The Black Widow - Judith Kelman - E-Book
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The Black Widow E-Book

Judith Kelman

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Beschreibung

Ihr Leben ist ein Albtraum im Wachzustand geworden: Der fesselnde Psychothriller »The Black Widow« von Judith Kelman jetzt als eBook bei dotbooks. Sie kommt nach einem Blackout wieder zu sich – und alles ist voller Blut ... Das Haus zu verlassen, ist für Thea Harper nahezu unmöglich geworden, seit die Zeitungen sie »die schwarze Witwe von Westport« getauft haben. Es heißt, ein Kurzschluss im Gehirn hätte sie zur Mörderin ihres geliebten Mannes gemacht. Aber trotz aller Beweise ist der Moment der Tat in Theas Gedächtnis wie ausgelöscht ... Nach sechs Monaten Therapie will sie nur eines: Mit ihrer kleinen Tochter irgendwo weit weg neu anfangen. Doch plötzlich geschieht eine Reihe mysteriöser Morde in ihrer Umgebung – und wieder weiß Thea nicht, wie das Blut an ihre Hände geriet ... »Eine außergewöhnliche Autorin: Judith Kelman verwandelt unsere Alltagswelt in ein schauerliches Universum.« Publishers Weekly Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende Thriller »The Black Widow« von Judith Kelman wird Fans von Joy Fielding und Harlan Coben das Fürchten lehren! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 537

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Über dieses Buch:

Sie kommt nach einem Blackout wieder zu sich – und alles ist voller Blut ... Das Haus zu verlassen, ist für Thea Harper nahezu unmöglich geworden, seit die Zeitungen sie »die schwarze Witwe von Westport« getauft haben. Es heißt, ein Kurzschluss im Gehirn hätte sie zur Mörderin ihres geliebten Mannes gemacht. Aber trotz aller Beweise ist der Moment der Tat in Theas Gedächtnis wie ausgelöscht ... Nach sechs Monaten Therapie will sie nur eines: Mit ihrer kleinen Tochter irgendwo weit weg neu anfangen. Doch plötzlich geschieht eine Reihe mysteriöser Morde in ihrer Umgebung – und wieder weiß Thea nicht, wie das Blut an ihre Hände geriet ...

Über die Autorin:

Mit mehr als zwei Millionen verkauften Exemplaren ihrer Bücher ist Judith Kelman eine Meisterin der psychologischen Spannung. Sie wurde für ihren Thriller »Fürchte dich vor mir« mit dem Mary Higgins Clark Award ausgezeichnet und war Vorsitzende der Mystery Writers of America. Sie lebt in New York City.

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre Thriller um Rechtsanwältin Sarah Spooner mit den Bänden »Wo das Dunkel herrscht« und »Wenn die Unschuld stirbt« sowie die Standalone-Thriller »House on the Hill« und »Schrei, wenn du kannst«.

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eBook-Neuausgabe Februar 2024

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1994 unter dem Originaltitel »One Last Kiss« bei Bantam Books, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1997 unter dem Titel »Ein letzter Kuss« im Wilhelm Goldmann Verlag München

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1994 by Judith Kelman

Published by Arrangement with Peter Lampack Agency, Inc. 350 Fifth Avenue, Suite 5300, New York, NY 10118 USA.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1997 by Wilhelm Goldmann Verlag, München

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Ihnatovich Masyia und AdobeStock/Thomas

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)

ISBN 978-3- 98690-960-4

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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In diesem eBook begegnen Sie möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. Diese Fiktion spiegelt nicht unbedingt die Überzeugungen des Verlags wider.

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Judith Kelman

The Black Widow

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Bettina Zeller

dotbooks.

Erstes Buch

KAPITEL 1

Die Eingangstür stand einen Spalt offen. Simon Gallatin betrat das Haus und schlich durch das schwach beleuchtete Foyer ins Wohnzimmer.

Im offenen Kamin brannte ein knisterndes Feuer, kurz davor zu verlöschen. Sein Blick schweifte durch den stillen Raum, der nur vom Kaminfeuer erhellt wurde. Auf dem Couchtisch stand ein Weinglas, an dessen Rand sich Lippenstift abzeichnete, daneben ein aufgeschlagenes Fotoalbum. Eine Navajodecke lag achtlos hingeworfen in der Sofaecke.

Keine Spur von ihr.

Gallatin spitzte die Ohren, hörte über seinem Kopf Wasser tropfen, hörte das unverständliche Kauderwelsch eines Radiosprechers. Vor seinem geistigen Auge sah er sie in einer Badewanne liegen, in Unmengen von Schaum. Ihre Haut glänzend und vor Hitze errötet. Wie gern hätte er seine Kleider abgestreift und wäre zu ihr ins Wasser gestiegen in die einhüllende Wärme, um sich an sie zu schmiegen. Ganz plötzlich verspürte er ein nachhaltiges heftiges Ziehen in der Leistengegend.

Doch Gallatin rückte nur seine Krawatte zurecht, setzte sich auf die Couch, faltete die Hände und starrte in das sterbende Feuer. Bald schon sah er ihr Gesicht in den züngelnden Flammen. Die Augen mit den kupferfarbenen Flecken, die man nicht vergaß, die konturierten Wangen, das dominante Kinn, die Kaskade rotbrauner Locken, die ihr Gesicht einrahmten und ihre geraden Schultern berührten. In der Erinnerung wanderten seine Augen über ihren Körper. Feste Brüste, eine schmale Taille. Lange, wohlgeformte Gliedmaßen, die sie mit Grazie bewegte.

Ja, er sah sie überall, dachte unablässig an sie. Sie war die bemerkenswerteste Frau, die er jemals kennengelernt hatte: unprätentiös, unberechenbar. Sie hatte etwas Gequältes, etwas Zerbrechliches an sich, doch darunter verbargen sich Ruhe und Stärke.

Jemandem wie ihr war Gallatin noch nie zuvor begegnet. Als Erbe eines beträchtlichen Familienvermögens war er an die Gesellschaft Privilegierter gewöhnt: wohlerzogene, gesetzte Damen mit abgespreiztem kleinen Finger, die ihren Lebensweg bis ins Detail geplant hatten. Als Seniorsenator von Connecticut war er an Frauen gewöhnt, die in ihm ein Sprungbrett, eine Hürde oder einen Verbündeten sahen und ihn dementsprechend behandelten. Durch seinen Stammbaum und seine Stellung in der Gesellschaft hatte er eine ganze Reihe von attraktiven Angeboten erhalten. Aber Simon Gallatin hatte sich niemals in eine von ihnen verliebt, hatte sich überhaupt noch nie verliebt.

Bis jetzt.

Seit ihrer ersten Begegnung vor einem Monat in der am Rande des Zentrums gelegenen Galerie war er ihrem Charme erlegen. Sie glich ihren Bildern, war wie die sicheren, verlockenden Pinselstriche auf einem rätselhaften Untergrund. Jeder Blickwinkel bot eine neue Entdeckung. Jede Entdeckung erfreute den Betrachter aufs Neue. Er war fasziniert von ihr, besessen.

In den letzten Monaten hatte er die nicht abreißende Aufmerksamkeit über sich ergehen lassen müssen, die einem Politiker zuteil wurde. Und dann war eine Frau aufgetaucht, hatte im Büro eigenwillige Nachrichten für ihn hinterlassen und war an den seltsamsten Orten aufgetaucht. Hin und wieder war er gezwungen gewesen, ihr auszuweichen - auf dem Weg zu einer wichtigen Abstimmung oder zu einem Treffen. Manchmal war der Wagen dieser Frau von neugierigen Nachbarn in der Nähe des Anwesens seiner Familie gesichtet worden. Und einmal hatte der Hausmeister sie an der Hintertür erwischt, als sie gerade dabei war, den Müll durchzuforsten. Die Polizei hatte ihn gewarnt, sie könne möglicherweise eine Gefahr für ihn bedeuten, und ihm geraten, einen Bodyguard anzuheuern. Aber Gallatin hatte sich dagegen verwahrt. Niemals würde er zulassen, daß eine Verrückte über sein Leben bestimmte.

Und nun konnte er sich seltsamerweise in diese Frau hineinversetzen. Schließlich war er in gewisser Hinsicht auch verrückt geworden: zielstrebig und im wahrsten Sinne des Wortes besessen. Gallatin wußte, daß er der großen Liebe seines Lebens begegnet war, daß er das seinem Leben fehlende Puzzleteilchen gefunden hatte. Er wußte, daß er ohne sie niemals wirklich glücklich oder zufrieden sein würde. Und wie lange es auch dauern mochte, er würde dranbleiben, bis auch sie zu dieser berauschenden Erkenntnis gelangt war.

Gallatins Familie betrachtete die ganze Angelegenheit als eine vorübergehende Affaire, die sich nach ein paar Wochen legen würde wie eine Grippe. Seine Mutter, die mit ihrer Meinung niemals hinter dem Berg hielt, ließ ein paar spitze Bemerkungen darüber fallen, daß er sich die Hörner abstoßen solle, um sich dann wieder passenderen Damen zuzuwenden. Mehrmals hatte sie auf den Unterschied zwischen Frauen, die man sich nimmt, und Frauen, die man ernst nimmt, hingewiesen. Vorige Woche hatte Gallatins jüngerer Bruder, der jetzt Juniorsenator in Michigan war, ein Mittagessen - was zwischen den beiden Brüdern nur äußerst selten vorkam - einberufen, um Simon über die politische Unangemessenheit »einer solchen Frau« aufzuklären.

