Die Torstein Saga Band 1 - Oliver Grudke - E-Book

Die Torstein Saga Band 1 E-Book

Oliver Grudke

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Beschreibung

Ein magischer Stein rettet dem Jungen Marius das leben und bringt diesen in eine magische Parallelwelt. Dort hat das Böse keine Macht. Aber mit dem Auftauchen von Marius und seinem stein ändert sich das. eine wilde Jagd beginnt. und ein Kampf zwischen Gut und Böse. teil 1 der Torstein Saga

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Seitenzahl: 323

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Oliver Grudke

 

 

Die Torstein Saga Band 1

 

Anima homicida

 

 

 

© 2024 Oliver Grudke

 

Website: www.torsteine.de

Lektorat von: Nadine Senger Solingen

Coverdesign von: torsteine.de

Verlagslabel: torsteine.de, www.torsteine.deISBN e-BookDruck und Distribution im Auftrag des Autors:

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Oliver Grudke, Ebingerstraße 52, 72393 Burladingen, Germany. 

Die Torstein Saga Band 1

Anima Homicida

Eine Geschichte aus einer nahen und doch fernen Welt, die wir alle vielleicht eines Tages erkunden und kennenlernen werden.

Geschrieben und vielleicht erlebt von Oliver Grudke.

Einführung

Ist es Ihnen schon aufgefallen, in was für einer Zeit wir leben? Zugegeben es ist eine schnelllebige, stressige, moderne Zeit.

Besonders aber fällt mir auf, dass ein totaler Werteverfall um sich greift. Unsere Gesellschaft besteht nur noch aus Egoisten und Menschen, die von der Gier nach mehr, egal ob dies Geld, Erfolg oder Macht ist, gesteuert werden.

Hilfsbereitschaft und Freundschaft, ja sogar die Liebe verschwinden aus unserem Leben.

Ich übertreibe?

Nein im Gegenteil! Täglich erfahren wir aus den Medien von Krieg und Zerstörung, von Mord und Kindesmissbrauch.

Menschen werden auf bestialische Weise gequält und ermordet. Sie werden verfolgt und verhungern, während andere Gehälter beziehen, die annähernd die Größe von Staatsetats in der dritten Welt annehmen.

Wo leben wir? Im Jahre 2015! Sind wir moderner und aufgeschlossener? Oder degeneriert unsere Gesellschaft?

Eins jedoch ist sicher: Das Böse wächst und droht, die Macht zu übernehmen.

Eine Träne lief langsam über seine rote Wange. Er atmete schwer und zitterte, obwohl das Kirchenschiff geheizt war.

Er kam immer hierher, wenn er nicht mehr weiterwusste. Dann entzündete er eine Kerze vor der imposanten Figur der Mutter Gottes am rechten Seitenaltar. In der letzten Zeit kam dies immer häufiger vor. Seine Verzweiflung war groß, und er wusste keinen Rat.

Ein metallisches Knarren, das an das Stöhnen eines erschöpften Arbeiters erinnert, durchbrach die Stille.

Er blickte auf. Es war nur Julius, der Messner.

Julius, ein braungebrannter weißhaariger Zwei-Meter-Mann mit geschätzten siebzig Jahre kam langsam und ehrfurchtsvoll aus der Sakristei. Wie immer trug er eine Messneralbe, eine Art schwarzen Gehrock aus Leinen. Seine sehr große Hand hielt den langen goldverzierten Stab, mit dem die Kerzen am Hochaltar angezündet wurden, fest umklammert.

Julius erblickte Marius in der vorderen Kirchenbank. Marius, ein fünfzehnjähriger, für sein Alter sehr dünner Teenager mit blauen Augen und einem üppigen Haarbusch grüßte. „Grüß Gott Herr Hofer.“

Julius antwortete nicht. Er setzte sich neben Marius und schwieg. Gemeinsam nahmen sie die Wärme, welche die kleine Kerze ausstrahlte, in ihre Herzen auf.

„Hat er wieder getrunken?“, fragte Julius.

„Sehr viel! Und Mama hat er ins Gesicht geschlagen“, antwortete der Junge mit erstickter Stimme.

Nun konnte er nicht länger. Die Tränen liefen in Strömen und er schluchzte jämmerlich.

Da begann es.

Der grüne Stein, auf dem die Statue der Mutter Gottes stand, leuchtete. Es war ein warmes helles Licht. Die grüne Farbe leuchtete wie eine Wiese im April, wenn das Grün zu neuem Leben erwacht.

„Was ist das?“, wollte Marius wissen und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel seiner alten blauen Daunenjacke aus dem Gesicht. Julius blickte starr in den Chorraum. „Die Heilige Maria hat deinen Schmerz gesehen und wird dir helfen.“

Und tatsächlich - Marius ging es besser. Er verspürte eine wohltuende Wärme und neue Kraft.

„Komm“, sagte der Messner, „hilf mir“, und reichte Marius den Stab.

Nur zu gerne zündete Marius die Kerzen an. Es war seine Lieblingsaufgabe, wenn er in der Kirche helfen durfte.

Nach getaner Arbeit stellte Marius den Stab in die kleine Holzverkleidete Sakristei. Es duftete nach Weihrauch und alten schweren Stoffen. Eine eigenartige Mischung aus Düften, welche auf ihn beruhigend wirkte. Herr Hofer hatte den Safe, in welchem die Schlüssel der Kirche aufbewahrt wurden, offengelassen.

Sollte er? Nur für den Notfall! Wenn, ja nur wenn! Er drehte sich um, da er sicher sein wollte, dass ihn Julius nicht sah. Denn Julius war sein Freund. Er konnte immer zu ihm in die Kirche kommen und er hörte ihm immer zu, wenn er über seine Probleme zu Hause und von der Sehnsucht nach seinem Vater reden musste.

Schnell steckte der Teenager einen Schlüssel für die Kirchenseitentür ein. „Nur für den Notfall“, flüsterte er und sah zum spätgothischen Kreuz, welches auf dem Tisch aus Eichenholz stand. Marius bekreuzigte sich. „Gelobt sei Jesus Christus“, sagte er zu Herrn Hofer, der gerade die Sakristei betrat. „In Ewigkeit, Amen“, antwortete dieser. „Willst du nicht zum Gottesdienst bleiben?“ „Nein“, antwortete Marius. „Ich muss nach Mama sehen“, und ging durch den Ausgang der Sakristei.

