Wo das Dunkel herrscht - Judith Kelman - E-Book
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Wo das Dunkel herrscht E-Book

Judith Kelman

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Beschreibung

Wer hat ihren Sohn getötet? Der psychologische Thriller »Wo das Dunkel herrscht« von Judith Kelman jetzt als eBook bei dotbooks. Die Rechtsanwältin Sarah Spooner steht unter Schock, als sie Nachricht vom Selbstmord ihres Sohns Nicky erhält: Niemals hätte ihr Junge sich umgebracht! Überzeugt, dass jemand ihn ermordet hat, fliegt sie nach Cromwell, wo Nicky auf dem Campus seiner Universität starb. Hier erfährt sie, dass Nicky vor seinem Tod tatsächlich in psychiatrischer Behandlung – aber warum? Je mehr sie über die letzten Tage im Leben ihres Sohnes herausfindet, desto enger zieht sich ein Netz aus Lügen und Geheimnissen um sie zusammen: Denn er war nicht der einzige vermeintliche Selbstmörder– eine ganze Reihe Studenten stürzte von derselben Klippe in den Tod ... »Fesselnd ... Es hat mich mitgerissen bis zum schockierenden Höhepunkt!« Bestsellerautorin Mary Higgins Clark So atemlos spannend wie Nicci French, so abgründig wie Joy Fielding! Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Thriller »Wo das Dunkel herrscht« von Judith Kelman ist der erste Band ihrer Reihe um Rechtsanwältin Sarah Spooner, der eigenständig gelesen werden kann. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Die Rechtsanwältin Sarah Spooner steht unter Schock, als sie Nachricht vom Selbstmord ihres Sohns Nicky erhält: Niemals hätte ihr Junge sich umgebracht! Überzeugt, dass jemand ihn ermordet hat, fliegt sie nach Cromwell, wo Nicky auf dem Campus seiner Universität starb. Hier erfährt sie, dass Nicky vor seinem Tod tatsächlich in psychiatrischer Behandlung – aber warum? Je mehr sie über die letzten Tage im Leben ihres Sohnes herausfindet, desto enger zieht sich ein Netz aus Lügen und Geheimnissen um sie zusammen: Denn er war nicht der einzige vermeintliche Selbstmörder– eine ganze Reihe Studenten stürzte von derselben Klippe in den Tod ...

»Fesselnd ... Es hat mich mitgerissen bis zum schockierenden Höhepunkt!« Bestsellerautorin Mary Higgins Clark

So atemlos spannend wie Nicci French, so abgründig wie Joy Fielding!

Über die Autorin:

Mit mehr als zwei Millionen verkauften Exemplaren ihrer Bücher ist Judith Kelman eine Meisterin der psychologischen Spannung. Sie wurde für ihren Thriller »Fürchte dich vor mir« mit dem Mary Higgins Clark Award ausgezeichnet und war Vorsitzende der Mystery Writers of America. Sie lebt in New York City.

Judith Kelman veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Thriller um Rechtsanwältin Sarah Spooner mit den Bänden »Wo das Dunkel herrscht« und »Wenn die Unschuld stirbt« sowie die Standalone-Thriller »House on the Hill«, »Schrei, wenn du kannst« und »The Black Widow«.

***

eBook-Neuausgabe Februar 2024

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1987 unter dem Originaltitel »Where Shadows Fall« bei The Berkley Publishing Group, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1989 unter dem Titel »Wo Dunkel herrscht« bei Goldmann.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1987 by Judith Kelman

Published by arrangement with Peter Lampack Agency, Inc. 350 Fifth Avenue, Suite 5300, New York, NY 10118 USA

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1989 by Wilhelm Goldmann Verlag, München

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Badun, Viktor Zagrai

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-98690-916-1

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In diesem eBook begegnen Sie möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. Diese Fiktion spiegelt nicht unbedingt die Überzeugungen des Verlags wider.

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Judith Kelman

Wo das Dunkel herrscht

Thriller

Aus dem Amerikanischen vom Kollektiv Druck-Reif

dotbooks.

Kapitel 1

Langsam erwache ich aus diesem Alptraum. Nicht daß ich glaube, ich könnte ihn je vergessen. Es ist eher so, als lagerten Splitter von ihm am Rande meines Lebens, verstreut wie feiner Sand, der sich in den Spalten meines Bewußtseins und meiner Erinnerung festsetzt, um dann durch den geringsten Anlaß aufgewirbelt zu werden und auf das niederzuprasseln, was von meiner Welt übriggeblieben ist. Aber ich hatte nie geglaubt, daß ich mich wieder soweit erholen könnte. Ich bin dankbar dafür.

An dem Tag, an dem alles anfing, trennten mich, wie es eigentlich jedermann zusteht, Welten von einem solchen Alptraum. Ben schlummerte noch in unserer Schlafhöhle, in der wir schliefen, uns stritten und liebten und in der wir Nicholas und Allison gezeugt hatten. Er lag zusammengekauert da, seine ergrauten, blonden Locken waren zerzaust wie bei einem kleinen Jungen. Selbstverständlich schnarchte er nicht – gegen eine solche Behauptung verwahrte er sich entschieden –, sondern »atmete lediglich mit Hingabe«.

Ich setzte mich auf, schlüpfte auf meiner Seite aus dem Bett und packte seinen regungslosen Körper wieder in die noch schlafwarme Decke. Als ich meinen dicken grauen Sweater und die marineblaue Windjacke anzog, war ich froh, daß ich mich von ihm zu diesem Gummisohlenwahnwitz hatte überreden lassen. Joggen an sich ist stumpfsinnig, klar. Aber ich genoß dieses selbstvergessene Dahinstürmen ebenso wie die faszinierende Entdeckung meines Körpers, der wie von selbst dahinzulaufen schien.

Vor einer Woche hatte mir Ben ein neues Paar Joggingschuhe zum Geburtstag geschenkt. Beste Qualität, betonte er feierlich. Dazu gab es noch eine Uhr, die die Welt auf Kilometer und Tausendstelsekunden reduziert. Sie belohnte meine ganze Anstrengung mit blinkenden Lichtern und einer ziemlich falschen Version von »Yankee Doodle Dandy«.

Über Nacht war warmer Regen gefallen, und weicher Dunst stieg von den Gehsteigen auf. Mein Atem hinterließ kleine Wölkchen in der Luft, als ich unter großem Gestöhne meine Aufwärmübungen absolvierte. Nachdem sich mein Repertoire erschöpft hatte und es keine Ausflüchte mehr gab, setzte ich mich in Trab.

Meine Füße klatschten auf den feuchten Betonboden und erzeugten merkwürdige Schlurfgeräusche, wenn ich durch einen der gelegentlich auftauchenden, glitschigen Blätterhaufen lief. Dies waren die einzigen Laute, die mich begleiteten, während ich an den verschlafenen Siedlungen und den ersten Spaziergängern von Valley View Road vorbeilief. Dann bog ich nach links in Richtung Hillsdale ab.

Wir lebten nun schon zwanzig Jahre in North Stamford. Als Nicky zwei Monate alt war, verließen wir fluchtartig die Stadt New York mit ihren »Kinder-Verboten«-Schildern, den monströsen britischen Kinderwagen und den dazugehörigen Kindermädchen. Wir landeten in einer Welt mit riesigen Rasenflächen, halsabschneiderischen Kinderkrippen und betont leger wirkendem modischen Firlefanz.

