Katholisch...oder? - Oliver Grudke - E-Book

Katholisch...oder? E-Book

Oliver Grudke

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Beschreibung

Das Leben des Psychologen Alex Kanst, einem Gigolo beginnt sich zu ändern als ein Priester ihn um Hilfe bittet. mehr und mehr zieht es Alex in die mafiösen und mörderischen Verstrickungen hinein, welche auch vor den Türen der Diener Gottes keinen halt machen. Zusammen mit der aus Sachsen stammenden Kommissarin Lilly nimmt er die Ermittlungen auf, treibt jedoch immer tiefer in den Sumpf der Mörder.

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Seitenzahl: 452

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Oliver Grudke

Katholisch...oder?

Ein Killer Tal Krimi

© 2024 Oliver Grudke

Website: www.torsteine.de

Lektorat von: Nadine Senger Solingen

Coverdesign von: torsteine.de

Verlagslabel: torsteine.de, www.torsteine.de

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Oliver Grudke, Ebingerstraße 52, 72393 Burladingen, Germany.

Der Regen prasselte unaufhörlich auf die große Glasfront des neuen Hauses. Das monotone Geräusch, welches er dabei erzeugte, wirkte in Verbindung mit den Klängen der bretonischen Sängerin, die ihre erotische Stimme aus den W-Lan-Lautsprechern im großzügigen Wohnbereich von Alex Kanst erklingen ließ, erregend! Nebel war aufgezogen und es schien schon jetzt, und es war erst 14.00 Uhr, dunkel zu werden.

Doch die 24 Kerzen und das prasselnde Kaminfeuer sorgten für eine wohlige und stille Atmosphäre.

Sonntagnachmittag und so ein Wetter! Ideal für gemütliche Spiele zu zweit. Rita rekelte sich unter der flauschigen bordeauxfarbenen Fließdecke, während Alex Kanst eine Flasche spanischen Torro geöffnet, gekostet und in zwei Gläser gefüllt hatte.

Das graue Strickkleid lag über ihren schwarzen Stiefeletten am Fuße der Couch. Die Strumpfhose hatte Alex mit zwei Fingern in rhythmischen Bewegungen und unter anhaltenden Zungenküssen abgestreift.

Alex Kanst wusste, dass Rita jetzt nur noch ihren silbernen String trug.

Noch!

Alex Kanst atmete tief ein! Sie trug ein starkes Rosenparfüm, welches sich durch den leichten beerigen Rauch des brennenden Mehlbeerholzes aus dem Kamin noch verstärkte.

Ein perfekter Nachmittag an einem dafür gemachten düsteren Novembertag.

Rita war ein Jahr älter als Alex, circa einhundertsiebzig Zentimeter groß, brünett mit halblangen Haaren. Ihre Figur war nicht schlank, aber auch nicht dick.

Eine Frau wie er es brauchte.

Jetzt, heute und das nicht zum ersten Mal.

Rita war glücklich verheiratet, hatte drei Kinder und ihr Mann handelte im Nachbarort so mit allem, womit man handeln konnte.. Mal mit diesem, mal mit jenem. Auch finanziell fehlte es Rita an nichts. Sie musste nicht arbeiten, außer den gelegentlichen Unterstützungen im Büro ihres Mannes. Auch Alex Kanst kannte den Mann von Rita gut und sie hatten schon hie und da ein Bier zusammen getrunken.

Doch in sexuellen Sachen war Ritas Mann eine Null. Blümchensex und das nur bis zur Sportschau. Ein Rein-Raus-Syndrom, wie es Dr. Kanst öfters bei seinen Patienten nannte.

Das reichte Rita nicht!

Reichte dies überhaupt einer Frau. Wohl eher nicht! Und so kam der Zufall und Rita brachte Dr. Kanst eine bei ihrem Mann bestellte Ware persönlich vorbei.

Holzanzünder aus Lappland.

Sie brachte es in sein neues Haus.

Abends, in einer lauen Sommernacht, und sie ließ sich zu einem kühlen Weißwein überreden.

„Ich habe Zeit, Benn ist das ganze Wochenende auf einem Mittelaltermarkt!“, hatte sie gesagt.

Alex Kanst kniete sich über ihren Körper. Rita hatte die Augen geschlossen und ihre Hände über Kreuz unter ihrem Kopf im Kissen vergraben. Die Fließdecke lag auf dem Boden.

Gekonnt und unter sehr zärtlichen streichelnden Bewegungen ließ Alex den String nur mit den beiden kleinen Fingern von Ritas Körper gleiten.

Rita stöhnte leicht auf.

Routiniert fiel der String auf den geölten Ulmenparkett vor dem prasselnden Kaminfeuer.

„Alex!“, flüsterten ihre blassrosafarbenen Lippen.

Mit seiner rechten Hand streichelte Alex durch das schwarze Haar von Rita, während er mit der linken in den Sektkühler griff und zwei Stücke Eis herüberholte.

Wie in Zeitlupe rann der erste Tropfen am Würfel entlang, sammelte sich und fiel auf den Bauchnabel von Rita. Rita stöhne nun lauter und lustvoller. All ihre feinen Flaumhaare auf dem blassweißen Körper stellten sich empor.

Dr. Kanst hielt nun den einen Eiswürfel mit dem Daumen und dem Zeigefinger fest und berührte die Brustwarzen von Rita.

„Aaaaaaah!“

In kreisenden Bewegungen arbeitete er sich langsam, ganz langsam nach unten vor, bis ....?

Es läutete!

An seiner Tür im neuen Haus! An einem Sonntag!

Das Geläut von Big Ben ertönte nun schon das dritte Mal. Alex hatte den Eiswürfel fallen gelassen.

„Willst du nicht nachsehen?“, sagte Rita.

Nein! Wollte er nicht, und überhaupt beschloss er, diese Klingel ein für alle Male abzuschaffen.

„Komm schon, schließlich bist du Arzt!“ Rita lächelte.

Mit einem Seufzer setzte sich Alex auf und suchte seinen Slip, während die Klingel in die vierte Runde ging.

„Was für ein Idiot!“, brummte er und Rita zog die Fließdecke herauf und kuschelte sich darin ein.

„Beeil dich!“, befahl sie.

Ja, das hatte er auch vor. Er würde nun die Klingel mit dem dafür vorgesehenen Schalter zum Schweigen bringen.

Doch vorher musste er noch einen kleinen Blick auf die Videoüberwachung werfen.

Die Neugier, eine seiner schlimmsten negativen Eigenschaften.

Und was er sah, verwirrte ihn! Denn dort stand ein, ja, ein Priester.

Oder wie es im Schwäbischen heißt - ein Pfarrer. Deutlich waren der römische Kragen und das kleine silberne Kreuz am Revers des schwarzen Anzuges zu erkennen.

Dann kam Fehler Nummer zwei:

Alex öffnete die Türe, nur einen Spalt:

„Bitte!?“

Sicher hätte er auch über den akustischen Teil der Videoanlage diese Frage stellen können, aber nun war die Tür schon geöffnet.

„Dem Herrn sei Dank! Sie sind zu Hause!“, schrie der Mann, den Alex auf Ende fünfzig, Anfang sechzig schätzte. Der Pfarrer drückte die Tür weiter auf und trabte direkt in das Wohnzimmer, wo Rita nackt unter einer Fließdecke lag, und setzte sich in den Sessel, welcher Rita gegenüberstand.

Dr. Kanst war noch immer sprachlos und hetzte hinter dem Pfarrer her, welcher sich die ganze Zeit mit einem kleinen weißen Tuch über die Stirn wischte.

Er schwitzte.

Und kaum war er in den Sessel gefallen, war er schon wieder aufgesprungen und streckte seine rechte Hand zum Gruß aus. Er hatte Rita entdeckt.

„Ja grüß Gott, Frau Ketterer! Schön, Sie zu treffen! Wie geht es Ihnen? Und Ihrem Mann?“

„Gut! Bin mal kurz im Bad!“, sagte Rita und wackelte in die Fließdecke gehüllt ins Bad.

„Können Sie mir mal erklären, wieso Sie mich heute Nachmittag belästigen?“, sagte ein fluchender Alex Kanst in seinem besten mürrischen Ton?

„Ich brauche Ihre Hilfe!“, stammelte der Pfarrer, der so gar nicht recht bei Sinnen zu sein schien.

„Ciao, Alex! Den Rest nehme ich das nächste Mal mit!“ Rita winkte leicht mit dem Zeigefinger, zeigte auf den silberfarbenen Slip und war schon zur Tür raus.