Es lag viel Schnee in dem kleinen schwäbischen Dorf, wo Marius mit seiner Mutter lebte.

Und es war kalt. Mindestens minus zehn Grad schätzte er die Temperatur. Die Kälte machte einem das Atmen schwer, der eisige Wind peitschte in sein blasses Gesicht.

Er ging langsam. Sein Magen verkrampfte sich. Sein Angstgefühl wuchs mit jedem Schritt, dem er sich seinem Wohnhaus näherte. Ein Gefühl, dass einem in einer Sekunde das Adrenalin in die Adern schießt und in der anderen Sekunde einen lähmt. Ein Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Es wird einem heiß und zugleich kalt.

Oft hatte er sich gewünscht, einfach nicht mehr nach Hause zu müssen. Aber da war ja noch

seine Mutter.

Als er sich dem schäbigen kleinen alten Bauernhaus näherte, hatte Marius trotz der Kälte bereits Schweißperlen auf der Stirn.

Nach dem plötzlichen Tod seines Vaters hatte die Gemeinde „großzügigerweise“ seiner Mutter dieses Haus zur Verfügung gestellt. Er dachte oft an seinen Vater. An dessen Lachen und die langen Spaziergänge im Wald.

Aber sein Vater war tot, und die Gemeinde hatte nun einen neuen Förster. Oft hatte er diesen schon gebeten, ihn doch mal wieder mitzunehmen, vergebens. Offensichtlich mochte dieser keine Kinder.

Deshalb war er heilfroh, dass er bei Herrn Hofer einen Freund gefunden hatte.

Vorsichtig steckte Marius den Schlüssel in das Schloss. Ein alter großer Schlüssel. Jeder Einbrecher könnte das Schloss mit einem Dietrich leicht knacken. Er lachte und sagte leise: „Was es bei uns wohl zu holen gäbe?“

Behutsam öffnete und schloss er die alte Holztüre. Der Flur war kalt. Er stieg die Holztreppe langsam nach oben. Der alte grüne Teppich, welcher vor Jahren auf die Buchentritte aufgeklebt wurde, war abgenutzt. Das Knarren, welches seine Schritte verursachten, ließ sich deshalb nicht vermeiden.

Plötzlich flog die Küchentür auf. „Gott sei Dank“, flüsterte eine zitternde Stimme. „Da bist du ja.“ Ingrid Gruber umarmte ihren Sohn. „Du bist ja ganz kalt.“ Marius wurde von der hageren Frau mit ihren fettigen dünnen Haaren in die warme Küche geschoben. Ihr Mund war geschwollen, aber Marius sagte nichts. Er konnte nicht.

„Schläft er?“, wollte der Junge wissen

„Ja, schon seit vier Uhr“, entgegnete Ingrid.

„Du musst hungrig sein, oder? Ingrid ging zum Herd und stellte eine Pfanne darauf. Der alte Holzherd war ihr ganzer Stolz. Gab er doch Wärme und benötigte nur ganz wenig Holz. Auch wenn die Tür zum Schürloch schon lange nicht mehr in den Scharnieren hing und die emaillierte Farbe eher schwarz oder rostbraun war, Ingrid pflegte ihren Herd, als wäre es ein Porsche.

Marius zog seine Mütze aus und hing sie mit seiner Daunenjacke an den Nagel rechts neben dem Fenster, welcher als Garderobe diente. Ihre Küche war so heruntergekommen, dass Marius noch nie einen Freund mit nach Hause gebracht hatte. Auch das war nicht so schlimm, da ja niemand mit ihm befreundet sein wollte, außer Julius Hofer. Das ganze Leben der Familie Gruber spielte sich hier ab. Gerade im Winter, wo man die anderen Räume nicht heizen konnte, saß man nur in der Küche.

Der Junge setzte sich an den Küchentisch, welcher umrahmt von vier Stühlen mitten in dem kleinen Raum stand. An der Wand stand ein altes Sofa, welches mit einer abgewetzten roten Decke überzogen war. So sah man die Löcher nicht so deutlich.

Zwei Spiegeleier und eine Scheibe Brot vom Vortag. Mehr gab es nicht. Aber Marius beschwerte sich nicht. Das bisschen Geld, was seine Mutter durch Nähen verdiente, musste ja auch den Alkoholkonsum und die Unmengen an Zigaretten seines Stiefvaters decken.

„Er ist ein guter Mensch“, sagte Ingrid und setzte sich neben Marius. Dabei zitterten ihre Hände. Er sagte nichts und aß.

Satt war er nicht, war er eigentlich nie. Ein Junge in seinem Alter konnte viel essen. Er war ja im Wachstum, aber es gab nie genug.

Langsam stieg er die enge Stiege zu seiner Kammer hinunter. Sein Bett stand in einem feuchtkalten Raum im Keller. Es roch hier immer muffig, süß, feucht und irgendwie scharf, so als würde man in einer Sauna den Aufguss mit Curry herstellen.

Das Bettzeug war klamm, Marius jedoch war meistens so müde, dass er sofort einschlief und seinen Hunger vergaß.

Es war schon hell, als Marius aufwachte. Die Sonne streichelte die Bergkuppen und ließ sie in einem Farbenmehr von Orange bis Blutrot erstrahlen, fast als würden sie glühen. Das Naturschauspiel erinnerte ihn immer an die wärmende Glut im Ofen seiner Mutter.

Da alles im Hause so kalt wie in einem Gefrierfach war, beeilte er sich, um zum Frühstück in die Küche zu kommen.

Eine wohltuende Wärme erwartete ihn. Ingrid stand am Herd und werkelte eifrig. „Guten Morgen“, grüßte Marius. „Guten Morgen mein Schatz“, antwortete Ingrid und küsste ihn zärtlich auf die Stirn. Sein Stiefvater saß bereits rauchend auf dem Sofa und trank ein Bier. Zur morgendlichen Begrüßung hatte er einen Rülpser für Marius bereit. Hans Mayer würdigte den Jungen keines Blickes. Ein Mann um die Fünfzig, untersetzt mit einem unnatürlichen Bauch, welcher fast so aussah, als hätte er einen Medizinball verschluckt. Die Haare waren ihm fast alle ausgegangen, den rudimentären Rest wickelte er, als wären es Spaghetti, um den Kopf.

