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Eine Grässliche Bluttat auf der Burg Hohenzollern schreckt Fürstin Veronika auf. Niemand darf davon etwas erfahren, so wenig wie von ihrer Beziehung zum Psychologen Alex Kanst. Und diesen bittet sie nun unter Einsatz ihres Charmes um diskrete Mithilfe. Von seinen Gefühlen überwältigt stürzt sich Alex in die Ermittlungen. Schnell braucht er Hilfe von Lilly und Wolfgang. Anfängliche Verdächtigungen verdichten sich und der Blick fällt dabei auf jemanden der sich Alex nie als Täter vorstellen konnte. Alex bleibt auf beiden Augen blind und fasst einen großen Entschluss. Und so bringt er wieder einmal alle in Gefahr. Teil Vier der Killer Tal Krimi Reihe. Das Killer Tal- es gibt es wirklich!
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Seitenzahl: 473
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OLIVER GRUDKE
***
FÜRSTEN GRUFT
© 2021 Oliver Grudke
Umschlag, Illustration: Sascha Riehl
Lektorat, Korrektorat: Nadine Senger
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-41417-4
Hardcover:
978-3-347-41418-1
e-Book:
978-3-347-41419-8
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Endlich hatte es die Sonne sogar vor Lillys Haus geschafft, die letzten Schneereste wegzuschmelzen. Überall blühten Krokusse, Schneeglöckchen und Märzenbecher. Alex hatte ihr erzählt, dass er einen Wald kenne, wo es von Märzenbechern nur so wimmelte. Und er würde diesen geheimen Ort Lilly zeigen.
Doch das musste warten. Zuerst galt es, die sorgfältig vorbereitet und abgestimmte, aber noch geheime Mission zu bewältigen. Und diese Mission konnte eventuell schwierig werden. Denn es gab auf der ganzen Welt nur einen Menschen, der einen noch stärkeren Dickkopf hatte, außer Lilly. Und das war Alex Kanst. Psychologe, noch immer Single und der beste Profiler der ganzen Welt (die letzte Aussage wollte Lilly heute einmal nicht kommentieren, da ihrer Meinung nach, die Welt doch so groß war, dass es noch mehr gute Profiler gab). Und weil diese Mission sehr heikel und bestimmt auch schwierig sein konnte, hatte sich Lilly Verstärkung hinzugeholt.
Siegessicher bog sie nun mit quietschenden Reifen in die Hausener Onstmettinger Straße ein, um Alex einen überraschenden Besuch abzustatten.
„Holla, fahr lieber vorsichtiger. Fast wäre mir der Kuchen vom Schoß gerutscht“, sagte Hannelore, die der erste Teil der Verstärkung für Lilly war. Der zweite war besagter Kuchen. Und da Alex neuerdings keine Milch mehr vertrug, hatte Lilly Hannelore dazu überredet, den Lieblingskuchen von Alex zu backen: Eine Linzer Torte (mit Himbeermarmelade). Lilly drückte wieder ihre blauverspiegelte Sonnenbrille zurück auf die Nase.
„Sorry!“, sagte sie zu Hannelore und lächelte.
„Deine Haare leuchten förmlich.“ Hannelore klemmte die Kuchenbox fester zwischen ihre Füße.
„Ich dachte, grasgrün setzt ein Zeichen für den Frühling und für die Hoffnung in meinen neuen Beruf.“ Lilly fuhr in die erste Serpentine. Vielleicht hatte Alex ja recht gehabt, und sie hätte sich einfach bei Jasmin Jemain entschuldigen und die Abmahnung durch die neue Staatsanwältin akzeptieren sollen.
Vielleicht. Doch in diesem Fall war sie sich ja keiner Schuld bewusst gewesen. Diese verdammte Jemain wollte nach all dem, was geschehen ist, Alex verhaften und die Tatsache, dass dieser mindestens drei weiteren Menschen das Leben gerettet hatte, unter den Tisch kehren.
Also wenn sich jemand entschuldigen müsste, dann natürlich Jasmin Jemain. Sicher tat es Lilly leid, ihrer ehemaligen Chefin die Schulter gebrochen zu haben. Doch dies war einfach eine Reflexhandlung, nachdem Jemain Lilly recht unsanft gepackt hatte. Es war auch nie die Absicht von Lilly, jemandem die Schulter zu brechen, nein. Sie hatte lediglich einen Überwurf vollzogen.
Egal, geschehen ist geschehen. Und nun hatte sie einfach gekündigt. In einem so unkompetenten Laden wollte sie nicht länger arbeiten. Es gab ja noch andere offene Stellen. Überall.
Und genau hier lag das zweite Problem. Denn überall ging nicht mehr.
Eine weitere Tatsache, die sich Lilly nicht recht erklären konnte. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, die Stellen so anzutreten, dass sie bequem die Karriereleiter emporsteigen könnte. Und dabei sollte der Ort keine Rolle spielen.
Sollte.
Und nun hatte sie im beschaulichen Hechingen ihre erste Stelle bekommen und ein tolles altes Haus (nur zur Miete, wobei Alex diese noch immer nicht festgesetzt hatte) im Killer Tal bezogen.
Auch wenn Lilly aus Sachsen stammte, und im Killer Tal gefühlt das halbe Jahr (Lilly hoffte, dass es nicht länger ging) Winter herrschte und Schnee lag, so hatte sie sich in Land und Leute mehr als verliebt.
Kurz: Sie fühlte sich zum ersten Mal zu Hause.
Besonders das vierhundert Jahre alte Fachwerkhaus, das Alex an sie vermietet, hatte die junge Frau in ihr Herz geschlossen. Fast so, als hätten das Haus, der Garten und der kleine Bach an der Grundstücksgrenze nur auf ihre Rückkehr gewartet.
All dies war sonderbar. So sonderbar wie Alex, den sie als ihren besten Freund bezeichnen wollte.
Dies alles zusammengenommen, führte zum festen Entschluss, die Hohenzollerischen Lande nie mehr zu verlassen.
Und genau aus diesem Grund waren sie und Hannelore Haiber, die neue Assistentin von Dr. Alex Kanst, auf dem Weg zu eben diesem. Und da heute Sonntag war und Alex noch immer kein eigenes Fahrzeug besaß, konnte dieser ja nur zu Hause sein.
Zu Hause in seinem neuen Haus in Onstmettingen.
„Warst du schon einmal in diesem tollen Haus?“, fragte Hannelore voller erwartungsvoller Spannung.
Lilly ließ eine pinke Kaugummiblase platzen. „Jep!“
„Und? Ist es so toll? So modern?“ Hannelore wirkte aufgeregt.
„Schon. Viel Glas halt!“ Lillys Gedanken schweiften ab. Als der kleine himmelblaue Fiat 500 röhrend die Hochebene zwischen Hausen und Onstmettingen erreicht hatte, fiel ihr Blick auf die noch immer unbelaubten mächtigen Kronen des Göckeleswaldes.
Sofort fasste sie einen weiteren Entschluss. Sollte der wunderschöne Märzenbecherwald irgendwo auch nur in der Nähe des dunklen Göckeleswaldes sein, so würde sie nicht mit Alex dorthin gehen. Zu frisch waren noch ihre Erinnerungen an die Toten dort und an die für Alex fast tödliche Jagd. Lilly war sich sicher, von diesem Wald ging nichts Gutes aus, sondern eine dunkle und tödliche Bedrohung.
Lilly beschleunigte, um den Wald und die Erinnerungen schnellstens hinter sich zu lassen.
Heute hatte er nur eine kleine Runde gedreht. Nur einmal vor zum Himberg und dann zurück. Also eine kleine Runde von nur zwei Stunden. Und er konnte widerstehen. Der Versuchung, am Ende doch noch zum Zeller Horn abzubiegen. Er konnte der Versuchung widerstehen hinüberzusehen.
Zu IHR.
Natürlich stimmte das alles so nicht ganz. Der Traufweg am Himberg bot mehr als einmal den freien Blick zur Burg. Es gab sogar hie und da eine Bank, wo man gemütlich sitzen und hinübersehen konnte. Und wenn man Forstwirtschaft studiert hatte, war man auch im Besitze eines sehr guten Fernglases.
Dazu kam, dass man sonntags das Zeller Horn besser meiden sollte. Seit irgendjemand auf die Idee kam, die Wanderwege zu bewerben, wimmelte es sonntags hier nur so von Ein-Tages-Touristen, die außer Lärm und Müll kaum zum Fortschritt der Albregion beitrugen. Etwas entfernt davon gab es den so genannten Hangender Stein. Hier löst sich langsam wieder ein Stück der Alb, um durch Erosion ins Tal zu stürzen. Als Alex in seiner geliebten Hohenzollerischen Zeitung letzte Woche ein Bild vom Auflauf der Massen gesehen hatte, war er fest davon überzeugt, dass der Fels noch diese Woche abstürzen würde.
Doch das interessierte ja niemanden, so wie der Naturschutz ja in Wirklichkeit niemanden interessierte.
