Im Auftrag des Herrn Messner Bartholomäus ermittelt - Oliver Grudke - E-Book

Im Auftrag des Herrn Messner Bartholomäus ermittelt E-Book

Oliver Grudke

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Beschreibung

Sailingen, ein katholisches Dorf auf der Schwäbischen Alb. Hier ist die Welt noch in Ordnung. Bis ein grässlicher Mord geschieht. Doch das vermeintliche Mordopfer spaziert an Ostern munter zum Stammtisch. Wer ist der Tote? Kommissarin Bruckner ermittelt und wird durch Ihren Onkel den Messner und die schwäbischen Gepflogenheiten immer wieder ausgebremst.

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Seitenzahl: 325

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Oliver Grudke

… und am dritten Tage auferstanden von den Toten

© 2024 Oliver Grudke

Website: www.torsteine.de

Lektorat von: Nadine Senger Solingen

Coverdesign von: torsteine.de

Verlagslabel: torsteine.de, www.torsteine.de

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Oliver Grudke, Ebingerstraße 52, 72393 Burladingen, Germany.

Büro irgendwo auf der Schwäbischen Alb,

kurz nach Mitternacht

„Schau, so geht es doch.“ Ein älterer Mann mit hochrotem Kopf zog einen Bleistiftstrich auf einer Karte.

„Das kriegst du nie durch. Nie!“, entrüstete sich ein zweiter, schlanker Mann mit graumelierten Haaren.

„Ich krieg alles durch. Man muss wissen, wo man sich hinwenden muss.“

„Hinwenden? Du meinst bei wem man am besten schmieren muss. Ich mach da nicht mit.“

„Ha. Dir bleibt keine andere Wahl. Du steckst doch auch mit drin. Das Projekt macht uns alle reich. Uns alle.“

„Mir ist schon geholfen, wenn du endlich meine Rechnung bezahlst.“

„Dein scheiß Geld kriegst du noch bald genug. Erst will ich das hier in trockenen Tüchern haben.“

„Das hier ist ein FFH-Schutzgebiet. Da kann man nicht drüberbauen. Punkt.“

„Dann mal die Karten anders.“

„Bist du von gestern? Karten anders malen. Da sind überall GPS-Daten. Das Landratsamt merkt das schneller als du dein Bier trinken kannst.“

„Aber wenn man die Grenze des Schutzgebietes neu ziehen würde, und dann den Bebauungsplan ändern würde. Dann könnte ich bauen.“

„Schon, aber das ist unmöglich.“

„Wie gesagt, nichts ist unmöglich.“

„Ja und wenn, das sind alles private Obstwiesen. Die verkauft keiner.“

„Preisfrage.“

„Ach ja? Ist so viel Geld vorhanden? Dann bau doch in Ringstetten. Ich plan dir das auch wieder, aber erst will ich das Geld hierfür.“ Der schlanke Mann haute mit der flachen Hand auf den Tisch.

„Dein scheiß Geld kriegst du noch früh genug“, brüllte der dickere Mann. Sein Kopf war nun so rot, dass er zu platzen drohte.

„Echt? Tja kürzlich im Engel beim Stammtisch kam das Gerücht auf, dass bei dir die Bank Sperenzien macht. Und was passiert, wenn die spitzkriegen, dass du nur bauen kannst, wenn das Schutzgebiet verlegt würde. Bauen oder pleitegehen. Ist es nicht so?“

Der dicke Mann packte den anderen mit beiden zu Fäusten geballten Händen und drückte diesen an die Wand.

„Ich warne dich! Wenn du das Maul aufmachst, schlag ich dich tot.“ Die Augen des Mannes quollen nun vor Wut fast aus ihren Höhlen. Dann drückte er zu und immer weiter zu. Der andere röchelte und begann wild um sich zu schlagen. Und kämpfte um sein Leben.

Bei jedem seiner Schritte quietschten die neuen schwarzen Lederschuhe auf dem hellbraunen Steinboden.

Doch um diese Zeit störte es noch niemanden, denn niemand war da.

Niemand saß in der großen barocken Dorfkirche von Sailingen, einem kleinen Dorf auf der schwäbischen Alb. Auf der katholisch hohenzollerischen Seite der schwäbischen Alb. Darauf legte der Mesner Bartholomäus Rädle großen Wert. Eigentlich gab es für ihn außerhalb der katholischen Welt nichts.

Natürlich war das ein eher unfrommer Wunsch, und genau genommen wusste er es ja besser. Denn es gab das Nachbardorf.

Ringstetten. Württembergisch und evangelisch.

In Bartholomäus Augen ein unmöglicher Flecken. Und noch unmöglicher war Fritz Ringwald. Küster in der hässlichsten Kirche Deutschlands. Wieso die Evangelischen überhaupt einen Mesner oder wie es bei denen heißt „Küster“ benötigten, konnte sich Bartholomäus selbst in seinen kühnsten Fantasien nicht ausmalen. In einer evangelischen Kirche gab es ja nichts zu tun.

Es gab keine Heiligenfiguren, keine Marienverehrung, keinen Rosenkranz, den man beten konnte. Keinen Weihrauch, kein ...

„Hergottzack!“, fluchte er und konnte gerade noch die sich über eine automatische Uhr selbst einschaltende Glocke wieder abstellen. In seiner linken Hand hielt er seine Taschenuhr.

Eine goldenen Taschenuhr, die er von seinem Vater, und der von dessen Vater bekommen hatte. Und darauf war er stolz.

So stolz nun bereits der dritte Mesner in der Familie sein zu dürfen, und das seit über vierzig Jahren.

„Neimodisch Glomb!“, brummte er und dann als der Zeiger auf seiner Uhr auf halb stand, schaltete er die Glocke wieder ein. Mit einem zufriedenen Lächeln drehte er sich um und schaute schuldbewusst auf ein kleines gotisches Kreuz, welches die enge Sakristei zierte.

„Entschuldigung Herr, aber seit meinem Großvater geht die Taschenuhr genau. Die neumodische Atomuhr kommt da nicht mit. Ich verspreche heute Abend auch ein extra Vater Unser zu beten.“ Bartholomäus bekreuzigte sich. Dann drehte er das Kreuz etwas nach rechts. Zum Vorschein kam eine kleine Nische, in der eine antikgrüne Flasche stand. Vorsichtig holte er diese nach vorne. Dahinter standen kleine Gläser. Er öffnete die Flasche und füllte eines der Gläser damit.