Ein weißes Feinrippunterhemd und eine speckige Jogginghose in Blau war seine tägliche Kleidung. In seiner rechten Hand glomm eine Zigarette. Hans Mayer zählte zu den Leuten, die sich eine Zigarette nach der nächsten ansteckten.

Marius konnte es sich nicht erklären, wie seine Mutter nach dem plötzlichen Tod seines Vaters, welcher stets ein ehrlicher und gutmütiger Mensch gewesen ist, an so einer Type hängen bleiben konnte.

Wahrscheinlich lag es daran, dass seine Mutter irgendwie ein Helfersyndrom hatte und als er eines Abends betrunken und hilflos vor ihrer Türe stand, sie sich verpflichtet fühlte, ihm helfen zu müssen. Ingrid suchte stets das Gute im Menschen. Auch sagte sie immer, dass er einen Vater brauchte.

Marius nahm seine minzfarbene Müslischüssel und begann ein Biomüsli zu essen. Dabei blieb er aber mit dem Rücken am Ofen stehen, um sich zu wärmen.

„Ingrid, ich brauche neue Kippen“, warf Hans Mayer mit einer tiefen melancholischen Stimme in den Raum. „Ich werde gleich welche holen“, antwortete seine Frau und riss sich bereits die Schürze vom Leib.

„Ach lass doch den da gehen.“ Mit dem da, oder der da war stets Marius gemeint. Hans Mayer sagte nie den Namen von Marius, für ihn war er nur ein notwendiges durchzufütterndes Übel.

„Aber Mutter“, sagte Marius, „ich muss heute Morgen doch Herrn Hofer in der Kirche helfen, das Christfest vorzubereiten. Ich bin eh spät dran.“

Ehe Ingrid antworten konnte, erschreckte sie ein lautes Knallen. Hans hatte nur knapp an ihrem Kopf vorbei die halbvolle Bierflasche an die Wand geknallt. „Du gehst jetzt sofort, und in der Kirche bei den Pfaffen hast du nichts zu suchen.“

Marius rannte so schnell zum Haus hinaus, dass er erst kurz vor der Kirche bemerkte, dass er keine Jacke trug und es war an diesem Heiligen Abend schon morgens unter minus zehn Grad.

Er würde sich verspäten, also wollte er kurz in die Kirche und Herrn Hofer Bescheid sagen. Mit einem unangenehmen Gefühl öffnete der Junge die rechte Seitentüre und betrat das Kirchenschiff. Es war ein komisches Gefühl, welches er so noch nie gespürt hatte, als würde eine Hand sein Herz umklammern und es einengen.

Es stank! Ja es stank ganz fürchterlich. Marius wusste nicht, woher dieser abscheuliche Geruch kam. Sonst roch es immer nach dem Weihrauch des Vortages oder nach Kerzenwachs. Er wollte nach Julius rufen, aber er konnte nicht. Sein Hals war trocken und seine Stimme versagte. Der Gestank wurde intensiver. Es roch nach verfaultem Fleisch und Eiter, nach Moder und Schimmel. Eine Mischung von Gerüchen, die man oft nur auf einer Müllkippe oder am Krankenbett eines Sterbenden riechen konnte.

Plötzlich sah er Julius. Er stand mit drei Gestalten, die eine braune Mönchskutte trugen, vor der Statue der Heiligen Maria. Julius gestikulierte wild und hatte einen sehr roten Kopf.

Einer der Kuttenträger drehte sich zum Messner um und richtete seine gebückte Haltung auf.

Nun war er fast so groß wie Julius Hofer. „Es geht nicht. Unmöglich. Lass es den Jungen tun“, zischte eine kalte flüsternde Stimme zu Herrn Hofer. „Nein er gehört nicht dazu. Ihr seid unfähig. Es muss gehen“, antwortete dieser und schrie plötzlich auf: „AUUU.“

„Herr Hofer“, brachte Marius nun endlich heraus. „Ah, Marius, mein Junge. Du kommst gerade rechtzeitig“, sagte Julius, der den Jungen endlich entdeckt hatte. In raschen Schritten kam er auf Marius zu. „Sei so gut und besorge mir noch kurz einen kleinen Christstollen aus der Bäckerei. Er ist bestellt und bezahlt.“ Mit diesen Worten wurde Marius aus der Kirche geschoben, und wie er feststellte, in eine bessere Luft.

Der Heilige Abend, einer der schönsten Tage im Jahr. Eigentlich. Marius hatte diesen Tag immer gemocht. Schon morgens duftete es in der geräumigen Wohnküche seines alten Hauses nach frisch Gebackenem. Gleich nach dem Frühstück durfte er mit seinem Vater in den Wald fahren und sie suchten gemeinsam den schönsten Baum der ganzen Welt aus. Marius durfte den Baum dann immer mit der Handsäge seines Vaters absägen. Sie lachten dabei und freuten sich auf eine Tasse Tee auf der Ofenbank in der Stube, während Marius Mutter den Baum schmückte. Dabei erwähnte sie mehrfach: „Was für ein schöner Baum dieses Jahr.“

Das war nun vorbei. Er konnte seinem Vater nicht helfen. Und doch war er so schnell ins Tal gerannt, wie er nur konnte. Aber es war weit. Und als endlich der Notarzt ankam, war sein Vater tot. Die Polizei sagte erschossen. Natürlich Selbstmord. Es war ja sonst niemand in dem verschneiten Wald. Marius war nur kurz im Unterholz, als der Schuss fiel.

Das war der Heilige Abend vor drei Jahren. Seit diesem Jahr wurde kein Christbaum mehr bei ihnen aufgestellt.