Ben und ich pendelten jeden Tag in die Stadt: er zu seiner Unternehmensberatungsfirma und ich zum Büro des Bezirksstaatsanwaltes, wo ich seit meinem Abschluß an der juristischen Fakultät der Columbia University tätig bin. Und das sind jetzt immerhin schon zwölf Jahre. Nachdem ich eine Weile stellvertretende Leiterin der Abteilung Mord gewesen war, wurde mir die Leitung der Abteilung für Sexualdelikte übertragen, wo ich von allen hinter vorgehaltener Hand »Dr. No« genannt wurde. Aber ich kümmerte mich nicht um diese Spötteleien. Daß Kollegen auf meine Kosten Witze rissen, konnte für mich nur heißen, daß ich es geschafft hatte. Nach Jahren harter, hingebungsvoller Arbeit war ich es nun endlich wert, mit Eifersüchteleien bedacht zu werden.

Meine Abteilung machte sich prächtig. Wir führten durchgreifende Veränderungen durch und Präventivmaßnahmen zur Verhinderung von Vergewaltigungen, der Strafverfolgung und dem Beistand für die Opfer.

Verängstigte junge Frauen, die dem entwürdigendsten, gemeinsten und brutalsten Verbrechen zum Opfer gefallen waren, wurden jetzt nicht mehr dazu gezwungen, ihre intimsten Erlebnisse bloßzulegen, um damit ihre Unschuld zu beweisen. Frauen wurden auch nicht mehr automatisch zu Flittchen abgestempelt, weil sie roten Lippenstift auflegten, schwarze Strümpfe trugen oder verdächtig große blaue Augen hatten. Auch wurde ein »Nein« allmählich als angemessene Reaktion auf sexuelle Belästigung betrachtet. Es wurde auch nicht mehr für selbstverständlich gehalten, daß man über eine Frau herfallen durfte, nur weil man sie zu Drinks oder zum Essen eingeladen hatte. Auch aus rechtlicher Sicht erschienen Frauen in einem anderen Licht: Sie waren nicht länger die »Sirenen«, die arme, ahnungslose Männer in rasende Bestien verwandelten. Aber allem Anschein nach brauchten gewisse Männer auch keine Stimulation von außen, um sich in rasende Bestien zu verwandeln. Wir hatten noch einen weiten Weg vor uns, doch immerhin wandelten sich die Anschauungen allmählich zugunsten der Opfer.

Meine tägliche Route führte mich am Wasserturm vorbei, über die baufällige Autobrücke hinweg und in die Ausläufer des New- Canaan-Gebirges, wo eine Gemeinde von Mayflower-Nachfahren und Martini-Enthusiasten lebte. Während ich dahinlief, schienen die Häuser zu wachsen, als seien sie ebenso gut genährt und mit hervorragenden Erbanlagen gesegnet wie ihre Bewohner.

In der Nähe des Stadtzentrums befand sich eine Aschenbahn der High School, auf der ich meine obligatorischen drei Runden drehte. Ich winkte bekannten Gesichtern zu: der Alten mit dem hervorstehenden Kinn und den beiden Yorkshire-Terriern, die sie an einer verzierten Hundeleine hinter sich herzog; dem jungen Kerl mit dem zerfurchten Gesicht und einem Körper, der von Michelangelo erschaffen schien; dem Polizisten in seiner verschwitzten Uniform, der sich so steif bewegte, als wolle er einen Bullen aus einem Keystone-Cartoon parodieren. Pat sprintete gerade um die Kurve.

»Höchste Zeit, daß Sie auftauchen, Frau Staatsanwältin«, rief er. »Haben Sie verschlafen oder was?«

Meine Uhr zeigte Viertel vor sechs. »Wohl kaum. Was ist mit Ihnen? Brauchen Sie denn überhaupt keinen Schlaf? Also, wenn Sie mich fragen, ich finde solche Energiebündel äußerst deprimierend.«

Er lief zu mir herüber und paßte sich meinem Schritt an. »Heute werden Sie mich bestimmt nicht deprimierend finden, Frau Staatsanwältin. Nicht bei den guten Nachrichten, die ich für Sie habe! Es sieht so aus, als würden Sie tatsächlich den Zuschuß aus dem Nationalen Fonds erhalten. Sie scheinen es doch tatsächlich geschafft zu haben ... nicht schlecht für so ein altes Frauenzimmer!«

»Von wegen altes Frauenzimmer!« Von irgendwoher überkam mich plötzlich ein gewaltiger Energieschub, und ich ließ ihn keuchend hinter mir zurück. Pat (die Kurzform für Paterson Scofield III.) war ein reizender Knabe, der kein bißchen älter als mein Sohn Nick aussah, obwohl er schon siebenundzwanzig Jahre alt war. Seit er vor vier Jahren in Harvard seinen Abschluß in Jura gemacht hatte, arbeitete er für mich in der Kanzlei. Trotz all seiner tadellosen Referenzen und seines aristokratisch vornehmen Aussehens war er einer der wenigen Idealisten, die dieser Welt geblieben sind. All die hochbezahlten Jobs, mit denen ihn Wall-Street-Firmen ständig umwarben, ließen ihn völlig kalt; er strebte nach einer sinnvollen, erfüllten Tätigkeit. Wir sind zu engen, wenn auch ungleichen Freunden geworden.

Ich tat so, als würde ich meine Schuhe binden, und gab ihm so Gelegenheit, mich wieder einzuholen. Neugierig wie ich war, drängte es mich, nachzufragen und mir die frohe Botschaft nochmals bestätigen zu lassen. »Glauben Sie wirklich, daß wir den Zuschuß bekommen werden? Was haben Sie denn gehört? Sie wissen ja, ich habe nicht einmal gewagt, mir Hoffnungen zu machen. Wenn Hodges den Etat bekommt, wird er ein vollständiges Dienstleistungsprogramm einrichten: eine Gruppe von Psychotherapeuten, Überbrückungshilfe, längerfristige Betreuung, Öffentlichkeitsarbeit, Forschungsstudien und so weiter und so fort. Klingt zu schön, um wahr zu sein!«

»Gestern nacht habe ich zufällig meine Freundin von der Geschäftsstelle getroffen, und sie hat ganz zufällig erwähnt, daß es praktisch beschlossene Sache sei. Vor allem dann, wenn wir den ›Harper-Fall‹ gewinnen. Und den haben wir eigentlich schon im Sack, noch bevor die Geschworenen gewählt werden.«

»Sie haben wohl überall Freunde«, sagte ich schnippisch. »Wie wär’s, wenn Sie mal darüber nachdächten, sich gleich zum Präsidenten der ganzen Welt wählen zu lassen?«

»Wenn ich nur Zeit dafür hätte. Aber leider arbeite ich für eine gewisse Lady, die eine wahre Sklaventreiberin ist.«

»... passen Sie bloß auf, wen Sie eine Lady nennen, Freundchen«, witzelte ich in meinem besten Humphrey-Bogart-Stil. »Und was heißt überhaupt ›beschlossene Sache‹?«

»Es handelt sich nur noch um ein paar Stempel, das ist alles. Die Geschäftsstelle hält nach ein paar Brocken Ausschau, die sie den Feministinnen vorschmeißen kann. Das ist zwar nicht die feine Art ...«

»Aber wen stört’s? Einzig wichtig ist, daß wir das Programm bekommen, und nicht das Wie und Warum dieser Großzügigkeit. Hodges ist ein anständiger Staatsanwalt, allerdings dreht er jeden Cent zweimal um, bevor er ihn bewilligt. Aber da wir das Geld nicht von anderer Seite bekommen, kann man nichts machen. Das ist ja super, echt toll ... das heißt, falls Sie sich der Sache wirklich sicher sind. Obwohl ich es hasse, wenn am Ausgang eines Falles gedreht wird. Es kann immer irgendetwas schiefgehen.«