Der kleine Bruder hatte Gallatin mit ernster Miene all die unrelevanten Fakten aufgetischt, die er eh schon kannte. »Diese Frau« war eine Künstlerin von wenig beeindruckender Abstammung, aufgewachsen auf einer schäbigen Ranch im Osten von Nirgendwo in Idaho. Ihre Eltern waren arme, wenig gebildete Leute, die sich bei Galadiners, deren Eintrittskarten tausend Dollar kosteten, und auf Inaugurationsbällen sicherlich nicht gut machten. Ihr Bruder war in die Fußstapfen der anderen Verwandten getreten, hatte fruchtbaren Grund gekauft und besaß jetzt eine mit hohen Krediten belastete Farm, auf der Vieh und eine Herde mittelmäßiger Nachkommen gediehen, und das alles nördlich von Nirgendwo in Montana.

Da Simon Gallatin von seiner Partei bei der kommenden Präsidentschaftswahl als potentieller Vorkämpfer gehandelt wurde, überschütteten seine Freunde, seine Kollegen und seine Familie ihn mit Unmengen von unerbetenen Ratschlägen. Unter anderen Umständen hätte Simon vielleicht auf sie gehört.

Unter anderen Umständen hätte er sich voll und ganz auf die Erlangung des Präsidentenamtes konzentriert. Von frühester Kindheit an hatten seine Eltern ihn auf ein hohes Amt vorbereitet. Der kleine Simon hatte all die »richtigen« Schulen besucht, alle wichtigen Kontakte geknüpft. Und er hatte sich durch Rhetorik, protokollarische Gepflogenheiten und die schwindelerregend komplexen Machenschaften der Politik gebissen.

Von Anfang an hatte man ihn zu glauben gelehrt, der Dienst am Volke sei sein Recht, seine Pflicht und sein Schicksal. Außerdem hatten seine Eltern ihm versichert, daß die Politik ein ehrenwerter Beruf sei, frei von Makel und Kompromiß, falls man bereit war, wie ein Ehrenmann zu handeln. Die lebenslange Indoktrination war im Großen und Ganzen erfolgreich gewesen. Nicht ein einziges Mal hatte Gallatin sich eine andere Zukunft ausgemalt. Doch im Augenblick interessierte es ihn nur, mit dieser Frau zusammen zu sein, wollte er nur einen Weg finden, diesen Metallpanzer, mit dem sie sich nach dem Tod ihres Gatten umgeben hatte, zu durchbrechen.

Als er das Fotoalbum durchblätterte, sah er sie wenigstens ein Dutzend Mal in einer Umarmung mit einem gutaussehenden jungen Mann, woraufhin er unlogischerweise den Stachel der Eifersucht spürte. Er wollte alles von ihr, selbst ihre Vergangenheit besitzen.

Rastlos entkorkte er die angebrochene Flasche Merlot, die auf dem Sideboard stand, und goß einen Schluck in das Glas, das sie benutzt hatte. Der Wein war wohltemperiert und hatte ein volles Bouquet. Er führte die Stelle mit dem Lippenstift an seinen Mund, schloß die Augen und stellte sich vor, wie sich ihre Lippen anfühlten. Plötzlich spürte er ein so heftiges Verlangen nach ihr, daß ihm schwindelig wurde.

Gallatin rang um Beherrschung. Auf keinen Fall durfte er sie mit seiner Übereifrigkeit abschrecken, vor allem jetzt nicht, wo sie endlich einen ersten Schritt auf ihn zu gemacht hatte.

Von der Minute an, als ihre Nachricht heute morgen in seinem Büro eingegangen war, hatte er sich geschworen, das Spiel voll und ganz nach ihren Regeln zu spielen. Ihre betörende Nachricht kannte er auswendig.

Kommen Sie heute abend um sieben. Sollte ich noch nicht fertig sein, entspannen Sie sich und genießen Sie das Kaminfeuer. Bitte drehen Sie sich nicht um, wenn ich das Zimmer betrete. Das würde die Überraschung verderben. Ich habe alles geplant. Ich weiß, daß der Abend perfekt sein wird.

Gallatin warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Zehn nach sieben, doch er hatte das Gefühl, schon seit Stunden zu warten. Die Stille schwoll an. Das Radio war ausgeschaltet worden, auch das Tropfen des Wassers war nicht mehr zu hören.

Es konnte nicht mehr allzu lange dauern, bis sie herunterkam.

Sekunden später quietschte über seinem Kopf eine Diele, und dann hörte er, wie jemand die Treppe hinunterstieg. Gallatins Herz krampfte sich zusammen. Nervös strich er das dichte, sandfarbene Haar zurück und tupfte sich den Schweiß von der Stirn.

Es wird perfekt sein, dachte er. Perfekt.

Nun war sie unten an der Treppe angekommen. Gallatin hörte, wie sie durch das Foyer schritt. Vor seinem geistigen Auge sah er sie barfuß und in etwas Hauchfeines gekleidet. Er sah ihre blassen, wohlgeformten Brüste, die aufgerichteten Brustwarzen, die dunkle Wölbung unterhalb ihres Bauchnabels. Er verzehrte sich danach, sie zu betrachten, sich in ihrem Anblick zu verlieren.

Doch da fiel ihm wieder ihre Warnung ein.

Drehen Sie sich nicht um.

Ein eiskalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Das Warten empfand er wie schiere Agonie.

Sie hat alles geplant. Ich darf die Überraschung nicht verderben.

Seine Selbstbeherrschung kostete ihn alle Mühe. Er wagte nicht zu blinzeln, sich zu bewegen, sondern starrte wie gebannt in die glühende Holzkohle. Das Feuer war ausgegangen. Eine durchsichtige Rauchsäule stieg von dem Hügel grauer Asche auf.

Nun näherte sie sich ihm von hinten. Ihr Schatten legte sich über Gallatin. Sein Herz schlug schneller, als er ihren Atem spürte, den moschusartigen Duft ihres Parfüms aufnahm. Sie war jetzt so nah, daß er ihre Anwesenheit spüren konnte. Und dann blieb sie unvermittelt stehen.

Gallatin hielt den Atem an. Er durfte sich erst umdrehen, wenn sie ihn dazu aufforderte. Was bedeuteten ein paar Sekunden verglichen mit einem ganzen Leben, das sie miteinander verbringen würden?

Doch worauf wartete sie? Die Sekunden zogen sich endlos lange hin. Die Spannung, die im Wohnzimmer herrschte, erstickte ihn beinah. Ihm entwich ein Seufzer.

Schließlich bewegte sie sich wieder. Er spürte, wie sie sanft ihre Lippen an seinen Hals drückte. »Jetzt können Sie sich umdrehen, Simon. Schauen Sie doch. Ich möchte es.«

Gallatin wandte sich langsam um. Ein Lächeln machte sich auf seinen Lippen breit. Aber sein Gesicht erstarrte zu einer steinernen Maske, als er begriff, was sie sich für ihn ausgedacht hatte.

Ihre Überraschung war der größte Schock seines Lebens. Und es sollte auch der letzte sein.

PERSÖNLICHES TAGEBUCH

7. März

Sie sagen, ich habe siebenmal auf ihn eingeschlagen.

Die Trophäe war eine dreißig Zentimeter hohe Bronzefigur, die zwischen zwei Granitsäulen stand. Nachdem ich fertig war, baumelte der Kopf des Golfspielers wie die Blüte an einem gebrochenen Stiel. Die Säulen hatten Risse wie aufgesprungene, hartgekochte Eier.

Die Zeit verstrich quälend langsam, als ich mich über seinen geschundenen Körper beugte. In seinen Adern herrschte eine Ruhe, die jahrhundertealten Felsen eigen ist. Seine Augen quollen heraus, stumme Fragen stellend. Seine Krawatte saß schief, und seine versteinerten Finger klammerten sich an der gestärkten Hemdbrust fest. Ich rückte die Krawatte zurecht, öffnete den obersten Hemdknopf, weil ich entgegen aller Logik glaubte, daß der stramme Kragen ihn beengte. Natürlich war er jenseits von Schmerz. Und ich hatte daran Schuld.

Da war eine riesige Blutlache. Noch Tage später schrubbte ich die eigensinnigen Blutstropfen weg, die unter meine Haut gekrochen zu sein schienen. Wochenlang nahm mir der Geruch seiner Angst den Atem. Selbst jetzt noch sehe ich die Maske des Schreckens, die für alle Ewigkeit in sein Gesicht gemeißelt ist, wenn ich die Augen schließe.

Ich kann mich an die Stunden davor und an die danach erinnern. Was sich dazwischen zugetragen hat, ist jedoch in den undurchdringlichen Kammern meines Unterbewußtseins vergraben. Nichts davon kann ich an die Oberfläche fördern. Ich habe keinen Zugriff darauf, keine Kontrolle darüber.

Sie sagen, es bedurfte unmenschlicher Kraft, ihn zu töten. Sie sagen, jedwede Vernunft wurde von einem unermeßlichen Zorn aufgefressen.

Sie sagen, daß ich dafür nicht zur Verantwortung gezogen werden kann.

KAPITEL 2

Das Tagebuch war hinter das Bett gerutscht.

Thea Harper ließ die Kofferschnallen aufschnappen und schob das abgegriffene Tagebuch zwischen die ordentlich aufgetürmten Kleiderstapel. Mit zusammengekniffenen Augen suchte sie das Zimmer nach Habseligkeiten ab, die sie eventuell vergessen hatte. Sie ging zur Kommode hinüber, öffnete nacheinander jede einzelne Schublade und kontrollierte sie, zum zigten Mal an diesem Tag. Dann warf sie einen Blick hinter die hauchdünnen Vorhänge und schüttelte das Bettzeug auf.

Von draußen drang das ungeduldige Hupen des Taxis herein, das auf der kreisrunden Krankenhausauffahrt auf sie wartete.

