Nur bis der Tod uns Scheidet? - Oliver Grudke - E-Book

Nur bis der Tod uns Scheidet? E-Book

Oliver Grudke

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Beschreibung

Die Fortsetzung von "Nur ein kleines Stück der Zeit" Die Liebe tritt noch einmal in das Leben unseres Protagonisten. Doch er hat ja Antonia ein Versprechen gegeben. Gilt dies über den Tod hinaus? Was soll er tun? Noch einmal seinem Herz folgen? Spannende Fortsetzung des Erfolgsromane mit großen Gefühlen und spannenden Wendungen.

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Seitenzahl: 367

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Für meine Frau

Sandra

„Wer den anderen liebt, lässt ihn gelten,

so wie er ist, wie er gewesen ist, und wie er sein wird.“

Oliver Grudke

Antonia von Hohenreckstein

Oliver Grudke

Impressum

© 2023 Oliver Grudke, Antonia von Hohenreckstein

Coverdesign von: Sascha Riehl (www.sascha-riehl.de)

Lektorat: Nadine Senger

Verlagslabel: Torsteine.de

Druck und Distribution im Auftrag des Autors

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Oliver Grudke, Ebingerstraße 52, 72393 Burladingen, Germany.

Katharina

Die Sonne scheint durch die großen Fenster und alles wirkt hell. Ja fast leuchtend. Ich stelle mir vor, wie es früher war. Früher in den Jahrhunderten, wo in diesem großen Saal meines Schlosses noch rauschende Feste gefeiert wurden.

Wo die gutaussehenden Herren sich um die Gunst von uns Damen bemühten.

Wo noch Anstand und Ehre herrschten.

Wo gefühlvolle Musik gespielt wurde.

Ich stelle mir dieses Zeit schön vor. Ich träume davon, und wünsche mir diese zurück.

Ein Lächeln huscht über mein Gesicht, denn es ist ein seltsamer Wunsch. Wir können das Vergangene nie zurückholen, selbst wenn wir es wollen.

Wir müssen im Hier und Jetzt leben.

Heute!

Und heute ist ein guter Tag, denn ich habe die ganze Woche frei. Oft kommt dies nicht mehr vor. Höchstens ein- oder wenn ich Glück habe, zweimal im Jahr.

Glück?

Ist es Glück, frei zu haben?

Für mich schon, denn der Preis für das Berühmtsein ist viel zu hoch. Doch gleichzeitig ist es die Basis für meine Existenz.

Sonderbar!

Doch darüber möchte ich heute nicht nachdenken, denn ich habe frei und bin zu Hause. Zu Hause in meinem Schloss, das an dem schönen großen Fluss liegt, der fast durch ganz Europa fließt. Dazu trage ich einen Jeans-Overall und grobe Arbeitsschuhe. Meine langen naturgelockten Haare habe ich hochgesteckt und dazu mir etwas zu große Arbeitshandschuhe angezogen.

Perfekt!

Einmal nicht der Star zu sein.

Einmal einfach ich sein dürfen.

Tun und lassen zu können, was ich will. Und heute ist das arbeiten. Einfach zu arbeiten, dabei etwas schwitzen und vielleicht, …nein bestimmt mich schmutzig zu machen.

Ich greife nach dem großen Besen, der in der Ecke neben der Türe steht und gehe in die Mitte des großen Festsaales. Dort liegen einige Stücke der schönen barocken Stuckdecke.

Wieder einmal.

So ein altes Schloss, und ich meine gelesen zu haben, die erste Erwähnung sei vor über tausend Jahren in einer Urkunde des Klosters St. Gallen gewesen, macht schon immer viel Arbeit. Und kostet natürlich auch viel Geld.

Geld, das meine Familie nicht mehr hatte, und ich jetzt im Überfluss habe.

Durch meine Arbeit.

Durch meine Gabe.

Die Gabe, wundervolle Klänge zu erzeugen. Klänge, die tief in die Seele der Menschen eindringen können. Ja manchmal denke ich, es wäre besser, diese Klänge würden auch in meine Seele eindringen.

Doch das ist Unsinn.

So wie es ist, ist es gut.