„Nur ein halbes, wegen dem Kreislauf“, sagte er zum Kruzifix und kippte den Inhalt des kleinen Glases in einem Zug hinunter.

„Ah, isch des guat.“ Schnell wurde die Flasche wieder getarnt. Dann schaute er wieder auf seine Taschenuhr. Gleich müsste die Glocke wieder ausgeschaltet werden.

Ob die Automatik hier besser funktioniert? Dies galt es zu überwachen.

„Na ja.“ Er ließ fünf grade sein und die Automatik ihren Dienst verrichten. Natürlich würde er um dreiviertel wieder parat stehen und die anderen drei Glocken einschalten.

Heute würde mit allen vier Glocken geläutet, denn es war ein Festtag.

Palmsonntag. Der Beginn der Karwoche, und das war für einen Mesner die intensivste Arbeitswoche im Jahr.

Aber war der Dienst am Herrn Arbeit? Nicht für Bartholomäus Rädle. Für ihn war das die Erfüllung und mit seinen mittlerweile zweiundsiebzig Jahren musste er auch keinem Broterwerb mehr nachgehen.

„Bua, Mesner isch ma bis ma daud umfällt“, hatte sein Vater immer gesagt. Und letztlich war es genau so gekommen. Er war tot umgefallen. Allerdings nicht in der Kirche, sondern bei der Beerdigung des Bulldogschorsches auf dem Friedhof.

Wie lange war das jetzt her?

Bartholomäus atmete tief ein. Es war eine lange Zeit, dieselbe seit er nun hier in St. Georg den Dienst verrichten durfte. Und genau hier gab es etwas, das ihm Sorgen bereitete.

Wer würde diesen Dienst nach ihm antreten? Er hatte keine Kinder. War, wie man landläufig sagte: altledig. Nicht dass er den Frauen abgeschwört hätte, es war nur nie die richtige dabei. Freilich die Barth Ida, die wäre schon recht gewesen. Andererseits kommandierte ihn abends auch fast niemand herum. Nur ab und zu seine Schwester Maria, welche nach dem frühen Tod ihres Mannes auch zu keinem Ersatz gekommen war. Und so verbrachte man den einen oder anderen Abend zusammen beim gemeinsamen Fernsehabend. Allerdings ist gemeinsam hier fast das falsche Wort. Bartholomäus schlief regelmäßig ein bei den sonntäglichen Liebesschnulzen, die seine Schwester so gerne ansah.

Wieder prüfte er die Zeit. Noch vier Minuten. Jetzt würden auch gleich die ersten Besucher in die Kirche strömen.

Also rasch noch die letzten Kerzen am Hochaltar angezündet. Als er die Sakristei verlassen wollte, sah er eine Falte an seiner schwarzen Mesneralbe.

Das ging gar nicht.

Also wurde diese glatt gedrückt, was aber nicht gelingen wollte.

„Hergottz …“ Bartholomäus schluckte den Rest des Fluches mit einem Augenzwinkern in Richtung Kreuz wieder hinunter.

„Zwei! Ich bete zwei Vater Unser extra.“ Dann machte er sich auf, um im Chorraum die letzten Vorbereitungen zu treffen. Es blieben ihm noch drei Minuten.

Bertold Kleinmann richtete vor dem Spiegel auf der Toilette des kleinen, aber recht historisch wirkenden Rathauses von Sailingen seinen Krawattenknoten. Dieser musste schon recht sitzen. So wie sein ganzes Erscheinungsbild.

Als Bürgermeister sollte man schon auf sein Äußeres achten und ein gutes Vorbild sein. Deshalb würde er natürlich in einer der vorderen Reihen mit seiner ganzen Familie sitzen. Er machte einen Schritt zurück, dann wieder nach vorne.

Natürlich sah er noch fesch aus, auch mit achtundfünfzig. Und deshalb hatte er ja auch Sabrina geheiratet. Die Tochter des Brauerreibesitzers in Obergraßhausen. Nicht wegen einer eines Tages anstehenden Erbschaft.

Nicht nur.

Er zuckte etwas zusammen, denn die Glocken begannen schon zu läuten. Jetz wurde es aber Zeit. Wo nur Sabrina blieb. Wäre er doch nur zusammen mit ihr gefahren. Aber er musste ja noch ins Büro. Ja, Bürgermeister war kein Vier-Tage-Job. Das war man oder nicht. Mit vollem Einsatz. Noch einmal rüttelte er an seiner Krawatte. Dann ging er die Treppe hinunter zum Eingang des kleinen Rathauses. Schließlich musste er ja auch noch in der Sakristei vorbeisehen. Dieser Bartholomäus konnte zuweilen recht störrisch sein und hatte antiquarische Vorstellungen vom Ablauf einer Eucharistiefeier. Doch heute musste dieser sich etwas bewegen, denn Selina, seine älteste Tochter, war in diesem Jahr Kommunionkind. Und hatte heute den schönsten und besten Palmstrauß der ganzen Gemeinde vorzuweisen.

Und musste deshalb auch natürlich als Erste die Fürbitte sprechen.

Unbedingt!

Da gab es keinen Verhandlungsspielraum.

„Guten Morgen, Herr Bürgermeister. Immer so fleißig, noch dazu am Tag des Herrn.“

Berthold Kleinmann zuckte zusammen. Unten an der Treppe stand Franz Läpple, seines Zeichens Baulöwe, und lehnte sich lässig über das Geländer.

„Selbstverständlich. Als Bürgermeister ist man immer im Dienst.“ Eigentlich wollte er diesen Läpple einfach stehen lassen und an ihm vorbeigehen. Doch genau in diesem Moment fuhr seine Frau direkt auf den ausgewiesenen Behindertenparkplatz, welcher direkt neben der neu errichteten E-Ladestation lag. Und obwohl noch alle Türen geschlossen waren, konnte man schon das Geheule hören.

Genau das brauchte er jetzt noch. Konnte seine Frau die Kinder nicht einmal eine halbe Stunde im Griff haben?

„Aber natürlich. Selbstlos im Dienste des Bürgers. Und als solcher hätte ich da ein kleines Anliegen.“

„Nach Ostern.“ Bürgermeister Kleinmann sah zu, wie die Türe des Passates aufging und eine heulende Tochter auf ihn zusprang.

„Papa, Papa, Papa.“ Das bedeutete nichts Gutes.