„Rita, warte!“, rief Dr. Kanst noch hinterher, doch es war ihm sofort bewusst, dass dies heute keinen Zweck mehr hatte. Umso mehr war er auf eine Erklärung gespannt und bereit, dem Pfarrer genau eine Minute zwanzig dafür zu gewähren, denn nach dieser Zeit würde der ungebetene Gast sehr unsanft aus dem neuen Haus fliegen.

Der Pfarrer wischte sich immer noch die Stirn ab. Gut, draußen hatte es, wenn es hoch kam, drei Grad über null, aber hier drinnen mindestens dreißig! Es sollte ja warm und gemütlich sein. Erotisch! Und nun saß ein schwitzender katholischer Pfarrer auf dem Sofa von Alex Kanst, wo eigentlich gerade Rita ihren Höhepunkt bekommen sollte.

Auch war sich Dr. Kanst sicher, dass dieser Pfarrer nicht wegen der Hitze des Kaminfeuers schwitzte.

„Ich, ich ... ja, wo soll ich bloß anfangen?“, stammelte der Pfarrer.

„Mit Ihrem Namen!“, brummte Alex und trank den Rest der Torro-Flasche auf einmal aus.

„Ach ja, mein Gott, wie unhöflich! Was müssen Sie jetzt über mich denken? Sicher denken Sie jetzt das Falsche!“, stammelte der Priester weiter.

Alex hielt es nicht für psychologisch gut, dies, was er jetzt dachte, dem Pfarrer zu offenbaren und ertappte sich beim Kopfschütteln.

„Gott sei Dank! Es wäre mir nicht recht, wenn Sie einen falschen Eindruck bekämen und wie ich noch einmal betonen möchte, möchte ich einen normalen Eindruck erwecken, wenngleich die Situation und der Grund meines Erscheinens nicht normal sind.“

„Bitte kommen Sie zum Wesentlichen!“ Dr. Kanst versuchte professionell zu bleiben, wenngleich alles in ihm kurz vor einem Wutausbruch stand.

Doch das wollte er nicht. Schon seit langem wollte er niemandem mehr sein Innerstes zeigen. Damit hatte er sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Professionelle Distanz und innere Beherrschtheit waren seine größte Stärke und oft seine Waffe im täglichen Kampf gegen die asoziale Dummheit oder die Obere-Klassen-Arroganz. Dies erinnerte ihn an seinen Pfarrer in seiner Zeit als Kommunionkind und den Kanon: … wer sich selbst bezwingt, ist ein König!

Damit lag er immer vorn! So würde es auch heute sein und bleiben, selbst, wenn die von ihm gesetzte Frist von einer Minute zwanzig bereits weit überschritten wurde.

Seine Gefühle offenbarte er nur ihr. So wie sie ihre ihm. Ein sehr gutes Arrangement, wie Alex Kanst fand. Und plötzlich wuchs in ihm das Gefühl nach Sehnsucht nach ihr. Zu lange wehte das Banner des Fürsten oben im Schloss. So lange wie noch nie! Selbst nach diesem sehr persönlichen Fall im Sommer hatte er sie nicht treffen können. Ja, er konnte sie nicht einmal anrufen.

Und was tat er stattdessen? Hatte er Sex? Nein! Er saß hier und hörte an einem Sonntagmittag dem wirren Gesabber eines alternden Theologen zu.

Wollte er das?

Hatte er das nötig?

Nein!

Und es verstieß gegen den Grundsatz: keine Geschäfte im neuen Haus! Nie! Unter keinen Umständen.

„Gut, ich verstehe Sie! Sicher haben Sie recht! Deshalb rate ich Ihnen zu folgenden Kollegen!“ Dr. Kanst drücke dem Pfarrer mit der Linken einen Zettel in die Hand und mit der Rechten schob er ihn aus dem Haus.

„Rumms!“ Die Tür war zu und einige Sekunden später auch die Klingel aus.

Dann war es still! Zu still im neuen Haus! Auch die Klänge der bezaubernden bretonischen Sängerin waren verstummt.

Hatte der Pfarrer noch etwas gesagt?

Hatte er überhaupt noch etwas gesagt? Seinen Namen, den Grund der Störung an einem Sonntag?

Dr. Kanst wusste es nicht genau, da er nicht hingehört hatte. Es hatte ihn nicht interessiert!

Der Regen prasselte nun noch stärker an die Scheiben im Wohnbereich und Alex Kanst wusste nicht so recht, wie er dem Sonntag noch einen Sinn verleihen könnte. Sicherlich würde er heute allein bleiben müssen.

Da piepste sein Handy!

Er hatte eine SMS bekommen!

Nichts! Keinen Ton brachte er heraus und alle starrten ihn an. Stumm, als müsste er als Einziger singen. Er wollte auch singen, doch es kam kein Ton aus seiner Kehle.

Nichts!

Zur Ablenkung und als Beruhigungsversuch blätterte er in seinem Gotteslob. So als würde er etwas suchen. So als wüsste er nicht, welches Lied gesungen würde. Oder so als würde er es suchen, denn die leuchtenden Ziffern an der Liedanzeige gaben den Weg vor. Jetzt holte er tief Luft, gleich würden die Töne erklingen und alle Augen würden nicht mehr auf ihn, sondern auf die Noten in den Gesangsbüchern geheftet sein. Nur einen Augenblick war er davon entfernt, nicht mehr im Rampenlicht der mahnenden Augen zu stehen.

Nichts!

Das konnte doch nicht sein, das durfte doch nicht sein! Wieso konnte er nicht mehr singen? Er kannte das Lied doch fast auswendig. Schon oft wurde es in den von ihm besuchten Gottesdiensten gesungen. Zu oft, sodass man es auswendig kennen musste. Doch dies war ja nicht das Problem. Nicht der Text, nicht die Melodie, nein, auch nicht die Noten waren das Problem. Es musste etwas mit seinen Stimmbändern zu tun haben. Die funktionierten schlichtweg nicht mehr. Gerade hatte er doch noch gesungen!

Hatte er? Er war sich nicht sicher und bemerkte jetzt, dass er zu schwitzen begann. Kleine Rinnsale liefen seine Wange herunter.

Warum stand er überhaupt hier? Wollte er singen? Musste er singen? In einer Kirche? Heute? War denn ein besonderer Tag? Weihnachten? Ostern? War jemand gestorben? Jemand, den er kannte, ja mochte?

Nichts!

Kein Gedanke konnte ihm die Antwort liefern, doch der Drang zu singen wurde immer größer und so konnte er die Aufforderung zu singen in den Augen der Gläubigen sehen, die auf ihn gerichtet waren.

Auf ihn!?

Er stand vor allen!

Warum?

Warum stand er nicht mitten unter allen? So wie sonst immer! Immer wenn er eine Kirche besuchte. Immer war nicht sehr häufig, eigentlich nie! Nur am Heiligen Abend! Und dies meist nur die Christmette in der Burgkapelle. Um bei ihr zu sein. Wie eine Familie!

Doch dies war nicht die Burgkapelle, nein, es war eine größere Kirche!

Die Kirche in seinem Heimatdorf!

Was tat er hier, hier mitten unter diesen lästigen Augen?

Nichts!

Er fand keine Erklärung! Erst jetzt bemerkte er, dass er eine liturgische Ministrantenalbe trug. In Rot, mit einem Chorrock darüber. Doch er war kein Ministrant mehr, seit er elf war.

Er war schon lange nicht mehr elf!

Er schwitzte immer mehr und der Chorrock klebte bereits auf seiner Haut.

Ob dies alle sehen konnten?

Und wenn, sollte dies ihn belasten?

Störte es ihn, wenn alle ihn anstarrten?

„Sing endlich!“, schrie eine alte Frau.

„Ja, sing endlich!“, schrien nun einige.

„Singen, singen, singen, singen!“, schrien nun alle im Chor.

Er holte tief Luft, jetzt würde es funktionieren, jetzt musste es funktionieren!

Doch es funktionierte nicht und die Gläubigen schrien immer lauter, bis der Aufprall kam! Hart und schmerzhaft!

Dr. Kanst tastete nach dem Lichtschalter! Dazu musste er sich aufsetzen. Er war klatschnass und war aus dem Bett gefallen.

So ein Traum hatte er schon lange nicht mehr.

Er spürte, dass er der Sache doch nachgehen sollte, doch nun brauchte er erst einmal eine Dusche!

Müde und total durchnässt schleppte sich Alex in die Galerie, welche oberhalb seines üppigen Wohnbereichs lag und so eine Art Balkon bildete.