Vater ist vor einem halben Jahr gestorben, und meine Mutter schon sehr lange.

Und ich war und bleibe die einzige Tochter.

Schicksal.

Vielleicht?

Meine Familie ist nun die Musik und mein Schloss, welches mir alleine gehört und in dem ich mich zurückziehen kann.

Zurückziehen, um frei zu sein.

Für ein kleines Stück der Zeit.

Nicht für mehr, denn für mehr bleibt oft kein Raum.

Und die Liebe?

Ich denke, diese gibt es nicht. Nicht so, wie viele es sich erträumen. Denn solche Träume bleiben stets nur Gespinste unserer Phantasien. Es gibt keine Prinzessinnen und keine Prinzen. Die Seele vieler Menschen ist rau. Gespickt von Neid und Egoismus.

In meiner ist kein Platz für eine andere, ja in meinem Leben ist kein Platz für jemand anderen außer der Musik.

Ich fege die Bruchstücke des abgefallenen Stuckes zusammen und erzeuge eine Unmenge an Staub. Hustend gehe ich in die Hocke und nehme die Kehrschaufel, um alles in einen Eimer zu schütten.

Ein Geräusch lässt mich aufhorchen.

War da etwas?

Ich blicke hoch zur Galerie, die um den ganzen Saal verläuft und von der man früher über eine Brücke in den angrenzenden Park gelangen konnte. Doch der Park ist längst eine Wildnis und die Brücke marode. Also kann von dort kein Geräusch kommen.

Oder?

Rums.

Ein dumpfer Schlag gegen die alte Türe lässt den Saal erzittern und ein weiteres Stück Stuck abfallen. Dieses schlägt knapp vor mir ein und erzeugt wieder eine Staubwolke.

„Wer ist denn da?“, schreie ich und bin wütend. Dann steige ich die Treppe empor, um nachzusehen.

ICH

Es sind die ersten Herbsttage und es ist noch mild. Darüber bin ich sehr froh, denn so fällt es mir leichter, meiner Arbeit nachzugehen. Dies ist nicht jeden Tag der Fall. Oft ist es fast zu beschwerlich, aber ich kann so für unseren Lebensunterhalt sorgen. In ein paar Wochen wird die kleine Antonia sieben. Dann ist sie schon ein Jahr bei mir. Ein Jahr sind wir nun zusammen.

Eine Familie.

Darüber bin ich unglaublich stolz.

Dennoch fehlt mir ihre Mutter in jeder Minute. Doch nichts wird diese je wieder zurückbringen und ich versuche die Erinnerungen immer wachzuhalten.

Das ist nicht einfach, doch die kleine Antonia hat so vieles von ihrer Mutter. So vieles, was mich erinnern lässt.

Daran wie es war.

An das kleine Stück der Zeit, das wir zusammen hatten. Das wir zusammen erleben durften. Und deshalb möchte ich, dass ich mit Antonia ein großes Stück erleben darf. Ich möchte, dass es ihr gut geht und dass sie glücklich ist. Dies ist bestimmt auch einer der Gründe, warum ich beschlossen habe, das unermessliche Vermögen, welches ihre Mutter der kleinen Antonia hinterlassen hat, nicht anzurühren. So eine Menge an Geld kann vieles, ja vielleicht alles zerstören. Wenn die Zeit reif ist, wird Antonia selber darüber entscheiden können.

Und müssen.

Die Sonne geht über dem großen Fluss leuchtend auf. Das alte Schloss, welches hinter mir steht, beginnt in warmen Farben zu leuchten.

Ich mag das.

Es erinnert mich an eine vergangene Zeit. Und für einen Moment schließe ich die Augen und lasse mich von meinen Träume treiben.

Wem es wohl gehört?

Wer hier wohl wohnt?

Kurz stelle ich mir vor, dass die Türe am Ende der maroden Brücke aufgeht und dort Antonia steht.

Doch das ist nur ein Traum, ein alberner Traum.

Der Mitarbeiter der Stromgesellschaft fährt vor und steigt aus.