Eine vertraute Stimme forderte sie auf: »Jetzt aber los, meine Liebe. Beeilung.«

»Bin ja schon dabei, Billie.«

»Haben Sie den Rückwärtsgang eingelegt?«

Die dunkelhäutige Schwester versuchte, die Stirn zu runzeln, doch ihre strahlenden Augen und ihr sonniger Gesichtsausdruck verrieten ihre wahren Gefühle. Ihr gedrungener Körper war in eine gestärkte, weiße Schwesterntracht gezwängt, zu der sie Aerobic-Schuhe und Paisley-Socken trug. »Soll ich Ihnen Feuer unter m Hintern machen, oder was?«

»Aber sicher doch. Gehen Sie schon mal Holz hacken. Ich werde hier warten.«

Die Krankenschwester nickte wissend. »Angst zu haben ist ganz normal, Schätzchen. Wenn Sie mich fragen, Sie sind doch schon von Anfang an viel zu normal für dieses Haus gewesen.«

»Was, wenn die Medizin nichts nutzt? Was, wenn ich – «

»An so etwas würde ich nicht mal denken. Doc Forman sagt, daß Sie in Ordnung sind, und dann ist das auch so. Diese Frau hat sich noch nie geirrt. Das ist nur eins der vielen Dinge, die ich an ihr nicht ausstehen kann.«

Thea seufzte. »Ich weiß nicht, wie ich ohne Sie durchgehalten hätte, Billie. Möchten Sie nicht in den Koffer springen und mit mir nach Hause kommen? So würde ich mich viel besser fühlen.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Die alte Billie wird hin und wieder bei Ihnen vorbeischauen. Um sicherzugehen, daß alles wie geölt funktioniert.«

Bei dieser Bemerkung mußte Thea lächeln. Als kleines Mädchen hatte sie die Angewohnheit gehabt, in der Gegend herumzuwandern und währenddessen alles zu vergessen, die Zeit, wo sie war, ja selbst ihre Verpflichtungen. Immer wieder bat ihre Mutter Theas Bruder oder einen der Rancharbeiter darum, loszureiten und sie zu suchen. Es dauerte nicht lange, bis sie von allen »Checker«1 genannt wurde. Ihre Mutter hatte diese Gewohnheit bis heute nicht abgelegt.

»Könnte wetten, daß Ihre hübsche Kleine es nicht erwarten kann, Sie zurückzubekommen«, bemerkte Billie.

Das war das Losungswort. Während der letzten sechs Monate, die Thea in Brook Hollow zugebracht hatte, um hier ihre lockere Schraube anziehen zu lassen, war ihre neunjährige Tochter Gabrielle bei Nachbarn untergekommen. Und obwohl die Situation für Thea sehr schwierig war, konnte sie keine Minute vergessen, daß die Belastung für ihre Tochter viel unerträglicher gewesen sein mußte.

Gabby war erst drei Jahre alt gewesen, als ihr Vater starb, doch sie hatte den Verlust gespürt und bis heute nicht vergessen. Sein Tod hatte dem Mädchen die grauenhafte Erkenntnis beschert, daß jeder Mensch, an dem sie hing, ihr genommen werden konnte. Nichts war sicher oder von Dauer. Thea hatte sich wirklich bemüht, ihr ein behagliches Heim zu schaffen, und trotzdem war es ihr nicht gelungen, diese grausame Wahrheit aus dem Leben des Kindes zu bannen.

Thea wußte ganz genau, daß die Ereignisse des vergangenen Jahres das kleine Mädchen noch mehr verstört hatten. Leider hatte es keine Möglichkeit gegeben, Gabby vor dem Alptraum der Verhaftung und der darauffolgenden Verhandlung zu bewahren. Keine Möglichkeit, sie vor dem grausamen Getratsche in der Stadt zu schützen. Nein, sie hatte sie nicht einmal vor der Plage zweibeiniger Heuschrecken mit Stenoblöcken und Handycams bewahren können, die über ihre ruhige Nachbarschaft in Westport, Connecticut, hereingefallen waren.

Schaudernd erinnerte Thea sich an das unablässige Schrillen des Telefons, an die hartnäckigen Reporter, die mitten in der Nacht an der Haustür klingelten, in der Hoffnung, sie derart zu übertölpeln, daß sie etwas sagte oder tat, was wieder eine reißerische Schlagzeile einbrachte.

Westports Schwarze Witwe hat feige gemordet.

Für manche von ihnen war Ethik ein Fremdwort. Grenzen kannten sie keine. Sie überwanden jedes Hindernis, um eine Story zu kriegen. Ein paar von ihnen hatten versucht, Gabby in der Schule aufzulauern, sich ihr zu nähern, wenn sie gerade mit Freunden spielte. Ein Schreiberling von der Post, ein Nagetier namens Harlan Vernon, hatte ihre Tochter mit einer Barbiepuppe im Wert von fünfzig Dollar zu ködern versucht. Thea fragte sich, ob das heutzutage der Preis für Verrat an der Mutter war.

Wie ist es, mit einer Mörderin zu leben, Gabby? Hast du keine Angst?

Die ganze lange Zeit über hatte Gabby ihren Schmerz und ihre Verstörung hinter einer ausdruckslosen Maske versteckt. Wann immer Thea versucht hatte, mit dem Kind zu sprechen, sich mit ihrer Tochter zu unterhalten, hatte Gabby sich entzogen. Sie hatte Thea keine Fragen gestellt, ihr nichts über die Gemeinheiten ihrer Mitschüler berichtet, die sie über sich ergehen lassen mußte. Das kleine Mädchen hatte dieses Thema aus seinem Leben gestrichen. Doch Ungeheuer, so groß und entschlossen wie diese, würden immer eine Möglichkeit finden, sich mit Gewalt durch die Tür zu zwängen.

Bei ihren wöchentlichen Besuchen in Brook Hollow war Gabby distanziert, reserviert gewesen und hatte sich seltsam verhalten, was an diesem Ort niemanden überraschte. Bei dieser privaten Einrichtung handelte es sich schließlich um eine Irrenanstalt. Darüber konnten auch die sanft abfallenden Wiesen, die hübschen Bilder und die heimelige Einrichtung nicht hinwegtäuschen. Ein Großteil der Patienten hatte sich selbst eingewiesen, um ihre zeitgemäßen Abhängigkeiten abzulegen oder sich von den neuesten Neurosen zu befreien, aber hier wandelten auch menschliche Wachsfiguren, Jesus-Impersonatoren und ein lautstarker Patient, der dafür lebte, den Weltuntergang vorherzusagen, durch die Korridore.

Eines Tages, an einem Sonntag, hatte Thea alles für ein Picknick auf dem Krankenhausgelände vorbereitet und darauf gehofft, diese in ihrer Familie übliche Aktion könnte der Situation die Schärfe nehmen. Aber gerade in dem Augenblick, als Gabby langsam aufzutauen begann, kam Mrs. Argersinger mit ihrem allgegenwärtigen Golfschirm durch die Bäume gerauscht. »Der verdammte Himmel bricht auseinander. Rennt, zum Teufel noch mal. Bringt eure niedlichen Ärsche in Sicherheit!« hatte sie über das Gelände gebrüllt. Das war es dann gewesen mit dem Picknick.

Thea schloß den letzten Koffer. »Ich denke, ich bin soweit.«

Billie umarmte sie wohlwollend. »Ich bin für Sie da, meine Liebe. Jederzeit. Sie brauchen nur zu rufen.«

»Das werde ich, und vielen Dank noch, Billie. Danke für alles. Und falls es etwas gibt, was ich für Sie tun kann – «

»Sie können von hier verschwinden. Das können Sie für mich tun. Gehen Sie jetzt, meine Liebe. Es ist an der Zeit.«

Der Wagen malte Rauchwölkchen in die kühle Morgenluft. Der grauhaarige Fahrer warf Thea einen skeptischen Blick zu, lud ihr Gepäck in den Kofferraum und knallte den Deckel zu. Sie nahm auf der Rückbank Platz, hielt sich an der Handtasche auf ihrem Schoß fest.

Die Auspuffgase nebelten das Taxi ein. Der Fahrer rutschte hinter das Steuer und fixierte sie mit seinen kohlrabenschwarzen Augen. Ein Zahnstocher steckte in seinem Mundwinkel.

»Wohin?«

»21 Linden Street, Westport.«

»Arbeiten Sie hier?«

»Nein. Jetzt nicht mehr.«

Er zog den leeren Mundwinkel hoch. »Könnten mir nicht genug zahlen. All diese Verrückten und Durchgeknallten. Kriegs schon mit der Angst zu tun, wenn ich sie nur anschaue.«

Thea lächelte mild. »Sie wären überrascht. Ich könnte wetten, daß Sie mich nicht von den anderen Patienten unterscheiden könnten.«

»Diese Wette nehme ich an, Lady Keiner würde Sie für eine Wahnsinnige halten. Auf gar keinen Fall.«

Seltsam, daß ihr nichts anzusehen war, daß die vulkanischen Eruptionen ihres Lebens die Oberfläche nicht angekratzt hatten. Mit ihrer wilden, dunklen Lockenmähne und ihrem schlanken Körper konnte Thea immer noch als Teenager durchgehen. Immer mal wieder fiel eine Bemerkung über ihre Bambi-Augen und die bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der jungen Audrey Hepburn.

Nach Gallatins Tod hatte Thea immer wieder in den Spiegel geblickt und damit gerechnet, nein, fast gehofft, daß sich irgendetwas in ihrem Gesicht veränderte. Wäre sie ergraut oder bucklig geworden, wäre sie vielleicht in der Lage gewesen, das Unmögliche zu akzeptieren.

Sie hatte jemanden getötet.