Nun gab es zwei Optionen:

A: Er nahm den kurzen Weg in das etwas kleinere sogenannte Gästebad oder

B: Er benutzte den vollverglasten Aufzug, ließ sich in die untere Etage schweben und benutzte das

sehr großzügige Wellnessbad.

Es war Montagmorgen und deshalb entschied er sich für die erste Variante. Das andere Bad war für die Freizeit gedacht. Für besondere Momente, mit Frauen oder als Krönung eines erfolgreichen Tages oder nach der Arbeit.

Und danach fühlte er sich nun wirklich nicht. Im Gegenteil, es begann nun eine sehr stressige Woche und er war nicht erholt. Nicht einmal ein kleines Stückchen.

Nicht genug, dass dieser Pfarrer ihm seinen so schönen erotischen regnerischen Sonntag zerstört hatte, nein, nun gelang es ihm, ihn auch noch um den Schlaf zu bringen.

Und warum das alles?

Er hatte keine Ahnung, nein, er wollte es gar nicht wissen, hatte nicht gefragt. Und doch schien ihn der Besuch irgendwie zu beunruhigen.

„Mist!“, sagte er laut, als er die digitale Anzeige seiner LED beleuchteten Uhr am Ende der Galerie sah. 5.23 Uhr! Zu früh, um in die Praxis zu fahren, zu spät, um wieder ins Bett zu schlüpfen. Ein weiterer Blick verriet ihm, dass Joggen auch nicht in Frage kam. Es regnete immer noch Bindfäden und der Nebel war sehr dicht.

Nicht, dass ihm das etwas ausmachen würde, nein, im Gegenteil. Dies war ja sonst sein Wetter. Regen, kühl und Nebel. Ein Wetter für den Alb gemacht. Niemand ging an so einem Wetter in den Wald. Allein konnte er deshalb seinen Kopf freibekommen und Ruhe und Kraft tanken. So wie er es jetzt, zu Beginn der Woche, schon nötig hätte.

Doch er wollte heute nicht! Er hatte nicht gut geschlafen und hasste Montage im Allgemeinen. All dies waren keine Pluspunkte für einen Besuch des Traufwaldes morgens um halb sechs.

Alex Kanst stellte die Dusche an. Sollte er sich mit Musik berieseln lassen?

Nein! Besser nicht. Auch hatte er ja gleich zu Beginn seines Tages noch eine wichtige, aber ungemein peinliche und im höchsten Maße unnötige Aufgabe zu erledigen.

Alles wegen dieses Pfarrers!

Erst nach der Dusche fand es Alex etwas frisch in seinem neuen Haus. Sollte er den Kamin noch einmal anwerfen?

Nein! Nicht an einem Montagmorgen, dem Beginn einer schlechten Woche.

Natürlich soll man so keine Woche beginnen! Seinen Patienten riet er immer, nur das Positive herauszufiltern und sich so Raum für energiegeladene Impulse selber zu schaffen.

Er wusste, wie dies ging, doch er wollte es nicht wissen. Nicht an einem der schlechtesten Montage seit? Ja, wann war ein Montag so schlecht gewesen wie heute?

Damals, als ihn zwei Gerichtsvollzieher gleichzeitig besuchten.

An einem Montagmorgen!

Er hasste Montage!

Doch das war damals! Ein anderes Leben in einer anderen Zeit! Manchmal fragte er sich, ob diese Zeit wirklich stattgefunden hatte.

Sie hatte - und Alex stellte den Beamer an und wählte das ARD-Morgenmagazin. Dazu würde er nun einen starken Kaffee aus seiner brandneuen Kaffeemaschine zaubern. Bohnen aus Kolumbien, Faire Trade natürlich.

Gerade als die Maschine ihr Mahlwerk anschmiss, kam das Thema des Tages:

Zunehmende Gefahr durch religiösen Fanatismus!

„Kein Problem für Dr. Alex Kanst!“, dachte er und wusste noch nicht, wie sehr er sich irrte.

Montag, 8.15 Uhr, es war der 23. November 2015. Und Dr. Kanst würde dieses Datum nie mehr vergessen.

Es war sonderbar! Nun war er schon so lange auf und doch hatte es den Anschein, dass er zu spät in seine Praxis zu seinem ersten Termin kommen würde. Hatte er gebummelt?

Nein, wohl eher keine Lust und eigentlich müsste er ja schon lange nicht mehr in die Praxis. Die fallweise Arbeit für die Polizei, seine zahlreichen Publikationen und seine Vorträge an international anerkannten Hochschulen, vor allem in London, hatten sein Konto mehr als dick gefüllt. Doch er war dazu zu sehr Schwabe.

Aber gerade an einem solchen tristen Montagmorgen war er sich sicher, dass die Tage der Praxis gezählt waren. Und vielleicht sollte er auch nicht mehr für die Polizei arbeiten. Bei seinem letzten Einsatz war er doch angeschossen worden und schwebte aus heutiger sich längere Zeit in Lebensgefahr. Nicht durch die Verletzung im eigentlichen Sinne, aber durch die Bedrohung des Mörders.

Egal, das hat das Land Baden-Württemberg eine schöne Summe gekostet. Einige seiner Jahrgänger würden mit so einer Summe ein kleines Einfamilienhaus bauen.

Der neue VW Tiguan fuhr auf die Landstraße in Richtung Hechingen. Lange war er immer den Umweg gefahren, doch nun fuhr er schon einige Monate wieder durch sein Heimatdorf, vorbei an seinem alten Haus aus einem anderen Leben und irgendwie aus einer anderen Zeit.

Es machte Dr. Kanst nichts mehr aus, fast fühlte es sich surreal an, als hätte es diese früheren Leben nie gegeben. Er war anders, schon fast neugeboren worden.

Und doch fand sein Blick nie das alte Haus wieder. Immer suchte dieser etwas zur Ablenkung. Sei es das Radio, sei es der Blick auf ein anderes Haus oder, wie heute, suchte er den Hebel für die Scheibenwaschanlage.

Vor ihm fuhr ein kleines rotes Auto, Dr. Kanst vermutete einen Japaner, doch dies war ja auch nicht wichtig.

Es war nur lästig! Lästig war, wie langsam der oder vermutlich war es eine sie oder am ehesten jemand aus der Gruppe der Senioren fuhr“

Nun hatte er es wieder getan. Er schob Unbekannte in vorgefertigte Schubladen. Genau das war es, was er ablehnte. Eigentlich! Er war ein Verteidiger der Individualität und der Freiheit des Denkens und Tuns eines jeden. Eigentlich! Doch nicht an einem nebligen Montagmorgen. An dem er schon zu spät war und der kleine rote Wagen ihm immer die Frontscheibe vollspritzte.

Plötzlich klingelte sein Handy.

„Kanst!“, sagte er barsch über die Freisprechanlage und hatte schon lange gesehen, dass es die Praxis war, welche anrief, und somit Tina.

„Hi, Chef! Habe die Termine bereits um zwanzig Minuten nach hinten verschoben und Herr Müller mit einem Kaffee und einem Motorradmagazin ruhiggestellt“, sagte Tina.

„Danke, du bist ein Schatz!“, sagte Dr. Kanst.

„Ich weiß, und hoffentlich flüsterst du mir dies bald mal wieder ins Ohr!“, sagte Tina schon fast singend.

„Versprochen!“

„Tschüüüüss!“

Nach zwölf Kilometern öffnete sich das ansonsten so enge Tal und gab den Blick auf Hechingen und seine schöne mittelalterliche Altstadt frei. Aber auch auf die Burg, welche Hechingen und irgendwie die ganze Gegend überthronte.

„Mist!“, murmelte Dr. Kanst und seine Laune war noch etwas tiefer gesunken. Eigentlich wollte er an diesem Morgen nicht hochsehen, und doch hatte er im linken Augenwinkel die Fahne gesehen. Ein Zeichen, dass der Fürst im Hause war und sie für ihn damit unerreichbar. Immer noch!

Erst jetzt bemerkte er, dass er die zulässige Höchstgeschwindigkeit weit überschritten hatte. Dies passierte ihm eigentlich nur selten. Was auch dazu geführt hatte, dass er als Inhaber eines Führerscheines seit 29 Jahren noch nicht einen Bußgeldbescheid für das zu schnelle Fahren bekommen hatte.

Dr. Kanst bremste seinen Tiguan herunter, bis die Tachonadel die vorgeschriebene Geschwindigkeit von 100 km anzeigte.

Er hatte seine innerliche Beherrschung verloren. Doch dazu hatte er nach seiner eigenen Überzeugung auch allen Grund. Fast ein Dreivierteljahr konnten sie sich nicht mehr treffen. Immer war dieser Fürst auf seinem Schloss.