Marius hatte sich beeilt. Keine fünf Minuten hatte er zur Bäckerei und zurück gebraucht. Irgendwas stimmte nicht. Der Gestank, und was waren das für Mönche? Es fiel ihm auf, dass er eigentlich über seinen Freund Julius Hofer nicht viel wusste. Wenn er nicht in der Kirche war, so lebte er allein und zurückgezogen in einem kleinen baufälligen Haus aus den Fünfzigern.

Die meisten Leute im Dorf glauben sowieso, dass er sogar in der Kirche seine Mahlzeiten einnimmt. Aber das stimmte nicht. Eigentlich aß er nie. Ja, fiel dem Jungen auf, er ging nicht einmal zur Kommunion. Auch war Marius noch nie in seinem Haus. Julius hatte ihn noch nie eingeladen, und er hatte sich nicht getraut zu fragen.

Ganz in Gedanken lief er an der kleinen Bushaltestelle im Ort vorbei, als er plötzlich von einer Stimme angesprochen wurde. Später würde er sich erinnern, niemals zuvor eine solche liebevolle und zugleich erotische Stimme gehört zu haben. „Hallo Marius.“ Er blieb stehen und da saß sie! Eigentlich hatte Marius sich nie was aus Mädchen gemacht. Die meisten in seiner Klasse hänselten ihn, da er nie „MIT DER MODE“ gehen konnte. Es war einfach zu teuer. Auch war er zu schüchtern und zog sich dann lieber zurück. Ein bildhübsches Mädchen in seinem Alter, so schätzte er, mit langem goldblondem Haar und türkisfarbenen Augen wie die Lagune einer Südseeinsel kam auf ihn zu. Offensichtlich war sie etwas klein, denn sie trug über ihren Jeans hochhackige Stiefel. Ein weißer Mantel mit Fellkragen verhüllte ihren Brustkorb. Die modische rote Mütze auf ihrem Kopf fiel Marius nicht auf. Er sah ihr in die Augen, in türkis funkelnde Augen, welche eine Wärme und Nähe ausstrahlten, beruhigend und erotisch zugleich. Und da war es wieder: Seine Schüchternheit. Trotz der Kälte schwitzte er und bekam nur ein gekrächztes „Hallo“ hervor, das sich anhörte, als wäre er heiser. Sie umarmte ihn und küsste Marius auf die Wange. „Hm, tut mir leid, aber ich musste dich einfach drücken“, sagte sie. Marius wurde schwindlig, er wusste nicht, wie ihm geschah, und da er nun überhaupt nichts mehr sagen konnte, ergriff das blonde Mädchen die Initiative. „Ich weiß, du kennst mich nicht, aber ich kenne dich dafür umso mehr.“

„Also ich muss jetzt wirklich“, sagte nun Marius und versuchte ihrem sehr festen Griff zu entkommen. Der Junge befreite sich und wollte gerade losrennen, als sie zu ihm sagte: „Ich weiß das von deinem Vater, Michael, und es war kein Selbstmord!“

Nun wurde ihm erst richtig schlecht. Was passiert eigentlich hier, fragte sein Gehirn. Er musste sich setzen, wollte dies auf einem der Schneehaufen tun, und plumpste durch diesen hindurch, sodass nur seine Nase noch herausragte. Das Mädchen lachte. Sie lachte so herzhaft und wunderschön, wie Marius es noch nie gehört hatte. Es war ein nettes liebevolles Lachen. Ja es steckte an. Marius lachte auch. Es tat gut zu lachen. Zu lange war er traurig gewesen. Sie reichte ihm ihre Hand und half ihm auf. „Also“, sagte sie, „ich heiße Veronika, und ich muss dir einiges erklären.“

Sachen, die seinen toten Vater angingen, machten Marius energisch: „Wer bist du und woher kennst du meinen Vater?“, wollte er nun wissen, und seine Stimme klang jetzt nicht mehr schüchtern.

„Marius“, sagte Veronika, „wir müssen an einem Ort reden, wo wir ungestört sind.

„Wieso?“

„Weil Gefahr droht.“

„Von wem?“

„Marius, gibt es einen grünen Stein dort in der Kirche?“

„Hm, ja unter der Statue der Maria.“

„Gut, also wo sind wir ungestört?“

„Es gibt einen Hochsitz, den mein Vater gebaut hat, an unserem Wald, aber es hat sehr viel Schnee, und ich muss noch einiges erledigen, und …“

„Und?“

„… ach den findest du doch nicht.“

„Ist halb zwei okay?“

„Also halb zwei am Hochsitz im Kohlwald“

Plötzlich stand Herr Hofer an der Haltestelle: „Marius, mein Junge, wo bleibst du denn, ich …“ Er wurde leichenblass, als er Veronika sah. Sie blicke ihn mit einem stechenden Blick an, der einem durch Mark und Bein ging.

„Du, du, du hast hier nichts zu suchen“, stotterte Julius. „Verschwinde und lass den Jungen in Ruhe.“ Er packte Marius und zog ihn hinter sich her in die Kirche hinein.

„Was wollte das Luder von dir?“, wollte der Messner von Marius abfällig wissen. Eigentlich log Marius nie. Ja er konnte es eigentlich nicht. Seine Mutter sagte immer, wenn er die Unwahrheit sagte, würde man es ihm an der Nasenspitze ansehen, als ginge dort eine Lampe an. Ja und seinen besten und eigentlich einzigen Freund anzulügen, das ging ja gar nicht. Und dennoch - er log! Irgendein Gefühl in seinem Bauch sagte, er müsse jetzt lügen: Die ist in meiner Klasse und steht auf mich. Dauernd läuft sie mir hinterher.“

„So“, war die kleine Antwort von Herrn Hofer, und er schwitzte.

„Also ich muss noch nach Hause, meinem Stiefvater Zigaretten bringen, sonst gibt es Ärger! Gelobt sei Jesus Christus“, sagte Marius.

„Bitte sei pünktlich zur Messe zurück, in Ewigkeit Amen“, antwortete Julius.

Marius war verwirrt. Herr Hofer kannte das hübsche Mädchen offenbar. Aber ihn danach zu fragen, wäre so sinnlos, wie wenn er einen Stein gefragt hätte, das wusste der Junge. Er ging durch das Kirchenschiff vorbei an der Statue der Maria, als er wie versteinert stehen blieb. Der grüne Stein strahlte eine ungeheure Hitze aus. Alle Kerzen, welche um die Figur angebracht waren, waren geschmolzen.