»Die Sache klappt. Um den Fall brauchen Sie sich keine Sorgen mehr zu machen. Er ist wasserdicht, luftdicht, gefriergetrocknet und keimfrei. Nach Ihrem geschliffenen Plädoyer werden die Geschworenen den Kerl teeren und federn. Nun gehen Sie, und feiern Sie das Ganze mit einer heißen Dusche. Sonst werden Sie schon wieder den Zug verpassen.«

Er scherte aus und schnellte mit Leichtigkeit davon. Pat war wirklich ein Prachtkerl! Auf der Suche nach einer passenden Partie ging ich zum abertausendsten Mal alle in Frage kommenden weiblichen Bekannten durch, aber er war einfach zu gut für sie. Und zum abertausendsten Mal wünschte ich mir, daß Allison, meine Tochter, alt genug für ihn wäre. Aber selbst meine allerliebste heranwachsende Tochter mit ihrem scharfsinnigen Humor und ihrem aufbrausenden Temperament schien nicht gut genug für ihn zu sein. Noch nicht Jedenfalls.

Ich sah ihn über einen Zaun springen und die South Avenue hinauflaufen. Trotz meiner Warnungen vor den Trostlosigkeiten des Lebens in Vororten hatte er eine kleine Wohnung in der Nähe des Bahnhofs gemietet und schien es nicht zu bereuen. Pat gehörte zu den Leuten, die einfach immer das Beste aus jeder Situation machen und einen damit bis zur Weißglut reizen können.

Nach diesen guten Neuigkeiten sprintete ich mit neuem Schwung auf die Straße zurück. Auf dem Rückweg lief ich meistens die Elm Street entlang und einen kleinen Hügel hinunter, der nur ein paar Blocks von zu Hause entfernt war. Heute aber trug mich eine Welle der Euphorie um die Kurve zur langen Strecke, auf der Ben täglich seine sechs Meilen lief. Kalte Schweißperlen liefen mein Gesicht herab und benetzten die empfindsame Stelle zwischen meinen Brüsten. Mein Herz hüpfte in einem vergnügten Rhythmus, und ich mußte über die ab und zu aufblendenden Autos grinsen, deren grimmig dreinblickende Insassen den Sechs-Uhr-acht-Zug erreichen wollten.

Ich rannte mit Leichtigkeit und ohne Anstrengung dahin. Auf diese Weise hätte ich stundenlang weiterlaufen können, doch der kleine Jogger in meiner Uhr erinnerte mich daran, daß es im Leben noch andere Dinge gab als das reine Vergnügen ... Widerwillig machte ich mich auf den Heimweg.

Das Haus war dunkel, und ich nahm an, daß Ben verschlafen hatte. Super, dachte ich. Ich könnte ihm die warme Decke wegziehen und mit ihm gemeinsam unter die Dusche gehen. Ich spürte förmlich schon die vertraute Wärme seines nassen Körpers, wenn er sich an mich drückte ... Wir konnten ja immer noch den Zug um acht Uhr dreißig nehmen oder mit dem Auto fahren.

Als ich die Tür öffnete, mußte ich bei diesem Gedanken lächeln. Ich würde auf Zehenspitzen in unser Schlafzimmer schleichen und ihn mit einem verschwitzten Kuß wecken. Aber er war schon wach. Er saß auf dem gemütlichen Tweed-Sofa im Wohnzimmer und starrte ins Leere.

»Was hast du, Ben?« Sein Gesicht war so schlaff und leer. Mein Herz begann wie wild zu schlagen, und die Schweißperlen auf meiner Haut erstarrten zu Eis.

Sein Blick war starr und teilnahmslos, seine Worte klangen wie das Echo aus einem tiefen Schacht. »Eben kam ein Anruf aus Cromwell. Nicky ist ... er ist tot. Er hat sich das Leben genommen.«

»Was sagst du? Von was redest du?«

»Sie sagten ... er war tot, als sie ihn fanden. Sie sagten, daß er es wahrscheinlich in der Nacht getan hat. Als sein Mitbewohner heute morgen nach ihm sehen wollte, war er fort. Mike, so heißt der Junge, war aus irgendeinem Grund beunruhigt und rief die Campus-Polizei. Sie fanden Nicky ... unten in der Schlucht.«

Ich drückte seine Hand so fest ich konnte. »Hör auf damit, Ben! Hör auf! Was redest du da?«

Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß. Es ist Wahnsinn. So unvorstellbar.«

»Hör auf!« Der Schrei kam aus den brodelnden Tiefen meines Innersten. »Hör auf!«

Alles um mich herum verschwamm und das Licht verdüsterte sich zu einem unheimlichen, milchigen Nebel. Die Luft war wie ein zähflüssiger Brei, undurchdringbar für mich ... Und Ben kam nicht an mich heran. Ich war zu weit weg.

»Sarah, bist Du o. k.? Sar? Ich werde Dr. Jasper anrufen. Er wird dir etwas geben.«

»Hör auf!« Die Worte erstarben auf meinen Lippen. »Nicky?«

»Ich weiß, Kleines.« Bens Nähe nahm mir die Luft zum Atmen, ich hatte das Gefühl, zu ersticken. »Ich weiß. Irgendwie werden wir damit schon fertig.«

»Nicky?« Ein klägliches Wispern. Vielleicht war ja alles nur ein Scherz. Ein schreckliches Spiel. Ich konnte förmlich sehen, wie er durch den Türspalt spähte, mit diesem mutwilligen Lächeln. Nicky liebte Überraschungen. »Nick?«

Ich versuchte, Ben von mir wegzuschieben, doch mir fehlte die Kraft. Alles um mich herum sank in sich zusammen, tauchte mich in ein Meer wohltuender Leere.

Schlafen, für immer schlafen, dachte ich. Sich fallen lassen, alles vergessen. Warum ist mir der Gedanke nicht schon früher gekommen? Für immer schlafen, warum nicht? Es gab nichts anderes mehr für mich, nichts. Es war alles so schrecklich, schrecklicher konnte es nicht mehr werden ...

Kapitel 2

Meine Mutter und Tante Lorraine standen neben mir und schirmten mich von beiden Seiten ab. Die Luft war warm und dünn. Eine schier endlose Menschenmenge überschüttete mich mit Beileidsbekundungen, bis ich das Gefühl hatte, in dieser Flut von Kondolenzen zu ertrinken.

»Es ist eine Tragödie. Schrecklich«, murmelte Lorraine ständig vor sich hin, schüttelte ihren Kopf und wischte mir die feuchten Haarsträhnen aus der Stirn. Ihre dicken Finger rochen nach sautierten Zwiebeln und verrauchtem Shalimar. »Alles in Ordnung, Sarah? Mein armes, armes Mädchen.«

»Weiß man eigentlich den Grund?« flüsterte irgendwer.