„Nach Ostern pah. Ich brauche schnelle Entscheidungen. Sie wissen, es geht um die Zukunft von Sailingen“, brummte Läpple.

„Deine Tochter ist unmöglich“, schrie Sabrina Kleinmann über den ganzen Kirchplatz so laut, dass sich erste Kirchenbesucher zu ihr umdrehten.

„Sabrina, musst du so laut sein. Überhaupt, was ist denn passiert?“

„Sie können sich ja denken, um welches Projekt es geht. Natürlich um die seniorengerechte Anlage im Baumacker.“

„Baum was?“

„Ich … ich kann gar nichts dafür. Bin nur gestolpert“, schluchzte seine Tochter und im Hintergrund riefen alle vier Glocken so laut diese konnten, dass es längst Zeit war, in der Kirche zu sitzen.

Die Kerzen waren angezündet, das Gewand des Hochwürden ordentlich gerichtet und an der Stola sogar eine neuer weißer Kragen angebracht. Das Messbuch war aufgeschlagen und das Evangeliar für den Lektor lag bereit.

Was blieb noch zu tun?

Natürlich das Wichtigste. Der Messwein musste noch gerichtet werden, damit es auch später genügend Blute Christi gab. Und das war ja schon einer seiner Lieblingsbeschäftigungen. Denn als verantwortungsbewusster Mesner musste der Wein vorab gekostet werden. Nicht dass dieser bereits schlecht geworden wäre.

Bartholomäus versicherte sich noch einmal, dass sich noch niemand der Sakristei näherte. Dann setzte er die Weinflasche an und nahm einen großen Schluck.

„Ah, isch des guat.“ Ja der Wein war noch in Ordnung. Jetz mussten die beiden Gläschen, jeweils eines mit Wein und das andere mit Wasser gefüllt, nur noch auf den kleinen Tisch hinter dem rechten Pfeiler des Triumphbogens abgestellt werden. Als Bartholomäus wieder in den Chorraum trat, war der Organist schon zugange und hupte, wie er es immer nannte, schon herum.

Hatte man nicht unter der Woche genügend Zeit zum Üben? Dann, wenn niemand in der Kirche war? Musste das jetzt, so kurz vor Beginn eines Hochamtes sein? Bartholomäus warf einen strengen Blick hinauf zur oberen Empore, wo die Orgel stand, und wusste genau, dass Ignaz Rimmele ihn in seinem über der Orgel angebrachten Spiegel genau sehen konnte.

Das Hupen wurde beendet. Kurz bevor er hinter dem Hochaltar verschwand, warf er noch einmal einen Blick in das Kirchenschiff.

Was für Leute heute da waren. Die meisten kamen fast nie in die Gottesdienste. Doch heute war es ja etwas anderes. Die Nichte und Enkelin, die Tochter des Bruders, das Nachbarskind oder das Patenkind feierten in diesem Jahr die erste heilige Kommunion. Da wollte man natürlich dabei sein, und am besten natürlich in der ersten Reihe stehen. In allen anderen Gottesdiensten (Ostern und Weihnachten ausgenommen) drängten sich die Gläubigen in den hinteren Bänken. Oft hatte man das Gefühl, wenn im Gasthof Engel, welcher gerade hinter den Kirchentüren über dem Kirchplatz lag, noch Bänke wären, würden die Gläubigen gleich dort sitzen.

Bartholomäus wische sich mit seinem karierten und immer frisch gebügelten Taschentuch die Stirn ab.

„Das Schlimmste war geschafft“, murmelte er.

War es das?

Irgendwie klemmte die Türe. Und das ausgerechnet jetzt. Jetzt da sie schon längst in der Kirche sein sollte. Aber den Sonntagsbraten musste sie ja noch vorbereiten.

„Herrschafstssechse“, fluchte Maria Kohler und trat mit ihren schönen schwarzen Sonntagsschuhen gegen die Türe.

Klack!

Sie atmete erleichtert auf. Die Türe war zugesprungen. Doch wo war jetzt der Schlüssel? Steckte der etwa von innen? Das wäre die Katastrophe schlechthin. Und zu allem Übel hörten auch noch die Glocken auf zu schlagen. Also blieb ihr nur noch fünf Minuten, um rechtzeitig in die Kirche zu kommen. Ihren Stammplatz würde sie so sicherlich nicht mehr erhalten. Nicht am Palmsonntag, wo ganz Sailingen in der Kirche war. Maria stellte ihre Handtasche auf den Boden und begann diese nach dem Schlüssel zu durchwühlen.

„Heiliger Antonius, bitte hilf!“, flüsterte sie dabei immer wieder und reckte die Hände zum Himmel. Sie durfte heute nicht fehlen. Sonst würde die Agathe den Sopran übernehmen. Alleine. Das wäre die zweite Katastrophe an einem Palmsonntag.

„Heiliger Antonius, bitte hilf!“ Maria reckte die Hände noch weiter zum Himmel. Doch es half nichts. Der Schlüssel war nicht in der Handtasche, sondern steckte von innen. Und jetzt bekam sie auch noch Angst.

Hatte sie den Herd abgestellt?

Sie wusste es nicht mehr. Und was, wenn nicht?

Dann wäre der Sonntagsbraten am Ende verkohlt oder das Haus würde ganz niederbrennen. Nicht auszudenken.

Wer könnte ihr denn jetzt in dieser Not helfen?

Der Heilige Antonis, die Gottesmutter Maria oder der heilige Georg?

Genau in diesem Moment der völligen Verzweiflung fuhr ein kleiner roter Sportwagen direkt vor die alte Scheune und parkte neben der alten Miste.

Wer könnte das sein? Mit so einem noblen Wagen. Maria Kohler war die Schwester des Mesners und altledigen Junggesellen Bartholomäus. Sie war etwas jünger als ihr Bruder und lebte wie dieser in einem der traditionellen schwäbischen Bauernhäuser. Diese waren fast überall gleich aufgebaut. Der Stall lag neben dem Eingang. Darüber war das Schlafzimmer angebracht. Die Küche lag im hinteren Bereich mit Blick auf den Gemüsegarten. Der Scheunenteil umfasste fast die Hälfte des Hauses. Allerdings hatte Maria schon nach dem Tode ihres Mannes die Landwirtschaft eingestellt und an einen großen Betrieb verpachtet. Maria trat ein Stück zurück, ohne auf das Auto zu achten.

Roch es etwa nicht schon nach Feuer?