Alex füllte den Napf von Berry mit Wasser. Es war ein wunderschöner Frühlingssonntag. Die Sonne wärmte und der Himmel war blau. Er fühlte sich gut, auch wenn er noch immer in seinem Innersten in Sorge war.
Sorge um SIE.
Doch vielleicht bildete er sich das alles nur ein, und solange der Fürst daheim war, musste auch Alex Kanst daheimbleiben.
Eigentlich!
Doch gestern hatte er es nicht mehr ausgehalten und war zu einer Wanderung auf die Fürstenburg aufgebrochen. Von seinem Haus, vorbei am Berggasthof (der noch immer geschlossen hatte), vor zum Zellerhorn und danach die steile Steige (welche nicht mehr als ein Trampelpfad ist), vorbei am Bröller, hinab zur Kapelle Mariazell. Kurz hielt er dort inne und dachte an die Tage vor Weihnachten zurück, wo die Mörder ihm hier auflauerten und dann selber vor ihren Gott treten durften.
Schicksal.
Und doch hatten all diese Ereignisse Tina ihr Leben gekostet. Nur weil sie den falschen Propheten und Versprechungen gefolgt war. Danach war er schnell weitergegangen, um später den Heimweg über den Rübenteich anzutreten.
Er hatte gehofft, SIE zu sehen. Irgendwo. In der Burg, an einem Fenster, in der Kapelle oder dem Verwaltungstrakt.
Doch er sah SIE nicht.
Sogar an einer Führung durch die Schauräume nahm er teil. Um wenigstens ihren Duft zu riechen.
Zuletzt blieb ihm nur der Duft einer Bockwurst am Burgkiosk. Berry bevorzugte diese eindeutig.
Das alles war gestern.
Heute genoss er den Frühling. Den Duft des Waldes, wenn dieser zu neuem Leben erwacht. Der Gesang der unzähligen Vögel.
Vielleicht war auch mit dem Frühling ein neuer Alex erwacht. Er spürte, wie es aufwärtsging. Die Praxis lief wieder. Er hatte in Hannelore Haiber eine wirklich fähige Assistentin gefunden.
Doch etwas fehlte. Jemand an seiner Seite.
Jemand, der so war wie SIE.
Alex schaute über die Wachholderheide. Für eine Familie war es längst zu spät. Und auch für eine Adoption, wie es Alexandra und Wolfi getan haben, war er zu alt. Die Fünfzig würde ihn diesen Sommer einholen. Doch ohne eine Frau in seinem Leben konnte er nun auch wirklich nicht sein. Natürlich hatte er mehr als genügend Bekanntschaften. Aber die einen waren verheiratet und die anderen eingefleischte Singles, die, so wie er, auch nur ihren Spaß haben wollten. Dann gab es noch Siglinde Seibert, die Psychologin, und Bettina Balk.
Doch im Moment gab es nur SIE.
Alex stand auf und ging in die Küche. Jetzt gemütlich ein frisches (wenn auch nicht fassfrisch) Hefe-Weizenbier zu trinken, schien ihm eine gute Idee. Mit einem erleichternden „Ah!“ setzte er sich wieder in die gemütliche Albliege. Doch als er das Bier in das Glas eingeschenkt hatte, kamen ihm wieder die Gewissensbisse.
Ein Bier am helllichten Tag.
Ohne etwas gegessen zu haben.
Bei seinen Patienten würde er in so ein Verhalten so einiges hineininterpretieren, bis hin zum Beginn einer Alkoholabhängigkeit.
Doch es war ja nur ein Bier an einem Sonntag.
Oder?
Sein Blick fiel auf den nicht mehr zu übersehenden Bauchansatz.
Trank er zu viel Bier?
Aß er zu viel?
Zu ungesund?
Bewegte er sich zu wenig?
Nun, das würde ja jetzt im Frühling besser werden. Dann könnte er wieder joggen. Er, die größte sportliche Pfeife aller Zeiten. Alex dachte an den Spruch seines ehemaligen Sportlehrers und an dessen Tod. An dem er nicht ganz unschuldig war. Doch das war Vergangenheit, so wie die fünfte Jahreszeit.
Alex starrte auf das Bier. Wegzuschütten war auch keine Lösung. Also nahm er einen großen erfrischenden Schluck.
„Ah!“, gab er erneut von sich.
Es war schön auf der Alb.
Plötzlich läutete es.
An seiner Tür in seinem neuen Haus.
An einem Sonntag.
Alex stellte das Glas ab und ging zur Tür. Die Sonne hatte nun schon sein ganzes Haus in ein freundliches frühlingshaftes Licht getaucht.
Ohne sich weitere Gedanken zu machen und ohne die Überwachungskamera einzuschalten, öffnete Alex recht unbekümmert die Tür. Erst als er die Tür schon fast komplett geöffnet hatte, fielen ihm wieder die Worte von der leitenden Staatsanwältin Bettina Balk ein. Diese hatte ihn nach den Geschehnissen im Advent gewarnt.
„Seien Sie auf der Hut, Dr. Kanst. Es ist noch nicht vorbei!“, hatte diese ihn gewarnt.
Doch die Erkenntnis, einen Fehler begangen zu haben, kam zu spät. Denn der unerwartete Faustschlag traf Alex mitten ins Gesicht. Eindeutig hörte er schon wieder seine Nase brechen. Er taumelte zurück und hörte Berry in den Kampmodus übergehen. Alex hielt sich die gebrochene Nase und sah das Blut über seine Hand laufen. Er musste sich verteidigen. Er musste sich wehren. Hinter der Tür stand doch noch der Eschenknüppel (eine Vorsichtsmaßnahme, nachdem er im Dezember einmal fast in seinem Haus erwürgt worden wäre).
Doch Alex war nicht schnell genug. Der zweite Schlag folgte und dann wurde es dunkel und still.
„Unglaublich! Der Boss wohnt ja mitten in der Natur. Wunderschönes Haus!“, sagte Hannelore voller Bewunderung, als Lilly knirschend in die Einfahrt zu Alex Haus brauste.
„Irgendwie zu modern. Ich stehe ja eher auf die tollen alten Killer Täler Bauernhäuser.“ Lilly schaltete den Motor ab.
„Ich ja auch. Man spürt in diesen das Leben und die Zeit, welche die Häuser mit unseren Vorfahren verbracht haben. Wusstest du, dass es den Familiennamen Haiber nachweißlich schon über vierhundert Jahre im Killer Tal gibt?“
„Krass!“ Lilly lies eine Kaugummiblase platzen und nahm Hannelore den Kuchen ab.
„So was, jetzt können wir den Boss doch nicht überraschen. Er hat schon die Tür für uns geöffnet. Schade, ich hätte diesen sehr gerne überrascht“, sagte Hannelore enttäuscht.
„Er hat was?“ Lilly drehte sich um. Tatsächlich stand die Tür zu dem neuen Haus von Alex sperrangelweit offen. Sofort erkannte Lilly an zwei Stellen eine Blutspur.
„Scheiße! Geh wieder in den Wagen, HaHa!“, befahl Lilly und griff unter den Beifahrersitz des kleinen himmelblauen Fiats. Lilly zog ihre Uzzi hervor. Eine Schnellfeuerwaffe, für die sie eigentlich keinen Waffenschein hatte. Doch meistens hatten ja die Ganoven auch keinen Waffenschein.
„Du lieber Himmel! Denkst du, es ist etwas passiert? Ist der Boss in Gefahr?“ Hannelore wurde immer aufgeregter.
„Geh in Deckung und schließe den Wagen von innen ab!“ Lilly kaute wie wild auf ihrem Kaugummi herum.
„Soll ich nicht helfen?“
„Später!“, befahl Lilly und entsicherte die Waffe.
Was war hier geschehen? Ein Überfall? Auf Alex? Und von wem? Wer könnte es auf Alex abgesehen haben? Bei der letzteren Frage fielen Lilly sehr viele gehörnte Ehemänner ein.
Langsam schlich sie wie eine geschmeidige Katze in das Haus.
Nichts!
Alles war still.
Wo war der Hund?
Zumindest dieser sollte eigentlich sich bemerkbar machen.
Nichts.
Lilly blieb dicht an der Wand. Mit einer geschickten Handbewegung öffnete sie die Besuchertoilette.
Nichts.
Auch gab es im Haus keinerlei Kampspuren. Lilly machte einen beherzten Sprung und zielte in die zum Wohnbereich offene Küche.
Nichts.
Plötzlich raschelte etwas und Lilly sprang erneut hinter die graue Velourscouch, um Deckung zu haben.
Stille.
Dann flog ein kleiner Vogel aus dem Busch, der direkt vor der offenen Terassentür stand. Lilly atmete erleichtert aus.
Ein dumpfer Schlag aus dem oberen Stockwerk, wo das Schlafzimmer des Psychologen lag, ließ den Atem von Lilly für einen Moment stocken. Lilly zog ihre neuen, ebenfalls grasgrünen Sneakers aus und schlich in zwei verschiedenfarbigen Socken die Holztreppe zur Galerie hinauf. Die Uzzi im Anschlag und entsichert.