Mord. Das Wort glich einem Bumerang - wie weit man ihn auch wegwarf, er kam immer wieder zurück. Sie konnte es nicht fassen, konnte sich nicht in jener Situation vorstellen.

Diese schreckliche Episode blieb ihr vollkommen unbegreiflich. Ganz egal, wie oft man es ihr erklärt, es ihr wie einem zurückgebliebenen Kind immer und immer wieder beschrieben hatte, es gelang Thea trotzdem nicht, sich damit in Verbindung zu bringen. Die Fakten, der Mord, entzogen sich ihrem Verständnis, wie Hieroglyphen oder fortgeschrittene astrophysikalische Theorien. Ihr rationales Ich war auf geheimnisvolle Weise untergetaucht, war von einem brutalen, unbewußten Impuls überwältigt worden. Mit bloßen Händen hatte sie Simon ermordet, und doch war sie es nicht gewesen. Sie war schuldig, trug aber nicht die Verantwortung für ihr Handeln. Für einen kurzen Moment war die Welt außer Kontrolle geraten, hatte sich wie ein wildes Pferd aufgebäumt und sie abgeworfen.

Reiß dich zusammen, Thea. Das war Teil der Krankheit. Wenn du die Tabletten nimmst, wird es dir gutgehen.

Außerdem hatte man ihr versichert, die Gefahr, wieder auszurasten, sei gleich Null, auch ohne die Tabletten. Bis zu jener entsetzlichen Nacht hatte Thea noch nie in ihrem Leben einen gewalttätigen Ausbruch gehabt. Dieser Kurzschluß, wie Dr. Forman es unbekümmert nannte, hatte eine Häufigkeitsquote von eins zu einer Million. Unzählige Menschen litten unter einer ähnlichen Störung, wie man sie bei Thea diagnostiziert hatte, und seit man derartig brutales Verhalten dokumentierte, hatte es nur zwei oder drei ähnliche Fälle gegeben.

Diesen wenigen Präzedenzfällen hatte Thea nach der vier quälend lange Monate dauernden Verhandlung ihren wundersamen Freispruch zu verdanken. Nach dem Gesetz konnte sie nicht für ihr unbewußtes Handeln zur Verantwortung gezogen werden. Ihr Verteidiger und der Staatsanwalt hatten eine außergerichtliche Vereinbarung getroffen, die beinhaltete, daß Thea sich als Buße für den Mord an einem Mann einer sechsmonatigen Behandlung in einer psychiatrischen Anstalt unterziehen mußte. Auf diese Weise konnte sie medizinisch überwacht werden. Außerdem wurde sie dadurch von der Öffentlichkeit und den Journalisten ferngehalten.

Nicht schuldig. Ist das Ihre einstimmige Meinung?

Ja, Euer Ehren.

Die Verhandlung ist somit vertagt.

Das Taxi fuhr die Straße hinunter, die jetzt vom ersten goldenen Laub übersät war. Thea erinnerte sich an die nicht enden wollenden Blitzlichter, denen sie nach dem Urteilsspruch ausgesetzt gewesen war. Man hatte sie mit messerscharfen Fragen bombardiert.

Wie fühlt man sich, wenn man freigesprochen wird, nachdem man jemanden getötet hat, Mrs. Harper?

Werden Sie ein Buch schreiben, Thea?

Möchten Sie ein paar Worte an Senator Gallatins Familie richten?

Damals und auch jetzt fühlte sie sich vollkommen verloren. Wie konnte irgend etwas richtig oder wirklich sein, wenn sie, die sanftmütige Thea Harper, dem ersten Mann, den sie nach Justins Tod an sich herankommen lassen hatte, den Kopf eingeschlagen hatte? Sie hatte geglaubt, sich zu kennen. Stattdessen hatte sie unbemerkt ein monströses Biest in ihrem Innern beherbergt. Und für ein paar Minuten hatte sich dieses Biest ein Eigenleben gegönnt.

»Wissen Sie, ich habe das Gefühl, Sie von irgendwoher zu kennen«, sagte der Taxifahrer. Seine dunklen Augen ruhten auf ihr, betrachteten sie durch den Rückspiegel.

»Ich denke nicht.«

»Vielleicht aus der Schule. Waren Sie in Bridgeport?«

»Nein.«

»Aus dieser Zahnpastareklame? Sind Sie das?«

»Nein.« Manchmal hatte sich Thea ausgemalt, wie es wäre, berühmt zu sein, doch sie hatte immer gehofft, sie würde das durch ihre Kunst erreichen. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, durch eine Sendung wie »Explosiv« zu fragwürdigem Ruhm zu gelangen.

Er knabberte an seinem Zahnstocher. »Ich werde schon noch draufkommen. Ein Gesicht vergeß ich niemals.«

Thea verrückte ihre Handtasche und hörte das Rascheln der Papiertüte, die darin verstaut war. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die ansehnliche Plastikschale, in der die Tabletten, mit Datum versehen, lagen. Narrensicher. Falls sie an einem Tag vergaß, eine von ihnen zu schlucken, dann wäre sie immer noch durch die Überreste der Medizin in ihrem Körper geschützt, hatte Dr. Forman ihr glaubhaft versichert. Der Tablettenspender mit den aufgedruckten Monatstagen würde ihr eine große Hilfe sein. Die Medizin bewirkte, daß sie sicher sein konnte und gesund blieb. Mit den Tabletten war die Gefahr, erneut durchzudrehen, gebannt.

Doch es gab leider nichts, das etwas an der Tatsache ändern konnte, daß Simon auf grauenvolle Weise ums Leben gekommen war. Es zählte nicht, daß das Gericht, die Ärzte und die wenigen Freunde, die ihr noch geblieben waren, sie vom Mord freigesprochen hatten. Thea spürte, wie die Schuld an ihr nagte. Sie hatte das Leben eines gutaussehenden, wunderbaren Mannes genommen. Sie hatte Simon seiner Zukunft beraubt. Niemals wieder würde er einen Sonnenaufgang sehen, niemals mehr jemanden lieben, niemals ein Kind zeugen.

Und sie war es auch gewesen, die der Welt einen Mann wie Simon genommen hatte. Simon Gallatin war ein feiner, anständiger Mensch gewesen. Er hatte zu der seltener werdenden Gattung Politiker gehört, die tief in ihrem Innern von einem Gefühl der Sorge und der Hoffnung geleitet wurden.

Seine Ernsthaftigkeit, seine Aufrichtigkeit hatten sie vollkommen entwaffnet. Bevor Thea Simon begegnet war, war sie nicht in der Lage gewesen, einem anderen Mann einen Platz in ihrem Leben einzuräumen. Justins Tod hatte zu sehr geschmerzt. Doch durch Simon Gallatin hatte sie sich über das eben noch Undenkbare Gedanken gemacht: über eine neue Romanze, über ein Mittel gegen ihre schmerzlich empfundene Einsamkeit.

In ihrer Phantasie hatte es keine Gerichtsverhandlung, keinen Aufenthalt in einer Irrenanstalt gegeben.

Der Fahrer betrachtete sie immer noch. »Jetzt hab ich’s«, sagte er grunzend. »Sie sind diejenige, die den Senator erschlagen hat, richtig? Die, die Schwarze Witwe genannt wird.«

Benommen winkte Thea ab, was den Mann aber nicht davon abhielt fortzufahren.

»He. Mir ist’s egal. Konnte den Kerl eh nie ausstehen. Einer von der hübschen, reichen, jungenhaften Sorte. Hab immer meiner Alten gesagt, daß der viel zu gut wirkt, um echt zu sein, aber sie hatte an dem Kerl einen Narren gefressen. Dachte, daß er wohl der Auferstandene sei oder so was in der Art. Was ist passiert? Wollte er Sie gegen Ihren Willen nehmen?«

Das Taxi fuhr am Ufer des Saugatuck Rivers entlang. Als sie das letzte Mal diese Straße gefahren war, waren die Bäume grün gewesen und die Gärten hatten in den Farben des Frühjahrs geblüht: gelb, lila und rosa. Jetzt wechselten die Blätter die Farbe. Das dahinschießende Taxi wirbelte das Laub auf. Der Rasen in den Gärten war beige, und die Blumen in den Beeten vertrocknet. Hie und da türmten sich Gartenmöbel auf, standen verlorene Planschbecken herum, die nur darauf warteten, zum Überwintern in den Schuppen gebracht zu werden. Eichhörnchen sammelten Vorräte für den nahenden Winter und hüpften von einem Baum zum anderen, um ihre kostbare Nahrung wegzutragen.

Soviel kann sich in sechs Monaten verändern, dachte Thea, der die Neugier des Chauffeurs nicht entging. Wenn man sechs Monate fort gewesen war, durfte es einen nicht wundern, wenn man seinen Platz in der Welt verloren hatte.

KAPITEL 3

Als Gabrielle Harper die Grundschule verließ, machte sie die Greens Farms Jungs auf der anderen Seite des grasbewachsenen Vorplatzes aus. Die Bande, die unter dem Namen des reichen Stadtteils von Westport bekannt war, in dem sie lebten, war ein Haufen Designer-Rebellen, die die neuesten Turnschuhe, Baseball-Kappen und modisch weiten Jeans trugen, die es für Geld zu kaufen gab. Ihre Mountain-Bikes, mit denen sie von der Mittelschule hierhergefahren waren, lehnten an einer hohen Eiche. Die Vorortterroristen hatten sich im Kreis zusammengeschart, stießen sich gegenseitig die Ellbogen in die Seiten und wirbelten Unmengen von Staub auf. Rod Salvatore, Brian Carmody, Eddy Adelman. Großkotzige Fieslinge, die es darauf abgesehen hatten, andere einzuschüchtern. Gabby spürte, wie der Haß in ihr aufstieg, ihr vor Furcht die Haare zu Berge standen.