»Psst«, zischte Mutter, »nicht jetzt.« Sie wandte sich an Lorraine und flüsterte ihr in verschwörerischem Ton zu: »Diese Martha Evantoff hatte doch noch nie einen Funken Verstand. Bei Gott, warum sollte das gerade heute anders sein? Weißt du noch, wie sie sich damals im Club aufgeführt hat? Ich kann nicht verstehen, wie Lou es mit ihr ausgehalten hat.«

»Lou war ein Heiliger«, antwortete Lorraine. »Martha hat ihn nie verstanden. Möge er in Frieden ruhen.«

Ein neues Gesicht. »Sarah, mein Liebling. Du erinnerst dich doch an Mrs. Pettrone? Sie wohnte damals auf der anderen Seite des Blocks in Riverdale – in 38. Sie hatte das kleine, süße Mädchen, Rebecca, mit dem du immer gespielt hast. Wie geht’s Rebecca, Fran? Ist sie verheiratet? Hat sie Kinder?«

Ich lehnte mich gegen meine Mutter. Ihr kräftiger, weicher Körper und der vertraute Geruch nach all ihren Pudern und Sprays beruhigten mich. Laß Mutter machen, Mutter wird das schon hinkriegen. »Harold, das ist aber nett, daß du gekommen bist«, sagte sie. »Du mußt Sarah entschuldigen. Sie ist nicht ganz bei sich.«

Nicht ganz bei sich sein, dachte ich. Nicht mehr sein. Der Raum wirkte erdrückend. Bei der leisesten Bewegung knackste der Boden unter meinen Füßen wie trockenes Reisig. Die Luft schien auf einmal zu flirren, alle Konturen verschwammen ... Cousine Ruth schien langsam mit meiner Cousine Phyllis zu verschmelzen. Bens Verwandte aus Philadelphia hingen wie eine Traube zusammen. Im dichten Stimmengewirr hörte ich die Melodien des normalen Lebens: Gekichere, Begrüßungen, Menschen, die wie Cocktailgläser aneinanderklirren. Wie seltsam. Das normale Leben ging weiter, obwohl meines langsam in einem dunklen Sumpf der Verzweiflung unterging.

»Bist du in Ordnung, Liebling? So ist es recht.« Mutter tätschelte meine Hand und wischte mir mit einem gestärkten Spitzentaschentuch den Schweiß von der Stirn. »Das ist das Schlimmste, glaub mir. Als dein Vater ...«

»Was für eine Tragödie. Ich war so betroffen, als ich davon erfuhr ...«

»Wirklich nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind. Ist es nicht nett, Sarah? Sie sind extra von New Jersey hierhergekommen.«

Ein großer junger Mann mit Mundgeruch und Aknenarben kam auf mich zu und räusperte sich, um auf sich aufmerksam zu machen. »Nicky war ein sehr guter Freund von mir, Mrs. Spooner ... aus Stamford High. Wir spielten zusammen in der Jugendfußballmannschaft. In Biologie saßen wir nebeneinander.«

»Nett von dir, daß du gekommen bist. Bist wirklich ein hübscher Junge. Ich wette, daß dir alle Mädchen nachlaufen. Ist er nicht hübsch, Sarah?«

Tante Lorraine schielte pausenlos auf die kleine Diamantuhr, deren Armband sich um ihr fettpolstriges Handgelenk spannte. »Wann fangen sie an?«

»Bald. Du weißt doch, sie warten immer ein paar Minuten auf die Nachzügler«, antwortete Mutter.

»Elf Uhr heißt elf Uhr. Wenn das einer nicht weiß, dann hat er eben Pech gehabt.«

»Hör auf, Lorraine. Du regst Sarah damit auf. Wie geht es dir, Liebling? Brauchst du ein Valium?«

Ben, der in der Mitte des Raumes stand, umarmte Trauergäste und schüttelte Hände. Hatte sich völlig unter Kontrolle. War so normal. Es war wie ein Theaterstück, das ich durch einen gazeartigen Bühnenvorhang beobachtete. Nichts, was hier geschah, hatte mit Ben zu tun. Oder mit mir. Oder mit Nicky.

» ...Sar, wenn wir irgendetwas für dich tun können, bitte sag es uns. Larry und ich können sehr gut verstehen, wie du dich fühlst, armes Mädchen. Wir haben das gleiche mit Larrys Onkel durchgemacht. Er war Anfang Dreißig, da fängt das Leben erst an. Einfach schrecklich.«

Ein finster dreinblickender, kleiner Mann mit dunklem Teint und formlosem schwarzem Mohairanzug erschien in der Tür. Er faltete die Hände und sagte mit unerwartet tiefer Stimme: »Meine Damen und Herren, wir möchten Sie bitten, jetzt Ihre Plätze in der Kapelle einzunehmen. Nur die nächsten Verwandten bitte ich ...«

Seine tragende Stimme trieb die Menge durch den Gang in Richtung Kapelle, in der harte Holzstühle aufgereiht waren. Allison schaute mich an. Ein fragender, zorniger Blick. Aber ich hatte ihr nichts zu sagen. Die Nacht zuvor hatte ich es versucht. Verzweifelt saßen wir aneinandergeklammert auf ihrem Bett und fanden dennoch keinen Trost. Wimperntusche lief uns über das Gesicht und tropfte auf ihre heißgeliebten Teddybären. »Warum, Mom?« klagte sie immer wieder. »Warum?« Verzweifelt tat ich mein Bestes, ihren Kummer mit Worten zu mildern. »Ich bin mir sicher, Kleines, es war alles nur ein unglückliches Mißgeschick. Du weißt, wie so etwas passieren kann. Nicky war immer schon ein Scherzbold, immer am Rumblödeln.« Meine Worte verpufften in der bedrückenden Stille des Raums. Sinnlos. Ihr schmächtiger Körper zitterte und bebte noch immer vor Kummer. Tief aus ihrer Kehle kam ein Stöhnen, das ihren ganzen Schmerz enthielt. Mein Trost bewirkte nichts. Ich konnte ihr nicht helfen.

Nur an Ben schien alles irgendwie spurlos vorübergegangen zu sein. Selbst jetzt, da er die letzten Gäste empfing, agierte er wie auf einer Auktion. Schließlich, als sich auch der letzte Nachzügler in Bewegung gesetzt hatte, nahm er meinen Arm. »Schaffst du es, Sar? Schau dir diese Menge an. Es müssen fünf- bis sechshundert sein. Da merkt man erst, wie viele Freunde man hat – wenn ...«

»Wir müssen jetzt reingehen.« Das war nicht meine Stimme.

»Ist schon gut, Sar. Laß uns jetzt gehen. Laß es uns hinter uns bringen.«

Ich überließ mich ganz der Sicherheit, die von Ben ausging. Mein Körper war zu den einfachsten Bewegungen nicht mehr fähig. Jeder Schritt erforderte umsichtige Planung: Ich mußte das kraftlose Bein heben, es nach vorne setzen und meine ganze Energie hineinlegen, um nicht zusammenzubrechen. Ich atmete ganz bewußt. Bei jedem Augenzwinkern verschwand die Welt um mich herum, und für einen glücklichen Augenblick ließ ich alles hinter mir ...

»Ich bat ihn, es kurz und schmerzlos zu machen«, sagte Ben. »Ohne diese tränenreichen Lobreden. Du weißt ja, die meisten dieser Typen sind frustrierte Schauspieler.«

Am Eingang zur Kapelle machten meine Füße nicht mehr mit. »Ist Nicky da drin, Ben? Ja?«

»Komm, Sarah, nicht jetzt.«

»Ich kann nicht ... nein, Ben!«

Überall waren Arme, die an mir zerrten und mich führten, bis ich an meinem Platz war. Ich war dem polierten Mahagonisarg so nahe, daß ich das frische Holz riechen und mein verzerrtes Spiegelbild darin sehen konnte. Ich kam mir wie in Watte gepackt vor, als sollte ich die Tränen und das verzweifelte Zucken um meine Mundwinkel nicht spüren. Es war nicht mehr ich, die da schluchzte und schrie und verzweifelt versuchte, mit ihren Fingernägeln die Realität zu zerfetzen. Nichts davon hatte mit mir zu tun. Ich wurde hinweggetragen an einen Ott, wo mich nichts mehr erreichen konnte, wo die scharfen Kanten der Realität abgerundet und gepolstert waren. Nichts war mehr von Bedeutung. Nichts würde jemals wieder von Bedeutung sein.