Rasch verließ er die Kirche. Er rannte bis zu seinem Haus. Als Marius die Haustüre schloss, bemerkte er den Duft nach frisch gebackenen Plätzchen. Vorsichtig drückte er die Klinke zur Küche nieder und schlüpfte hinein.

Seine Mutter stand am Herd und holte gerade ein Blech frischer Plätzchen heraus. In ihren Haaren steckten Lockenwickler, denn am Christtag musste man ja gut aussehen. Der Stiefvater lag mit dem Gesicht zur Wand. Seine widerliche Jogginghose war so weit nach unten gerutscht, dass man sein Hinterteil sehen konnte. Er schnarchte, was sich anhörte, als würde eine Tür unaufhaltsam knarren.

„Na Marius, möchtest du gleich ein paar Plätzchen“, begrüßte Ingrid den Jungen. „Ja“, sagte Marius und griff gierig zu. „Hier sind die Zigaretten.“

„Danke.“

„Ich muss noch mal weg.“

„Vor der Kirche?“

„Ja, aber es geht nicht lange.“

Marius ging die Treppe hinab in sein Zimmer. Dort zog er seine Winterstiefel und zwei dicke Faserpelzjacken an, die ihm sein Vater, der Förster, geschenkt hatte. Eine hatte bereits Löcher, aber der Junge war sich sicher, er würde sich nie von ihr trennen.

Schnell lief er an der Scheune vorbei in den Garten. Von dort gelang er durch einen beherzten Sprung über den Bach auf die Wiesen unterhalb des Kohlwaldes. Von dort ging ein kleiner Trampelpfad hinauf in den Wald. Es lag viel Schnee. Aber der Junge war den Weg schon so oft gegangen, dass er ihn blind finden würde. Keine Spuren gingen seinen voraus. Klar, dachte er, die findet den Weg eh nicht. Dennoch genoss er den Spaziergang. Die Luft war kühl und rein und roch frisch und gesund. Die kraftlose Sonne blinzelte durch die verschneiten Äste der kahlen Bäume. Er ging ein Stück den Forstweg entlang, bis links drei große Koniferen standen. Es waren eine Fichte und zwei Douglasien, eine Baumart aus Nordamerika. Dennoch, die heimische Fichte stand dem Einwanderer in nichts nach. Mindestens vierzig Meter hoch und einen Stammdurchmesser von gemessenen fünfundneunzig Zentimetern konnte sie vorweisen. Hier ging der Fußweg nun sehr steil nach oben vorbei, an einem Hangrutsch mündete er schließlich auf den ausgedehnten Wiesen der Hochfläche.

Marius genoss am Waldrand die wunderschöne Aussicht. Eine verschneite Winterlandschaft lachte ihm entgegen. Die Schneekristalle funkelten in den Regenbogenfarben. Der Himmel war azurblau und die Fichtenwälder sahen aus, als hätte man sie mit Schlagsahne überzogen.

Einer dieser monotonen Fichtenwälder gehörte ihm. Bereits sein Großvater hatte die hungrige Wiese in den Fünfzigern, als die Landwirtschaft nicht mehr rentierte, aufgeforstet, und seinem Enkel Marius geschenkt. Den Hochsitz hatte er zusammen mit seinem Vater gebaut. Fast jeden Tag nach der Schule saß er hier, allein. Gerade wollte er die Wiese betreten, als er erschrocken zurückwich. Da saß er. Sein Vater hatte oft von Spuren berichtet, dennoch wollte es ihm keiner glauben. Aber es war einer. Ein ausgewachsener Luchs. Bereits seit Jahrhunderten war dieses schöne Katzentier in dieser Gegend ausgestorben. Und nun sah er einen. Aber war die Raubkatze für ihn gefährlich? Genau wusste er es nicht. Aber Marius hatte im Wald noch nie Angst. Angst machten ihm nur die Menschen. Das war ein Raubtier, das nie einzuschätzen war. Falsch und gemein und immer unberechenbar. Der Luchs mit seinem schwarzen Pinsel am Schwanz nahm ihn zuerst nicht zur Kenntnis. Er genoss offenbar die Sonne, welche seinen Pelz wärmte. Erst als Marius langsam durch den verharschten Schnee zu stapfen begann, öffnete er seine Augen. Er erhob sich mit dem Vorderkörper und sah den Jungen an. Wie zum Gruß nahm er eine Pfote hoch und ja, Marius dachte, er zeige auf seinen Hochsitz, um ihm Mut zu machen weiterzustapfen. Nun war der Teenager sicher, von der Katze drohte ihm keine Gefahr, und schon diese Begegnung lohnte sich hierherzukommen, und er war sich sicher, sonst kommt heute keiner mehr. Und doch ging er weiter. Fast zwanzig Minuten kostete ihn das Stück des Weges über die Wiesen. Im Frühjahr wäre es in zwei Minuten zu bewältigen sein.

Keine Spur außer seiner war zu sehen. Sogar die Rehe waren nicht auf der Hochebene. Zu viel Schnee. Langsam kletterte er die Leiter empor. Obwohl der Hochsitz nicht geschlossen war, hatten sie diesen direkt in den dichten Fichtenwald, in die grünen Kronen gebaut, welche sogar den Schnee abhielten. Er setzte sich auf die hölzerne Bank aus Rundholz. Genau fünfzehn Minuten würde er warten, dann musste er zurück. Ganz in Gedanken betrachtete er die wunderschöne Natur, die ganz in ein fantastisches Winterkleid gehüllt war. Die Sonne verlieh all dem noch einen warmen Glanz.

„Hallo Marius. Schön, dass du gekommen bist“, sagte die ihm bekannte Stimme. Er beugte sich nach rechts und unten an der Leiter stand Veronika.

„W...W..-Woo, ähm wo kommst du jetzt her“, stammelte der Junge.

Sie zeigte auf die andere Richtung als aus welcher Marius gekommen war.

„Das kann gar nicht sein. In dieser Richtung ist zehn Kilometer nur Wald! Verschneiter Wald“, sagte der Teenager schnippisch.