Aus Verzweiflung machte sie auf dem Absatz kehrt und lief ins Schulgebäude zurück. Sie jagte durch die Korridore zu ihrem Klassenzimmer. Diese Idioten würden es nicht wagen, etwas zu unternehmen oder sich das Maul über sie zu zerreißen, wenn sie mit ihrem Lehrer aus der Schule kam. Doch die Klassenzimmertür war abgeschlossen, das Zimmer dunkel und leer.

Alle Zimmer waren menschenleer. Ihr rutschte das Herz in die Hose. Wahrscheinlich fand gerade eine Lehrerversammlung oder so etwas statt. Gabby spähte in das Büro des Direktors, entdeckte aber nur die grauenhafte Mrs. Nardino mit dem schielenden Blick und der Tubastimme. Von ihr war keine Hilfe zu erwarten. Die Sekretärin des Schuldirektors war nur darauf erpicht, den Eltern in den Hintern zu kriechen, vor allem jenen, die in der Eltern-Lehrer-Vereinigung etwas zu sagen hatten. Gabby schlich sich geschwind davon, bevor die alte Hexe sie zu Gesicht bekam und zu brüllen anfing.

Wieder vor der Schule, mußte Gabby entsetzt feststellen, daß die Farmschnösel noch nicht verschwunden waren. Mit steifen Beinen stieg sie die Stufen hinunter, blickte starr zu Boden und studierte den schmuddeligen Weg, der zur Straße hinunterführte. Wenn sie diesen verrotteten Stinkern keine Beachtung schenkte, machten sie sich vielleicht aus dem Staub. Vielleicht lösten sie sich dann in eine dicke, häßliche Wolke auf, und der Wind konnte sie ins schwärzeste Afrika, in einen gefährlichen Dschungel tragen. Ja, sie hatten es verdient, von einem Puma gefressen zu werden, von so einem wie dem im Bronx-Zoo. Das aufrührerische Vieh hatte unerträglich gestunken und eine Laune gehabt, die Gabby an die Sekretärin des Direktors erinnert hatte.

Das kleine Mädchen umklammerte seine Schultasche und lief mit großen Schritten auf den gelben Schulbus zu, der ein Stück weiter vorn an der Ecke wartete. Die Schlange der Kinder vor dem Bus war nicht mehr sehr lang. Wenn sie sich nicht beeilte, dann fuhren sie ohne Gabby ab.

Das durfte auf gar keinen Fall passieren. Vor allem heute nicht.

Heute mußte alles perfekt laufen. Die letzten beiden Wochen hatte Gabby mehr oder minder mit Vorbereitungen zugebracht. Seit sie gehört hatte, daß ihre Mutter endlich wieder nach Hause kam, war sie vor Aufregung fast geplatzt. Tagelang war sie im Geist jedes einzelne Detail durchgegangen. Nachts war sie mit heftig klopfendem Herzen aufgewacht vor Angst, daß sie etwas Wichtiges übersehen hatte, was Marni wieder krank machen konnte.

Gabby hatte Mrs. Millport geholfen, das Haus auf Vordermann zu bringen und den Kühlschrank zu füllen. Für heute abend hatten sie ein Willkommensessen vorbereitet, bei dem es Theas Lieblingsspeisen und einen riesigen Kuchen in Form einer Malerpalette geben sollte. Das kleine Mädchen hatte die Sahne eigenhändig mit Lebensmittelfarbe gefärbt und sie mit höchster Sorgfalt auf dem Kuchen verteilt.

Und heute morgen war Amber Millport extra eine halbe Stunde früher aufgestanden, um Gabbys dunklen Haarschopf zu einem kunstvollen französischen Zopf zu flechten. Die Zwillinge, Opal und Jasmine, hatten ihr geholfen, die richtigen Kleidungsstücke auszuwählen: einen kurzen Jeansrock, gerippte Strumpfhosen, eine rote Bluse mit weißen Perlen als Knöpfe, einen farbenprächtigen Gürtel, Schnallenschuhe. Außerdem hatten ihr die Millport-Mädchen noch einen roten Plastikarmreif, Ohrringe und passende Haarspangen geliehen.

Auf keinen Fall würde sie zulassen, daß diese Idioten ihr alles versauten.

Gabby lief schneller. Der Fettklops Toby Blenheim stieg jetzt schwerfällig in den Bus. Wie gewöhnlich als letzter. Ricky Dolan streckte seinen Kopf wie ein Hund aus dem Rückfenster des Busses, der jeden Augenblick losfahren mußte.

Dröhnend sprang der Motor an. »Wartet!« rief Gabby und rannte los« »Wartet auf mich!«

Die Türen wurden geschlossen. Gabby rief noch mal, aber ihre Stimme ging im Motorengeräusch unter. Jetzt lief sie, so schnell sie konnte, entschlossen, den Bus zu erwischen.

»Warten Sie, Benny. Ich komme!«

Fast dort. Nur noch ein paar Schritte, dann konnte der Busfahrer sie sehen. Da stolperte sie plötzlich und schlug der Länge nach auf den Weg. Der Sturz beschämte Gabby. Außerdem hatte sie sich weh getan. Und dann hörte sie den gemeinen Gesang der Jungs.

Thea Harper nahm ein Beil

kloppte es auf ihren Freund

und als sie sah, was sie getan

schlug sie den Kerl gleich noch einmal.

Gabby stand auf. Frustriert unterdrückte sie einen Schluchzer. Ihre Strumpfhose war an den Knien, die blau angelaufen waren, aufgerissen. Sie hatte sich die Handflächen aufgeschürft, was ziemlich brannte, und ihre Klamotten waren schmutzig geworden. Opals roter Armreif lag zerbrochen am Boden.

Als sie sich umwandte, sah sie Eddy Adelman hämisch grinsen, sein mit Sommersprossen übersätes Gesicht war zu einer gemeinen Fratze verzogen. Mit ausholender Geste hob er seinen Fuß, um den anderen vorzuführen, wie er ihr ein Bein gestellt hatte. Die anderen Greens Farms Jungs rotteten sich hinter ihm zusammen, jubelten lautstark und schlugen ihm anerkennend auf den Rücken.

Bevor Gabby die Blätter zusammensuchen konnte, die aus ihrer Schultasche gepurzelt waren, hob die Bohnenstange Brian Carmody sie auf und zerknüllte sie. Die anderen zwei Jungs folgten seinem Beispiel und spielten mit ihren Papieren Ball, während sie wieder ihr häßliches Lied anstimmten.

Thea Harper nahm ein Beil -

Da vergaß Gabby ihre blutigen Knie und ihre brennenden Handflächen und versuchte, die Zettel zu fangen, die über ihren Kopf segelten. Die Arbeiten hatte sie extra gesammelt, um sie ihrer Mutter zu zeigen, die sicherlich stolz darauf sein würde, daß sie fast nur Einsen bekommen hatte. Wie ein gehetztes Karnickel rannte sie hin und her, doch die Jungs waren ihr eindeutig überlegen. Sie waren größer und schneller. Stinkende Siebtkläßler. Gabby machte ihrem Zorn Luft.

»Ihr dummen Ärsche«, kreischte sie. »Ich werde euch töten! Das schwöre ich!«

Rod riß die Augen auf. »Wirst ‘ne Mörderin werden, wie deine alte Dame. Los, kleine Killerin. Versuch’s doch mal.«

Brian winkte sie heran, forderte sie heraus, ihm zu folgen. Eddy legte die Hand auf den Mund und tat so, als müßte er furzen. Und dann legten sie wieder mit dem gemeinen Lied los. Das ging jetzt schon seit Monaten so.

Thea Harper nahm ein Beil -

»Hört auf!« jammerte Gabby. »Gebt sie mir! Sie gehören mir!«

»Du willst deine wertvollen Zettel?« fragte Eddy. »He, Jungs. Gebt sie ihr lieber, sonst hetzt sie uns ihre durchgeknallte Alte auf den Hals.«

»Oh, nein, nicht das\« Rod legte die Hände auf den Kopf und stolperte nach hinten. »Bitte, nein, Mrs. Harper. Schlagen Sie nicht noch mal auf mich ein!«

Ein zusammengeknülltes Papier traf ihre Wange. Was Eddy da eingefallen war, hielten die anderen für eine gute Idee, und so bombardierten sie Gabby.

Thea Harper nahm ein Beil -

»Hört auf!« kreischte sie. »Nein!« Ihr Zorn brach sich in Tränen Bahn. »Hört auf, zum Teufel! Hört auf!«

Plötzlich machte sich Schweigen breit. Trotz der Tränen konnte Gabby die Furcht in Rod Salvatores Augen erkennen. Gabby drehte sich um. Ein älterer Junge in schwarzen Jeans und schwarzer Lederjacke hatte Eddy von hinten gepackt. Ein Arm drückte gegen Eddies Gurgel. Ihr Feind würgte, und sein Gesicht nahm die Farbe von Erdbeerjoghurt an.

»Hast du genug, Blödmann?«

»Ja, Dill«, krächzte Eddy, der hilflos wirkte. »Laß mich los.«

Feige wie immer wollte Rod davonlaufen, aber der ältere Junge, den sie Dill nannten, erwischte ihn am Hemdärmel.

»Keiner rührt sich von der Stelle, bis ich es sage. Kapiert?« herrschte Dill sie an. Seine tiefe, grollende Stimme klang wie die eines erwachsenen Mannes.

Rod blieb wie angewurzelt stehen, während der ältere Junge Brians Arm mit beiden Händen packte und die Haut in verschiedene Richtungen drehte. Brennnessel. Gabby, die Dills Hände fixierte, fielen die dreckigen Nägel und die wurmförmigen Narben auf, die seine Handgelenke verunstalteten.