Nicht einmal mehr an ihren Duft konnte er sich noch recht erinnern. So konnte es nicht weitergehen.

Montage waren einfach nicht seine Sache.

Vielleicht etwas zu schnell war er in die Fußgängerzone eingebogen. Natürlich musste sofort einer diese komplett in orange gekleideten Bauhofmitarbeiter ihm einen sehr energischen Blick zuwerfen und eine beschwichtigende Handbewegung hinterherschieben.

Der ganze Marktplatz wimmelte von Leuten in orange.

„Was machten die an einem so trüben Tag hier?“, fragte sich Alex Kanst und sogleich bekam er die Antwort, als einer dieser Typen in orange einen Fichtenbaum an seinem Tiguan vorbeizog.

Natürlich wurde bereits die Weihnachtsdekoration aufgestellt. Jedes Jahr früher. Sicher würden die es früher oder später gleich im September aufbauen, so konnte man die Stimmung länger halten oder aber sie völlig ruinieren.

Plötzlich fiel ihm das Schild Katholisches Pfarramt auf.

Oh ja, dass musste er auch noch erledigen. Irgendwie war es ja wichtig und er hatte es Rita versprochen. Also am besten gleich und jetzt.

„Mist!“ Natürlich gab es keinen freien Parkplatz und Alex Kanst fuhr komplett durch die Fußgängerzone, vorbei am Stadtschloss und zurück zur Einfahrt der Fußgängerzone. An guten Tagen konnte man so Stunden verbringen, ohne zu einem Parkplatz zu kommen.

Nicht er und nicht heute! Quietschend kam er direkt vor dem Eingang des Katholischen Pfarrbüros auf einem Behindertenparkplatz zum Stehen.

Sportlich schwang er sich aus seinem Sitz und bemerkte die eklige nasskalte Luft, welche ihm entgegenströmte.

Solche Tage hatte er auch schon in seiner beruflichen Tätigkeit als Forstingenieur nie leiden können. Doch seit diese Tage vorbei waren, kam es ihm so vor, als würde er diese Art von Wetter immer schlechter ertragen können.

Doch es gab eben nicht nur sonnige Tage.

Er würde nur ein paar Minuten brauchen, und dann schnell in die Praxis. Tina konnte seine Patienten ja nicht unbegrenzt umschichten.

„Aua, was für eine Sche…!“ Dr. Kanst unterdrückte das Fluchwort und rieb sich die Stirn. Das würde sicherlich eine dicke Beule geben und bestimmt der Auslöser für einen Migräneanfall sein.

Dr. Kanst war mit voller Wucht auf die geschlossene Tür des Katholischen Pfarramtes aufgeschlagen.

Geschlossen? Alex Kanst schaute auf seine Uhr. Es war viertel nach neun. Schon sehr spät für seine Patienten. Sicherlich müsste Tina einigen absagen. Dazu nahm er immer die, deren Termin in der Mitte des Tages lag, so gab es kein totales Durcheinander.

Vielleicht war es ja nur ein Irrtum. Sanft drückte er noch einmal gegen die Tür. Geschlossen!

Erst jetzt lachten ihn einige freundliche Gesichter an.

Das Büroteam der Seelsorgeeinheit Hechingen ist gerne für Sie da. Täglich von 11.05 Uhr bis 11.35 Uhr

Gerne? Täglich? Dr. Kanst merkte, wie in ihm die Empörung stieg! Was waren das für Bürozeiten?

Vermutlich so angelegt, dass erst gar niemand kommen wollte.

Aber er musste, heute, und er musste es persönlich erledigen. Eigentlich war er ja ein Fan der Mail, aber in diesem sehr sensiblen Falle musst er es persönlich erledigen und die Schweigepflicht oder wie es ja bei der Katholischen Kirche heißt das Beichtgeheimnis in Anspruch nehmen.

Mit noch schlechterer Laune trottete er zu seinem Behindertenparkplatz zurück und was er da sah, war das erste Erfreuliche an diesem trüben Montag. Lange, sehr lange blonde Haare, welche fast bis an den Poansatz reichten, entfernten sich gerade von seinem Auto.

„Schön!“, dachte Alex und merkte, wie er dem Drang, diese Frau anzusprechen, völlig erlag.

„Guten Morgen!“, rief er den blonden Haaren hinterher, so laut, dass die Frau sich umdrehte.

Doch das war nun nicht so schön. Denn das Gesicht, welches zu den schönen blonden Haaren gehörte, war versteinert und sehr ernst. Auch zeigte es Spuren von starkem Alkoholkonsum.

„Sie parken auf einem Behindertenparkplatz! Das kostet 50 Euro! Zahlen Sie bar oder mit EC-Cash?“

Dr. Kanst war noch immer geschockt von der unnatürlichen Verbindung so schöner Haare und eines so hässlichen Gesichtes, dass er nicht sofort antwortete.

„Natürlich können Sie den Betrag auch auf das Konto der Stadtkasse einbezahlen. Hier haben Sie einen Überweisungsträger. Und eigentlich sollten Sie sich schämen. Ein gesunder Mann stiehlt den Behinderten ihren Platz. Wünsche einen guten Tag!“

Mit diesen Worten war das hässliche Gesicht hinter dem nächsten Fahrzeug verschwunden. Dr. Kanst stand noch immer wie ein begossener Pudel da und hielt seinen Überweisungsträger als sei es ein Glückslos.

Nun war er sich sicher! Er sollte wieder in sein Bett in seinem neuen Haus. Was war eigentlich los? Kein Sex, schlecht geschlafen, zu spät zur Arbeit und dann noch der erste Strafzettel in seinem Leben. Und schuld daran war dieser Priester. Leider konnte er sich dafür nicht erkenntlich zeigen, denn er benötigte ja in Sachen Rita noch dessen Wohlwollen.

Hoffnung keimte auf, als er bemerkte, wie spät es war. So lange würde es Herr Müller nicht in seinem Wartezimmer aushalten. Dann hatte er diesen Typen wenigstens wieder für eine Woche von der Backe.

Alex Kanst stieg in den verglasten Aufzug und steckte den Schlüssel bei seinem Stockwerk rein. Ein individueller Aufzug nur für die Eigentümer. Nun machte sich die Müdigkeit aus der letzten Nacht doch schon sehr bemerkbar, aber man ist ja pflichtbewusst und erinnert sich an Tage, da das Portemonnaie leer war. Deshalb die Pflicht und deshalb auch die Arbeit. Wenn man dies einmal erlebt hatte, dann steckte dies in allen Knochen und man wird arbeiten, egal wie dick das Bankkonto ist.

Mit einem leichten Gong öffnete sich die Tür und Dr. Kanst eilte am Empfangstresen und der dort brennenden Kerzen mit einem leichten Gruß vorbei direkt in sein Büro.

„Morgen!“, brummte der Psychologe.

„Morgen Chef! Drei Termine abgesagt, einen verschoben und Herr Müller wäre dann jetzt soweit!“ Tina stöckelte auf ihren neuen Plateaustiefeln aus grauem Wildleder, welche über ihre Knie reichten, in einem schwarzen Strickkleid mit Zopfmuster hinter ihrem Chef her.

Alex Kanst seufzte. Er war sich sicher, diesen Müller nicht mehr sehen zu müssen. Doch wenn es erst mal nicht sein Tag war, dann war es halt so.

„Na gut, aber um 11 Uhr 5 muss ich noch einmal kurz weg!“

„Um exakt 11 Uhr 5?“ Tina lachte.

„Ja, so ist es und ich brauche einen sehr starken Kaffee. Ach ja, hier wäre noch eine Art Quittung, die bezahlt werden muss!“ Alex Kanst übergab sein Knöllchen an Tina.

„Ja Chef, ein Strafzettel, von unseren Stadtscheriffs! Was ist bloß los?“ Tina schien sich köstlich zu amüsieren.

„Tina, bezahlen und Herrn Müller!“

„Klaar! Hihii!“

Frank Müller war mindestens zwei Meter groß. Schlank, schlaksig und hatte irgendwie das Mitgefühl von Alex Kanst. Insgeheim bezeichnete er ihn als den armen Kerl, der für vier Kinder nur zweimal Sex hatte.

Tatsächlich hatte die kleine, sehr pummelige Frau von Frank ihm gleich zweimal Zwillinge geschenkt. Frank mochte diesen Passus wohl eher nicht, aber im Rahmen der Gespräche nutze Dr. Kanst öfters den Passus, um die eigentliche Situation von Frank Müller etwas in ein besseres Licht zu rücken.