„Oma!“

Erschrocken drehte sich Maria um. Und schon standen ihr Freudentränen in den Augen.

„Ja Nina! Wo kommst du denn her? Dich schickt bestimmt der Himmel.“

Eine sehr schlanke, aber große, sehr hübsche junge Frau war aus dem Auto ausgestiegen und fiel nun Maria um den Hals.

„Der Himmel? Kaum, eher Mama. Soll dich recht grüßen. Übrigens versucht sie schon seit zwei Tagen bei dir oder Onkel Barthel anzurufen. Keiner von euch geht ans Telefon.“ Nina küsste ihre Oma auf die Backe.

„Ach ich habe es doch mit den Ohren und hör es nicht immer so und der Barthel, ja das weißt du ja, der ist in der Karwoche nur noch in der Kirche.“

„Klar, oder im Engel.“

Maria lachte. „Ja da hast du recht.“

„Herschaftssechse. Jetzt hat der Gottesdienst angefangen und ich komme zu spät. Aber weißt du was? Wir bleiben heute einfach hier. Sind eh zvill Leit ded.“

„Echt meinst du, dass dort heute viele sind? Ist das hier auf dem Land noch so?“

„Nur am Palmsonntag bis Ostern und an Weihnachten oder Hochzeiten.“ Beim letzten Wort schaute Maria recht neugierig ihre Enkelin an. „Oma, so was hat noch Zeit, aber sag mal, riecht es nicht verbrannt?“

In der Sakristei ging es zu wie auf dem Jahrmarkt. In der rechten Ecke eiferten sechs Ministrantinnen darum, wer das längere Gewand anziehen darf. Neben dem Lektionar stand schon Ingeborg Kessler, die heute als Lektor eingetragen war, mit verschränkten Armen. Sie trug einen biederen, recht altbackenen Hosenanzug.

„Barthel, Barthel. Heute darf ich das Weihrauchfass nehmen“, rief eine der Ministrantinnen.

„Nein, ich. Du hattest es das letzte Mal“, keifte ein zweites Mädchen.

„Herr Rädle, ist das die heutige Lesung?“, wollte Frau Kessler wissen.

„Nein, das ist die vom letzten Palmsonntag. Natürlich ist es die von heute. Warum sollte ich das Lektionar sonst an dieser Stelle aufgeschlagen haben“, brummte Bartholomäus und musste zu seinem Entsetzen feststellen, dass Hochwürden noch nicht da war.

„Oh, wieder schlechte Laune. Vielleicht würde hier einmal eine Exerzitienreise guttun. Wo bleibt denn der Pfarrer?“

Mit zittriger Hand holte Bartholomäus seine Uhr heraus und öffnete diese.

Noch eine Minute.

Plötzlich wurde die Türe aufgestoßen und traf Frau Kessler fast am Kopf.

„Mesner! Wo bischt?“, brüllte eine kehlige Stimme und der massige Kopf von Franz Läpple erschien im Türspalt.

„Wa willscht du no?“

„A Palma, gib schau eun her.“ Franz Läpple wedelte mit einem Hunderteuroschein, als wollte er Fliegen verjagen.

Tatsächlich war Bartholomäus immer vorbereitet. Oft ging bei den Kommunionkindern etwas schief. Er hatte immer Ersatzkerzen, Ersatzpalmsträuße und Kreuze für Karfreitag im Vorrat. Aber jetzt, ausgerechnet jetzt sollte er noch einen holen.

„Ist für den Bürgermeister. Mach schau!“, schrie Franz Läpple.

„Ja, ja. Bartholomäus huschte in den oberen Stock der kleinen Sakristei und holte einen der selbst natürlich von Maria gebundenen Palmsträuße. Männer hatten nach seiner Auffassung hierfür einfach kein Geschick dazu.

Als er wieder unten angekommen war, wollte die fleischige Hand von Läpple schon nach dem Strauß greifen, doch Mesner Bartholomäus hielt diesem zuerst den Klingelbeutel hin.

„Für den Herrn!“, sagt er mit einem breiten Grinsen.

„Wäga mir.“ Dann entschwand Läpple mit dem Strauß. Auch Frau Kessler war mit dem Lektionar entschwunden.

Gut.

Doch wo war Hochwürden Abt? Mit Entsetzen sah er, dass es bereits fünf nach zehn war. Der Gottesdienst würde zu spät beginnen.

Wo war der Pfarrer nur?

Es wird ihm doch nichts passiert sein? In Bartholomäus machte sich ein flaues Gefühl breit.

Eduard Steiner stand noch immer über dem altmodischen Kartentisch. Natürlich war heute alles digital und auch er nutzte oder war gezwungen, die neusten GPS-Apps zu nutzen. Und doch sah man auf einem Kartentisch die Dimensionen eines Projektes völlig anders. Er hatte sogar einige kleine Häuschen an den Rand und in die Mitte ein paar Bäume, welche er aus einem Modelbaukatalog erstanden hatte, gestellt.

Und es half nichts. Das Projekt Leben im Alter in Sailingen kurz LIAS war gescheitert. Denn die kleinen Obstwiesen im Brunengrund waren im Weg und man konnte diese nicht ersetzen oder gar umsiedeln. Und dies würde dieser Läpple nie akzeptieren.

Sollte ihm das Kummer bereiten.

Nein! Seine Dienstleistung war erbracht und Läpple hatte zu zahlen.

Endlich.

Mittlerweile war dieser über ein halbes Jahr im Verzug. Langsam ging er vom Kartentisch hinüber zu seinem Schreibtisch. Jetzt musste er nur noch die Entertaste drücken und schon war der Mahnbescheid erstellt.

Soll Läpple schauen, wie er damit zurechtkommt. Und das Beste war, wenn er sich eine Weile Urlaub gönnen würde. So lange, bis seine Rechnung bezahlt und Läpple wieder zur Räson gekommen war.

Diese Idee gefiel Eduard Steiner unglaublich gut.

„Cherry, bist du das?“, rief er laut, als er ein Geräusch in der Küche bemerkte. Wo dieser Kleine Hund nur immer so lange steckte. Aber jetzt war er ja zurück. Beruhigt plumpste er in seinen Bürostuhl. Dann tippte er die Web-Adresse des Gasthauses Engel ein. Was es wohl heute zu essen gab?

„Krautwickel!“, schrie er vor Freude. Der Urlaub musste noch ein paar Stunden warten. Denn Krautwickel im Hirsch konnte man sich nie rauslassen.