Der Mann im schwarzen Talar sprach mit tiefer grollender Stimme. Wie ein riesiger Vogel hob er seinen Arm und streckte seine Finger über Nickys Sarg aus. Im Raum herrschte ehrfürchtige Stille, während er seinen Sermon vor sich hin leierte und vorgab, betroffen zu sein, womit er einen Teil unseres Leids beanspruchte ... »Es war mir leider nicht vergönnt, Nicholas Spooner persönlich kennenzulernen. Jetzt aber, nachdem ich gestern abend mit seinen Lieben gesprochen habe, weiß ich, daß er ein intelligenter und fleißiger junger Mann war. Nicholas bemühte sich stets, sowohl im Sport als auch in der Schule. Er genoß das Ansehen seiner Kameraden und seiner Lehrer. Nick gehörte zu jenen Jungen, die nie schlecht von anderen sprachen. Er war Allison ein liebevoller Bruder, und er war ein aufmerksamer Enkel, der seine Großeltern respektierte. Zum Zeitpunkt dieses tragischen Geschehens besuchte er gerade eine unserer besten Universitäten und legte den Grundstein für eine berufliche Karriere. Er war ein Junge, der eine große Zukunft vor sich hatte ...«

Dieses hohle und verlogene Gewäsch amüsierte mich, so daß ich mir auf die Zunge beißen mußte, um nicht loszukichern. Ich wartete förmlich darauf, daß Nick plötzlich aus der dunklen Holzkiste hüpfen würde ... Er würde mit der Hand um Ruhe bitten und dann Reverend Batman zurechtweisen: »Machen Sie mal halblang. Ich unterbreche nur ungern jemanden, der gerade dabei ist, sich selbst zum Narren zu machen, aber alles, was Sie sagen, ist völliger Schwachsinn. Sie müssen einen anderen Nick Spooner im Sinn gehabt haben ...«

» ... Ruhe in Frieden. Amen.«

Es war vorbei. Die Stühle kratzten auf dem Holzboden. Erleichtertes Stimmengewirr erhob sich. Hände schoben mich durch eine Menschenmenge, hinaus zum wartenden Auto. Jetzt werden wir Nick zu Grabe tragen. Ben wiederholte dieses Satz immer wieder, als wüßte er, daß ich ihn nicht verstehen konnte.

In unserem Haus roch es nach Zitronenwachs und frischem Kaffee. Mutter hatte ein paar von ihren ältesten und besten Freunden zusammengetrommelt, um die Trauergäste gebührend empfangen zu können. Auf dem Eßtisch standen Platten mit belegten Brötchen und kleinen Pasteten. Auf der Anrichte waren die Spirituosen aufgereiht. Irgendjemand hatte meine große Kaffeemaschine gefunden und sie frisch poliert. Seit Nickys Abgang von der High School hatte ich sie nicht mehr benutzt.

»Wie auf einer Party«, sagte ich.

»Hier, Liebling, nimm ein Stück. Du mußt bei Kräften bleiben.« Ethel, eine Freundin von Mutter und ein Riesenweib mit einer Frisur, deren Form mich an einen Baseballhandschuh erinnerte, drückte mir einen Teller mit Essen in die Hand.

»Nein, danke.« Beim Anblick des Essens wurde mir schwindlig. Mein Kopf und mein Magen fingen an, gegeneinander zu rebellieren.

»Laß sie in Ruhe, Ethel. Sie wird später etwas essen.«

Honey, meine Schwester, ein sehniges Energiebündel, schob die Frau beiseite.

»Schau, Honey. Sarah muß unbedingt was essen«, sagte Ethel. »Sie braucht jetzt eine Stärkung.«

»Freilich, Ethel, du hast schon recht. Es liegt mir fern, die Heilkräfte von Lachs und Baguettes in Frage zu stellen.«

»Honey, das reicht jetzt«, sagte Mutter. »Ethel hat sich soviel Mühe gegeben.«

»Das weiß ich. Und genau deshalb glaube ich, daß es für sie das Beste wäre, sich ein bißchen hinzulegen und Sarah in Ruhe zu lassen.«

Auf Ethels teigigen Wangen erschienen plötzlich rosarote Flecken. »Du warst mal so ein liebes Mädchen, Honey. Was ist bloß los mit dir?«

Also nahm ich den überladenen Plastikteller und einen Becher mit dampfendem Kaffee. Ich hatte einen bitteren Geschmack im Mund, doch ich zwang mich zu ein paar Bissen, damit Ethel endlich wieder zufrieden war und sich wieder ihrer ziellosen Geschäftigkeit hingeben konnte.

Honey schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut mir leid, ich hab’s versucht.«

»Sie meint es gut. Jeder hier meint es gut.«

Sie drückte mir die Hand und verdrehte ihre blauen Augen zur Decke. »Lieber Gott; befreie uns von den guten Absichten der unwiederbringlich Irregeleiteten.«

Mein Geduldsfaden war kurz vor dem Zerreißen. »Bitte, Honey, hör auf.«

»Gut, Sar. Ich bin schon wieder ganz brav.« Sie schaute mich besorgt an. »Alles in Ordnung mit dir? Kann ich dir irgendwie helfen?«

»Nein.« Ich wollte losschreien, aber der Schmerz schnürte mir die Kehle zu. »Es geht schon wieder.«

»Sicher. Du packst das schon. Es dauert eine Weile, das ist alles. Du wirst schon sehen.«

Sie war nicht zu bremsen. »Nicht jetzt, Honey. Bitte.«

Sie biß sich auf die Unterlippe und hob schuldbewußt ihre schmalen Schultern. »Es ist verrückt, Sar. Ich komme mir vor wie in einem fremden Land, in dem ich nicht weiß, wie ich mich verhalten soll.«

»Ich weiß.«

Irgendwie gelang es mir, mich wegzustehlen, und ich nahm auf einem der karierten Sessel im Wohnzimmer Platz. Wiederum scharten sich die Leute um mich, genau dieselben, die auch in der Kapelle und bei der Beerdigung gewesen waren. Ein Kreis von ernst dreinblickenden Gesichtern schloß sich um mich und bekundete mir linkisch seine Anteilnahme. Sollte das denn nie enden?

Pat stand neben mir. Der gute Pat. So wärmend und wohltuend wie eine warme Suppe an einem kalten Winterabend. »Wenn du etwas brauchst, Sarah, ruf an. Und ums Büro brauchst du dir keine Sorgen machen. Wir erledigen das für dich. Laß dir Zeit.« Gerade als ich mich umdrehte, um ihm zu antworten und ihm zu danken, war er schon wieder in dem dichten Menschengewühl, das sich in der Mitte des Zimmers sammelte, untergetaucht.

Jeder der Anwesenden gab sich mit meinen dahingemurmelten und nichtssagenden Antworten zufrieden. Man erwartete nicht viel von mir. »Laß nur. Bleib sitzen, Sarah ... Kann ich irgendetwas für dich tun?«

Allison stand mit ein paar Freunden in einer Ecke. Zwei Mädchen, die ich kaum kannte: Die eine wirkte wie ein kecker »Cheerleader« mit kleinen zitronengroßen Brüsten und Pflaumenpopo, die andere war rund und rosig. Der Junge war groß, blond und schlaksig. Er lümmelte an der Wand wie ein großes Fragezeichen. Ich fragte mich, ob er jener berühmte William »Coty« Wheeler sei, der Star auf dem Footballfeld und der Schwarm aller Mädchen. Die drei Mädchen schwänzelten um ihn herum. Der Junge wiederum trat von einem Bein aufs andere wie ein aufgeregter Wellensittich.