Vielleicht hatte diese Tatsache etwas Paranoides, doch in der Zeit, in der sie nun Alex kannte, war dessen Leben mehr als einmal in Gefahr. Erst kürzlich versuchten als Hexen maskierte Verbrecher sogar sie selber zu töten.
Das würde so schnell nicht mehr geschehen, zumindest würde die Uzzi es den Tätern mehr als schwer machen.
Lilly stand nun vor der Schlafzimmertür von Alex. Nach einem weiteren dumpfen Schlag fällte sie die Entscheidung und stieß die Tür auf.
Mit einem Satz sprang Berry vom Bett schwanzwedelnd auf Lilly zu.
„Mensch, da bist du ja und es geht dir gut!“ Lilly kraulte den Cockerspaniel. Doch ihr fiel auch das verkrustete Blut an dessen Nase auf.
„Wo ist denn dein Herrchen?“, fragte sie den Hund und schaute sich um. Das sehr große Schlafzimmer sah verwüstet aus. Überall lagen Kleidungsstücke von Alex herum. Schränke und Schubladen standen offen. Das Bett war mehr als unordentlich.
Gab es hier weitere Blutspuren?
Gerade als Lilly genauer nachsehen wollte, legte sich eine Hand auf ihre linke Schulter.
„Aaaaaaah!“, schrie Lilly und wendete ihren Körper um dreihundertsechzig Grad.
„Ist das die Räuberhöhle des Bosses? Schick schick!“, sagte Hannelore.
„HaHa, Mensch! Ich sagte: Warte im Wagen.“ Lilly setzte sich erschöpft auf das Bett von Alex.
„Ich weiß doch, aber ich war so neugierig!“ Hannelores Augen schweiften umher. „Und unseren kleinen wuscheligen Freund haben wir auch gefunden!“ Berry schnüffelte gierig am Kuchen, den HaHa noch immer in der Hand hielt.
„Neugierig! Also echt jetzt!“ Lilly war noch immer erschrocken und sicherte die Uzzi.
„Und der Boss? Nicht da?“
„Nein, und das gefällt mir überhaupt nicht. Überhaupt nicht!“ Lilly kaute wild auf ihrem Kaugummi herum.
Alex hatte die Augen fest geschlossen. Sein Kopf schmerzte, doch das war ihm egal. Dieser hatte ja schon öfters etwas abbekommen. Und Wolfi behauptete immer, der Kopf von Alex sei härter als ein Stück deutsche Eiche.
Doch das war alles egal.
Denn es roch nach alten schweren Stoffen und eindeutig nach Maiglöckchen. Jemand mit sehr schlanken Fingern und weicher Haut hielt seine Hand.
Fest.
Das war wunderschön.
Das hatte er sich schon so lange gewünscht.
Aber er durfte die Augen nicht aufmachen, denn dann würde der Traum zu Ende sein. Und diesen Traum wollte er länger träumen. Denn es war ein wunderbarer Traum. So waren nicht alle seine Träume. Nein, eher im Gegenteil. Normalerweise träumte er immer schlimme Dinge. Dinge, die sogar manchmal zur Wirklichkeit wurden. Was, wenn es dieses Mal auch so wäre?
Wenn dieser Traum auch Wirklichkeit werden würde. Und er endlich wieder IHRE Nähe spüren könnte. Wäre es dann nicht sinnvoll, die Augen zu öffnen? Um keinen Moment zu verpassen? Doch dazu sollte er nun mutig sein. Mutiger als er es eigentlich war, denn es könnte ja auch anders kommen. Dann würde der Traum zerplatzen wie eine Seifenblase und mit ihm die Gefühle, die immer stärker durch seinen Körper strömten.
Alex beschloss nicht mutig zu sein. Und diesen Traum einfach nicht zu beenden, ihn einfach weiterzuträumen, solange es ihm erlaubt war. Die Hand streichelte seine Hand. Dann fuhr sie ihm über die Stirn.
Er spürte IHREN Atem und dann IHRE Lippen auf seiner Wange.
„Schön! Nicht aufhören!“, säuselte Alex.
„Du bist ja wach!“, sagte IHRE sanfte schöne Stimme.
„Nein!“, sagte Alex.
„Lügner!“ SIE lachte.
„Ich möchte nicht wach sein, weil dann dieser schöne Traum zu Ende ist. Das möchte ich nicht. Ich möchte mehr davon. Mehr Küsse.“
Die sanften Hände packten den Kopf von Alex. Dann spürte er IHRE Lippen auf den seinen.
Und öffnete seine Augen.
Lilly hatte sich an den Tresen in der Küche von Alex gesetzt und seinen Laptop geöffnet.
„Mal sehen, wo du dich rumtreibst, mein Lieber!“, murmelte sie.
„Ist das nicht der Laptop des Bosses?“ Hannelore hatte schon ein Ermittlergespür.
„Jep!“ Lilly tippte das Passwort ein.
„Und du kennst sein Passwort?“
„Nee, aber die Leute seiner Generation nehmen da ein Einfaches. Hier zum Beispiel: Alex71.“ Lilly grinste.
„Also Leute meiner Generation sind da bedeutend weiter. Ich zum Beispiel habe alle Volkshochschulkurse in Burladingen zum Thema Senioren und die Digitalisierung besucht. Deshalb bin ich voll im Bild und weiß, dass dieses kein sicheres Passwort ist. Ich denke, ich werde da mal mit dem Boss darüber reden, und ja vielleicht geht er auch einmal zu so einem Kurs.“
„Bestimmt, vor allem, wenn es für Senioren ist.“ Lilly öffnete die Polizeiseite und lockte sich ein.
„Okay. So alt ist er ja noch nicht, oder? Moment mal, steht die 71 für sein Geburtsjahr? Wahnsinn! Dann wird er ja fünfzig dieses Jahr. Ha, da machen wir eine riesige Feier. Oder? Da bist du doch dabei? Am besten eine mit Überraschung und so!“ Hannelore übertraf sich fast vor Begeisterung.
„Jaaaa!“, sagte Lilly etwas abwesend. Richtig zugehört hatte sie nicht. Aber sie wusste, dass Alex es nicht leiden konnte, überrascht zu werden und es besonders nicht mochte, seinen Geburtstag zu feiern. Nun hatte sie die Handynummer von Alex eingegeben und die Ortung begann. Noch wurde es nicht gefunden. Sie hoffte, dass es eingeschaltet war. Im Garten bellte Berry wie verrückt.
„Was machst du da?“ Hannelore stellte endlich den Kuchen ab.
„Sein Handy orten!“
„Hmm. Aber du bist doch nicht mehr bei der Polizei. Kommst du da noch in das Programm?“, fragte die Assistentin von Alex und dies war selbstverständlich eine berechtigte Frage.
„Tja, normalerweise nicht mehr. Doch dazu sollten die Burschen das Passwort ändern. Dann müssten ja alle anderen sich das neue merken. Glaub mir, so ist es das kleinste Übel für die Jungs.“ Noch immer blinkte das Signal. Dann loggte es ein. Eindeutig und nicht weit entfernt vom neuen Haus des Psychologen und ehemaligen Forstingenieurs Dr. Alex Kanst.
„Wir haben ihn!“, jubelte Hannelore und Lilly zog eine Augenbraue nach oben.
„Wir? Ich denke eher SIE hat ihn!“, sagte Lilly und ließ eine Kaugummiblase platzen.
„Es tut mir ja sooo leid!“, sagte die sanfte und schönste Stimme auf der ganzen Welt. Zumindest für die Ohren von Alex.
„Was, der Kuss?“, fragte Alex und sah in diese unbeschreiblich tiefen und türkisblauen Augen. Alex bekam einen leichten Klaps auf die Schulter.
„Natürlich nicht. Aber das mit deiner Nase“, sagte die blonde Frau mit den wunderschönen Augen.
„Du hast ja nicht draufgeschlagen.“
„Nein, aber ich habe zu Josef gesagt, er soll dich holen.“
„Dann hat Josef auf meine Nase geschlagen.“
„Es tut mir ja soooo leid. Ich habe Josef sofort entlassen.“
„Ach, das brauchst du nicht. Mir haben ja schon so viele auf die Nase geschlagen, da kommt es auf das eine Mal mehr oder weniger nicht an. Und wenn ich zu dir kommen kann, dann darf Josef mir jede Woche einmal die Nase brechen.“ Alex grinste und fing an, sich umzusehen. Er lag mit dem Kopf auf IHREM Schoß und ansonsten auf einem himmelblauen Sofa (fast so blau wie der Fiat von Lilly). Und das Sofa stand eindeutig im Blauen Salon in IHRER Burg. Wieder bekam Alex einen Klaps.
„Meinst du, die Nase ist gebrochen?“
Alex nickte.
„Aber nur, weil du zu mir kommen willst, brauchst du dir nicht immer die Nase brechen zu lassen.“
„Da bin ich aber froh. Doch eigentlich stimmt das nicht. Ich kann nicht einfach zu dir kommen.“ In den Worten von Alex lag etwas Vorwurfsvolles. Und plötzlich sah er eine Träne in den schönsten Augen der ganzen Welt aufblitzen.