Niemals.

Doch das Geräusch in der Küche erzeugte nicht der kleine Yorkshireterrier. Das Geräusch erzeugte eine dunkle Gestalt, die blaue Einmalhandschuhe trug. Und eine der kleinen Schokomilchflaschen öffnete, ein Pulver einfüllte und wieder verschloss. Die Gestalt drehte sich um, ging auf die Gefriertruhe zu und legte etwas, das in Mehrer Müllsäcke verpackt war, hinein. Dann schlich er sich wieder unbemerkt aus der Hintertüre hinaus in den Garten und die angrenzenden Obstwiesen. Niemand ahnte die Gefahr. Am wenigsten Eduard Steiner.

Welcher von den Idioten im Gemeinderat für das Kopfsteinpflaster auf dem Kirchplatz gestimmt hatte, wollte Bartholomäus nicht wissen. Eigentlich saßen im Gemeinderat in Sailingen nur Idioten. Und keiner hatte daran gedacht, was es für eine Schwierigkeit darstellen konnte, in einer Mesnersutane über diesen Platz zu rennen, auch schon ohne die Herausforderung eines Kopfsteinpflasters.

Und rennen musste er. Denn mittlerweile begann der Festgottesdienst schon zehn Minuten zu spät. Und bis der Rückweg mit Hochwürden angetreten wäre, dieser im Gewande wäre, würden noch einmal zehn Minuten vergehen.

Furchtbar!

Das alles würde von seiner Zeit im Engel, von seinem so heiligen Frühschoppen abgehen.

Bartholomäus läutete am Pfarrhaus. Gleichzeitig trommelte er mit den Fäusten an die Türe.

„Hochwürden!“

Es wird ihm doch nichts passiert sein? So ist es, wenn man sich keine Haushälterin leistete. Dieses Problem hatte Bartholomäus schon oft angeschnitten. Beim genaueren Nachdenken musste er einräumen, dass er ja auch keine Haushälterin hatte. Aber irgendwie konnte man Maria, seine Schwester, ja schon so bezeichnen. Sie übernahem bei ihm die Aufgaben, für die er als Mann einfach von Natur aus kein Geschick hatte.

Die Wäsche, das Bügeln, das Kochen und das Durchsaugen ab und zu mit dem guten alten Kobold-Sauger. Männer hatten für andere Dinge dafür Geschick. So war es das Holzmachen, die Kaninchenzucht und natürlich das Pflegen von Bräuchen wie der sonntägliche Stammtisch. Und genau um diesen ging es jetzt. Denn jede Minute, wo der schon vom Grunde her länger dauernde Festgottesdienst später anfing, ging Bartholomäus von seiner Zeit am Stammtisch ab. Und diese war natürlich an Festsonntagen noch um vieles interessanter.

„Hochwürden!“, schrie er nun schon recht laut und wollte gerade erneut gegen die wunderschöne und sehr alte doppelte Türe des Pfarrhauses trommeln, als er in das verdutzte Gesicht des Pfarrers Antonius Abt blickte.

„Bartholomäus, ist etwas passiert? Gar jemand gestorben?“ Der Pfarrer trug einen karierten Schlafanzug, Hausschuhe und eine Schlafmütze. Bartholomäus starrte den Pfarrer an, als stünde eine Erscheinung vor ihm.

„Sie sind ja noch gar nicht angezogen?“, stammelte er und kramte durch den Schlitz der Sultane in seiner Hosentasche nach der Taschenuhr.

„Ja wozu denn? Es ist doch noch fast eine Stunde Zeit, bevor der Gottesdienst beginnt.“ Genau in diesem Moment schlug die Kirchenglocke viertel nach zehn. Bartholomäus und der Pfarrer starrten hinüber zum Kirchturm.

„Die Sommerzeitumstellung“, schrien dann beide im Chor.

„Um Himmels Willen. Ich habe verschlafen“, stöhnte Pfarrer Abt. Bartholomäus bemerkte den Anzug des Pfarrers, welcher ordentlich an der Garderobe hing. Mit der Linken griff er danach und mit der Rechten zog er den Pfarrer hinter sich her.

„Wir müssen uns beeilen“, brummte der Mesner.

„Was machts du denn da. Ich kann doch nicht im Schlafanzug mitkommen. Das geht doch nicht und Schuhe, ich brauche noch die guten Sonntagsschuhe.“ Der Pfarrer humpelte in seinen Schlappen hinter Bartholomäus her.

„Dafür ist jetzt keine Zeit. Die werden schon recht ungeduldig. Der Bürgermeister steht in der dritten Reihe hinter den Kommunionkindern und schaut immer wieder auf die Uhr.“

„Der Herr steh uns bei.“ Pfarrer Abt bekreuzigte sich.

„Das tut er bestimmt, Hochwürden. Wenn wir uns beeilen.“

„Aber in diesen Kleidern kann ich doch keine Messe lesen. Das geht einfach nicht.“

Bartholomäus sah schon seine frisch gezapfte Sonntagshalbe vor sich auf dem Stammtisch stehen und schenkte dem Pfarrer ein müdes Lächeln. Als katholischer Mesner musste man immer recht flexibel sein und sich in Ausnahmesituationen zu helfen wissen.

Die letzten Bierstengle waren in die großen Maßkrüge gefüllt. Heute würde der sonntägliche Ansturm, ja selbst der Stammtisch etwas später beginnen und hoffentlich auch länger anhalten.

Liesel Laile stand vor dem Tresen und schaute auf die Liste der Reservierungen. Es war perfekt. Das ganze Nebenzimmer und auch in der Wirtschaft waren alle Plätze belegt. Zumindest bis zur Kaffeezeit. Und da das Wetter recht gut war, würde sicherlich auch noch der eine oder andere nach einem gesunden Spaziergang eine Vesper im Engel, der einzigen Wirtschaft in Sailingen, einnehmen.

Liesel Laile zupfte an ihrem Dirndl und richtete noch einmal ihre recht üppige Oberweite, bevor sie acht Maßkrüge gefüllt mit Stengele hochhob, um diese auf die Tische zu verteilen. Gerade als sie den letzten am Tisch mit dem Blick über den Kirchplatz abstellte, sah sie, wie der Mesner den Pfarrer recht ruppig hinter sich reinzog.