Ben drückte mir ein Glas Scotch mit Eis in die Hand. »Bist du in Ordnung?«

In Ordnung sein? Blöde Frage. Ich blickte in Bens Augen, als fände ich darin die Antworten auf meine Fragen. Die gleichen grünen und intelligenten Augen wie bei Nicky. Diese dichten, ergrauten Locken. Wo war sein Leiden? Seine Verzweiflung? Seine Normalität war für mich wie ein Schlag ins Gesicht. Wie konnte er nur so gefaßt sein, wenn ich am Boden zerstört war?

»Mir geht’s großartig, Ben. Wieso auch nicht? Schließlich ist ja nichts passiert. Wenigstens nichts Großartiges. Es ist alles beim Alten, nicht wahr?«

Erstaunen malte sich in sein Gesicht. »Beruhige dich, Sar, sei so lieb. Laß es nicht an mir aus.«

»Nein, natürlich nicht.« Mir versagte die Stimme, als ob mir die Wahrheit die Kehle zuschnürte. Für Ben war die ganze Angelegenheit eine lästige Unannehmlichkeit, nur eine kurze Unterbrechung im normalen Lebensablauf. Sonst nichts. Eiseskälte überfiel mich, als mir bewußt wurde, daß ich mich ganz alleine mit dieser Sache auseinandersetzen müßte. Ben war bereit, unseren Sohn aus seinem Leben zu streichen – aus und vorbei. Der Tod Nickys war mein Leid – mein Problem ...

Und ich würde es lösen müssen.

Kapitel 3

Durch mein Schlafzimmerfenster blinzelte mißbilligend die Morgendämmerung herein, als ob sie mich nötigen wolle, endlich meine Untätigkeit aufzugeben. Widerwillig verkroch ich mich unter der Bettdecke. Ich wollte mich einfach nur treiben lassen, suchte den schalen Trost eines tiefen Schlafes.

Wieviel Zeit war vergangen? Schwer zu sagen. Die Zeit war so elastisch wie ein Gummiband. Einmal dehnte sie sich fast bis zum Vergessen, das andere Mal wieder schnalzte sie zu einem dicken und verworrenen Knäuel zusammen. Erinnerungsfetzen stürzten wahllos auf mich ein: Nicky auf der Bühne bei einem Buchstabierwettbewerb der sechsten Klasse; Ali und Nick, wie sie im Sommer in Nantucket am Ufer spielten; meine erste Verabredung mit Ben in der Universität von New York; meine Mutter, wie sie mich belehrte, als ich zum Bus ging: »Schlurfe nicht so, Sarah. Du gehst wie eine Ente.«

All diese Bilder liefen durcheinander, und ich hatte weder die Kraft noch das Bedürfnis, sie zu ordnen. Die kleine Ali und Nick in der Badewanne, wie sie mit glänzenden Körpern im Schaum herumplanschten; Nick mit einer erschreckenden Platzwunde nach einer verlorenen Rauferei mit einem Hinterhofschläger; Nick als Ringträger bei Tante Honeys dritter Hochzeit, wie er in seinem »Lord-Fontleroy«-Anzug auf meinen Füßen stehend mit mir herumtanzte. »Mommy, wenn ich einmal groß bin, dann heirate ich dich.«

Während dieser Berg- und Talfahrt durch mein Bewußtsein versuchte ich, durch meditative Übungen dem gefährlichen Strudel der Wirklichkeit fernzubleiben. Aus der sicheren Distanz meines weichen Kokons hörte ich, wie Allison beim Kommen und Gehen die Tür hinter sich zuwarf und wie Ben halbherzig versuchte, mich aufzumuntern.

Hatte ich denn kein Recht zu schlafen? Ich war dieser enervierenden Ratschläge überdrüssig: »Iß etwas, Sarah!« Oder: »Möchtest du nicht Mrs. Heptauer ein paar Zeilen schreiben? Hier ist ihre Anschrift. Sie spendete in Nickys Namen für die Krebshilfe. War doch nett von ihr, nicht wahr? Erinnerst du dich an Mrs. Heptauer? Du hast auf ihren Sohn Arthur aufgepaßt.«

Überall diese lästigen, aufdringlichen Menschen, die mich die ganze Zeit belagerten. An erster Stelle die Polizei. Die Polizei von Cromwell schickte uns zwei wahre Comicfiguren, die in Nickys Fall ermitteln sollten. Sie nannten es Nachforschungen, obwohl sie nicht anderes taten, als Kaffee zu trinken und unleserliches Zeugs auf Papierfetzen zu schmieren.

»Was für ein Junge war Nicholas, Mrs. Spooner?«

»Ist, Sie meinen wohl ist!« Ich bemühte mich, der Polizei gegenüber Geduld zu bewahren. Aber sie hörten nicht auf, mir solch blödsinnige Fragen zu stellen. Und außerdem schienen sie sich meine Antworten nicht merken zu können. »War er depressiv, Mrs. Spooner? War er irgendwann mal in psychologischer Behandlung? Selbstmord ist, wie Sie sicherlich wissen, ein immer häufigeres Problem bei unseren Heranwachsenden.«

Und dann waren da die Leute vom Bestattungsinstitut, die Verwandten, die Nachbarn und die Freunde. Sie hingen wie Kletten an mir, machten es mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, nahmen mir die Luft zum Atmen. »Könnt ihr sie nicht bitten zu gehen? Bitte, ich bin so müde.«

»Ja, Liebling. Ich verstehe dich ja. Aber gedulde dich noch ein bißchen. Du willst sie doch nicht brüskieren, oder, Liebling? Sie meinen es doch alle nur gut mit dir.«

Ich war so froh, als sie sich langsam verabschiedeten. »Bye, Sarah, Ben. Bye, Allison. Hoffentlich sehen wir uns bald unter angenehmeren Umständen.«

»Ja, Tante Marsha.« Ihr Kuß schmeckte immer noch nach Menthol, so wie ich ihn von früheren Familientreffen in Erinnerung hatte. Mutter hatte jahrelang mit Marsha und ihrer Familie kein Wort gewechselt. Ich hatte mich nach der Ursache erkundigt, aber es muß wohl eine sehr peinliche Angelegenheit gewesen sein, denn keiner konnte sich mehr daran erinnern.

Nacheinander verließen sie das Haus in einer durch verwandtschaftliche Beziehungen festgelegten Reihenfolge. Schließlich verabschiedete sich auch Mutter in ihrer bewußt unverbindlichen Art. »Bist du sicher, daß du nicht irgendetwas brauchst?«

An was mochte sie dabei bloß denken? Alles, was mir wichtig war, hatte ich verloren. »Ich bring dich heim, Mutter«, bot Honey an. Man sah meiner Schwester an, daß sie es in dieser erstickenden Trauerhausatmosphäre einfach nicht mehr aushielt. »Bye, Kleines. Was hältst du davon, nächste Woche mal in die Stadt zu kommen? Wir könnten bei Bloomies einkaufen, bis die Kreditkarten ausgefranst sind, und danach piekfein essen gehen.«

»Ich weiß nicht recht, Honey.«

»Jetzt komm schon, Sar. Das Leben geht weiter. Es wäre bestimmt nicht in Nickys Sinn, daß du dich jetzt so gehen läßt. Du siehst zum Fürchten aus, Schätzchen.«

Das war noch freundlich ausgedrückt. Meine Haare waren am Hinterkopf völlig plattgedrückt; ansonsten bildeten sie ein wildes Gestrüpp von Locken und Fransen. Seit einiger Zeit haßte ich die wenigen grauen Strähnen, die sich in das ausgeblichene Blond eingeschlichen hatten. Ich hatte auch vorgehabt, etwas dagegen zu unternehmen ... aber das war davor gewesen, gehörte zu einem anderen Leben.

Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich mir das letzte Mal die Haare gewaschen oder geduscht hatte. Ich hatte auch kein Bedürfnis danach. Der süßliche, modrige Geruch meines Körpers beruhigte mich irgendwie. Ich glitt mit meiner Zunge über die körnige Oberfläche meiner Zähne. Mein Mund schmeckte schal und bitter, aber ich wußte, daß Zähneputzen auch nichts daran ändern würde. Diese Fäulnis kam aus meinem tiefsten Inneren. Um bis zu diesem Punkt zu gelangen, würde ich viel Zeit brauchen ...

Um mein Bett herum lagen zerknüllte Taschentücher und einige Baumwollnachthemden, die ich ausgezogen hatte, nachdem ich des Nachts völlig durchgeschwitzt aus schrecklichen Alpträumen erwacht war. Es war immer wieder derselbe Traum. Nicky, wie er verzweifelt die Hand nach mir ausstreckte ... Mein Arm, der mir beinahe ausgerissen wurde, wenn ich versuchte, ihm zu helfen ... Dann ein heißer, stechender Schmerz, der durch meinen Körper fuhr und meinen Verstand versengte. Wie ich mich streckte, um in diesen Kampf einzugreifen, die Oberhand zu erlangen ... Aber wie dann, genau in dem Moment, wenn ich erleichtert glaubte, am Ziel zu sein, seine Finger zu kalter, grauer Asche erstarrten und abfielen.

»Nicky!«

War ich ein ordentlicher Mensch? Oder war ich schlampig? Zwischen mir und jeder Vorstellung von dem, was man gemeinhin Identität nennt, lag ein Trümmerfeld ... Wo schlief Ben? Ben? Seine Betthälfte war leer, kalt und geruchlos.

Geistesabwesend strich ich mit den Händen über meinen Körper. Wie lange war es schon her? Ich hatte abgenommen. Honey würde es gutheißen: »Genau, wie man es sich wünscht. Ein dickes Bankkonto und eine Wespentaille, Schätzchen.«

Weder das eine noch das andere interessierte mich. Mein Körper gehörte wohl zu meinen zweifelhafteren Vorzügen. Als ich zwölf Jahre alt war, hatten sich ohne meine Zustimmung dralle Rundungen und verwirrende Spalten entwickelt. Von diesem Zeitpunkt an tendierten die Leute dazu, mit meinen Brüsten zu reden, als ob sie der Ort meiner Intelligenz wären und mein Kopf nur eine überflüssige Verzierung darstellte.

Reichtum war das einfache Zusammenwirken von Glück und Können. Ben und ich scherten uns wenig um irgendwelche Statussymbole, eine Lebenseinstellung, die Honey mit Argwohn erfüllte. Meine Schwester und ich mochten aus der gleichen genetischen Masse geschaffen und von derselben Gebärmutter ausgetragen worden sein, dennoch waren wir grundverschieden. Wir waren dazu verdammt, einander niemals lieben zu können, es sei denn, wir drückten beide Augen zu.

An diesem Morgen mißlang mein Fluchtversuch. Meine Augen wollten sich einfach nicht schließen. Ich starrte auf einen Sonnenstrahl, der wie ein Schwert im Schlafzimmerteppich steckte. Von draußen hörte ich das durchdringende Kreischen eines Vogels, der sich in ständigen Wiederholungen erging. Ein Auto hupte, und ich hörte, wie Allison fast lautlos in ihren Turnschuhen auf dem gepflasterten Gehweg dahinhuschte. Die Tür wurde geöffnet, und für einen kurzen Moment drang laute Rockmusik und jugendliche Heiterkeit zu mir herauf. »Hey, Ali. Alles klar?« Mein Kind lachte. Irgendwie – wenn auch nur für einen Moment – schaffte sie es, alles zu vergessen.

Für wie lange? Ich wendete mein Kopfkissen und sank in die angenehme Frische. Wann hatte ich zum letzten Mal etwas gegessen? Wenn ich nur an Essen dachte, wurde mir schon übel. Die nie enden wollenden Bedürfnisse meines Körpers und die nutzlose, unaufhörliche Monotonie meines Pulsschlags und meines Verlangens ekelten mich an. Das war das Problem der Menschheit. Eines der Probleme. Wir waren Sklaven unserer körperlichen Bedürfnisse. Die höheren menschlichen Werte kamen erst am Ende einer langen Liste, die anfing mit Essen, Schlafen, Ausscheidung, Liebemachen, Atmen, Arbeiten (wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge). Das war der Grund, warum es soviel Leid und Enttäuschung gab. Aber diese Erkenntnis machte es auch nicht leichter, das Ganze zu ertragen.

Das Analysieren sollte man noch hinzufügen: der unstillbare Drang, das Leben unter einem Mikroskop zu betrachten, zu beobachten, wie alles durcheinanderwuselte ... und dann die unumstößlichen, wenn auch falschen Behauptungen und Urteile über das, was man gesehen hatte. Ich fuhr fort, die Bruchstücke meiner Träume genau zu untersuchen, so als könnte ich sie wieder zusammensetzen. Was für eine enorme Zeitverschwendung.

»Sarah?« Ben stand in der Zimmertür und schaute mich unsicher an. »Bist du wach?«

»Ja, ich glaub schon. Wie spät ist es?«

»Gleich neun. Zweiter Juni, Anno Domini 1987. Heilloses Durcheinander. Planet Erde. Lust auf unsere Party?« Er hielt mir eine Keramiktasse mit dampfenden Kaffee entgegen.

»Mir ist nicht nach einer Party.« Mühsam setzte ich mich auf. Meine Glieder waren weich wie Pudding. »Wie ist das nur möglich, Ben? Ich kann es noch immer nicht fassen.«

»Es ist verdammt schwer, Sar. Ich weiß das. Aber wir müssen damit leben. Du kannst dich nicht dein Leben lang unter der Bettdecke verstecken. Das wäre auch nicht in Nickys Sinn.«

Mir brannten die Sicherungen durch. »Woher willst du wissen, was Nicky gewollt hätte? Du hast ihn nicht gekannt. Du hast nie etwas anderes als Ben Spooner gekannt.« Tränen stürzten mir aus den Augen, so kühl und lindernd wie ein Regenguß nach einer Dürre.