„Darf ich raufkommen?“

„Klaar!“

Veronika setzte sich neben den Jungen. Ihr Parfüm vernebelte seine Sinne. Sie hatte ihre langen Haare mit einem glitzernden Haarband zusammengebunden.

„Also!“, begann der Junge. „Was weißt du über meinen Vater?"

„Marius, dein Großvater war auch Messner, ja!“

„Ja!“, antwortete Marius mit belegter Stimme.

Eine Träne lief über seine Wange. Sein Großvater Konrad war erst kurz vor seinem Vater gestorben. Auch ihn hatte er gefunden. Er war in der Kirche von der Leiter gestürzt. Auch ihm hatte er wie jetzt Herrn Hofer geholfen. Blutverschmiert wollte er noch etwas zu Marius sagen. Doch vergebens. Marius konnte die Worte nicht verstehen.

Marius zitterte und weinte.

Veronika hatte ihre Strickhandschuhe, auf denen ein komisches goldenes Wappen aufgestickt war, ausgezogen und hielt die Hand von Marius.

Da war es wieder. Ein unheimliches Kraftgefühl kam in ihm auf und gab ihm Stärke.

„Und dein Urgroßvater war auch Messner, ja!“

„Ja, genau!“

„Warum wurde dann dein Vater nicht auch Messner?“

„Na ja, da war plötzlich Julius, und den haben sie dann vom Pfarrgemeinderat angestellt. Vater wollte schon, aber es ging alles sehr schnell.“

„Genau wegen dieser Sache bin ich hier! Marius, dein Großvater und auch dein Vater waren Steinhüter!“

Marius grinste. „Was waren sie?“

Veronika wurde ernst. Sie kniff ihre Augen zusammen und bekam rote Wangen.

Es geht um den grünen Stein, auf dem die Statue der Mutter Gottes in eurer Kirche steht. Marius, du musst mir den Stein geben!“

Das war zu viel. Marius konnte viel ertragen, aber wenn jemand DU MUSST zu ihm sagt, dann wurde er stur.

Auch wurde es ihm jetzt klar. In der Zeitung hatte es gestanden, dass in der letzten Zeit viele Kirchen ausgeraubt wurden. Jetzt wollen ihn die Verbrecher dazu benutzen, die Kirche zu berauben.

„Du hast mich reingelegt. Ich soll meinen besten und einzigen Freund hintergehen und betrügen. Niemals!“, sagte Marius erregt. „Lass mich bloß in Ruhe!“ Marius kletterte den Hochsitz hinunter und stapfte in Windeseile über die verschneite Hochebene, so schnell, dass

er bereits im Wald verschwunden war, als Veronika unten am Hochsitz ankam.

Die Schatten waren schon lang. Die Berge auf der anderen Talseite begannen schon in der untergehenden Sonne zu glühen. Es wurde merklich kühler. Die Luft roch frisch und angenehm. Veronika schaute lange in die Richtung, wo Marius verschwunden war.

Langsam näherten sich Schritte. Eine Gestalt kam aus dem dichten Fichtenwald. „Es wird doch schwieriger als du gedacht hast!“ Veronika drehte sich nicht um. „Ich weiß. Du hattest wieder mal recht, Harms. Lass uns gehen.“

Marius fühlte sich benutzt. „Woher wussten die so viel über mich? Woher kommt sie? Ich muss Herrn Hofer warnen und die Polizei informieren, dass eine Verbrecherbande die Kirche bestehlen will.“

Er rannte in einer solchen Eile, dass er erst durch lautes Krachen und eiskaltes Wasser wieder zu Sinnen kam. Er war durch das Eis des kleinen Baches hinter seinem Haus gebrochen.

„Mist!“, sagte er. „Das auch noch.“

Langsam schleppte er sich mit seinen nassen Sachen die Hintertreppe zur Küche hoch. Es duftete nach frisch gebackenen Plätzchen.

Sein Stiefvater lag noch immer auf dem Küchensofa. Auf dem Boden vor dem Sofa lagen nun mittlerweile fünf leere Bierflaschen.

„Mein Gott Junge, wie siehst du denn aus!“, rief Ingrid Gruber.

Marius wurde gepackt und vor dem Ofen in Windeseile ausgezogen.

„Du kommst noch zu spät zur Ministrantenprobe in die Kirche!“

Sie hatte bereits seine Festtagskleider hergerichtet und steckte ihn hinein. „Jetzt aber los!“

Marius rannte zur Kirche hinunter. Er wollte sich nicht verspäten.

Bereits am Eingang der Sakristei hörte er ein Stimmengewirr. Normal war das ein Ort der Ruhe, jedoch bei einer Ministrantenprobe ging es meist zu wie in einer Umkleidekabine in einer Turnhalle.

Marius zwängte sich durch die anderen hindurch und wollte gerade sein Gewand anziehen, als er mit einer enormen Wucht von hinten gestoßen wurde, sodass er mit dem Gesicht auf den Schrank aufschlug.

„He Gruber, war das deine Freundin?“, sagte Alexander. Er war der Inbegriff des Wortes Fettleibigkeit. Alexander schwitzte sogar heute, obwohl es minus zehn Grad hatte.

„Waas?“, schrie Michael „Der Gruber soll eine Freundin haben. Ha! Wer will denn mit so jemandem befreundet sein. Schau ihn dir doch mal an, in so Lumpen würde ich nicht einmal die Schweine füttern, schon gar nicht eine Christmette besuchen!“

Marius wollte sich gerade zur Wehr setzen, als Pfarrer Honse in die Sakristei kam. „Gelobt sei Jesus Christus!“

„In Ewigkeit Amen!“, antwortete der Chor der Knaben.

Pfarrer Honse war sehr klein, dafür fand er fast alles lustig und lachte gerne.

„Herr Hofer verspätet sich, aber ich denke, wir schaffen die Probe auch ohne ihn. Äh Marius, bitte mach du den Weihrauchdienst, nimm aber nicht die Arabica-Sorte wie das letzte Mal, von der wird mir immer schlecht, hahaha!“

Die Probe fand mit den üblichen Fehlern und Patzern statt. Pfarrer Honse meinte nur: „Ohne Fehler wäre es keine Generalprobe, hahaha!“

Herr Hofer war noch immer nicht da, und Marius fragte sich, was ihn wohl an einem so wichtigen Tag aufhält.