„Na prima. Do goat die Kich ja no länger. Immer dia bläda Uhraumstllung. Hans du kaascht no wata. Dia kommat escht in a´ra Stund“, rief sie ihrem Bruder, dem Koch zu.

„Mahlzeit!“ Die Türe zur Gaststube wurde mit Schwung aufgestoßen. Architekt Eduard Steiner machte ein paar Schritte und blickte sich dann um.

„Mahlzeit? Guta Morga muas des heusa. D Kirch hot neit a Mmoal agfanga“, brummte Liesel recht unsanft.

„Alles reserviert?“

„Wa meuscht den du. Nadierlich, sìsch joa Palmsonntäg!“

„Ja ich wollte ja eigentlich nur ein Paar Krautwickel.“

„Des megada´r älle. Und d´r Bartholomäus bsonder. Hokte an Stammtisch. I bring`d´r. Zuerst a Halbe?“

„Kein Alkohol. Ich muss noch fahren. Nach Frankreich, in Urlaub.“

Liesel Laile schaute skeptisch über den Tresen und setze den Krug, in den sie Bier zapfen wollte, wieder ab. „Du? E d´r Urlaub. Des ka i jo it glauba. Du warst jo no nia im Urlaub.“

„Garde deshalb wird es ja jetzt Zeit. Bring mir ein Wasser.“

„Wasser gei`ts am Brunna.“

„Ja dann bring mir eben eine Apfelschorle.“

Recht missmutig schenkte die Wirtin eine Apfelschorle natürlich in ein halbes Glas. So würde der Umsatz wenigstens passen.

„Zum Wohl.“

Bei der Größe seiner Schorle zog der Architekt kurz die Augenbrauen nach oben, traute sich aber nicht, irgendeinen Kommentar abzugeben. Jeder in Sailingen wusste, dass die Wirtin des Engels die redegewandteste Person in Sailingen war. Noch besser als der angeblich so rhetorisch ausgebildete Bürgermeister. Und auch jeder wusste, dass in einem Streitfalle mit Liesel Laile nicht gut Kirschen essen war und diese kaum einmal den Kürzeren gezogen hatte.

Bartholomäus behauptete immer, dass genau diese Art von Frauen ihn davon abgehalten haben, je zu ehelichen. „Di hot Hoar ruf de Zeh“, sagte er dann immer.

Da die Gaststätte noch fast leer war und der Architekt der einzige Gast um diese Zeit, setzte sich die Wirtin zu ihm. So konnte man immer wieder Neuigkeiten als Erste und aus erster Hand erfahren.

„Eddy sag a mol. Wie lauf´ts denn mit dem Bau vom Läpple. Kriaga ma a Wohna im Alter jetzt ge Sailinga? O´dr miasat ausere Alda immer no ge Ringsteta?“

„Hmmm.“ Geistesabwesend schaute der Architekt nur auf das Display seines Smartphones.

„Jetzt verzehl schau. I sag`s au nena weid´r.“

Natürlich würde die gute Liesel es überall weitererzählen. Diese war das beste Tratschweib in Sailingen und Ringstetten zusammen. Natürlich gab es von dieser Sorte noch mehr, aber Liesel war die Beste. Wenn man etwas ihr im Vertrauen erzählte, wusste es der ganze Kreis spätestens in zwei Tagen. Und warum sollte er sich das nicht zunutze machen. Gerade jetzt, wo er eh in den Urlaub fahren würde. Einfach noch etwas Unfrieden stiften und dem Großmaul Läpple etwas Ärger bereiten. Eduard Steiner fand diese Idee hervorragend. Einfach brillant.

„Sag es aber niemandem weiter. Das ist noch topsecret, was ich dir jetzt sage“, flüsterte er und schaute sich demonstrativ um, sodass das Gespräch richtig geheim wirkte.

„I scheig wie a Grab!“, log die Wirtin und beugte sich weit über den Tisch, um alles zu erfahren.

Um wieder als Erste über alles Bescheid zu wissen.

Es gab kleine und große Priester. Auf so eine Situation musste man heutzutage als Mesner vorbereitet sein. Schließlich kam es sogar in Sailingen ab und an vor, dass ein fremder Pfarrer die Messe lesen musste. Und da der gute Hochwürden Abt sehr klein war, waren alle anderen fast immer größer. Und so hatte sich Bartholomäus bereits vor einiger Zeit eine zweite Albe, eine lange zugelegt. Und genau diese konnte er heute gebrauchen. Denn diese war so lang, dass man die Hausschuhe des Hochwürden nicht sehen konnte. Eigentlich war diese länger, viel länger. Aber Bartholomäus hatte die Albe so weit hochgerafft, dass der Pfarrer noch einigermaßen gehen konnte und dann das Zingulum so fest er konnte zusammengeknotet. Wenn er die Knoten nicht wieder aufbekommen würde, dann müsste halt ein Messer helfen.

„Geht hin in Frieden!“, rief der Pfarrer laut in das Kirchenschiff.

„Gott sei Dank!“, dachte Bartholomäus und antwortete natürlich wie alle Gläubigen: „Dank sei Gott, dem Herrn.“

Dann setzte die Orgel zum letzten Lied an. Und weil es ja so ein feierlicher Gottesdienst war, wurde nicht wie üblich der kurze Weg um den Altar in die Sakristei genommen, nein, man lief durch die ganze Kirche bis zum Haupteingang, um dann außenherum wieder an der Kirche entlang zur Sakristei zu gelangen. In den Augen des Mesners war dies alles nur Zeitverschwendung. Vor allem heute war es eine unglaubliche Verschwendung seiner Zeit, die er eigentlich längst beim Frühschoppen verbringen sollte. Bartholomäus nahm den kurzen Weg und öffnete bereits die Türe, dass alle, also der Pfarrer und die Ministranten, schnell reinkamen und schnell wieder die Sakristei verlassen konnten. Mit zittriger Hand zog er seine Taschenuhr hervor.

Blieb noch Zeit?

Wenigstens für eine frisch gezapfte Halbe?

Spätestens um halb eins müsste er bei seiner Schwester sein. Denn diese hatte den Sonntagsbraten vorbereitet.

Bartholomäus atmete erleichtert auf. Es blieb noch etwas Zeit. Doch jetzt fiel ihm auf, dass er seine Schwester gar nicht in der Kirche gesehen hatte.

War das möglich?