»Es reicht...«, wimmerte Brian.

»Ich sag dir, wann es reicht, Trottel«, erwiderte Dill und drehte fester, um seine Haltung zu untermauern.

Mit erhobenem Zeigefinger wandte er sich an Rod. »Jetzt bist du an der Reihe, Schlappschwanz. Du hast auch noch ’ne Abreibung verdient.«

Rod nahm die Hände hoch, um Dill zu zeigen, daß er aufgeben wollte. Sein Gesicht war kalkweiß. »He, hör mal. Was haben wir dir denn getan?«

»Wenn ich mit ansehen muß, wie ihr ein kleines Mädchen fertigmacht, verdirbt mir das den Appetit. Und wenn ich nicht richtig esse, werde ich griesgrämig. Da siehst du, was passiert, du Auswurf. Oder biste zu blöd, das zu begreifen?«

»Wir haben doch nur ein bißchen Spaß gemacht«, murrte Rod. »Vergiß es einfach, ja?«

Der ältere Junge marschierte zu Rod hinüber, seine schwarzen Augen waren nur noch schmale Schlitze. »Sicher werd ich das. Ich werd’s vergessen, sobald ich dafür gesorgt habe, daß ihr’s nie mehr vergeßt.« Zuerst fuhr er mit der Handfläche über Rods Bürstenhaarschnitt, dann ballte er die Hand zur Faust und hämmerte auf Rods Kopf ein, als ginge es darum, einen Zaunpfosten in die Erde zu treiben.

Rod wimmerte wie ein getretener Hund. Gabby hatte alle Mühe, ein Kichern zu unterdrücken.

»Jetzt verschwindet mir aus den Augen, ihr kleinen Blödmänner«, knurrte Dill, woraufhin sich die drei Jungs sofort verzogen.

Nachdem sie mit ihren Rädern um die Ecke gekurvt waren, richtete sich der ältere Junge an Gabby. »Biste in Ordnung?«

Die Tränen wegwischend reckte sie sich und tat so, als wäre das, was sich gerade zugetragen hatte, nicht der Rede wert. Trotzdem war jetzt alles verdorben. Der Bus war abgefahren, der Heimweg gut vier Kilometer lang. Bis sie die Strecke zu Fuß zurückgelegt hatte, war ihre Mutter vor Sorge sicherlich schon auf hundert. Gabby dachte gleich an die zerbrechliche Verfassung, in der sich ihre Mutter befand. Wieder drohte die Welt auseinanderzufallen.

»Komm schon«, forderte der Junge sie bestimmt auf, während seine dunklen Augen sie fixierten. »Ich werde mich darum kümmern, daß du wieder normal aussiehst und dich nach Hause bringen.«

»Ich darf nicht zu Fremden ins Auto steigen.«

»Kannst du dich nicht an mich erinnern?«

»Nein.«

»Aber sicher doch. Denk nach.« Er zündete sich eine Zigarette ein, legte dabei schützend die eine Hand über die Flamme.

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Gabby ihren Retter.

»Ich bin Dylan. Dylan Connable. Als du drei oder vier warst, hat meine Mutter tagsüber auf dich aufgepaßt. Manchmal hab ich sie nach der Schule vertreten. Und viel mit dir gespielt. Erinnerst du dich jetzt?«

Als er seinen Namen nannte, gefror Gabby das Blut in den Adern. Amber Millport hatte ihr viele Geschichten über Dylan Connable erzählt. Amber, die siebzehn war, begriff viele Dinge, die Gabby nicht einmal schreiben konnte. Nach dem, was Amber gesagt hatte, ging jeder, absolut jeder, Dylan aus dem Weg. An diese stumme Übereinkunft hielt man sich, so wie man sich daran hielt, nicht am Eis eines Grippekranken zu lecken.

»Nun? Kommst du, oder nicht?« Er spähte durch den Zigarettenrauch.

Gabby schaute sich in der menschenleeren Straße um, hoffte auf eine bessere Alternative, biß sich auf die Lippen und nickte schließlich. Wie auch immer, sie mußte nach Hause zu ihrer Mutter.

Dylan hatte seinen Wagen schräg auf der Ecke geparkt. Das Auto, mattschwarz wie ein verkohltes Steak, zierten an den Seiten rote und goldene Teufelskrallen. Das Chassis war hinten so extrem höhergelegt, daß sie den Draht sehen konnte, der den verrosteten Auspuff zusammenhielt.

Im Wagen herrschte heillose Unordnung. Es drehte Gabby fast den Magen um, als sie die zahllosen Pappschachteln, zerdrückten Bierdosen, fleckigen Klamotten und Berge von Notizzetteln sah. Mit ausladender Geste wischte Dylan den Krempel vom Beifahrersitz, damit sie Platz nehmen konnte. Widerwillig stieg das kleine Mädchen ein und suchte nach dem Sicherheitsgurt, den es nicht gab.

Dylans Fahrstil konnte nur als unbeherrscht bezeichnet werden. Den Bleifuß auf dem Gaspedal, preschte er los. Sein Kopf erinnerte im Nebel des Zigarettenrauchs an einen Geisterschädel. Gabby suchte Halt und krallte sich am zerfledderten Sitzpolster fest. Sie hielt den Atem an und versuchte, sich auf die vorbeirasende Gegend zu konzentrieren. Stromleitungen liefen auseinander, trafen sich wieder, kreuzten sich und verloren sich in der Ferne. Häuser und Bäume flitzten an ihr vorbei. Ihrem Magen ging es gar nicht gut, sie hatte das Gefühl, viel zu schnell in einem Fahrstuhl nach unten zu sausen.

Nur ein paar Minuten später kamen sie am Fluß vorbei und schossen durch bekannte Straßen. Gabby kannte den Heimweg in- und auswendig. An der Eisdiele vorbei. Am Beerdigungsinstitut von der Post Road abbiegen. Dann am Frauenverein, an der Versicherung, am Ärztehaus vorbei. Nach dem dritten Stoppschild links abbiegen, und dann kam ihr Haus, das fünfte auf der rechten Seite.

Am zweiten Stoppschild waren sie gerade eben vorbeigefahren. Gabby beugte sich vor, rechnete damit, daß Dylan gleich abbog. Doch der Junge schoß an der Kreuzung vorbei, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Warte. Du hast die Abfahrt verpaßt.«

»Meine Bude ist nicht weit von hier. Ist besser, wenn du dich zuvor ein bißchen sauber machst.«

»Aber meine Mutter wartet auf mich.«

»Aber sie rechnet bestimmt nicht damit, daß du so aussiehst, oder?«

Dagegen konnte Gabby nichts einwenden. Wenn ihre Mutter sie so zu Gesicht bekam, regte sie sich bestimmt tierisch auf. Und die paar Minuten, die es dauerte, sich ein bißchen herzurichten, machten den Kohl auch nicht mehr fett. Außerdem hatte sie eh keine Wahl: Dylan sauste schon die Juniper hinunter. Am Ende der Straße polterte er auf eine holperige Steinauffahrt.

Von der Fahrt hatte Gabby ganz zittrige Knie bekommen. Sie stieg aus und lief instinktiv zur Haustür hinüber. Obwohl sie bemüht war, sich an Mrs. Connables Gesicht zu erinnern, hatte sie keinen Schimmer, wie die Frau aussah.

Als kleines Kind hatte sie immer wieder ein paar Tage hier, ein paar Wochen dort verbracht, weil ihre Mutter mit ihren Ausstellungen oder dem Kunstunterricht am College beschäftigt gewesen war.

In Gabbys Erinnerung waren die vielen Tagesmütter, die vielen Häuser, in denen sie sich aufgehalten hatte, ziemlich verschwommen. Ihr fielen nur noch Details von Räumen ein, Decken, auf denen sie ihr Mittagsschläfchen gehalten hatte, Geschichten, die man ihr erzählt, und dreistöckige Sandwiches, die man ihr zum Essen vorgesetzt hatte.

Egal. Sie wollte Mrs. Connable nur kurz und höflich begrüßen, sich ein wenig saubermachen, und dann konnte Dylan sie nach Hause fahren.

»Nicht da entlang«, rief er.

»Ich dachte, du wolltest, daß ich mich kurz wasche.«

»Meine Bude ist dort oben.« Er zeigte auf einen Raum über der Garage, dessen winziges Fenster von einem schwarzen Stoff verhangen war. Ein aufgedrucktes Skelett blickte durch das Glas.

Dylans Zimmer hatte eine bedrohliche Ausstrahlung. »Ich halte es für besser, wenn ich jetzt heimgehe.«

»Wie du willst.« Er zuckte mit den Achseln. »Wenn es dir nichts ausmacht, daß sich deine Mutter über dein Aussehen den Kopf zerbricht und dir tausend unangenehme Fragen stellt. Mir kann’s egal sein.«

Als Gabby an das gemeine Lied dachte, das die Greens Farms Jungs immer sangen, als sie an die letzten Monate dachte, in denen sie fortlaufend gehänselt worden war, lief sie puterrot an. Nie im Leben konnte sie ihrer Mutter erzählen, was sich zugetragen hatte, was diese großen Blödmänner ihr immer wieder an den Kopf warfen.

Was hätte sie darum gegeben, wenn diese schlimme Zeit endlich zu Ende ging? Falls sie jetzt nichts falsch machte, würde es ihr und ihrer Mutter vielleicht gelingen, wieder zu einem normalen Leben zurückzufinden. Sie mußte sich waschen und dann einfach so tun, als wäre nichts geschehen.

Langsam stieg sie hinter Dylan Connable die dunkle Treppe hoch.