Ingrid hatte sich ihre Haare gerichtet. Sie öffnete das Fenster. Die Glocken läuteten schon. Gut, da habe ich ja noch Zeit, auf meinen angestammten Platz in der Kirche zu kommen. Sie zog einen wunderschönen violetten Hut auf. Sie mochte Hüte. All ihre Hüte hatte ihr der Vater von Marius geschenkt. Er fehlte ihr! Schnell räumte sie noch die leeren Bierflaschen auf, ging die Stiege hinunter und schloss die Haustüre von außen zu.

Unbemerkt näherte sich eine große dunkle Gestalt mit schwarzem Gehrock der Hintertüre zu dem Haus von Marius.

Sachte stieg sie die Hintertreppe empor und betrat die Küche. Hans schnarchte und im Herd brannte ein lustiges Feuer.

Die großen Hände der Gestalt packten einen der hölzernen Küchenstühle, hoben diesen hoch und schlugen mit einer solchen Wucht auf den Schlafenden, dass der Stuhl zerbarst. Durch die Wucht des Aufpralls und der Federung des Sofas wurde Hans hochgeworfen und schlug dann hart auf dem Boden auf. Er blutete.

„Waas, w…wer?“, stammelte er.

„Du elendiger Faulpelz!“, sagte die Gestalt. „Wie lange willst du noch warten?“

„Iiiich arbeite dran!“, sagte Hans und versuchte aufzustehen. Da bekam er das Stuhlbein mit Wucht ins Genick.

Stöhnend fiel er auf das Gesicht.

„Bitte, bitte ich mach ja alles!“, flehte Hans.

„Uns läuft die Zeit davon. So lange haben wir daran gearbeitet, alles bis ins Detail geplant. Und jetzt ist sie hier und will meinen Plan zunichte machen.“

„Wer ist hier?“

„Die junge Fürstin, von ihr geht viel Gefahr aus. Du wirst es heute noch erledigen!“

„Gut, ja ich werde es gleich tun!“

Die Gestalt zog nun unter dem Gehrock ein blutverkrustetes Beil hervor.

„Ja und ich werde dafür sorgen, dass du den Auftrag nicht wieder vergisst, haha!“

„NEIIIIIIIN!“

Doch bevor Hans sich wehren konnte, hatte die Gestalt ihm drei Finger an der linken Hand abgeschlagen.

Hans schrie vor Schmerzen und blutete stark.

Die Gestalt packte den weinenden Hans, zerrte ihn zum Herd. Sie öffnete den Herd und steckte die blutende Hand hinein. „So jetzt ist die Blutung gestoppt, hahaha!“

„Heute noch!“

Hans schrie jämmerlich und nickte. Er hatte den Befehl verstanden.

Er hatte unheimliche Schmerzen, aber er wusste, was zu tun war.

Marius hatte die Kohle für das Weihrauchfass angezündet, und schwenkte es hin und her.

„Ich muss unbedingt Julius warnen, aber wo bleibt er bloß?“

Pfarrer Honse über seinen Verdacht zu informieren wäre sinnlos, das wusste Marius. Der Pfarrer schwebte manchmal in Gedanken in einer anderen Welt.

„Nun“, sagte der Pfarrer, „müssen wir wohl ohne Messner anfangen.“

Der Gottesdienst begann.

Marius ließ seinen Blick in der Kirche schweifen und sah seine Mutter auf ihrem angestammten Platz. Und, er erschrak, in der rechten ersten Bank, da stand sie. Veronika!

Und neben ihr stand ein komischer Kauz. Er war mindestens einen Kopf kleiner als Veronika. Seine roten Haare waren zu geflochtenen Zöpfen zusammengebunden und hingen an den Ohren herunter. An seiner rechten Backe befand sich eine Tätowierung. Marius fand, es sah wie ein Irrgarten aus. Er trug einen dicken Fellmantel aus weißem Tierhaar. Seine hohen Lederstiefel waren schon so oft eingefettet worden, dass sie sehr speckig wirkten. Veronika hatte rote Wangen und sah Marius fordernd mit zusammengekniffenen Augen an.

„Mist“, dachte der Junge „Wie soll ich jemanden warnen, mitten in der Christmette?“

Der Gottesdienst verlief ohne weitere Zwischenfälle. Zum Abschluss bekam noch jeder Ministrant von Pfarrer Honse ein kleines Geschenk.

Die anderen Ministranten rannten danach gleich nach Hause. Marius eilte es nie. Zu Hause war nichts, auf was er sich freuen konnte. Da half er lieber seinem Freund Julius.

„Herr Hofer, ich muss Sie warnen.“

„Warnen, ja vor was“, sagte der Messner.

„Ich, es tut mir ja so leid, aber ich habe sie heute Morgen belogen. Das Mädchen geht nicht in meine Klasse. Ich weiß auch nicht, warum ich geflunkert habe, aber sie gehört zu einer Verbrecherbande, die den grünen Stein dort stehlen will.“ Marius zeigte auf die Statue der Mutter Gottes.

Julius seufzte, und wirkte plötzlich matt. „Schon gut, mein Junge. Ich danke dir. Ich werde ab jetzt besonders aufpassen und die Polizei informieren.“ Herr Hofer hatte sich in die erste Bank gesetzt. „Geh jetzt nach Hause, Marius, ich bin gleich fertig.“

Marius zog sich in der Sakristei seine schäbige Winterjacke über und ging durch die Sakristeitür nach draußen.

„Marius, warte!“ Veronika kam plötzlich hinter der serbischen Fichte, die an der Tür stand, aus dem Dunklen hervor.

„Lass mich bloß in Ruhe. Ich habe den Messner gewarnt und die Polizei ist auch schon informiert!“

Veronika lachte. Ihr Lachen war warm und beruhigend.

„Oh die Polizei, ja dann müssen wir wohl Angst haben.“

Sie zündete sich mit einem großen goldenen Feuerzeug eine Zigarette an. Ein Menthol-Geruch stieg Marius in die Nase.