„Nein, nicht weinen, so war das doch nicht gemeint. Komm, komm her zu mir!“ Alex nahm sie in den Arm. Sofort spürte er, dass etwas nicht stimmte, dass etwas nicht in Ordnung war.
„Ich möchte es doch auch anders haben, das weißt du doch? Oder? Alex, das weißt du doch?“ Wieder sahen ihn diese Augen an, in denen Alex Kanst einfach versinken wollte. Eigentlich wollte er etwas sagen. Er wollte sagen, dass er sich darin nicht sicher war, was SIE wollte. Denn wenn SIE es anders wollte, warum hat SIE dann geheiratet. Einen Fremden. Warum nicht ihn. Warum lebten sie beide nicht zusammen, hatten eine Familie.
Warum?
All das wollte er fragen. Ja er wollte IHR eigentlich Vorwürfe machen. Er wollte endlich mehr. Denn es war mehr als Zeit dazu. Alex war sich sicher, er wollte diese Frau und nur diese Frau, die er unheimlich liebte.
Und doch tat er es nicht, denn die Tränen wurden zu einem Sturzbach. Veronika, die Fürstin von Hechingen weinte bitterlich und zitterte. So hatte Alex diese Frau noch nie erlebt. Sein Bauchgefühl war zurück und vermischte sich mit seinen schon wochenlang immer wieder aufkeimenden Vorahnungen zu einem dumpfen Gefühl der Angst. Etwas war passiert. Etwas war vorgefallen.
„Ich bin doch da!“, säuselte Alex.
„Ich, ich … brauche deine Hilfe, Alex“, stotterte dann die Fürstin, als das Handy von Alex zu läuten begann.
In der tausendjährigen Geschichte der Burg Hohenzollern wurde diese mehrmals belagert, erobert und angegriffen. Doch all die angreifenden Truppen waren nichts im Vergleich zu dem sich nun in einem himmelblauen Fiat 500 sich näherndem Angreifer. Lilly fuhr quietschend um die Kurve am Wasserturm. Und beschleunigte wieder.
„Da vorne an dem Schlagbaum müssen wir halten“, sagte Hannelore und hatte Mühe, den Kuchen festzuhalten. Berry gefiel die rasante Fahrt.
„Warum sollten wir?“ Lilly schmatzte nervös mit ihrem Kaugummi.
„Weiter darf man nicht fahren und man muss die Parkplatzgebühr entrichten“, erläuterte Hannelore Haiber.
„Parkplatzgebühr! Für Frau von und zu? Ja nie im Leben! Festhalten!“, schrie Lilly und fuhr gekonnt um die Schranke, dem Ordnungsdienst und einigen Papilloten herum.
„Du meine Güte!“ Hannelore hielt sich am Griff oberhalb der Tür mit der rechten Hand fest und mit der linken balancierte sie den Kuchen aus. Als sie sich umdrehte, konnte sie durch das Heckfenster den Parkplatzordner wild gestikulierend sehen.
„Der ist jetzt sauer!“, bemerkte die Assistentin von Alex Kanst.
„Ich auch!“, brummte Lilly und fuhr scharf in die nächste Kurve.
Nach weiteren sehr engen Kurven fuhr der himmelblaue Fiat direkt vor das Adler Tor, an dem sich schon eine anschauliche Menge an Touristen versammelt hatte. Lilly bremste und stellte den Fiat direkt auf die für den Shuttelbus vorgesehene Wendeplatte ab. Wer Lilly kennt, weiß, wie gerne sie den Schlagbaum vor dem Burgtor durchbrochen hätte und weiter in das alte Gemäuer vorgedrungen wäre. Doch zu Fuß war auch eine Option. Lilly hüpfte aus ihrem Wagen.
„Hallo! Ja, Sie da, Sie meine ich. Da können Sie nicht parken!“ Ein weiterer in schwarzen Klamotten gehüllter Mann mit Aufschrift „Security“ kam auf Lilly zu.
„Doch!“, war die barsche Antwort der jungen Frau mit den frühlingsfarbenen Haaren.
Derweil versuchte Hannelore umständlich, aus dem kleinen Wagen zu steigen.
„Sie, junger Mann. Können Sie mir bitte helfen?“ Hannelore balancierte noch immer die Linzer Torte und winkte den Security-Mitarbeiter zu sich her. Dieser wusste nicht so recht, was er nun eigentlich tun sollte. Hannelore erklärte es ihm dann.
„Jetzt fassen Sie schon mal mit an und helfen einer Seniorin aus dem engen Wagen. Nur nicht so zimperlich, ich bin nicht aus Zucker.“
Lilly spazierte einfach über die Zugbrücke und wollte gerade unter dem Schlagbaum durchschlüpfen, als ein weiterer Security-Mitarbeiter sie aufhielt.
„Junges Fräulein, so geht das nicht. Ohne Eintrittskarte darf ich Sie nicht durchlassen“, sagte dieser freundlich, aber bestimmend.
„Oh doch. Ich bin nämlich bei der Pol…“ Mitten im Satz brach Lilly ab. Denn sie war nicht mehr bei der Polizei. Sie war jetzt selbstständig. Zumindest Morgen früh, wenn ihre Gewerbeanmeldung aktiviert wurde. Dies war nun so ein Moment, in dem es von Vorteil gewesen wäre, noch immer im Dienste des Staates zu sein. Doch nur ein Moment. Denn Lilly wollte sich treu bleiben. Dazu gehörte, sich nicht länger herumschikanieren zu lassen. Jetzt war sie ihr eigener Herr (oder Frau). Sie bestimmte, für wen und für wie viel sie arbeiten würde oder eben nicht. In dieser Angelegenheit war sie wie Alex, der seine Freiheit über alles liebte. Natürlich gab es das eine oder anderer „Aber“. Dies begann schon damit, dass Lilly sich kein eigenes Büro leisten konnte und derzeit auch nicht die Miete für das alte Haus von Alex. Auch wenn dieser noch immer keinen Betrag genannt hatte, so wollte Lilly unbedingt Miete bezahlen. Aber das würde sie auch können, sobald sich ihre Detektei nur erst richtig am Markt platziert hatte. Hannelore war es zu verdanken, dass letztlich sich nun auch das Problem mit dem Büro oder genauer gesagt der Standort des neuen Unternehmens klären konnte.
Man (oder Frau) musste nur noch Alex Kanst von dieser ausgezeichneten Idee überzeugen.
„Sehen Sie, dort können Sie ein Ticket kaufen. Es gibt auch Jahrestickets. Sie würden den Fürsten damit finanziell unterstützen beim Erhalt des Kulturgutes.“ Der Mann im schwarzen Anzug zeigte auf Kassenschalter neben dem großen Adler Tor der Burg Hohenzollern.
„Aber natürlich, wer in so einer beschaulichen und kleinen Hütte wohnt, braucht unbedingt finanzielle Unterstützung. Wissen Sie eigentlich, wer finanzielle Unterstützung braucht? Natürlich nicht, da Sie ja sozusagen direkt neben einer Krone und Zepter arbeiten. Ich sage es Ihnen: Es sind die sozial Schwachen. Und genau jene sind es, aus deren erpresstem Geld in den vergangenen hundert Jahren diese Steine erstanden sind. Steine und Macht und Reichtum. Alles nur durch die Ausbeutung der sozial Schwachen. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie viel Blut es benötigte, bis diese so kleine Behausung gebaut wurde. Und nun geht die Ausbeutung fort, indem man behauptet, Spenden zu benötigen für den Erhalt eines Haufens alter Steine. Mir schaudert, wenn ich daran denke, wie viel Gutes man mit genau diesem Geld tun könnte, und ….“
Der Security-Mann kullerte mit den Augen.
„Kaufen Sie doch bitte einfach ein Ticket! Bitte!“
„Zuerst muss das Auto hier weg!“, sagte dann der andere, welcher nun den Kuchen in der Hand hielt und Hannelores Kleid glattstrich.
Lilly war sauer und wählte noch einmal die Nummer von Alex.
„Wenn du jetzt nicht rangehst, dann komme ich mit einer Belagerungsarmee!“, brummte die junge quirlige Frau aus Sachsen.
Tatsächlich: „Kanst!“, meldete sich Alex.
„Kanst? Du meldest dich mit Kanst, obwohl du genau siehst, dass Lilly anruft. Wäre es da nicht schöner zu sagen: Hallo Lilly. Was kann ich für dich tun, oder freut mich, dass du anrufst. Natürlich würde mich auch noch interessieren …“
„Hallo Lilly, schön, dass du anrufst!“, unterbrach Alex den erneut aufkommenden Monolog der jungen Sächsin und tat, wie ihm befohlen.
„Verarschen kann ich mich selber. Wo bist du?“
„Es geht mir gut.“
„Das ist keine Antwort.“
„Im Moment geht es mir richtig, richtig gut!“, sagte Alex und sah in die türkisfarbenen Augen von Veronika.
„Mann, Mann, Mann. Du bist bei IHR, nicht wahr?“
„Was meinst du damit: Bei IHR?“
„Das weißt du ganz genau. Du bist bei Miss Universum!“ Lilly schrie den Satz fast in das Telefon.