„So! Ich habe den Strom abgestellt. Sie haben zwei Stunden Zeit bis um elf“, sagt er und drückt mir einen Zettel in die Hand. „Das schaffen Sie doch, oder? Ich frage ja nur, weil die Bäume schon sehr groß sind?“, sagt er und schaut mich herablassend an.

Doch das macht mir längst nichts mehr aus. Ich habe große Gefühle gespürt und Menschen kennengelernt, die ich liebte. Und ich habe jetzt eine Familie, eine Tochter, die mit jedem Lächeln alles Dunkle aus der Welt vertreibt.

„Natürlich!“, ist meine kurze Antwort. Doch in mir kommen Zweifel auf. Es ist sind sehr große Bäume und ich bin doch nicht mehr der Jüngste. Ich schaue auf die Uhr und bemerke, dass es bis elf nur noch knapp anderthalb Stunden sind. Die Abschaltung hat zu viel Zeit in Anspruch genommen.

„Aber bis elf sind es keine zwei Stunden mehr!“, sage ich zu schüchtern.

Er grinst und steigt in seinen Transporter ein. „Klappt schon, dann bis um elf!“, sagt er und rauscht davon. Ich bleibe alleine zurück. Eigentlich sind solche Arbeiten keine Arbeiten, die man alleine ausführen sollte. Doch wieder einmal reichen meine Einnahmen nicht für eine Hilfe. Natürlich, wenn wir den Gürtel etwas enger schnallen würden, dann könnten ich und die kleine Antonia von den Einnahmen meines Buches gut leben. Doch ich will, nein ich muss ihr mehr bieten. Deshalb diese Arbeit. Eine, die zugegeben nicht ungefährlich ist. Und jetzt habe ich noch Zeitdruck. Ich schaue nach der Zeit auf meinem Smartphone und gleichzeitig ob Anrufe eingegangen sind. Denn heute ist auch noch ein besonderer Tag. Der erste Schultag für Antonia. Nach einer kleinen Feier habe ich zugesehen, wie sie zu ihrer ersten Unterrichtsstunde in das Schulgebäude gegangen ist.

Mutig und selbstsicher. So wie ihre Mutter es auch getan hätte. Und doch bleibt ein mulmiges Gefühl in mir. Jedes Kind hat sich vorgestellt und von seinen Freunden berichtet, die es bereits hat und die mit in die Schule gehen. Antonia ist ja neu hier und hat noch keine Freunde. Nur mich.

Sie ist nach vorne gegangen, hat sich vor das Mikrofon gestellt in dem großen Saal, vor allen Leuten, und sich vorgestellt.

„Ich bin Antonia und ich habe den besten Papa auf der ganzen Welt!“, hat sie gesagt und noch immer treiben diese Worte Tränen in meine Augen.

Der beste Papa. Und dieser wird jetzt die Arbeit fristgerecht ausführen.

Für die beste Tochter der ganzen Welt.

Mühevoll hebe ich die Motorsäge auf und möchte diese ansetzen.

Ein schneller Schnitt.

In der knappen Zeit.

Doch ich bin unsicher und schaue hinauf in die Krone. Diese könnte die Galerie und die Sandsteinfigur am Schloss streifen. Das wäre nicht gut. Und wenn ich den Baum zu weit links einsäge, dann streift er die Stromleitung.

Auch nicht gut.

Ich seufze und schaue wieder, ob Anrufe eingegangen sind.

Nichts.

Ich blicke die Böschung hinaus, die zu einer Brücke führt, welche den Wald und das Schloss verbindet. Auf der Brücke wäre ich fast in der Krone des Baumes und könnte diese einkürzen. Dann würde der Stamm sicher fallen.

Ich beschließe, es so zu machen, und klettere hinauf zur Brücke. Keuchend stehe ich jetzt davor. Die Brücke ist alt und die Bretter morsch.

Ob diese mich noch tragen?

Sie werden halten.

Sie müssen halten.

Vorsichtig und sachte trete ich von Brett zu Brett.

Es hält.

Schon bin ich am Baum und möchte die Säge starten. Ich bewege mich ruckartig und das erste Brett bricht. Mit einem Sprung rette ich mich auf das nächste, das ebenfalls bricht. Ich stürze gegen die Türe am Schloss, welche genau in diesem Moment aufgeht.

