vermonts umherwanderte.

Auf einmal traf es sie wie ein Blitz: Womöglich war Abby schon seit Stunden weg! Vielleicht war sie ja längst irgendwo in Sicherheit. Beruhige dich, Nora. Du siehst mal wieder viel zu schwarz.

Noras Adreßbuch lag zusammen mit Abigails Klassenliste in dem provisorischen Studio hinter der Scheune. Sie wollte gerade losrennen, um es zu holen, als ihr Blick auf den Zettel fiel.

Kapitel 4

Abigail bemühte sich aufzuwachen. Sie kam sich vor, als wäre sie im Schwimmbad, und jemand drückte sie immer wieder unter Wasser. Ihr Kopf war benebelt, die Glieder gummiweich, und außerdem tat ihr Hals weh.

Über sich hörte sie ein ständiges Pochen, dumpf und dröhnend. Ein Telefon klingelte, und eine Stimme antwortete – es klang wie das Zischen und Rattern einer U-Bahn. Dann setzte erneut das Pochen ein. Zuerst kam es näher und näher, dann wurde es wieder leiser, bis sie es schließlich kaum noch wahrnehmen konnte.

Weiter nichts.

Kein Geruch außer ihrem eigenen Angstschweiß, kein Gefühl außer der beißenden Kälte. Die Dunkelheit war wie eine unüberwindbare Mauer.

Verzweifelt versuchte sie sich ein Bild davon zu machen, wo sie sich befand. Es war absolut finster. Schwarze Bilder auf dunklem Hintergrund, so gegenwärtig wie Eisbären im Schnee. Sicher war alles ganz einfach zu erklären. Mom sagte ja auch immer, sie müsse aufpassen, daß ihre Phantasie nicht mit ihr durchginge. Also stellte sie sich vor, sie läge auf einem Untergrund aus dunkelgrauem Schiefer, umgeben von tintenschwarzer Luft. Wenigstens schaffte sie es mit Hilfe dieser Vorstellung, ihre Panik ein wenig zu dämpfen. Aber nur ein ganz klein wenig.

Als sie versuchte, die Hände auszustrecken, stieß sie an ein kaltes, feuchtes Material, kaum dreißig Zentimeter über ihrem Gesicht.

Zitternd fuhr sie mit dem ausgestreckten Zeigefinger an dem Hindernis entlang: Es zog sich ganz um ihren Körper herum – von oben nach unten, den Rücken entlang und wieder zurück zum Ausgangspunkt über ihrem Kopf. Streckte sie ihre Beine aus, stieß sie bereits nach ein paar Zentimetern mit den Zehen gegen eine feste Wand. Die Gummikappe ihres Turnschuhs federte mit einem dumpfen Aufprall zurück. Auch wenige Zentimeter hinter ihrem Kopf befand sich eine kalte, feuchte Mauer.

Sie war in die Falle gegangen, und jetzt saß sie fest.

Lebendig begraben wie in einem Horrorfilm, den sie heimlich mit ihrer Cousine Stephanie am Freitag abend im Spätprogramm gesehen hatte. Unwillkürlich sah sie sich selbst vor sich, nur noch ein Gerippe mit klaffenden Augenhöhlen und einem grotesken, lippenlosen Grinsen. Voll Entsetzen rang sie nach Luft und drückte heftig gegen die metallenen Wände ihres Gefängnisses.

Aus ihrer Kehle wollte sich ein Schrei lösen, aber sie schluckte ihn herunter und biß sich auf die Unterlippe. Auf keinen Fall wollte sie ihm diese Genugtuung gönnen.

Denn ganz bestimmt war er es, der sie gefangenhielt.

Er hatte sie in diese scheußliche Röhre gesteckt, um ihr einen Schrecken einzujagen, es war einer seiner gemeinen, dummen Späße. Niemand sonst konnte sich so etwas Perverses ausdenken.