„Fahren Sie jetzt endlich Ihr Auto da weg!“, sagte der Security-Mann.
„Ist der Boss in der Burg?“, wollte Hannelore wissen.
„Nenn SIE nicht so“, blaffte Alex.
„Gut, ich nenne SIE nicht so. Aber da hätte ich noch ein paar Fragen. Beginnen wir damit, warum bei dir zu Hause überall Blut war? Und der Hund eingesperrt? Und …“
„Du warst bei mir zu Hause? Warum?“
„Ja weil HaHa und ich dich überraschen wollten, mit einem …“
„Frau Haiber war auch da?“
Alex wurde nervöser.
„Und?“ Lilly wollte Antworten.
„Und was?“
„Antworten, ich möchte wissen, was hier los ist.“
„Lilly, danke für deine Sorgen. Aber es geht mir gut. Grüß Frau Haiber und bitte nimm den Hund für ein paar Tage“, sagte Alex.
„Den Hund nehmen? Alex, du solltest da rauskommen. Sofort! Du weißt doch, SIE ist verheiratet. Alex? Alex? Hallo? Legt der einfach auf!“ Lilly sah am Adler Tor empor und begann sich Sorgen zu machen.
„Fahren Sie jetzt endlich weg!“, schrie nun der Security-Mann, und ein kleiner Bus hupte, da dieser nicht gewendet werden konnte.
„Ich fahre weg!“, knurrte Lilly zurück.
„Immer wieder schön hier! Warst du schon einmal auf der Burg?“, wollte Hannelore wissen.
„Nein!“ Lilly stieg in den Fiat.
„Ja und der Boss ist hier? Geht es ihm gut? Hat er etwa eine Freundin?“ Hannelore zwängte sich auf den Beifahrersitz. Der Mann vom Security-Dienst half ihr dabei und reichte HaHa dann die Linzer Torte wieder.
„Oh HaHa, wenn er nur eine hätte, nur eine!“, stöhnte Lilly.
„Was machen wir jetzt mit dem Kuchen?“ Hannelore klemmte diesen wieder zwischen ihre Beine.
„Essen! Wir essen diesen Kuchen!“ Lilly wendete den Fiat und fuhr den Zoller Berg wieder hinab.
„Und du bist dir sicher, dass es dem Boss gut geht, ja?“
„Körperlich geht es ihm bestimmt gut. Sogar sehr gut. Doch so langsam mache ich mir ernste Sorgen um seinen Geisteszustand. Sehr ernste!“, antworte Lilly und fuhr an der Schranke am Burgparkplatz vorbei. Der Ordner gestikulierte noch immer und bekam dafür von Lilly den Stinkefinger gezeigt.
Alex legte sein Smartphone auf den kleinen goldenen Tisch neben der Couch im Blauen Salon.
„War das die lustige Kleine?“, wollte Veronika wissen. Alex lachte.
„Ja genau, das war Lilly. Ein besonderer Mensch“, sagte er dann, denn ein Leben ohne Lilly konnte er sich gar nicht mehr vorstellen.
„Ich finde sie nett, aber gar nicht dein Beuteschema?“ Veronika strich Alex über die Backe.
„Was? Oh, du denkst, aber nein. Nein! Also Lilly und ich haben nichts miteinander. Lilly ist quasi so eine Art Freund.“ Alex hielt kurz inne und dachte nach. Darüber, wie lange oder wie kurz er Lilly erst kannte. Und in dieser kurzen Zeit war die junge Frau aus seinem Leben nicht mehr wegzudenken. Zweimal hatte sie ihm bereits das Leben gerettet und immer, wenn er sich psychisch in einem Tief befand, war Lilly aufgetaucht und hatte mit ihrem Witz und ihrer Fröhlichkeit Alex wieder aufgemuntert. Nein, er sollte ehrlich sein, Lilly war nicht eine Art Freund. Lilly war sein bester Freund.
„Sie ist mein bester und wichtigster Freund“, sagte er dann.
„Aha. Und was bin ich?“ Veronika streichelte Alex über die Wange.
„Sag es mir? Oder sag mir, was ich für dich bin?“ Alex setzte sich aufrecht hin. Veronika konnte ihre Tränen kaum noch unterdrücken.
„Du weißt doch, was du für mich bist“, sagte sie und senkte ihren Blick.
„Ich möchte es aber hören. Aus deinem Mund!“, forderte Alex.
„Ich, ich, …“ Veronika stotterte, „… liebe dich!“ Dann fiel sie Alex um den Hals und drückte diesen ganz fest an sich. Im selben Moment spürte Alex, dass etwas nicht in Ordnung war. Etwas stimmte hier nicht. Er spürte, wie seine Freundin zitterte und innerlich bebte. Alex löste die Umarmung und hielt Veronika fest. Er schaute diese nun durchdringend an.
„Was ist hier los? Veronika, was ist geschehen? Wo ist denn dein Mann? Und warum bin ich mitten am Tag hier?“
„Alex, ich brauche deine Hilfe. Ich wusste nicht, zu wem ich sonst hätte gehen sollen.“ Nun konnte die Fürstin von Hechingen ihre Tränen nicht mehr halten und fiel wieder schluchzend in die Arme von Alex Kanst.
Alex war sofort hellwach. Veronika brauchte seine Hilfe. Zum ersten Mal war es andersherum und sie brauchte seine Hilfe. Egal was es war, er würde ihr helfen. Denn wo wäre er heute, wenn er sie nicht getroffen hätte? Wenn sie ihm nicht geholfen hätte, damals als die Katastrophe über ihn hereinbrach. Veronika war sein Stützpfeiler. Sie hatte sein Leben gerettet. Sie hatte ihm geholfen, wieder auf die Beine zu kommen. Berühmt und vermögend zu werden.
Und doch hätte er mehr gewollt. Viel mehr. Denn Alex hätte Veronika für sich gewollt. Nur für sich und mit ihr ein gemeinsames Leben aufbauen wollen. Kinder, ja vielleicht Kinder. Das war es, was er wollte. Und er wollte es noch immer. Er wollte ein gemeinsames Leben mit ihr. Doch es kam anders. Sie musste den Regeln folgen. Den Vorgaben und einen von Adel heiraten. Damit der Stand gewahrt blieb. Und dennoch hatten Alex und Veronika all die Jahre weiter Kontakt und eine Beziehung.
Alex vermied den Begriff Affäre. Denn für ihn war es keine Affäre. Veronika war die Frau, die er liebte, über alles liebte und für die er alles tun würde. Alles und jedes. Und jetzt würde er ihr helfen. Und dann würde er sie noch einmal fragen, so wie er es vor Jahren getan hatte.
Alex Kanst war sich sicher, dieses Mal würde Veronika nicht „Nein“ sagen. Nicht dieses Mal.
Lilly lehnte sich zurück und schloss ihre Augen.
Stille!
Nur das gemächliche Plätschern eines kleinen Baches, welcher sich langsam durch die Hausener Brühlwiesen bis in den sehr großen Garten von Hannelore schlängelte und glasklares Wasser führte, war zu hören.
Schön!
Lilly fühlte sich zu Hause. Mehr als sie es je in ihrem eigenen zu Hause je gewesen war. Das war schon sonderbar, doch sie hatte beschlossen, sich heute darüber keine Gedanken zu machen. Seit sie im Killer Tal angekommen war, war dies der erste warme Tag. Überall blühten Schneeglöckchen und Märzenbecher. Leider auch die Haselnüsse und Erlen. Hier spürte sie nun schon ein leichtes Kribbeln in der Nase. Eigentlich hatte Lilly ja keine Allergien, doch die Haselnussblüte könnte man überspringen.
Hannelore hatte ein sehr alte Bauerhaus. Eines wie es noch viele im Killer Tal gab. Mit dickem Fachwerk, einem Gewölbekeller und großer Scheune.
Genauso eines wie Alex es besaß, und in dem sie nun wohnte.
Wohnen durfte, und dies noch immer, ohne Miete zu bezahlen. Letzteres würde sich noch eine Weile als nicht ganz so einfach darstellen, bis das neue Geschäftsmodell Fahrt aufnahm. Dazu kam, dass sie sich tatsächlich Sorgen machte. Sorgen um Alex. Was ja eigentlich völliger Blödsinn war, denn dieser war wieder einmal mit einer seiner blöden Eskapaden beschäftigt.
„So, hier kommt der Kaffee. Für den Boss habe ich extra zwei Stücke auf die Seite getan. Die kann er morgen in der Praxis dann essen.“ Hannelore kam aus der Küche in den Garten und stellte zwei Becher Kaffee und die Linzer Torte auf den Tisch.
„Echt megaklasse hier in Starzeln.“
„Ja, das finde ich auch. So, jetzt greif aber mal zu!“ Hannelore schnitt ein großes Stück Kuchen ab. „Und du denkst, dem Boss geht es gut?“
„Denke schon. Hat ja immer mal wieder oder andauernd andere Frauen auf der Bettkannte.“ Lilly war nachdenklich. Ihr blödes Bauchgefühl warnte sie, dass Alex sich schon wieder in Gefahr begab. Und wenn diese Miss Universum von und zu damit zu tun hatte, dann konnte Alex nicht klar denken. Selbst Lilly musste zugeben, dass diese Frau die hübscheste Frau war, die sie je gesehen hatte. Vor allem die türkisfarbenen Augen konnten einen gefangen nehmen. Trotzdem konnte sie sich nicht erklären, was Alex in dieser Sache völlig den Verstand raubte.