Katharina

Ein weiterer dumpfer Schlag erzürnt mich noch mehr.

„Verdammt, wer ist denn da?“, schreie ich und krame am großen Schlüsselbund nach dem richtigen Schlüssel. Natürlich passt der letzte und ich stecke diesen in das Türschloss und schließe auf. Als die Türe aufgeht, fällt eine Person auf mich und reißt uns zusammen auf den Boden der Galerie.

„Auaa!“, stöhne ich und dann sehe ich in diese wundervollen gütigen Augen, welche mich schuldbewusst ansehen.

„Entschuldigung, das tut mir jetzt leid. Haben Sie sich verletzt?“, fragt der Mann, steht auf und reicht mir seine Hand. „Ich helfe Ihnen auf!“, sagt er.

„Dazu brauche ich keine Hilfe!“ Meine Stimme ist abweisend und doch spüre ich ein seltsames Gefühl, das ich nicht kenne. „Wer sind Sie denn und was tun Sie an meiner Türe?“ Ich klopfe mir den Staub von meinem Overall. Dann bemerke ich, dass er etwas mit dem linken Fuß einknickt. Er ist verletzt.

„Ja entschuldigen Sie, ich arbeite für die Stromgesellschaft und muss diesen Baum fällen, da er sonst die Stromleitung beschädigt.“ Er greift nach seinem Bein und ich sehe Schmerzen in seinem Gesicht.

„Und dazu müssen Sie meine Türe einschlagen und mit ihrem Radau für noch mehr Schäden an der Stuckdecke sorgen?“ Ich bin immer noch abweisend und spüre doch Sorge um den Mann.

Wie alt ist er?

Älter als ich?

Nicht viel, oder? Doch schon! Bestimmt zehn Jahre.

Was für Gedanken mache ich mir nur?

„Nein, das wollte ich natürlich nicht. Es ist nur ein Brett gebrochen, dann bin ich gestürzt. Wirklich, ich muss mich noch einmal entschuldigen!“, sagt er und will zurück auf die Brücke gehen. Ich greife nach seiner Hand und ziehe ihn zurück.

„Holla! Sie können da nicht wieder auf die Brücke gehen, diese ist einsturzgefährdet.“ Ich halte noch immer seine Hand und dies fühlt sich gut an. Dann blicke ich schüchtern wieder in seine Augen. Diese strahlen eine unglaubliche Ruhe aus.

„Nur kurz, um die Krone einzukürzen. Mich trägt es schon noch!“, sagt er und lässt aber meine Hand nicht los. Seine Hand ist groß und die Haut rissig, aber kraftvoll, und ich spüre eine seltsame Stärke, die von ihr, die von dem ganzen Mann ausgeht.

Wirklich, es fühlt sich sehr gut an.

„Da geht es zehn Meter hinunter, wenn Sie stürzen, sind Sie tot!“ Ich schaue noch immer in seine Augen und sehe jedoch keine Angst darin.

„Natürlich, aber ich stürze nicht. Nicht heute!“, sagt er und entwindet sich meinem Griff.

„Was reden Sie da nur? Warum sind Sie sich da so sicher?“

„Weil meine Zeit noch nicht gekommen ist!“, sagt er und zuckt mit der Schulter und macht einen Schritt hinaus auf die morsche Brücke. Und wieder bricht ein Brett, ich packe den Mann mit aller Kraft und ziehe ihn zurück in die Galerie. Wir stürzen wieder aufeinander und auf den Boden.

„Sehen Sie! Wie können Sie nur so unvernünftig sein?“ Ich stehe auf und reiche ihm die Hand. „Kommen Sie, ich helfe Ihnen auf.“

Er zwinkert mir zu und sagt dann: „Dazu brauche ich keine Hilfe, aber danke!“ Dann steht er auf und knickt fast wieder ein. Seine Verletzung ist schlimmer geworden.

„Sie müssen zu einem Arzt!“, höre ich mich sagen und verstehe nicht, warum ich mich um diesen Fremden sorge.

„Bestimmt nicht. Ich muss meine Arbeit zu Ende bringen. Komme ich auch andersherum hinaus zum Baum?“ Wieder sieht er mich mit diesen wundervollen Augen an.