Ben wurde zornig. »Bist du jetzt auf der Suche nach einem Sündenbock? Tut mir leid, Sarah. Nicht mit mir. Wenn Nicky mit dem Leben nicht fertig wurde, dann tut mir das leid. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr es mir leid tut. Aber ich trage dafür nicht die Verantwortung. Außer Nick ist dafür niemand verantwortlich. Es war seine Entscheidung. Er wollte es so.«

»Das reicht nicht. Zumindest mir nicht. Ein Junge geht nicht einfach los und tötet sich aus heiterem Himmel.«

Ein Schluchzen entrang sich meinem tiefsten Innern. Als ich wieder sprechen konnte, bäumte sich jeder meiner Worte gegen die Spannung zwischen uns auf. »Ich begreife es nicht, Ben. Warum sollte er so etwas tun? Warum?«

j Er umarmte mich, und ich spürte, wie mein Schmerz sich auf ihn übertrug. Zum ersten Mal weinte er, einen Augenblick lang durchbrach der Schmerz seine eiserne Selbstkontrolle. »Wir müssen zur Universität fahren, Ben. Wir müssen herausfinden, was passiert ist.«

Er wandte sich von mir ab und wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Es ist vorbei, Sarah. Laß es gut sein.«

»Wie kannst du nur so etwas sagen? Ich muß den Grund wissen. Ich kann mir nicht einreden, daß Nicky ... einfach aus unserem Leben verschwunden ist. Das kann ich nicht.«

Er stand da, rieb sich die Augen und ging zum Kleiderschrank. »Ich denke, daß jetzt der richtige Zeitpunkt dafür ist, Sarah. Ich glaube, du solltest es wissen.«

Zorn stieg in mir auf; meine Fäuste hämmerten gegen meine Brust. »Was?«

Ben zog die oberste Schublade aus seiner Kleiderkommode und wühlte zwischen den Socken. »Nick hat einen Brief hinterlassen. Die Polizei fand ihn, als sie sein Zimmer durchsuchte.«

»Warum hast du mir nichts davon gesagt?« Der Nebel um mich zerriß, ein Gefühl eisiger Klarheit bemächtigte sich meiner. »Wie konntest du es nur vor mir verheimlichen?«

Er hielt ein dünnes Blatt Schreibmaschinenpapier in der Hand. Hauchdünn. »Du warst nicht in der Lage dazu. Der Arzt sagte, daß es eine Zeit dauern würde, und er warnte mich davor, dich zu drängen.«

»Ich will es sehen. Gib her.« Ich zitterte so sehr, daß die Worte auf dem Blatt wild vor meinen Augen tanzten ... Das Blatt raschelte wie trockenes Laub. »Lies es mir vor, Ben. Ich kann nicht.«

»Hier steht: ›Bitte verzeiht mir. Ich kann nicht mehr. Das Leben ist so trostlos. Zuviel und doch nicht genug. Euer Nicholas.‹«

Mein Innerstes gefror zu Eis. »Das ist alles? Das kann doch nicht alles sein. Was meint er damit?«

Ben zuckte mit den Achseln. »Das war wohl alles, was er zu sagen hatte. Schau, Sar. Ich zeigte es diesem Psychiater von der Universität, einem gewissen Bardwin, der extra zur Beerdigung hergekommen ist. Er kannte Nicky. Und er hat mir erzählt, daß die Selbstmordrate bei ihnen langsam epidemische Ausmaße annehme. Allein in diesem Jahr hat es elf Tote gegeben. Aus irgendeinem Grund scheinen die jungen Leute anzunehmen, daß der Freitod die Lösung aller Probleme sei. Dr. Bardwin sagte mir, daß ihnen selbst in Nickys Alter nicht klar wäre, daß sie ja dann nicht mehr da sind und ihnen die Anteilnahme ihrer Verwandten und Freunde gar nichts mehr nützt ... Sie scheinen nicht zu kapieren, daß der Freitod das endgültige Aus bedeutet.«

»Lies es noch einmal, Ben.«

»Hör auf, Sar. Das bringt doch nichts. Schluß mit der Vergangenheit.«

»Lies.«

Er seufzte widerwillig. »Bitte verzeiht mir. Ich kann nicht mehr. Das Leben ist so trostlos. Zuviel und doch nicht genug. Euer Nicholas.«

Ich fühlte, daß meine Energie wie ein Wellenberg anwuchs. »Ich muß zur Universität fahren, Ben. Ich muß herausfinden, was passiert ist.« Wie erlöst stand ich auf und fing an aufzuräumen.

»Beruhige dich, Sar. Du bist nicht ganz bei dir.«

Ich stellte mich unter die Dusche und spürte, wie das heiße Wasser allmählich rasierklingengleich meinen Kummer durchdrang. Zumindest hatte ich jetzt einen Grund, weiterzuleben. »Pack ein paar Sachen zusammen, Ben. Wir fahren nach Cromwell.«

»Was?« Er drückte sein Gesicht gegen das beschlagene Glas der Duschkabine. »Ich verstehe dich nicht.«

»Wir fahren nach Cromwell«, schrie ich. »Wir werden herausfinden, was mit Nicky passiert ist.«

Ich trocknete mich ab, wickelte ein Tuch um meinen Körper und eins, à la Carmen Miranda, um den Kopf. Wenn wir uns beeilten, dann könnten wir noch den Nachtflug erwischen.

Als ich aus dem dampfenden Badezimmer herauskam, fühlte ich mich wieder frisch und voller Tatendrang.

Ben hatte sich auf dem Bett ausgestreckt und schlürfte meinen lauwarmen Kaffee. Seine Augen starrten mich abwesend an. »Mach schon, Ben. Wir müssen uns beeilen.«

Er schüttelte den Kopf. »Schluß damit, Sarah. Denk an das Heute. Du kannst nicht so weitermachen. Ich habe mit Pat Scofield gesprochen. Er wird dich im Büro weiterhin vertreten. Aber du kannst nicht erwarten, daß das auf Dauer so weitergeht. Und was ist mit Ali? Sie ist ein braves Kind, aber du kannst nicht weiter so tun, als existiere sie nicht. Du wirst sie auch noch verlieren.«

»Du scheinst nicht zu verstehen, Ben. Wir müssen fahren. Nicky hat sich nicht einfach aus Lust und Laune umgebracht. Das alles ergibt keinen Sinn. Ich kann nicht mein Leben lang herumrätseln. Ich muß herausfinden, was geschehen ist. Auch für Ali wird es das Beste sein. Weiß du, was sie sagt, Ben? Sie glaubt, daß sie einen Teil der Schuld trägt. Sie glaubt, daß alles ganz anders ausgegangen wäre, wenn sie und Nicky sich besser verstanden hätten. Sie wird froh sein, wenn sie hört, daß wir nach Cromwell gehen. Da bin ich mir ganz sicher.«

»Nein, Sarah. Du bist durcheinander. Und du willst es einfach nicht wahrhaben. Versteh doch, Nicky ist tot! Du kannst ihn nicht wieder lebendig machen, indem du alles andere kaputtmachst.«

Ich schaute diesen Mann an. Ihn, den ich lange geliebt hatte, seit ich erwachsen war. Sollte das der Mann sein, dessen Körper mir so vertraut war wie mein eigener? Dessen Gedanken ich lesen konnte? Ben kam mir wie ein Fremder vor auf der anderen Seite eines unüberwindbaren Sees. »Ich werde fahren, Ben. Mir bleibt nichts anderes übrig.«

Seine grünen Augen füllten sich mit Tränen. »Du kannst mit Nicky gehen, wenn du unbedingt mußt, Sarah. Ich kann dich nicht aufhalten. Aber Allison und ich müssen weiterleben.«

Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen, aber ich hatte keine Zeit, darüber zu diskutieren. Ben würde wieder zu Verstand kommen und bald nachkommen. »Würdest du bitte Mom für mich anrufen? Sag ihr, sie möchte dir bitte zur Hand gehen und sich um Ali kümmern. Ich werde sie in ein, zwei Tagen anrufen.«

»Das hat keinen Sinn, Sar. Begreifst du das nicht?«

Ich warf ein paar Sachen in meine Tasche. »Ich werde in Elms