„Herr Doktor, das Wochenende war die Hölle! So kann ich nicht mehr weiterleben!“ Frank Müller zitterte am ganzen Körper. Dies tat er heute, und eigentlich an jedem Montagmorgen. Die Aufgabe von Alex Kanst bestand darin, ihn in einer Sitzung wieder fit für die Woche zu machen. Meist gelang ihm das, vor allem, weil Frank sich während der Woche überwiegend von seiner Familie fernhielt.

Er ging morgens um 5 Uhr aus dem Haus und kam erst wieder um 21.00 Uhr. Mittag aß er bei seiner Mutter im Nachbardorf. Dort verbrachte er auch seinen Feierabend.

Nur am Wochenende klappte dies natürlich nicht und seine Frau verlangte vollen Einsatz bei der Betreuung von vier Kindern. Sex gab es keinen mehr, was Dr. Kanst eher erfreute, wie schnell waren ohne Kondom aus vier sechs geworden. Die Frau von Frank war seine erste und einzige und vermutlich letzte Freundin und Frau!

Also lag Alex Kanst wohl bei zwei zu vier richtig!

„Na, so schlimm kann es ja nicht gewesen sein!“, sagte der Arzt und dachte dabei an sein schlimmes und sexloses Wochenende.

„Doch doch, es hat ja fast immer nur geregnet und deshalb musste ich das ganze Wochenende mit Bauklötzen und blöden Puppen auf dem Boden liegen!“

„Gut, das Wetter macht uns allen einmal einen Strich durch die Rechnung. Aber gab es nicht auch Momente, die sie berührt haben. Lachende Kinderaugen, ein dankbarer Blick?“

„Ja, ja schon! Aber meine Frau, glauben Sie mir, die stinkt! Ich denke, die wäscht sich nicht mehr, ganz bestimmt!“

Solche ekligen Details mochte Dr. Kanst nicht und heute schon gar nicht.

„Sehen Sie, ein lachendes Kinderauge gibt einem doch sehr viel zurück. Nun liegt ja eine entspannte Woche vor Ihnen und das nächste Wochenende soll noch einmal sehr sonnig werden. Dann können Sie hinaus auf Ihren Spielplatz und die Meute rennen lassen!“, log Dr. Kanst und war bereits aufgestanden, um Herrn Müller zu verabschieden.

„Gut, wenn Sie meinen. Ich fühle mich auch schon besser. Jetzt hatte ich ja fast den ganzen Morgen Zeit für mich: Übrigens, Sie haben tolle Magazine in Ihrem Wartebereich!“ Frank Müller drückte sehr innig die Hand von Alex Kanst. Eine Verspätung war wohl die beste Therapie für den jungen Familienvater.

Alex Kanst desinfizierte seine Hände, schließlich möchte ja keiner die Keime der unteren Bevölkerungsschicht an den Händen oder sonst wo haben. Als er in den Flur schaute, ob bereits der nächste Patient wartete, bemerkte er erneut die brennenden Kerzen auf dem Tresen. Eigentlich waren diese ihm ja schon beim Hereinkommen aufgefallen. Doch erst jetzt weckten diese blauen Kerzen seine Neugierde.

Natürlich war nächste Woche der erste Advent, doch selbst im Advent brannten nie Kerzen auf dem Tresen von Tina.

Tina saß mit dem Rücken zum Tresen und war in den Tiefen des Webs gedanklich verschwunden. Alex Kanst sah nun drei blaue Kerzen auf seinem Tresen. Nun, der Advent benötigte vier und man nahm ja auch eher die roten oder goldene. Natürlich wusste er nichts über den aktuellen Modetrend in Sachen Weihnachten. Er erinnerte sich, als seine Cousine ihm einmal grüne Christbaumkugeln geschenkt hatte. Grüne Kugeln an einem grünen Baum. Ein Trend, der sich nicht durchsetzte. Alex lachte.

„Na, ist Blau der Trend in diesem Jahr für die weihnachtliche Dekoration überall?“

Tina blickte verdutzt auf, erst dann sah sie ihren Chef auf die Kerzen zeigen. Lächelnd stand sie auf.

„Aber nein! Sieh mal, Chef!“ Voller Stolz zeigte Tina auf eine 30 cm hohe Statue aus Gips, welche sich neben dem Faxgerät befand. Links und rechts der Statue ebenfalls zwei blaue Kerzen. Die Statue trug eine schwarze Kutte, welche fast alles überdeckte, sodass man kein Gesicht sehen konnte.

„Ha, was ist das, Darth Vader?“

„Aber nein, das ist die heilige Arsi, Chef. Dass du das nicht weißt?“

„Die heilige … was?“

„Arsi!“

Dr. Kanst war katholisch und in seiner Kindheit natürlich auch Messdiener. Später unterstützte er noch die Katholische Gemeinde in seinem Heimatort als ehrenamtlicher Pfarrgemeinderat.

In seinem alten Leben, in einer anderen Zeit.

Dennoch hatte er noch nie etwas von einer heiligen Arsi gehört.

„Komm, du verkaufst mich für dumm!“ Dr. Kanst lachte und bemerkte plötzlich, wie sich das Gesicht von Tina verfinsterte.

„Nein, bestimmt nicht! Das ist die hl. Arsi aus Slepvice. Das ist ein Ort in Bosnien. Dort erscheint die Heilige jeden Monat einem emeritierten Priester in einer Höhle. Sie beschützt uns und hält die bösen Mächte von uns fern! Du musst ja nicht daran glauben, aber so lange fünf blaue Kerzen brennen, ist sie in dem selben Raum zugegen!“ Tina stöckelte an dem verdutzten Dr. Kanst vorbei und rief den nächsten Patienten auf.

Eine Mitarbeiterin des Landratsamtes hatte einen Burn-out. Ein Routinefall, doch Dr. Kanst konnte sich nicht konzentrieren.

„Die hl. Arsi!???“, ging dem Psychologen nicht aus dem Kopf. Tina arbeitete nun schon fast acht Jahre bei ihm. Man konnte alles mit ihr durchstehen, doch gläubig war sie nie und auch bestimmt kein Kirchgänger. Er beschloss, alles über diese Figur aus Gips herauszufinden, denn in seinem Magen machte sich ein mulmiges Gefühl breit.

„11.03 Uhr!“ Tina hatte kurz die Tür aufgestoßen und schon eher schnippisch Alex Kanst an seinen so wichtigen Termin erinnert!

„Ich habe doch recht, oder? Herr Doktor?“, sagte die leicht übergewichtige kurzhaarige Mittfünfzigerin, welche auf dem schwarzen Ledersofa im Behandlungszimmer von Alex Kanst saß.

„Ja, natürlich! Das sehe ich genauso!“, bestätigte Dr. Kanst. Doch um was es eigentlich ging, konnte er nicht sagen, da er überhaupt nicht zugehört hatte. Auf seinem Block stand: Magarete Blümle, 54, fühlt sich gemobbt. Sachbearbeiterin im Umweltamt Referat 21 des Zollernalbkreises. Also alles in allem ein Routinefall für den Psychologen. Alex Kanst gingen immer noch die blauen Kerzen auf seinem Tresen im Kopf herum. Er lächelte Frau Blümle an.

„Deshalb sehe ich schon bald eine Lösung in Ihrem Problem!“ Dr. Kanst stand auf und streckte Frau Blümle seine Hand entgegen. Doch Frau Blümle war verdutzt und blieb sitzen.

„Ja, … aber, ich meine ... sind wir schon fertig?“

„Für heute, wir werden natürlich noch die eine oder andere Sitzung benötigen. Lassen Sie sich am besten gleich einen neuen Termin geben. Frau Flammer ist am Empfang!“ Dr. Kanst hatte bereits die Tür zu seinem Sprechzimmer geöffnet und die immer noch verdutzte, aber mittlerweile aufgestandene Frau Blüm sachte in den Korridor geschoben. Dann griff er nach seiner grauen Fließjacke. Eine neue Anschaffung aus dem Forstfachkatalog. Noch immer könnte er eigentlich alles aus diesem Katalog brauchen, und doch benötigte er eigentlich nichts mehr in seinem neuen Beruf. Er versuchte, sich seine Eile nicht anmerken zu lassen und ging betont und ruhig am Tresen vorbei, wo gerade Tina Frau Blümle einen neuen Termin im neuen Jahr schmackhaft zu machen versuchte. Tina sah nicht auf.

„11.18 Uhr!“, zischte es schadenfreudig hinter dem Tresen hervor.