Zugegeben, an so einem Tag, wenn auch der letzte Platz, ja sogar die Plätze neben der Orgel besetzt waren, fiel es einem Mesner schwerer, den Überblick über die Anwesenden zu behalten. Doch hier gab es natürlich einen Trick: Von seiner Mesnerbank, die sich im rechten Chorgestühl befand, konnte man alle Gläubigen beobachten, welche zur Kommunion gingen. Und tatsächlich war seine Schwester heute nicht dabei gewesen.

Jetzt bekam er wieder ein mulmiges Gefühl.

„S wird doch nix bassiert sei?“, murmelte er. Ein Handy hatte er natürlich nicht. „So a Glumb braucht keuner!“, posaunte er immer am Stammtisch. Und neckte die anderen damit, dass Handys nur da sind, damit die Frauen einem früher vom Stammtisch abberufen können.

Doch im Moment machte er sich doch Sorgen um Maria, seine Schwester.

Die kleine Prozession mit vier Ministrantinnen und Hochwürden Abt erreichte die Sakristei. Alle stellten sich noch einmal vor dem kleinen barocken Kreuz auf (hinter dem sich der gute Zwetschgengeist befand) und verneigten sich.

„Gelobt sei Gott!“, sagten dann alle und danach ging ein Krieg bei den Girls los, wer als Erste fertig mit Umziehen war. Auch wenn dieser Tumult Bartholomäus ansonsten ärgerte, war er heute froh drum. So konnte er schneller in den Engel gehen.

Brav warteten der Pfarrer und Bartholomäus ab, bis die letzte Ministrantin, bei der sich Bartholomäus immer persönlich bedankte, gegangen war, um das Messgewandt abzulegen.

Darunter befand sich ja noch immer der Schlafanzug des Hochwürden.

Auch wenn ihm die Zeit unter den Nägeln brannte, reichte der Mesner brav dem Pfarrer seinen Anzug. Dann sprintete er hinaus in die Kirche. Kerzen löschen, Klingelbeutel reinholen und natürlich die Gefäße für Wein und Wasser aus dem Zelebrationstischchen zurück in die Sakristei bringen. Und heute hatte der Pfarrer allen Wein verbraucht, also gab es kein „Schlückchen“ für den braven Mesner.

Als er wieder zurück in der Sakristei war, saß Pfarrer Antonius Abt ermattet auf einem Holzschemel, ordentlich angezogen mit Anzug und Krawatte.

„Bartholomäus, Bartholomäus. Ich werde alt.“

„Aber nein. Wo Hochwürden ja noch jünger ist als ich.“

Dass eine Jahr. Nein, nein. Ich spüre es. Es wird Zeit, an den Ruhestand zu denken.“

Bartholomäus zuckte bei diesen Worten zusammen. Schon der Gedanke, dass Hochwürden Abt in Ruhestand gehen könnte, bereitete ihm panische Angst. Was das für Konsequenzen mit sich bringen würde. Nicht auszudenken.

„Ach, es gibt immer mal schlechte Tage. Und der Dienst am Herrn ist ja auch keine Arbeit.“ Bartholomäus hängte das Messgewand ordentlich in den Schrank.

„Der Dienst am Herrn ist es nicht. Aber du glaubst ja nicht, was alles an Verwaltung auf einen zukommt. Reparaturen an der Kirche und am Pfarrhaus. Einen neuen Computer für Frau Rimmele, unsere Sekretärin und und und, nein, nein. Mir wird das zu viel.“

„Aber es ist doch heute so schwierig mit einem neuen Pfarrer. Wo soll der bloß herkommen?“

„Da kommt keiner mehr. Erst kürzlich hat der Bischoff mir eröffnet, dass Sailingen zusammen mit Baldafingen eine Seelsorgeeinheit bilden wird.“

Bartholomäus riss die Augen auf.

„Eine was? Ja nie und nimmer. Schon gar nicht mit den Baldafingern. Da würden wir schlecht dastehen.“

Schwerfällig stand der Pfarrer auf und klopfte dann auf die Schulter des Mesners. (Auch wenn dieser fast zwei Köpfe größer war als Hochwürden).

„Der Herr wird uns den richtigen Weg weisen.“

„Aber nicht nach Baldafingen!“, brummte Bartholomäus und schlüpfte aus seiner Mesnersutane. Pfarrer Abt lächelte. „Heute weist er mir den Weg in den Engel. Es gibt Krautwickel!“

Nun waren die Augen von Bartholomäus noch größer geworden.

Fidel Füssinger öffnete die Türe hinaus in seinen Garten.

Was für ein schöner Tag.

Die Sonne schien von einem fast azurblauen Himmel auf seine im hellen Weiß blühende Obstbäume. Das Gras der Wiesen schob sich schon in die Höhe, die Osterglocken und die Forzizien blühten.

Herrlich.

Kurz machte er einen Schritt zurück, um seine große Kaffeetasse zu schnappen, welche er auf der Werkbank abgestellt hatte. Nur ein paar Schritte und er plumpste auf die alte Bank vor dem Fenster des kleinen Stalles.

Ein Paradies. Sein Paradies.

Ein paar Hühner, drei Ziegen und fünf Schafe und zwei Schweine. Obstbäume, ein Krautland. Ab und an einen Auftrag für eine Drechselarbeit und natürlich die kleine Berufsunfähigkeitsrente. All das reichte, um ein erfülltes und zufriedenes Leben zu führen. Hier in Sailingen, dem kleinen katholischen Ort auf der schwäbischen Alb.

Er setzte die Tasse an, in der sich mehr Milch als Kaffee befand und erschrak dann so, dass er fast die Hälfte davon verschüttete.

„Himmelhergottzack!“ Fluchend stand er auf. „Jetzt leitet des Glomb schau wied´r.“

Aber eigentlich war das Läuten der Glocken ja etwas Normales. Nur an so besonderen Festtagen konnte es einem außenstehenden und aus der Kirche ausgetretenen Umweltaktivisten schon so vorkommen, dass die Glocke andauernd läutete. Das war natürlich nicht so. Ganz normal läuteten die Glocken den Beginn des Tages um sechs Uhr ein. Dann folgte das Zusammenläuten um halb zehn, das Einläuten um drei viertel zehn. Das Läuten zur Wandelung um dreiviertel elf (Wenn der Pfarrer nicht verschlief!) Das Elf-Uhr-Läuten (Es wird Zeit zum Kochen!) und das Läuten um zwölf Uhr mittags.