„Natürlich! Ich zeige es Ihnen!“ Ich gehe voraus und drehe mich erschrocken um, als er stöhnt. Dennoch ist er schon die Treppe herunter und steht im Saal.

„Wirklich, mich geht es ja nichts an, aber Sie sollten zu einem Arzt!“ Warum bin ich nur besorgt um ihn. Es geht mich wirklich nichts an.

„Ärzte bringen nur den Tod. Geht es da hinaus?“, sagt er und humpelt an mir vorbei.

„Ja, geht es!“ Ich öffne die Türe und er steht dann schon fast wieder an dem großen Baum. „Und den wollen Sie jetzt fällen? In Ihrem Zustand?“ Ich blicke hinaus und mache mir noch mehr Sorgen.

„Natürlich! Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen Umstände gemacht habe!“ Er humpelt weiter mit schmerzerfülltem Gesicht. Dann schließe ich die Türe und fühle mich verwirrt. Etwas ist in den letzten zehn Minuten geschehen.

Etwas hat sich verändert.

Nur begreife ich noch nicht, was es ist.

Jetzt werde ich mich wohl umziehen müssen und diesem Dickkopf zur Hand gehen.

Ein sonderbarer Dickkopf mit wunderbaren Augen, die in eine Seele blicken können.

Und noch etwas ist sonderbar: Er hat mich nicht erkannt.

ICH

Ich stürze und in diesem Moment geht die Türe auf. Ich stürze hinein und stoße mit jemandem zusammen. Wir fallen auf den Fußboden und dann blicke ich in diese wundervollen Augen, die mich fragend und schon fast etwas verstört anblicken.

„Aua!“, stöhnt die Frau mit einer sehr weichen und doch kräftigen Stimme. Ich versuche aufzustehen und entschuldige mich.

„Ich helfe Ihnen auf!“, sage ich und reiche ihr meine Hand.

„Dazu brauche ich keine Hilfe!“, sagt sie und steht auf und klopft sich den Staub von ihrem blauen Overall, der, so finde ich, ihr irgendwie steht. Ich möchte einen Schritt machen und dann fährt ein stechender Schmerz durch meinen Knöchel. Dieser ist wohl angeknackst. Das ist nicht von Vorteil, wenn man einen Baum fällen möchte. Die Frau ist hübsch.

Sehr hübsch.

Wie alt diese wohl ist?

Viel zu jung. Ich denke an Antonia, an eine wunderbare, viel zu kurze Zeit. Auch Antonia war jung. Eigentlich viel zu jung.

„Wirklich, ich muss mich noch einmal entschuldigen“, sage ich und kann meinen Blick fast nicht von der Frau abwenden. Sie ist groß, nicht besonders schlank, aber auch nicht dick. Ihre hochgesteckten Haare haben Naturlocken und eine fast golden wirkende Farbe. Doch was mich arg in den Bann zieht, ist ihr Blick. Dieser ist nicht wie der Blick von Antonia, aber dennoch geheimnisvoll und enthält viel Liebe, auch wenn sie dieses mit einem herrischen Ton versucht zu verstecken. Sie hält meine Hand und ich spüre, welche Kraft von dieser Frau ausgeht. Fast denke ich, diese Hand würde niemanden in Not je loslassen.

Ein seltsamer Gedanke an einem seltsamen Tag. Sie warnt mich und ich höre nicht zu.

„Mich trägt es schon noch!“, sage ich und lächle etwas. Doch eigentlich sorge ich mich schon.

„Da geht es zehn Meter hinunter, wenn Sie stürzen, sind Sie tot!“, sagt sie und schaut mir tief in meine Augen. Ja fast denke ich, sie schaut in meine Seele. Doch sie sieht nicht tief hinein. Denn der Tod wird mich nicht heute besuchen, er hat es in all den dunklen Jahren nicht getan, nicht, nachdem Antonia gestorben war und wird es auch heute nicht tun. Doch von all dem weiß diese hübsche Frau nichts und sorgt sich wirklich um mich.

Das haben noch nicht viele je getan.