Alex Kanst nahm die Treppe, nicht den Aufzug. Er war sich sicher, wenn er zwei Stufen auf einmal nehmen würde, dann würde er schneller als der hochmoderne Aufzug sein. Als er über den Kirchplatz rennen wollte, kam gleich eine ganze Kolonne von Autos und keines hielt an, obwohl dies eine Fußgängerzone war und eigentlich nur Anlieger durchfahren dürfen. Kurz dachte er an die so nette Frau vom Ordnungsamt, ob diese sich auch den so netten Autofahrern widmete oder nur einigen Falschparkern.

Jetzt schlug die Glocke der Hechinger Stiftskirche 11.30 Uhr. Dr. Kanst rannte, doch bremste noch einmal kurz vor der Tür des Büros der Seelsorgeeinheit ab. Noch einmal wollte er sich nicht den Kopf anschlagen.

Er hatte Glück, denn es war noch geöffnet. Als er den Raum betrat, fiel ihm als Erstes der modrige Geruch nach abgestandener Luft auf.

„Also, eigentlich haben wir schon geschlossen!“, krächzte eine Stimme aus der dunklen hinteren Ecke. Diese gehörte zu einer blassen dürren Frau um die 60, welche mit einem unheimlichen Aufwand an schwarzer Farbe und Lockenwicklern versucht hatte sich eine Frisur anzueignen.

„Zuerst einmal grüß Gott! Was können wir denn für Sie tun?“, sagte nun eine Stimme direkt vor ihm hinter einem billigen Tresen aus weißem Pressspanholz. Sowas wäre ja gänzlich unter seiner Würde. Sein Tresen am Empfang war natürlich aus 300-jährigem Eichenholz gezimmert.

Erst jetzt blickte er in das Augenpaar, das zu der Stimme gehören musste. Die Frau war aufgestanden, denn sonst hätte sie aufgrund ihrer Größe keine Möglichkeit gehabt, den Besucher zu sehen.

„Ja, ich würde gerne den Pfarrer sprechen!“, sagte Dr. Kanst mit belegter Stimme, dem seine Mission nun umso lästiger und peinlich erschien.

„Hmm, ja zu welchem möchten Sie gerne?“, fragte die pummelige Frau mit rundem Gesicht.

„Wieso? Gibt es mehrere?“

„Ja, also wir haben den Kaplan Müller, dann den Vikar Dr. Amuso, dann den Pastoralreferenten Röricht und …“

„Also er war ungefähr so groß und hatte einen Kinnbart!“, unterbrach Dr. Kanst und merkte, wie ihm plötzlich immer heißer wurde.

„Ja du, Myriam, der meint doch den Pfarrer!“, sagte nun die Schwarzhaarige. Dr. Kanst atmete tief ein: Hatte er was anderes gesagt.

„Ach so, Sie wollen zum Leiter der Seelsorgeeinheit, Herrn Kinder!“, sagte nun die Pummelige.

Aber genau das wusste er nicht, er hatte ja nicht nach dessen Namen gefragt, aber ein Leiter war immer der Chef und der würde diese lästige und peinliche Situation schon in den Griff bekommen.

„Ja, aber doch nicht an einem Montag!“, krächzte jetzt wieder die Schwarzhaarige. Alex Kanst war verwirrt. Doch er wollte, und zwar heute, jetzt also halt an einem Montag.

„Ich möchte den Herrn Pfarrer nur kurz in einer privaten Angelegenheit …“

„… Beerdigungen können wir diese Woche keine mehr annehmen, alles voll. Und überhaupt, waren Sie schon beim Bestatter? Weil der eigentlich alles direkt mit uns abstimmt, wissen Sie!“, krächzte nun schon wieder die Schwarzhaarige!

Das wusste Alex Kanst natürlich nicht, aber er war ja auch noch nicht beim Bestatter, sondern wollte nur den Pfarrer wegen Rita sprechen.

„Also es geht nun wirklich nicht um eine Beerdigung, sondern ..

„… Und Hochzeiten gehen erst wieder ab Mitte März bis zur Karwoche! Dann erst wieder ab …“

„Ich möchte auch nicht heiraten! Sondern nur kurz den Herrn, ähm Kinder sprechen! Mein Name ist Alex Kanst, Dr. Alex Kanst.“

„Uah!“, schrie nun die Pummelige plötzlich auf. Dr. Kanst wusste nun nicht, ob sein Name der Grund gewesen war oder ob diese Pummelige nun an einem Herzinfarkt herunterging. „Ist der Herr Pfarrer krank?“ Dr. Kanst atmete tief ein und wollte gerade zur Erklärung übergehen, als die Tür zum Büro erneut aufging und eine Frau um die Sechzig eintrat.

„Gelobt sei Jesus Christus!“, rief diese in den Raum, ohne dabei jemanden anzusehen. In ihrer rechten Hand hielt sie ein Prospektzettel von einem Discounter.

„In Ewigkeit, amen!“, antwortete das Büroteam im Chor. Dr. Kanst sagte nichts, wurde aber auch demonstrativ von der Frau als störender Faktor ignoriert.

„Also, ich will nur kurz dem Herrn Pfarrer den Prospekt geben. Bald ist Weihnachten und diese Woche gibt es billige Christbaumbeleuchtung bei einem Discounter. Mir ist es ja auch egal, man kann ja auch noch die alte nehmen.“ Die Frau legte den Prospekt auf den Tresen und verließ grußlos das Büro.

Die Pummelige griff sich den Prospekt und legte diesen in ein Fach.

„Tja, also noch einmal zu meinem Anliegen, es ginge da um etwas, das ich unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit dem Herrn Kinder besprechen möchte!“ Alex Kanst setzte sein besonders gutes Lächeln auf und ließ sein Augenbrauen dabei tanzen.

Jetzt bekam die Pummelige rote Bäckchen. Ein Zeichen für seinen Erfolg.

„Gott sei Dank, dann ist er nicht krank! Aber heute geht das nicht. Montags hat der Pfarrer immer frei. Also wenn Sie morgen wiederkommen wollen.“ Sie lächelte leicht schüchtern.

„Aber Myriam, heute ist doch der 23.!“

„Ah ja, der 23. Ja dann!“ Freudig lächelte die Pummelige nun wieder Dr. Kanst an. Dieser kullerte mit den Augen und sagte leise: „Ja, es ist der 23. November!“

„Ja, und an jedem 23. wird doch die Messe von der Arsi-Familie gelesen. Und das macht er immer, auch wenn er frei hat. Da können Sie natürlich zur Beichte gehen. Da beichten alle! Warten Sie, ich gebe Ihnen den Flyer!“ Die Pummelige drückte Dr. Kanst einen Flyer in die Hand und schob ihn leicht zur Tür hinaus.

„Der Gottesdienst beginnt um 19.00 Uhr in der Spittel Kirche. Aber schon vorher kann man beichten und sich eine Inspiration abholen!“

Nun stand er wieder auf dem Kirchplatz, und seine Mission war immer noch nicht erledigt. Doch er hatte nun einen Flyer von der „Arsi-Familie“? Alex Kanst war es ganz schummerig und die Stiftskirche schlug 12 Uhr mittags.

„Zeit zum Essen!“, dachte Dr. Kanst. Vor 14 Uhr gab es keine weiteren Termine. Tina fuhr in der Zeit immer zuerst in die Grundschule und dann nach Hause, um mit dem zehnjährigen Sohn zu essen. Anschließend fuhr sie diesen zu seiner Oma, um dann pünktlich um 13.45 Uhr die Praxis wieder zu eröffnen.

Dr. Kanst beschloss, es sich heute wenigstens zum Essen gut gehen zu lassen. Langsam ging er in Richtung des Obertorplatzes, wo er eine sehr gute Gaststätte kannte und dort schon fast als Stammgast bezeichnet werden konnte.

Nachdem sich die automatische Tür geöffnet und gleich hinter ihm wieder geschlossen hatte, wurde er von überall her freudig begrüßt. Ein „Hallo“ hier, ein „Grüß Gott“ dort. Noch gab es etwas Platz und er setzte sich in den hinteren Raum, welcher durch die große Glasfront nicht so einsehbar war. Beim Essen will man ja nicht beobachtet werden. Jetzt fiel ihm wieder die junge und gutaussehende Bedienung auf. Offensichtlich war er länger nicht mehr hier. Denn die Haare der jungen Frau hatten für seinen Geschmack nun wieder eine passable Länge angenommen. Wie hieß sie gleich noch? Dr. Kanst fiel es nicht ein.

„Irgendwas mit der Raumfahrt!“, dachte er, doch ein Ergebnis wurde daraus nicht.

„Darf ich etwas zum Trinken bringen?“ Die junge Frau hatte ein kleines Tablet und einen Stift gezückt.