„Hee! Weißt du nicht, dass wir in unserem Alter nicht rauchen dürfen, und ... man, woher hast du das gestohlen?“

Veronika wurde wütend und bekam rote Wangen. Mit zusammengekniffenen Augen antwortete sie so leise, dass es fast bedrohlich klang: „Hör mal, noch mal zum Mitschreiben, ich stehle nicht, habe noch nie gestohlen und werde es auch nie tun. Das Feuerzeug habe ich von meinem Vater bekommen. Okay?“

Marius zuckte mit der Schulter. „Na ja, mir kannst du ja viel erzählen.“

„Marius, hör auf dein Herz. Dein Herz möchte mir vertrauen! Ich weiß das“, sagte Veronika und drückte die Hand von Marius. Diesem wurde es ganz warm. „Du musst mir den Stein geben.“

„Ich muss gar nichts!“, entgegnete Marius und rannte los. Irgendwie war es ein rotes Tuch für den Jungen, wenn man du musst zu ihm sagt.

Veronika stand mit zugekniffenen Augen da und starrte dem Jungen nach. Plötzlich trat der Rothaarige aus der Dunkelheit hervor. „Wir brauchen doch einen neuen Plan, Hoheit.“

„Wir haben keine Zeit. Heute ist eine besonders dunkle Nacht“, sagte das blonde Mädchen mit den türkisenen Augen. Harms schaute an den Himmel. „Hm, na ja es ist halt Winter!“

„Oh Harms, komm lass uns gehen, mir ist kalt.“

Marius rannte. Es war kalt. Und in seinem Gehirn ging es drunter und drüber. Sie hatte recht, ja sein Herz wollte ihr vertrauen, aber eigentlich war alles, was sie erzählte, verrückt. Er wollte gerade die Klinke drücken, als er feststellte, dass die Haustüre verschlossen war. Komisch, dachte Marius, Mama weiß doch, dass ich noch komme.

Also öffnete er den Fensterladen am Fenster rechts neben der Tür. Dahinter hing immer der Ersatzschlüssel, schloss auf und ging leise die Stiege empor. Im dunklen Schatten des Nachbarhauses stand eine große Gestalt mit langem Gehrock und beobachtete das Geschehen. Es brannte kein Licht und der Junge vernahm auch nicht das Geräusch des Fernsehapparates, normalerweise schaute seine Mutter noch lang fern. Gerade heute, wo doch die Christmette live aus Rom übertragen wird.

Es war viel zu still. Plötzlich vernahm der Junge ein leises, röchelndes Wimmern. „Mama? Bist du da?“

Er versuchte den Lichtschalter zu finden, tastete an der Wand entlang und fand ihn.

Als er draufdrückte, ging alles sehr schnell.

Hans Gruber stand hinter ihm und packte ihn am Hals. Marius röchelte und strampelte. Er schlug mit seinen Fäusten auf die Fratze des Stiefvaters. Dieser grinste nur hämisch. „Jetzt gehst du mit und tust, was ich sage! Oder ich schlage dich windelweich!“ Marius bemerkte, dass Hans ein blutverschmiertes Handtuch um seine linke Hand gewickelt hatte. Instinktiv schlug er mit aller Kraft dagegen. Hans Gruber schrie auf und ließ den Jungen aus seiner Umklammerung. Hans fiel vor Schmerzen auf die Knie.

Marius erschrak. Seine Mutter kauerte in der Ecke der Küche. Ihr Gesicht war blutverschmiert und geschwollen. „Mama, was hat er dir angetan?“, stammelte er. Kaum hörbar und mit dumpfer Stimme sagte Ingrid: „Lauf, mein Junge! Schnell lauf weg! Tu, was ich dir sage.“

Hans richtete sich wieder auf und wollte Marius packen, als dieser schlüpfrig, wie ein Aal, ihm zwischen den Händen durchglitt und die Stiege nach unten rannte. Nein er rannte nicht, er sprang vom obersten Tritt bis zur Haustüre in einem Satz.

Er war unruhig. Etwas stimmte nicht. Langsam ging er zum Eingang der Höhle und betrachtete den Himmel. Jetzt wusste er es. Er musste sich beeilen. Gefahr drohte.

In großen Sprüngen kämpfte er sich durch den hohen Schnee in Richtung des Dorfes.

Marius wollte gerade durch die Haustüre ins Freie treten, als ihm irgendwas zum Stolpern brachte. Er fiel auf den verschneiten Bürgersteig.

Hans packte den Jungen am Hals. Marius röchelte und bekam keine Luft.

Plötzlich, aus dem Nichts, sprang etwas auf Hans zu. Es setzte sich in seinem Gesicht fest. Er schrie jämmerlich und fiel rücklings auf die Straße. „Eine Katze“, dachte Marius.

Das Schreien wurde schlimmer. Es wurde von dem Geräusch, das die Krallen beim “Graben“ im Gesicht von Hans Gruber verursachten, begleitet. Marius zuckte! Es war der Luchs. Der Luchs von heute Mittag war ihm zu Hilfe gekommen.

Marius rannte los. Wo soll ich bloß hin? Ich brauche Hilfe, dachte der Junge.

Auf einmal hatte er den Schlüssel in der Hand. Der Schlüssel der Kirche, den er gestern eigesteckt hatte.

Dort war ein Telefon, von dort konnte er Hilfe holen.

Schnell schloss der Junge die Tür auf und verriegelte sie sofort wieder hinter sich. Marius hatte Angst. Er zitterte und seine Füße wollten ihm nicht mehr gehorchen. Er konnte seine Tränen nicht mehr verbergen. „Papa, du fehlst mir so“, schluchzte Marius.

Normalerweise leuchtete nur das rote ewige Licht im Chorraum, und vielleicht noch ein paar Opferkerzen. Doch jetzt war es anders. Das ganze Kirchenschiff war in ein grünes Licht gehüllt.

Vorsichtig ging der Teenager nach vorne. Tatsächlich, der Stein, auf dem die Statue der Maria stand, leuchtete. Aber das Leuchten war stärker als gestern.