KAPITEL 4

Viertel nach drei. Gabby mußte jede Minute eintreffen. Thea spähte aus dem Fenster. Die Kehle war ihr vor Angst wie zugeschnürt.

Dunkle Wolken schoben sich über den mattgrauen Himmel. Die Vögel zogen schon scharenweise Richtung Süden. Glenda Rossners maronenfarbener Chevy-Kombi zuckelte verdächtig langsam die Straße hinunter, damit sie, die neugierigste Frau in der Nachbarschaft, ein bißchen herumschnüffeln konnte. Hastig trat Thea vom Fenster zurück. Die unausweichliche Begegnung mit Westports Nachrichtendienst wollte sie um jeden Preis noch etwas hinausschieben.

Das Klingeln des Telefons machte sie nervös. In den wenigen Stunden seit ihrer Entlassung aus Brook Hollow hatte sie sich schon mit einigen irritierenden Störungen auseinandersetzen müssen. Im Krankenhaus war sie von Anrufen abgeschirmt gewesen. Besucher hatten aufwendige Sicherheitskontrollen über sich ergehen lassen müssen. Der Lärm von Autohupen und lauten Radios war abgedämpft worden. Die dicken Wände und dichten Teppiche hatten das Getöse des Alltags zu einem friedlichen Surren reduziert.

Wieder läutete das Telefon. Thea hatte den Anrufbeantworter eingeschaltet. Nach Simons Tod hatte sie auf die harte Tour gelernt, erst ranzugehen, wenn sie wußte, was oder wer am anderen Ende der Leitung war. Niemals würde sie die endlosen Anrufe von der Presse und die gemeinen anonymen Botschaften vergessen können. Die Bedrohung, die von ihnen ausging. Wiederholt hatte man ihr vorgeschlagen, der Welt einen Gefallen zu tun und tot umzufallen.

Heute morgen hatte sie schon mehrere Anrufe von Nachbarn, Telefonverkäufern und einen von Harlan Vernon erhalten, dem Reporter, der ganz oben auf Theas Haßliste stand. Vernon, den Thea seit ihrer Verhandlung nur noch »das Ungeziefer« nannte, hatte von ihrer Entlassung erfahren. Zornig atmete sie tief durch. Falls sie zuließ, daß er ihr so unter die Haut ging, war es ihm ein leichtes, sie wieder in die Klapsmühle zu verfrachten.

Die letzten drei Nachrichten stammten von ihrer Agentin Pru Whittaker. Effizienz, Hingabe und Beharrlichkeit, die Pru zu einer wundervollen Repräsentantin machten, waren Eigenschaften, die Thea im Augenblick nicht ertragen konnte, weil sie sich noch nicht in der Lage sah, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Seit der Verhandlung hatte Pru sie mehrmals pro Woche bedrängt und ihr immer wieder gesagt, daß Brook Hollow ein perfekter Ort zum Malen sei. Denk doch wenigstens an die Inspiration. Ihrer Meinung nach hätte sich Thea einer Serie von Stilleben widmen können, die sich auf Nüsse und Obstkuchen konzentrierten.

Doch jetzt vernahm Thea den schleppenden Akzent ihrer Mutter und ging ran.

»Hallo, Mom. Ich bin hier.«

»Willkommen daheim, Checker-Liebling. Ist alles in Ordnung?«

»Ja. Wie geht es dir?«

»Wie immer, wie immer«, antwortete Ellie Sparks, die sich gern einer Fülle von Allgemeinplätzen bediente. »Ist wirklich alles in Ordnung, Liebling? Ich könnte ja zu dir kommen und dir ein bißchen zur Seite stehen, wenn dus möchtest.«

Wie gern hätte Thea ihr Angebot angenommen. Ihre Mutter, eine standhafte und vertrauensvolle Frau, hatte Thea während all der Ereignisse zur Seite gestanden. Aber Theas Vater, der die Parkinson’sche Krankheit hatte, im Anfangsstadium der Alzheimer Krankheit war und unter einer Reihe anderer Beschwerden litt, brauchte Ellie dringend auf der Ranch. »Ist nicht nötig, Mutter. Wirklich nicht.«

Thea spürte sehr wohl, daß ihre Mutter erleichtert war. Während der Verhandlung ihrer Tochter hatte Ellie darauf bestanden, in den Osten zu fahren, aber die Zeit war für sie nicht einfach gewesen. Täglich waren Anrufe aus Idaho gekommen, weil Unmengen von Dingen und Problemen besprochen werden mußten. Diese Zerrissenheit hatte das Nervenkostüm ihrer Mutter stark strapaziert.

»Du bist dir ganz sicher?« hakte ihre Mutter nach.

»Ja. Mir geht es gut. Wie steht es mit Dad?«

»So gemein wie ’ne Hauszecke, daran kannst du ablesen, daß es ihm bessergehen muß.«

»Wie immer, wie immer.«

Ellie kicherte zustimmend. »Hast dir nie eine Gelegenheit entgehen lassen zu spotten, nicht wahr, Liebling?«

Thea lächelte. Ellie fiel es leicht, Theas Fenster aufzureißen und den Staub und die Dämonen rauszukehren.

»Richte allen liebe Grüße aus, ja?« Thea fiel auf, wie sich ihr Westernakzent wieder einschlich. Wenn sie sich mit ihrer Mutter unterhielt, fiel sie schnell in alte Gewohnheiten zurück.

»Werde ich. Ich melde mich bald wieder, Liebling.«

Thea spazierte durchs Haus, versuchte wieder ein Gefühl für die Räumlichkeiten zu bekommen. Caro Millport, die beste Freundin und Nachbarin, die man auf dieser Welt haben konnte, hatte sich große Mühe gegeben, die Atmosphäre mit Willkommensplakaten und Papierschlangen aufzuheitern. Überall hatte sie aufgeräumt, alles blitzblank geputzt. In den Zimmern hing der Duft von Zitronenöl. Doch leider brauchte es mehr als Besen und Dekoration, um wieder zum normalen Leben zurückzufinden.

Keines der Zimmer wirkte richtig vertraut. Sie wanderte im Wohnzimmer auf und ab, wie in jener Nacht, als Simon hier gestorben war, und verließ es dann schnell wieder. Beim Gang durch das Haus hatte sie das Gefühl, ein Museum zu besichtigen. Die Bilder kamen ihr bekannt vor, die Möbel gefielen ihr. Doch berühren konnte sie nichts.

Im oberen Stockwerk packte sie ihre Koffer aus, sprang kurz unter die Dusche und zog sich ein Hemd und Jeans an, Kleider, die sie gewöhnlich zum Malen trug. Irgendwie gestärkt ging sie den Stapel Post durch, der sich auf dem Eßzimmertisch angesammelt hatte. Caros Ehemann, Drew, hatte ihn während Theas Abwesenheit schon vorsortiert und sich um die Rechnungen und andere wichtige Benachrichtigungen gekümmert.

Glücklicherweise hatte die Galerie ein paar Bilder verkauft, während sie in Brook Hollow gewesen war, so daß ihr finanzielles Polster nicht allzu mager war. Nach dem, was Pru Whittaker erzählte, bestand immer noch ein starkes Interesse an ihren Bildern. Der Galeristin schwebte eine Einzelausstellung vor, sobald Thea in der Lage war, eine Reihe Bilder zu produzieren. Einer Malerin schadete Niederträchtigkeit nicht, hatte Pru Thea aufgeklärt, und zwar in einem Tonfall, der darauf schließen ließ, daß ihre Agentin sich insgeheim wünschte, all ihre Schützlinge würden auf der Stelle losziehen und eine Berühmtheit ermorden.

Thea freute sich über die Möglichkeit. Sie liebte ihre Arbeit. Sobald sich ihre unruhige Seele beruhigt hatte, wollte sie die Malerei wiederaufnehmen. Aber zuerst mußte sie ihr Leben wieder in den Griff kriegen.

Mit der Post machte sie kurzen Prozeß: Wurfsendungen, abgelaufene Kataloge und Rundschreiben wanderten gleich in den Müll. Erfreut registrierte Thea, daß keine Haßpost gekommen war. Andererseits bestand natürlich die Möglichkeit, daß Drew sie schon entsorgt hatte.

Die Briefe waren von dem Tag an eingetrudelt, als über Simons Tod in der Presse berichtet worden war. Und auch während der Verhandlung hatte man sie regelmäßig damit bombardiert. Die meisten Briefe trugen keinen Absender, waren im Zorn kurz aufs Papier gekritzelt oder mit ausgeschnittenen Buchstaben aufgeklebt worden. Diese Briefe hatten eine tiefere Wirkung auf Thea, weil sie giftiger und weniger vergänglich als die Anrufe waren.

Caro und Drew hatten sie gedrängt, sie zu ignorieren, sie zu zerreißen und ungelesen wegzuwerfen. Aber wie soll man einen Schwarm Killerbienen übersehen? Der darin ausgedrückte Haß paralysierte Thea. Die Wendung, die ihr Leben genommen hatte, verstand sie immer noch nicht. In ihrem Herzen und in ihrer Vorstellung war sie immer noch die fürsorgliche, einfühlsame Seele, die sie seit jeher gewesen war. Immer noch der Liebling ihrer Mutter. Immer noch Gabbys hingebungsvolle Mutter und die einsame, um Justin trauernde Witwe. Ganz egal, wie oft die anderen sie daran erinnerten, wie oft sie selbst daran dachte: Sie war vollkommen unvorbereitet auf das, was aus ihr geworden war.

Laß das hinter dir, Thea! Ertrink nicht darin!

Nachdem sie die Post sortiert hatte, blieben nur noch Bestellkarten für Kunstmagazine und Briefe von Künstlervereinigungen übrig, die Thea in eine Schublade der Kommode legte.