Routiniert und noch in Gedanken sagte er:

„Klar, ein Hefe!“

„Klasse, kommt sofort!“ Noch ein Lächeln und die Speisekarte wurde Alex Kanst in die Hände gedrückt. Jetzt bemerkte er seinen Fehler: Ein Bier am helllichten Tag und dabei hatte er ja noch zu arbeiten. Geschweige denn von dem Problem mit der Kirche. Also dies ging nun wirklich nicht. Was war heute mit ihm los? Alles war aus den Fugen geraten, wie konnte er nur jetzt ein Bier bestellen? Er musste es rückgängig machen!

Sehr smart winkte er der Bedienung, als sie gerade Flädlesuppe am Nachbartisch verteilte.

„Das Hefe kommt gleich!“ Sie lächelte und verschwand in Richtung Theke. Und schon stand ein frisch gezapftes Hefeweizenbier 13 Minuten nach 12 Uhr vor Dr. Kanst. Wegschütten konnte er es ja auch nicht, also …

Dazu bestellte er sich vier Maultaschen geschnitten und mit Ei überbacken. Eine echte Monsterversion, aber seinen Nerven tat dies gut.

So langsam füllte sich auch die Gasstätte. Viele Büros und vor allem das Gericht machten erst um 12.30 Uhr Mittagspause. Gerade als er darüber nachdachte, was die Gasstätte hier wohl für eine Goldgrube wäre, huschte ein Schatten an ihm vorbei und setzte sich plumpsend neben ihn an seinen Tisch.

„Entschuldigung!“, drang es etwas entrüstet aus ihm heraus, als er bemerkte, dass es Frau Rieger, seine Rechtsanwältin war. Frau Rieger war etwas klein und schon sehr pummelig, aber eine Powerfrau, wenn es um Dinge ging, die man erstreiten sollte.

„Oho, Alkohol schon zu Mittag, also Alex, wo sind die Prinzipien?“

„Heute kurz ausgesetzt!“, sagte der Psychologe etwas barsch.

„Und die gute Laune auch?“, wollte nun Frau Rieger wissen.

Alex Kanst atmete tief ein.

„Nein eigentlich nicht, es ist nur so, dass ich da gerade einen komplizierten Fall habe, bei dem ich, naja, nicht so richtig weiterkomme!“

„Also, wenn ich da behilflich sein kann, jederzeit!“ Frau Rieger bestellte ein Wasser medium.

Frau Rieger ließ nicht eine Möglichkeit vorbeiziehen, um Werbung für die Kanzlei zu machen. Diese war erst kürzlich in das neue alte Haus, welches sein Steuerberater Sepp Birkner erworben und renoviert hatte, eingezogen. Alles neu und offensichtlich teuer, also benötigte man viele oder wenige, aber dafür ertragreiche Aufträge. Alex Kanst überlegte kurz und beschloss dann doch dankend abzulehnen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als heute im Penthaus zu schlafen und in die Unterstadt zu laufen, um an einem Gottesdienst teilzunehmen. Mit einem Bier im Blut würde er nicht mehr Auto fahren.

Ein weiteres Prinzip, das er nicht auch noch zu brechen gedachte. Und dann benötigte er noch unbedingt Sex. Sein Blick blieb am Po der Bedienung haften.

„Ein anderes Mal vielleicht!“, dachte er und winkte diese zu sich, um zu bezahlen.

Der Nachmittag verlief schleppend und trotz des Bieres fühlte sich Alex nicht so richtig auf der Höhe. Er hatte den starken Verdacht, dass eine Grippe oder seine jährliche und wirklich verhasste Bronchitis im Anmarsch waren.

Egal, beides wäre nicht gut. Dazu kam, dass er heute wieder keinen Sex haben würde, da er ja noch in eine Kirche musste und sich deshalb nicht verabreden konnte. Zu allem Überfluss hatte Tina heute, gerade heute, eine Stunde früher Feierabend gemacht.

Natürlich hatte sie mehr als genug Überstunden, aber er fühlte sich komisch allein. Die Anliegen der zwei Nachmittagspatienten hatte er gar nicht wahrgenommen und seine Standardsprüche aufgelegt.

Endlich, der Letzte war weg und nun war es sehr ruhig. Zu ruhig für ihn, zumindest heute. Auch war es an einem so trüben Tag bereits nach 15 Uhr dunkel geworden. Er als Psychiater wusste, was dies für die Psyche bedeuten konnte. Trübsal!

Doch eigentlich war er immun dagegen. Doch nicht heute! Es kribbelte ihn am ganzen Körper als versuchte sich sein Geist gegen das drohende Unheil zu stemmen. Melancholisch sah er zur Uhr, welche über dem Arbeitsplatz von Tina bereits 18.05 Uhr anzeigte.

„Gut, dass ich doch die vier Maultaschen genommen habe!“, dachte er, als er sich innerlich von einer guten schwäbischen Vesper verabschiedete. Er warf die Fließjacke über und wollte gerade aus der Praxis rennen, als ihm auffiel, dass er ja das Wichtigste vergessen hatte:

Sein Gotteslob!

Er wollte aus keinem anderen Buch den Lieder folgen, singen konnte man seine Aneinanderreihung von Lauten wahrlich nicht nennen. Dr. Kanst war der Inbegriff eines unmusikalischen Menschen. Dennoch ließ er es sich nicht nehmen, zumindest so zu tun, als sänge er. Aus seinem Buch! Aus seinem weinroten Gotteslob mit Goldschnitt. Auch wenn es diesen ja eigentlich nicht mehr gab, seit es vor vielen Jahren einmal darüber geregnet hatte.

Egal, es war sein eigenes, das, er von seiner Mutter zu seiner ersten heiligen Kommunion geschenkt bekommen hatte. Darin bewahrte er alle Bildchen auf, die man so im Laufe der Jahre, vor allem bei Beerdigungen, als Erinnerung bekommen hatte.

Das Gotteslob lag immer in der obersten rechten Schublade seines Schreibtisches.

„Himmelherr ...!“ Gerade konnte er noch einen Fluch unterdrücken. Eigentlich hasste er ja das Fluchen, doch ab und an entglitt auch ihm einer der schönsten schwäbischen Flüche, wofür er sich aber immer sofort danach hasste. Auch wäre ein Fluch vor einem Kirchenbesuch sicher nicht das Richtige.

Kein Gotteslob im ganzen Schreibtisch. Irgendjemand, also Tina, musste mal wieder aufgeräumt haben, und da er dieses Gotteslob ja vielleicht vor, ja sagen wir mal, zehn Jahren gebraucht hatte, war es jetzt „aufgeräumt!“

Sehr missmutig trabte Dr. Kanst am Tresen vorbei, wo die Uhr bereits 18.18 Uhr zeigte, als das Telefon klingelte.

„Geschlossen!“, rief er, als könnte dies der Anrufer hören. Doch das konnte dieser nicht und das Telefon hörte auch nicht auf zu läuten. Tina hatte vergessen, den Anrufbeantworter einzuschalten.

Gut, dann ließe er es halt klingeln, wenn, ja wenn da nicht seine Neugierde wäre:

„Praxis Dr. Kanst!“

„Hallo!“

„Hallo!“

„Du bist ja echt schwer zu erreichen, wo bist du nur?“

„In der Praxis, du hast ja die Nummer gewählt!“

„Ja, ich meine gestern!“

„Nicht in der Praxis, da war ja Sonntag!“

„Ja, aber in Onstmettingen warst du auch nicht, bist ja nicht an das Telefon gegangen!“

„Ich bin in Eile!“

„Immer bist du in Eile! Hast du noch Patienten?“

„Nein, aber ...“

„Ja dann hast du doch fünf Minuten Zeit für deine Mutter!“

„Mama, was gibt es?“

„Ich wollte nur fragen, wie machen wir es?“

„Was?“

„Ja, du weißt doch, wie wir es das letzte Jahr gemacht haben, also wie machen wir es dieses Jahr?“

„Wa-as?“

„Na das mit dem Heiligen Abend! Wir wären dann bei deinem Bruder!“

„Gut, dann wissen wir ja jetzt, wie wir es machen!“

„Aber bist du dann nicht allein?“

„Nein, bestimmt nicht!“

„Dann hast du wieder eine feste Freundin, ja! Bringst du diese mit, wenn wir am ersten Weihnachtsfeiertag essen gehen?“

„Wir gehen essen?“

„So haben wir es doch immer gemacht!“

„Gute Nacht, Mama!“ Alex hatte aufgelegt. Die Uhr zeigte 18.38 Uhr.