Lilly beschloss, wachsam zu bleiben, und vielleicht Miss Universum mal näher unter die Lupe zu nehmen. Letztlich hatte ihr noch niemand erklärt, woher das Blut stammte, das bei dem neuen Haus von Alex überall zu finden war. Dazu kam, dass Alex bei all seinen Frauengeschichten schon mehrfach in Gefahr war.
Alex hielt Veronika fest im Arm. Diese weinte bitterlich.
„Was ist denn nur? Ich bin doch da, dann ist alles nur halb so schlimm!“, säuselte Alex.
„Es ist etwas Furchtbares passiert!“, sagte die Fürstin.
„Ja was denn nur?“
„Komm. Komm mit!“ Veronika nahm die Hand von Alex und zog diesen hinter sich her. Hinaus aus dem Blauen Salon, durch ihr Arbeitszimmer in den Grafensaal und dann durch eine kleine Tür in der Stammbaumhalle hinaus in das Treppenhaus. Dort zog sie ihn die enge steinerne Wendeltreppe hinauf.
Alex mochte das. Es war lange her, doch früher, damals, als es noch keinen Fürsten gab, zumindest keinen, der sich ihr Mann nannte, hatten sie sich öfter durch die Burg geschlichen. Er fühlte sich gleich um Jahre jünger. Vielleicht war dies ja wieder ein Spiel und würde in ihrem Bett enden.
Alex musste zugeben, dass er genau das jetzt wollte.
Oben angekommen, zog die Frau mit den türkisfarbenen Augen den Psychologen weiter einen Gang entlang. Hier war er jetzt doch noch nie. Alex fand es erstaunlich, wie viele Zimmer und Gänge so eine Burg doch haben konnte. Plötzlich blieb sie vor einer großen Tür aus Eichenholz stehen. Es war eine Tür mit geschnitzten Figuren, die irgendeine Szene darstellten. Doch das interessierte Alex nicht im Geringsten.
„Wo sind wir hier?“ Er sah sich interessiert um.
„Im privaten Trakt!“, war die kurze, knappe Antwort.
„Privat? In euren privaten Räumen?“
Veronika nickte und Alex spürte ein Unbehagen, denn im Gegensatz zu früher gab es ja jetzt einen Hausherrn.
„Schatz, wo ist dein Mann?“
Veronika schüttelte ihren Kopf. „Ich weiß es nicht!“ Sie weinte wieder.
„Du weißt es nicht?“, fragte Alex verwundert nach. „Wie meinst du das denn?“
„Schau dir das da drinnen mal an!“, sagte Veronika und trat einen Schritt zurück.
„Was ist da drinnen? Und was ist das überhaupt für ein Zimmer?“ Das Unbehagen in Alex wuchs. Seine innere Stimme erwachte nun auch zu Leben und begann ihn zu warnen.
Doch vor was? Oder vor wem? Bei Veronika war er sicher. So sicher wie nirgends auf dieser Welt.
Oder?
„Das ist sein Schlafzimmer“, sagte sie schon eher angewidert.
Alex konnte einfach nicht aus seiner Haut. Zum einen war es Veronika. Die Frau, die er schon so lange liebte. Die so vieles für ihn getan hatte. Und doch war er ein verdammt guter Psychologe und konnte sein Gegenüber lesen wie ein Buch.
Und was er heute in Veronika lesen konnte, das wollte er einfach nicht glauben.
Denn hier und jetzt stimmte einfach überhaupt nichts.
„Sein Schlafzimmer? Wessen?“
„Das meines Mannes!“, sagte die Fürstin und senkte ihren Kopf.
„Deines Mannes? Du meinst euer Schlafzimmer?“
Wieder schüttelte die Fürstin den Kopf.
„Nur seines!“, kam als Antwort.
„Nur seines? Du meinst, ihr habt getrennte Schlafzimmer? Quatsch! Wer sollte so blöd sein und nicht neben Miss Universum schlafen, wenn er es darf.“ Kaum hatte Alex den Satz beendet, so bemerkte er den Fehler sofort. Jetzt hatte er Veronika so genannt, wie es Lilly immer tat.
„Miss Universum? Blödsinn, so schön bin ich nun auch wieder nicht.“ Ein kleines Lächeln huschte über das Gesicht von Veronika.
„Für mich schon!“, murmelte Alex.
„Aber echt jetzt, es ist nur sein Schlafzimmer. Wir schlafen getrennt. Und bevor du fragst: Ja, wir haben noch nie miteinander geschlafen. Du bist da der Einzige!“ Veronika strich mit ihrem Finger über den Handrücken von Alex linker Hand. Dieser wurde purpurrot. Dann drückte er die Türklinke und schob die schwere Eichentür auf. Augenblicklich drang ihm ein fürchterlicher Gestank in die Nase. Alex kramte nach seinem Taschentuch, das er eigentlich immer eingesteckt hatte, um damit seine Nase zu bedecken.
Heute hatte er ein rot kariertes dabei, was sich nahtlos an die Farbe des überall im Raum verteiltem, bereits geronnenem Blut anpasste. Das Bettzeug war zerfetzt worden. Die Einrichtungsgegenstände wurden regelrecht zertrümmert. Und das Schlimmste war, dass überall Blut klebte. Ohne der Forensik vorgreifen zu wollen, wusste Alex, dass hier jemand gestorben war.
Der Fürst?
War da plötzlich ein freudiges Gefühl in ihm?
„Wir müssen die Polizei rufen!“, sagte er und zog Veronika aus dem Zimmer.
„Nein! Auf keinen Fall! Bitte keine Polizei. Das geht nicht, du weißt doch, meine Stellung. Bitte, bitte hilf mir!“, flehte Veronika und wurde von einem Weinkrampf geschüttelt.
„Ich helfe dir. Keine Polizei. Wir kriegen das schon wieder hin. Vertrau mir!“, säuselte der Psychologe.
Es war ein schöner Nachmittag gewesen. Auch wenn Lilly sich diesen irgendwie anders vorgestellt hatte. Die Sonne streifte noch die letzten Baumwipfel der mächtigen alten Buchen, welche das ganze Killer Tal umsäumten. Man konnte den Frühling spüren. Lilly war froh darüber. Hatte sie doch eine ganze Zeitlang nicht mehr daran geglaubt und immer spöttisch behauptet, das Killer Tal sei sehr nah an der Arktis. Doch heute zeigte sich das kleine Tal von einer anderen Seite. Lilly holte tief Luft. Alex behauptete immer, man könne den Frühling riechen. Doch das stimmte nicht. Lilly roch nur den Gestank nach Gülle, der von einem sehr großen Hof in ihrer Nachbarschaft herüberwehte.
„Igitt!“, sagte die junge Frau und schloss ihre Haustür auf.
Berry stapfte freudig vor ihr hinein.
„Na was machen wie zwei denn jetzt? Essen? Echt? Du hast Hunger? Na dann …“ Lilly öffnete ihren Kühlschrank. Eigentlich war sie satt. Der Kuchen von Hannelore war echt klasse gewesen. Backen konnte diese, das musste Lilly eingestehen.
„Was hältst du von Kartoffelsalat und Würstchen?“ Berry bellte.
Etwas später setzte sich Lilly mit den Würstchen, ihrem Laptop und dem Kartoffelsalat, den sie eigentlich Alex von seiner Mutter bringen sollte, auf ihr Wasserbett.
Gut, dass Alex nichts davon wusste. Lilly grinste und stellte sich diesen vor, wie er sofort beim Anblick des Bettes die Statik seines Hauses überprüfen würde. Hier war Lilly der Ansicht, da sie selber ja leicht war, konnte das Bett schon etwas schwerer sein.
„Wollen wir doch mal sehen, was es so zu finden gibt über die gute Miss Universum“, sagte sie und tippte die Begriffe in die Suchmaschine. Dabei warf sie dem Hund ein Würstchen zu. Berry gefiel das und hüpfte auch auf das Wasserbett.
„Mannomann!“, murmelte sie und las die Einträge.
Das Geschlecht derer von und zu ging fast tausend Jahre zurück. Damals wurde die Burg gebaut und die Herren waren noch Grafen.
Und wie das ja so war bei den Aristokraten kam man zu Reichtum und das Reich vergrößerte sich. Man nannte sich fortan Fürsten und dann spaltete sich die Familie plötzlich auf. Es gab dann eine Familie in Haigerloch, Hechingen und Sigmaringen. Das war wohl bis heute so.
Und dann gab es noch einen Zweig, der sich zwar der Familie zugehörig fand, aber doch nicht so ganz akzeptiert wurde. Auf jeden Fall wurde dieser Zweig doch tatsächlich König in Rumänien. Diese Tatsache fanden die Einheimischen wieder gut und waren doch sehr stolz darauf. Und zum Zeichen der Gemeinsamkeit wurde die Burg doch tatsächlich erst vor 160 Jahren wieder aufgebaut, da sie mehr oder weniger zerstört war.