Selbstverständlich konnte es einem so vorkommen, als würden die vier Glocken von St. Georg andauernd läuten.

Und genauso kam es Fiedel Füßiger vor. Wutentbrannt machte er sich auf, um erneut einen Beschwerdebrandbrief an den Pfarrer und den Bürgermeister über die Lärmbelastung in Sailingen zu schreiben. Natürlich von Hand mit einem grünen Holzstift. Doch kurz bevor er in der Werkstatt verschwand, fiel ihm etwas auf.

Ein Farbklecks mitten in den schönen Obstwiesen des Brunnenrains.

Etwas versteckt hinter einer Haselnusshecke, doch da war etwas, was da nicht hingehörte.

„Los Jacky. Such!“, befahl er seiner kleinen weißen Yorksherterrierhündin, welche daraufhin laut bellend die Wiesen entlangsprintete. Brummend folgte Fiedel dieser. Wenigstens waren die lästigen Glocken wieder verstummt.

Das Laufen durch die Wiesen tat seiner Seele gut und beruhigte seine innere Wut auch wieder. Vielleicht würde er dieses Mal doch keinen Brief schreiben. Aber dem Barthel, dem würde er schon noch die Meinung geigen. Da war er sich sicher.

„Himmelhergotzack!“, rutsche ihm der zweite Fluch innerhalb einer halben Stunde heraus. Denn er stand vor einem Bagger. Einem Bagger, welcher mitten zwischen den alten Obstbäumen stand und bestialisch nach Öl stank.

„Dieser elendige Läpple. Dem werde ich es zeigen, dem Dreckssack!“ Fidel ballte eine Faust und trommelte auf das Logo von Franz Läpple.

„Läpple Baulöwe“ stand dort und daneben war ein brüllender Löwe abgebildet.

Im einzigen noch verblieben Gasthof in Sailingen ging es heute zu wie auf dem Cannstattern Wasen.

Oder schlimmer.

Egal.

Und auch wenn er der Letzte war, ein Platz am Stammtisch gab es für den Mesner Bartholomäus Rädle immer.

Oder? Etwa nicht? Entsetzt suchte er einen Platz, doch da war kein Stuhl mehr frei.

„Gang in`s Näbazimmer und hohl d`r an Stual!“, rief ihm die Liesel zu, als sie mit zwei großen Tellern mit Gulasch an ihm vorbeirauschte.

War das jetzt der Dank? Der Dank dafür, dass man im hohen Alter an einem Sonntag arbeiten musste. Und dafür bekam man keinen Stuhl? Keinen Platz und keine schon rechtzeitig gezapfte Halbe?

„I muas schau hoi. Mei Alte will no fot heit. Sísch jo Sonntäg!“, sagte Helmut Koch, der beste Freund von Bartholomäus, und machte Platz.

„Vergelt´s Gott!“, antworte Bartholomäus und ließ sich ermattet auf den Holzstuhl plumpsen.

„Un do komt au scho Dei Halbe. Ausa´r Mesner däf it duschdig sei.“ Eine Frau mit kurzen knallroten Haaren stellte dem Mesner von Sailingen einen Krug Bier hin.

„Ja Irene, was tust du denn hier?“ Mit einem großen Ahhh nahm Bartholomäus einen Schluck aus dem Krug.

„Hälfa! Aleu schaft Lisel des it. Und mei Zahldag bei d´r Kich braucht au a Unterstützing!“

Dann fiel der Blick von Bartholomäus direkt auf den dampfenden Teller, welcher gerade vor Hochwürden abgestellt wurde.

Ein Teller, auf dem sich zwei Krautwickel mit Pellkartoffeln befanden. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Doch er musste heute widerstehen. Unbedingt, weil es ja gleich, also nach dem genüsslichen Trinken der Halbe einen Schweinebraten bei seiner Schwester gab. Und wenn er die üppige Portion Krautwickel gegessen hatte, dann könnte er natürlich nicht auch noch einen Schweinebraten essen.

Er steckte in der Zwickmühle. Und zeitlich unter Druck. Zitternd holte er seine Taschenuhr hervor. Eigentlich hatte er keine Zeit mehr. Aber wenn er die heutige außergewöhnliche Situation Maria erklären würde, dann könnte er noch überziehen. Vielleich für eine Portion Krautwickel?

Sollte er?

Vielleicht gab es einen Seniorenteller? Dann wäre natürlich noch Platz für etwas Schweinebraten.

Aber wenn Maria davon Wind bekam, würde sie wieder wochenlang nicht mit ihm reden. Die Angst davor lähmte seine Gedanken.

„A Guta!“, sagte Gaby und stelle nun auch dem Flaschner Sepp einen Teller mit Krautwickel hin. Und das direkt neben dem Platz von Bartholomäus.

„Herr, warum prüfst du mich so!“, betete Bartholomäus innerlich und schnippte dann mit den Fingern, um Gaby ein Zeichen zu geben.

Zuckerwasser half nicht nur seinen Bienen, nein es half auch dabei, dass Bagger keinen Lärm machten. Dieser Bagger hier machte nun wirklich keinen Lärm mehr. Etwa hochkonzentrierte Zuckerlösung in den Dieseltank und Zucker pur in das Getriebe zum guten Getriebeöl, wo er beim Starten der Maschine dann dieser den Rest geben würde. Zufrieden wischte Fidel Füssinger noch die letzten Spuren mit einem Baumwolltuch ab.

„Was machst du an meinem Bagger?“, brüllte ihn plötzlich eine kehlige Stimme an. Und schon erschien zwischen den blühenden Obstbäumen der massige Kopf von Franz Läpple.

„Dein Bagger hat hier nichts verloren!“ Füssinger blieb ruhig. Schließlich hatte er solche Situationen als Umweltschützer schon häufig erlebt und gelernt, zu deeskalieren. Zu dem würde dieser Bagger keinen Schaden mehr anrichten.

„Des isch mei Wis!“, brüllte Läpple ihn weiter an.

„Deine Wiese? Die gehört doch dem Bulldog Schorsch seiner Witwe.

„Nein, jetzt gehört die mir!“

„Das gibt dir noch lange nicht das recht, hier einen Bagger abzustellen.“

„Gibt es ein Gesetz, das dies verbietet, du grüner neunmalkluger A…“ Letzteres verkniff er sich in Anbetracht des heutigen Sonntages und der Tatsache, dass er ja noch den Peter Neumayer dabeihatte, einen Mann für alle Arbeiten.