„Himm … mmmmmmm!“ Dr. Kanst unterdrückte abermals einen Fluch und rannte, da ihm der Glasaufzug zu langsam erschien, die Treppe hoch. Rechts neben der Penthouse-Wohnung befand sich das Archiv. Dort vermutete er sein Gotteslob. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er auch den passenden Schlüssel gefunden und aufgeschlossen.

Da! Da lag es, Gott sei Dank noch nicht archiviert. Jetzt schnell die Praxis schließen und dann los, er musste ja zu Fuß gehen, wegen dem Bier und den Grundsätzen.

Licht aus, Tür zu: Halt! Er hatte mit dem Hauptschalter das Licht in der ganzen Praxis ausgeschaltet, doch etwas leuchtete noch in Blau! Schnell machte er das Licht wieder an und da sah er das Problem. Darth Vader alias Arsi stand auf dem Tresen, umrahmt von fünf blauen Kerzen. Tina hatte vergessen, diese auszumachen, oder?

Stand die Figur nicht noch vorhin hinter dem Tresen unter der Uhr? Und da brannten doch keine Kerzen, oder? Er war nur kurz oben und hatte die Tür zur Praxis offengelassen.

Egal, die Haustür war ein Wunderwerk der Sicherheit. Also löschte er die Kerzen und knipste das Licht aus. Darth Vader ließ er stehen, bis morgen! Dann müsste er darüber diskutieren, was zu tun ist. Er möchte natürlich keine Heiligenfigur auf dem Tresen, aber er respektierte Tina sehr und deshalb wollte er keine Entscheidung über ihren Kopf hinweg treffen.

Es war 18.45 Uhr, als er auf den Kirchplatz durch die große Glasfront des alten Fachwerkhauses trat.

Nebel und ein kalter Hauch, als wäre es der Atem des Todes, schlugen ihm ins Gesicht. Instinktiv zog er den Reisverschluss seiner Fließjacke bis nach oben zu und setzte sich eine Fließmütze auf. Er musste sich jetzt sputen. Rechts am Rathaus vorbei, die Treppe runter, dann kurz am alten Schloss vorbei durch den unteren Turm und dann die Steige hinunter. Als er keuchend an der Johannesbrücke stand, traute er seinen Augen nicht:

Die Spittel Kirche lag im Dunklen!

Dennoch parkten überall, und wie er feststellte kreuz und quer, Autos. Jetzt war er schon fast froh, dass er ein Bier getrunken hatte, sonst wäre er bestimmt auch gefahren. Doch einen Parkplatz hätte er wohl nur in seiner Tiefgarage gefunden.

Dr. Kanst war verwundert: Es war ein Montag in einer normalen Werktagewoche in Hechingen, wo alle „normalen schwäbischen“ Menschen zur Arbeit gingen und danach auf die Couch und hier sah er eine Masse an Menschen in eine dunkle Kirche strömen. Und dass, obwohl die katholische, aber auch die evangelische Kirche ständig über angeblichen Mitgliederschwund klagten. Dies traf jedenfalls nicht auf Hechingen zu.

BB, RV, RT, TÜ, RW, Dr. Kanst las die Autokennzeichen, als er sich durch die parkenden Wagen zwängte.

Fest stand, es waren nicht nur Hechinger in der Kirche, wenn überhaupt. Es musste etwas Besonderes sein. Dr. Kanst blieb stehen und faltete seinen zerknüllten Flyer aus. Dort stand:

„Immer am 23. jeden Monat: ARSI-TAG im Spittel Hechingen - Komm auch DU!“

Das mulmige Gefühl, das ihn schon den ganzen Tag begleitet hatte, wurde stärker. Ob es an der Tatsache lag, dass er Jahre keinen Gottesdienst mehr besucht hatte. Die Heiligen Abende ausgenommen.

Dr. Kanst überquerte die Straße und reihte sich in die kleine Schlange ein, welche sich durch die Seitentür der Kirche zwängte.

Ein sehr dicker Mann mit hochrotem fleischigem Kopf stand wie ein Security-Mitarbeiter an der Tür und hielt diese auf. Offensichtlich kannte er die meisten Besucher, da er fast alle mit einem Handschlag begrüßte.

„Komm schnell rein, gleich geht es los!“ Dr. Kanst bekam auch einen ekligen feuchten Händedruck und einen kleinen Klaps auf die Schulter.

Kannte dieser Mann ihn? Er konnte sich jedenfalls an diesen nicht erinnern, und doch wurde er mit „du“ angesprochen.

Der Innenraum der Kirche war dunkel. Überall auf den Bänken standen kleine blaue Teelichter und auch vorne rechts leuchtete etwas Blaues. Es gab fast keinen Platz mehr und dies unter der Woche!?

Ganz hinten, in der zweitletzten Bank ganz außen rechts bekam er noch einen Platz. Als er sich setzte, bemerkte er, dass es wohl doch eher ein halber Platz war. Die ältere Frau neben ihm kaute und schmatzte an einem Menthol Hustenbonbon herum. Ein ekliger Geruch von Menthol und cremigen Salben benebelte seine Sinne.

Was tat er hier?

„Rita!“, schoss es ihm durch den Kopf und dann trat er auch schon aus der Bank und ging zielsicher auf den Beichtstuhl zu, welcher rechts am Kirchenschiff in die Wand eingelassen war. Wann war er zum letzten Mal bei der Beichte? Bei seiner Kommunion? Wahrscheinlich, ja! Halt, da gab es ja noch etwas ...

„Firmung! Genau, dort war ich das letzte Mal!“ Diesen Satz sprach Alex unkoordiniert und schon etwas laut vor sich hin, was ihm ein Allseitiges „Pssssst!“ einbrachte.

Instinktiv senkte er den Kopf, als würde dies ein Zeichen für Reue und Demut sein. Er überlegte, was man wohl bei einer Beichte tun musste. Da gab es Regeln! Ja genau und nun war er schon etwas stolz. Denn in seinem weinroten Gotteslob befand sich noch immer der Beichtspiegel! Ein kleines Heftchen, wo genau beschrieben war, wie eine Beichte abzulaufen hatte.

Jetzt stand er am Beichtstuhl, welcher aber keine Klinke hatte. Sollte er? Konnte er? Was, wenn da noch jemand drin war seine Sünden erklärte. Dr. Kanst suchte die Tür ab nach einem „Frei“-Zeichen oder so was ähnliches. Nichts! „Also dann!“, dachte er und wollte gerade an der Tür ziehen, wo in sehr schlechter Schrift ein Zettel klebte: Heute Beichte“, als er hinter sich wieder ein „Psst“ hörte.

Er hatte ja nichts gesagt also konnte dies nicht ihm gelten.

„Psst, he!“ Er drehte sich um und blickte in die verweinten Augen einer sehr dicken Frau. Diese deutete auf die zweite Reihe vor ihr und flüsterte:

„Hinten anstellen!“

Nun blickte auch der Psychologe in diese Richtung. Meinte die Frau etwa? Nein, dies konnte nicht sein! Sicherlich nicht!

„Entschuldigung, bitte?“ Dr. Kanst hatte sich etwas zu ihr heruntergebeugt und konnte nun schon wieder einen Geruch von Menthol wahrnehmen.

„Hinten anstellen! Zuerst diese Reihe, dann die vor uns und dann die erste!“, zischte nun diese und schaute weiterhin starr an den rechten Rand des Triumphbogens, welcher das Kirchenschiff und den Chorraum trennte.

Dr. Kanst traute seinen Augen nicht. Das mussten mindestens 75 bis 80 Menschen sein, die hier auf die Gelegenheit zum Beichten warteten. Plötzlich bekam er die Tür zum Beichtstuhl in den Rücken gestoßen. Ein älterer weißhaariger Mann zwängte sich mit ebenfalls verweintem Gesicht aus dem Beichtstuhl. Dann wurde er von der Dicken, Alten in die andere Richtung geschubst, als diese sich an ihm vorbei in den Ort der Sündenreinigung zwängte.

„Sehr christliches Verhalten“, dachte noch Alex, als ein lauter Gong durch die Kirche klang und gleichzeitig ein Beamer blaues Licht auf eine Leinwand strahlte.

„Ein Beamer in der Kirche?“

Als das Geräusch verklang, reckten plötzlich alle ihre Arme in den Himmel und in einem dumpfen Dröhnen riefen nun alle: „Aaaaaaaarrrrrrrrsiiiiiiii!“

Und tatsächlich, vorne, wo eigentlich die Statue der heiligen Maria immer stand, protzte jetzt eine lebensgroße Gipsstatue von Darth Vader alias Arsi.

„Komm glei goat´s loß. Do sitz de na. I han dr no an Platz!“,