Lilly ließ eine Kaugummiblase platzen. Das alte Gemäuer war noch nicht so alt. Zumindest das meiste daran.
„Alles nur Fake!“, nuschelte sie und las weiter. Dabei achtete sie nicht auf das Geschmatze des Hundes.
Es war einfach zu spannend.
Die heutige Situation war dagegen recht einfach. Chef des Hauses war Fürst Albrecht. Dieser hatte eingeheiratet, war aber auch vom Hochadel. Seine Frau war Veronika von Hechingen und jetzt von Hechingen Falkenstein. Das gute Fürstenhaus hatte unheimlich viel Wald, Felder, Agrarbetriebe und einen nicht zu unterschätzenden Wirtschaftszweig. Investitionen und Beteiligungen in allen wichtigen börsennotierten Unternehmen.
„Wa! Und da Eintritt verlangen. Die hat`se ja nicht alle, die Tussi!“, sagte Lilly in ihrem schönen sächsischen Dialekt.
Nicht ganz klar kam heraus, wie sich die anderen Häuser oder Familienzweige hier noch finanziell beteiligt sahen. Lilly erkannte, dass doch noch alle mitmischten, irgendwie.
In allen Portalen wurde das gute Fürstenhaus als Gönner, Förderer und wichtiger Arbeitgeber im ganzen Land gelobt. Hier bezog sich die Aussage „ganzes Land“ auf Hohenzollern.
Lilly musste erneut googeln. War Hohenzollern ein Land?
Tatsächlich. Das war es mal. Vor langer Zeit, ein kleines Fürstentum. Gab es etwa hier noch immer Patrioten?
Egal, sollte dies so sein, dann waren diese für Lilly nur Idioten. Schließlich lebte man im 21. Jahrhundert und nicht im Mittelalter. Die Blaublüter mussten genauso Steuern zahlen wie alle anderen auch.
Als der Hund rülpste, blieb noch eine Frage offen. Eine, auf der alle Suchmaschinen und Online-Lexika keine Antwort wussten.
„Was hatte der gute Alex mit dieser Frau zu schaffen?“
In Lillys Bauch machte sich ein sehr mulmiges Gefühl breit. Eines, das eine Warnung ausstieß.
Lilly hoffte, dass Alex sich nicht wieder in Gefahr begab. Doch sie würde nachsehen müssen, denn bei dieser Frau schien sein Gehirn seine Arbeit einzustellen.
Es war ein sehr schöner frühlingshafter Sonntagnachmittag. Die Sonne wärmte und in Tübingen blühten schon überall die Frühlingsboten. Professor Doktor Wolfgang Eierle setzte sich auf seinen neuen Liegestuhl aus Eukalyptusholz. Kurz dachte er dabei an Alex, der ihm sicherlich vor dem Kauf der Stühle über Nachhaltigkeit in der Forstwirtschaft und Verwendung von einheimischen Hölzern einen Vortrag gehalten hätte.
Aus der Küche roch es angenehm.
Angenehm indisch.
Noch immer gab er dem Rehbraten von Alexandra den Vorrang. Doch auch die sehr gute indische Küche und vor allem Jasipur hatte er richtig in sein Herz geschlossen.
Wolfgang Eierle atmete tief ein und ließ seinen Blick über die Altstadt von Tübingen gleiten. Es ging ihm gut.
So richtig gut.
Er hatte eine Familie.
Endlich.
Auch wenn Jasipur adoptiert war, so machte das für ihn keinen Unterschied. Im Gegenteil, er war stolz. Und stolz, eine so hübsche Frau an seiner Seite zu wissen. Sein Leben hatte sich nun als angenehm dargestellt. Wie öde war es, als er noch Single war.
Öde und einsam.
Doch das war vorbei.
Wolfgang Eierle stellte eine Flasche kühles Weizenbier auf den Tisch, welche auch aus Eukalyptusholz war. Er würde jetzt einfach einmal die Seele baumeln lassen, bis seine zwei Hübschen das Essen gekocht hatten. Das hatte er sich doch verdient. Und Jasipur und Alexandra hatten eindeutig sehr viel Spaß, denn in der Küche wurde gelacht.
„Ein schöner ruhiger Sonntag“, dachte er noch, als plötzlich sein Smartphone zu läuten begann. Kurz sah er drauf, doch die Nummer kannte er nicht. Jedoch die Vorwahl und diese gehörte zu Hechingen.
„Eierle!“, sagte er eher desinteressiert.
„Veronika von Hechingen. Ich hoffe, ich störe Sie nicht, Professor“, sagte eine sehr sanfte Stimme.
Wolfi war instinktiv aufgestanden.
„Eure Hoheit! Was verschafft mir die Ehre?“
„Nicht so förmlich, Professor. Ja, ich weiß, es ist eigentlich Sonntag, und ich würde Sie auch nicht stören, wenn es nicht wirklich wichtig wäre“, sagte die sanfte Stimme der Frau mit den tieftürkisfarbenen Augen.
„Aber Sie stören doch nicht, Frau von Hechingen“, heuchelte Wolfgang Eierle und schaute dabei in die etwas kritisch dreinblickenden Augen seiner eigenen Frau.
„Lassen wir doch diese Förmlichkeiten, darf ich Wolfi sagen?“ Veronika konnte Männer leicht für sich gewinnen. Sehr leicht.
„Aber natürlich, gerne. Wie kann ich denn helfen?“
„Es ist mir schon etwas unangenehm, gerade weil es Sonntag ist und du ja auch Erholung benötigst. Wie ich gehört habe, bist du ja der beste Forensiker in ganz Deutschland.“
„Haha, ja so sagt man das. Ja, dem sollte ich auch nicht widersprechen.“ Professor Doktor Eierle lachte gekünstelt, während Alexandra alles beobachtete und dabei ihre Stirn runzelte.
„Und wegen genau dieser Tatsache rufe ich dich an. Hier auf der Burg gab es Vorkommnisse, die einen Forensiker benötigen. Und leider kann die Sachen nicht bis morgen warten.“ Veronika spielte die Einfühlsame.
„Aha, gibt es etwa archäologische Funde? Einen Toten etwa? Sehr spannend, und ich denke, da kann ich natürlich helfen.“ Nach dem letzten Satz sah er wieder in die Augen von Alexandra.
„Essen ist fertig!“, rief Jasipur aus der Küche.
„Haha, ja vielleicht müssten wir doch bis morgen warten, eure Ho… ähm Veronika.“ Wolfi hatte erkannt, dass seine Familie es ihm heute nicht so leicht machen würde, seiner Leidenschaft, dem Beruf des Forensikers zu folgen.
Plötzlich kam Alexandra auf ihn zu, küsste Wolfi und nahm das Telefon an sich.
„Er kommt“, sagte sie und gab es ihm zurück.
Wolfgang Eierle war verwirrt. „Ja, also ich kann kommen. Soll ich die Ausrüstung mitbringen?“
„Wunderbar, das wäre perfekt. Du kannst dann bis in den Burghof hochfahren. Ich gebe der Security Bescheid. Bis dann!“, sagte Veronika und hatte aufgelegt.
„Also, ich hätte es auch auf morgen verschieben können.“ Wolfi versuchte sich bei Alexandra zu entschuldigen.
„Sicher, aber ich weiß doch, wie du deinen Beruf liebst. Und ich liebe dich. Es hörte sich nach was Wichtigem an.“ Alexandra zwinkerte ihrem Mann zu.
„Oh, ja. Also die haben da eine Leiche gefunden. In der Burg, bei Hechingen. Wer weiß, vielleicht Hunderte von Jahren alt. Da brauchen die den Besten.“
„Und den habe ich geheiratet. Also husch, worauf wartest du? Komm nicht zu spät, ja?“
Wolfgang Eierle küsste seine Frau. Dann umarmte er noch Jasipur.
„Aber natürlich, was soll schon schiefgehen. Archäologen machen doch so wie die Finanzbeamte Feierabend. Von uns Forensikern, die ja eigentlich immer im Dienst sind, eine Scheibe abschneiden“, frotzelte der Forensiker.
„Er kommt.“ Veronika legte das tragbare Telefon vor sich auf den großen Schreibtisch.
„Wer kommt nicht, wenn du rufst!“ Alex wollte lustig sein und damit die Stimmung etwas heben. Doch Veronika antwortete nicht. Sie stand noch immer mit gesenktem Kopf vor dem Schreibtisch. Dann sah Alex eine kleine Träne auf diesen tropfen.
„Schatz, nicht weinen. Das wird alles wieder“, sagte er und fand gleichzeitig, dass er absolut unprofessionell reagierte. Eindeutig war jemand in dem Schlafzimmer des Fürsten gestorben. Und dieser war verschwunden. Vermutlich würde nicht alles wieder gut werden. Trotzdem durchströmte eine euphorische Welle den Körper von Alex. In seinem Kopf begann ein kleines Teufelchen zu tanzen und immer wieder zu rufen: „Der Fürst ist Tod, der Fürst ist tot.“ Veronika schlang ihre Arme um Alex.