Von Gabby immer noch keine Spur. Entweder hatte sich der Bus verspätet oder das Kind trödelte auf dem Heimweg und plauderte noch mit ein paar Gleichaltrigen aus der Nachbarschaft. Thea drängte es, ihre Tochter so schnell als möglich zu sehen, und sie wäre am liebsten zur Ecke gerannt. Aber sie wollte die Aufgeregtheit und Nervosität in ihr nicht nach außen dringen lassen.

Stattdessen griff sie nach dem ledergebundenen Fotoalbum, das auf dem Couchtisch lag, und lehnte sich gegen die Kissen auf dem Wohnzimmersofa. Seit Justins Tod hatten ihr die Familienfotos immer wieder Schmerz, aber auch Freude bereitet. Diese Hochglanzbilder hielten die perfekten Augenblicke ihres Lebens fest, waren wirklich und lebendig und bedeuteten ihr mehr als alle anderen Andenken.

Da gab es Fotos von ihr und Justin aus dem Winter, in dem sie sich in Manhattan kennengelernt hatten. Er hatte gerade im New Yorker Krankenhaus gearbeitet. Und sie hatte das Glück gehabt, sich beim Eislaufen im Rockefeller Center das Handgelenk zu brechen, als er gerade Bereitschaftsdienst hatte. Dieses Ereignis hatte Theas Glauben an das Schicksal nur bekräftigt, auch wenn andere es als schlichte Ungeschicktheit bezeichnet hatten.

Darauf folgten Fotos aus dem Jahr, in dem sie in New Haven gelebt hatten. In dieser Zeit arbeitete Justin als Assistenzarzt in Yale, und sie schrieb an ihrer Abschlußarbeit über visionäre Malerei in der postimpressionistischen Periode.

Mit der alten Hasselblad vom Flohmarkt hatte ihr Vater die Hochzeit in Bildern festgehalten. Alle hatten einer einfachen Trauung auf der Ranch zugestimmt, wo auch die Feier im engsten Kreis stattfand. Thea konnte sich noch sehr gut an die Freunde und Verwandten erinnern, die mit Töpfen, Geschenken und guten Wünschen vorbeigeschaut hatten. Und noch immer spürte sie die seltsame Mischung aus Freude und Beklommenheit. Nach der Trauung hatte Justin ihr gestanden, daß er zuvor Valium geschluckt hatte. Thea hingegen hatte die Zeremonie mit einem kräftigen Schluck aus der Brandyflasche überstanden, die ihre Mutter für Notfälle in der Küche aufbewahrte.

Es fiel ihr nicht leicht zu sehen, wie jung und kraftvoll alle vor elf Jahren gewirkt hatten. Noch schwerer konnte sie akzeptieren, daß so viele Träume und Erwartungen aus jener Zeit durch einen einzigen Schicksalsschlag von Tisch gefegt worden waren.

Sie betrachtete die Flitterwochenfotos, die Fotos, die ihre Schwangerschaft dokumentierten, und die vom Erstgeborenen: Gabbys erstes Bad, ihr erstes Lächeln, ihr erster Zahn, erste Schritte, erster Tanz mit Vater und so weiter.

Ein Foto von Gabby, die im Kindersitz des Autos schlummerte, ließ Thea an die vielen langen Ausflüge denken, die sie so gern am Wochenende unternommen hatten. Ihre Lieblingsroute hatte sie am Brook Hollow Krankenhaus vorbei in die nördlichen Wälder des angrenzenden New Canaan geführt. Im Vorbeifahren hatten sie oder Justin oft einen Witz über die Anstalt gemacht, von der jedermann wußte, daß dort die Julep und Martini trinkende Schicht ausgenüchtert und trockengelegt wurde.

Trockengelegt war ein ziemlich schwaches Wort für die dortigen Maßnahmen.

Endlich stieß Thea auf ihre Lieblingsfotos ganz hinten im Album. Da war ein wundervoller Schnappschuß von Justin, zwei Monate vor seinem Tod aufgenommen. Seine blaßgrünen Augen schienen direkt auf Thea gerichtet zu sein. Dieser Blick verriet all seine Gedanken und Neigungen.

»Warum bist du nicht hier, um mir bei dieser Sache zur Seite zu stehen, du Ratte?« sagte Thea laut. »Ich habe Angst, daß ich mit Gabby alles in den Sand setzen werde. Wenn du hier wärst, könnten wir’s wenigstens zusammen vermasseln.«

Im Geiste sah sie seine funkelnden Augen, sein teuflisches Lächeln. Du wirst es schon schaffen, Liebling. Hast noch nie jemanden gebraucht, um ein heilloses Durcheinander anzurichten.

Über ihrem Kopf knarzte eine Bodenplanke. Eine Tür quietschte in den Angeln.

»Wer ist da?«

Keine Antwort.

»Gabby? Bist du’s?«

Stille.

Hatte sie die Haustür hinter sich abgeschlossen, als sie ins Haus gekommen war? Thea war viel zu lange weg gewesen, um sich auf normales, instinktives Handeln verlassen zu können. Wenn sich hier ein Einbrecher herumtrieb, würde sie bestimmt nicht dableiben und die Gastgeberin spielen. Sie konnte von den Millports aus die Polizei verständigen und Gabby draußen abfangen.

Zutiefst erschrocken lief Thea durch das Foyer, drehte ganz vorsichtig am Türknauf und öffnete leise die Vordertür. Sie war schon halb draußen, als eine Stimme sie zurückhielt.

»Marni, warte.«

Zitternd drehte sie sich zu ihrem kleinen Mädchen um, das im Schatten der Treppe lauerte.

»Gabby? Warum hast du nichts gesagt, als ich nach dir gerufen habe? Du hast mich zu Tode erschreckt!«

Das Kind senkte den Blick und wurde ganz zappelig. Thea sah sofort, daß sie flunkerte. »Tut mir leid. Ich hab dich nicht gehört.«

»Du mußt mich doch gesehen haben, als du hereingekommen bist. Ich war im Wohnzimmer.«

»Hatte es wohl eilig, ins Badezimmer zu kommen. Bin heute den ganzen Tag noch nicht auf der Toilette gewesen.«

Die Erklärung ergab keinen Sinn. Das Mädchen hätte nicht unbemerkt an ihr vorbeilaufen können, es sei denn, sie schlich wie eine Katze durchs Haus.

Vergiß es, Thea. Das hier ist wirklich nicht der richtige Anfang.

So schluckte sie die Zurechtweisung und die anklagenden Fragen hinunter und breitete die Arme aus. »Laß dich in den Arm nehmen, damit ist alles vergessen. Ist das ein Angebot?«

Gabby näherte sich ihr schüchtern und zögerlich. Das Mädchen trug Kleider, die Thea nicht kannte: ein altes Flanellhemd, riesengroße Jeans, die von einem ausgefransten Seil zusammengehalten wurden. Seltsamer Kleidungsstil für ein Mädchen, das immer auf Ordnung bedacht gewesen war und einen Hang zur Mode hatte. Noch eigenwilliger waren die Accessoires, die sie dazu gewählt hatte: flache Schuhe, die zu Kleidern paßten, hübsche Haarkämme und ein paar rote Straßohrringe.

Der schlanke Körper ihrer Tochter fühlte sich vertraut an, aber der säuerliche Geruch, der an ihr haftete, ließ Thea zurückweichen.

»Du riechst nach Rauch, Gabby«

Wieder senkte sie den Blick zu Boden. »Wahrscheinlich haben ein paar Mitschüler auf dem Klo geraucht.«

»Ich dachte, du hättest gesagt, du wärst heute noch nicht auf der Toilette gewesen.«

»War ich auch nicht. Heute nicht. Vielleicht riechen die Klamotten noch vom letzten Mal, als ich sie getragen habe, so. Samstag abend hatte Amber ein paar Freunde eingeladen. Viele von denen rauchen.«

»Bitte, lüg mich nicht an, Gabby. Was immer es auch sein mag, ich höre lieber die Wahrheit.«

Gabby traten die Tränen in die Augen. »Ich würde niemals rauchen. Ehrlich. Sei bitte nicht sauer auf mich.«

Thea drückte das Gesicht ihrer Tochter gegen ihre Brust und strich ihr über den Kopf.

»Bin ich doch nicht, Herzblatt. Ich freue mich so, wieder bei dir zu Hause zu sein. Jetzt wird alles wieder gut. Du wirst schon sehen.«

»Es tut mir leid, Marni. Ich hab alles verpatzt, nicht wahr?« Ein Schluchzer ließ Gabbys schlanken Körper erschauern.

Thea hielt ihr kleines Mädchen, bis sie zu weinen aufhörte. »Schhh. Ist schon gut. Jeder nimmt mal einen Zug. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich mit zehn oder elf einen Zug hinterm Schuppen genommen habe. Ziemlich ordinär, hm?«

Gabby versteifte sich. »Ich hab dir doch gesagt, daß ich nicht geraucht habe. Warum glaubst du mir nicht?«

Keine Anzeichen dafür, daß sie jetzt schwindelte. Aber irgendetwas stimmte nicht.

Vorsicht, Thea. Laß das Kind mal Luft holen. Wahrscheinlich ist sie nur nervös, weil du heute heimgekommen bist. Vollkommen verständlich.

»Wie wär’s mit etwas zu essen? Ich bin am Verhungern«, schlug Thea vor.

»Okay.«

Gabby folgte ihr in die Küche. Thea überprüfte die Vorräte, die Caro Millport eingekauft hatte, und suchte die Zutaten zusammen, um einen riesigen Eisbecher zu machen. Eiscreme, Schokoladensoße, gehackte Nüsse, Schlagsahne. Die gute alte Caro. Die Frau hatte an alles gedacht.