„Das ist alles so furchtbar!“, flüsterte sie.
„Ich weiß, aber vielleicht ist alles nur ein Missverständnis“, log Alex, der sich sicher war, dass es dies nicht war.
„Aber all das Blut.“ Veronika zitterte. Alex hatte diese Frau noch nie so geschwächt gesehen. Er würde alles für sie tun. Alles. Ohne Veronika würde es ihn nicht mehr geben. Sie war es, die ihn aufgefangen hatte, als die Katastrophe über ihn hereingebrochen war. Sie hatte ihn beschützt wie eine gute Fee.
Damals.
Vor über zwanzig Jahren.
Und Alex hatte sein Leben geändert. Studiert. Ein zweites Mal. Er war erfolgreich, immer mehr. Zuerst hatte Veronika ihm finanziell unter die Arme gegriffen. Doch dann wurde er immer berühmter und auch finanziell abgesicherter. Er wollte eine Familie gründen. Mit Veronika. Kinder, ein Heim. Ja, eine Familie.
Doch alles kam anders.
Der Fürst, der Vater von Veronika, starb überraschend. Und Veronika erbte und musste das Fürstenhaus übernehmen.
Musste sie das?
Schon oft hatte sich Alex genau dies gefragt.
Sie hätte einfach bei ihm bleiben können. Doch das tat sie nicht. Ja mehr noch, sie heiratete. Diesen charismatischen Mann. Albrecht. Natürlich von und zu, wie Lilly sagen würde. Eine Traumhochzeit. Ein Traumpaar. Gönner und Förderer.
„Wir warten auf Wolfi, noch können wir hoffen. Das Blut kann auch von jemand anderem stammen.“ Alex versuchte Veronika zu beruhigen.
„Meinst du?“
„Aber ja.“
Veronika weinte bitterlich.
„Du hast ihn geliebt!“, stellte Alex fest. Doch dann blickte die Fürstin von Hechingen ihn mit ihren tieftürkisfarbenen Augen an. Alex wusste, dass er diesem Blick immer verfallen sein würde.
„Nein! Nein Alex, ich liebe dich. Nur dich, und habe nie etwas anderes getan.“
Veronika nahm den Kopf von Alex zwischen ihre Hände und küsste diesen leidenschaftlich. Der ganze Körper von Alex entspannte sich, als wäre er Wachs.
Doch das war er auch, in den Händen dieser Frau, der er einfach verfallen war.
Professor Doktor Wolfgang Eierle parkte seinen weißen Porsche pfeifend auf dem Parkplatz vor dem Forensischen Institut. Selten war er so gut gelaunt. Er wurde angefordert. Von einer Berühmtheit. Noch dazu von einer Person, bei der Alex sehr gerne sein möchte. Ein Grinsen huschte Wolfgang Eierle über das Gesicht.
„Ha, mein Freund“, sagte er laut, als er die Garage der Forensik, in dem der große blaue Transporter mit der kompletten Ausrüstung abgestellt war, betrat.
„Rate mal, wohin ich auf dem Weg bin!“, schrieb er seinem Freund über WhatsApp und freute sich riesig, seinen Freund auf die Folter zu spannen. Als er den Transporter dann aber startete, war seine Freude schlagartig verflogen. Denn die Tankanzeige war bei fast null.
„Verflixt!“, fluchte der gerade noch gut gelaunte Professor. Wieder hatte sein Assistent, welcher eigentlich im Wechsel mit Krankheit und Urlaub nur recht sporadisch als solcher überhaupt bezeichnet werden konnte, das Fahrzeug nach dem letzten Einsatz nicht betankt.
„Verflixt!“, fluchte er noch einmal. Doch letztendlich half dies alles nichts. Er würde zu einer Tankstelle fahren müssen. Ob er es noch bis nach Hechingen schaffen würde?
Wolfgang Eierle beschloss es zu versuchen, da er dort etwas mehr Platz für den großen Transporter hatte. Natürlich würde er es nie zugeben, dass er einfach nicht so sicher im Umgang mit diesem großen Fahrzeug war. Nie, und schon gar nicht in Gegenwart von Fredericke Puda.
Die Sonnte stand bereits tief und leuchtete schon recht rot, als er bei Dußlingen die leichte Anhöhe erreichte, von der man bereits die Burg Hohenzollern gut sehen konnte.
„Was für ein schöner Sonntag“, dachte Professor Doktor Wolfgang Eierle.
Ein altes, fast vergessenes Schloss …
irgendwo in Hohenzollern
„Na, gibt es Neuigkeiten?“, sagte der große, charismatisch wirkende Mann.
„Noch nicht!“ Eine kleine schlanke Frau mit blonden langen Naturlocken tippte auf ihrem Handy herum.
„Nicht?“
„Nein, nicht einmal bei der Hohenzollerischen Zeitung. Nichts, keine Nachricht.“
„Es ist Sonntag, da arbeitet die Lokalredaktion auch nur auf Sparflamme.“ Der charismatische Mann lachte schallend.
„Schon, aber ein Mord auf der Burg Hohenzollern. Das sollte schon durch die Presse gehen“, sagte die Frau.
„Hmm, ja schon.“ Der charismatische Mann wirkte nachdenklich. „Gib mir das mal“, sagte er dann und nahm ihr das Smartphone weg.
„Hey“, protestierte die Frau, als ein zweiter, wesentlich jüngerer Mann, mit rundem Gesicht, die Halle betrat.
„Was keifst du schon wieder?“, fragte er die blonde Frau.
„Ach, halt du einfach dein Maul“, zischte diese zurück.
„Probleme?“, fragte nun dieser den charismatisch wirkenden großen Mann.
„Weiß nicht“, murmelte dieser und tippte nun auch auf dem Smartphone herum.
„Verdammt! Schaut euch das mal an!“ Er zeigte das Smartphone in die Runde. Darauf war eindeutig der Burghof der Burg Hohenzollern zu erkennen.
„Na und?“, fragte der jüngere Mann. „Ist doch gut, ne Menge Touris.“
„Genau das ist schlecht. Denn da ist keine Polizei, keine Absperrung, keine Leiche und kein Mord.“
„Aber du bist dir doch sicher?“, wollte die blonde Frau wissen. Der große Mann warf ihr das Smartphone wieder zu.
„Ruf ihn an. Ruf an und frag, was da los ist“, befahl er ihr in energischem Ton.
Der Sprit hatte gereicht. Voller Freude steuerte der Professor den Transporter recht vorsichtig die engen Serpentinen zur Burg hoch. Bereits am letzten Parkplatz wurde er glatt durchgewunken. Von hier aus mussten die Besucher zu Fuß gehen oder den Schuttlebus benutzen.
Schuttlebus!
Gerade noch rechtzeitig konnte Wolfi dem entgegenkommenden Bus ausweichen. Schweißperlen bildeten sich. Es war schon recht eng, und links ging es steil die Böschung hinunter. Kurz überlegte er, ob es wohl sinnvoll sein könnte, ein etwas kleineres, dafür geländegängiges Fahrzeug zusätzlich für die Forensik zu beantragen. Wenn er allein die aufregenden Einsätze im sehr schlecht zugänglichen Killer Tal in der letzten Zeit in seine Überlegung mit einbezog, dann würde es ein solches Fahrzeug auf jeden Fall rechtfertigen. Professor Eierle bog um die letzte Kurve und stieg danach sofort auf die Bremse. Mitten auf der kleinen Zufahrt stand eine Gruppe Japaner und begann wild zu fotografieren und zu winken. Zuerst winkte Wolfi zurück. Doch als immer mehr Selfies vor dem Bus gemacht wurden, drückte er doch auf die Hupe. Wieder wurde recht freundlich gewunken, doch die Straße wurde freigemacht. Wolfi atmete erleichtert auf. Doch das nächste Problem kam auf ihn zu. Vor dem Burgeingang, dem Adlertor, hatte sich in beide Richtungen (Abfahrt und Einlass Burg) eine immense Menschenmenge gebildet. Würde er da hindurchkommen? Wieder begann er zu schwitzen und dachte kurz an sein nicht geöffnetes Bier in Tübingen auf seiner so friedlichen Terrasse. Wenigstens konnte Alex für diese sonntägliche Aufregung heute einmal nichts. Ein Mann mit schwarzer Jacke kam auf ihn zu. Er klopfte an die Scheibe des Transporters.
„Hallo, Sie kommen von Tübingen?“
„Ja!“, sagte Wolfi schon genervt, da dies ja sehr groß auf dem Transporter stand: Forensik Uni Tübingen.
„Sie können durchfahren bis in den Burghof. Sie werden erwartet“, sagte der Mann, der nach schlechten Zigaretten roch.
„Danke!“ Wolfi blieb sehr höflich.
Langsam versuchte er sich der Zugbrücke und dem Eingang der Burg zu nähern. Immer wieder huschten Menschen entweder von links nach rechts oder von rechts nach links an ihm vorbei.