Antonia war so jemand und auch die kleine Antonia sorgt sich um mich. Jede Nacht kommt sie einige Male, um nach mir zu sehen.

Ich mache eine Schritt hinaus und wieder bricht ein Brett. Doch bevor ich stürze, packt sie mich und zieht mich mit einer ungeheuren Kraft zurück in die Galerie.

Wieder stürzen wir aufeinander. Dieses Mal ist sie schneller und schafft es, vor mir aufzustehen. Sie reicht mir die Hand und möchte mir aufhelfen.

„Dazu brauche ich keine Hilfe, aber danke!“, sage ich und zwinkere ihr zu. Dabei kann ich sehen, wie ich sie verwirre, denn mit dieser Reaktion hat sie nicht gerechnet. Ich stehe auf und dann ist sofort wieder dieser stechende Schmerz da. Nur viel schlimmer. Ich denke, jetzt ist der Knöchel gebrochen.

„Sie müssen zu einem Arzt!“, sagt sie und ich kann die Sorge um mich in ihrer Stimme hören. Das ist seltsam, sie kennt mich nicht. Warum sollte sie sich um mich sorgen. Um jemanden, der ihr fremd ist. Kurz denke ich, ein Déjà-vu zu erleben. Auch Antonia hat sich um mich gesorgt zu einem Zeitpunkt, da ich ihr völlig fremd war. Doch Ärzte bringen kein Glück, nur den Tod. Das weiß ich. Antonia ist so lange zu Ärzten gegangen und dann konnten all diese Halbgötter in Weiß nur Platz machen für den Tod. Der mir etwas so Wunderbares für immer genommen hat. Und doch ist am dunkelsten Tag in meinem Leben wieder die Sonne aufgegangen. Das Lächeln, die Freude, und die strahlenden Augen sind mit der kleinen Antonia zurückgekehrt.

„Geht es da hinaus?“, frage ich und humple zurück zu meiner Aufgabe. Ich entschuldige mich noch einmal und dann fällt die Türe zu, genau in dem Moment, wo ich so gerne noch einmal in ihre Augen gesehen hätte

Katharina

Meine Familie besitzt so unglaublich viel Wald. Da war es Vater wichtig, dass man als Eigentümer auch mit den anfallenden Arbeiten vertraut ist.

„Sage nie jemandem, wie er etwas zu tun hat, wenn du es nicht selber genauso gut kannst.“ Das waren immer seine Worte.

Ich seufze und merke, wie sehr er mir fehlt. Er war so ein wunderbarer Vater, und ich denke oft, wie sehr er sich dennoch noch einen Sohn gewünscht hätte. Doch Mutter starb viel zu früh. Und da hatte er nur mich. Eine Frau erbt den Titel, das Schloss und den Wald. Auch wenn ich seit fast tausend Jahren die einzige Frau bin, die das Schloss besitzt, so habe ich mich doch als besonders würdig erwiesen.

Bilde ich mir jedenfalls ein. Ich bin erfolgreich auf der Bühne und habe ein Vermögen verdient. Damit kann ich alles hier erhalten und auch renovieren. Ich kann zupacken und, jetzt muss ich lächeln, Bäume fällen. Deshalb gehe ich dem störrischen Esel da draußen jetzt zur Hand.

„Du musst völlig verrückt sein!“, rufe ich laut durch den Gang, der von meinem Ankleidezimmer hinunter zum Hauptportal führt. Ich trage eine dieser klobigen Schnittschutzhosen und eine Forstjacke. Den Helm muss ich noch draußen in der Zehntscheune holen. Und auch Handschuhe. Die brauche ich unbedingt, denn meine echten langen Fingernägel möchte ich nicht beschädigen.

Ich hasse diese Kunstfingernägel, so wie ich eigentlich alles Künstliche hasse.

„Warum hat er mich nicht erkannt?“ Ich spreche mit mir selber und bin mir sicher: Er hat mich nicht erkannt, oder kennt mich überhaupt nicht.

Das ist unmöglich. Ich bin die bekannteste Künstlerin in ganz Deutschland. Im Sommer habe ich in einem Fußballstadion vor über fünfzigtausend Menschen gespielt. Und der grobe Typ da draußen kennt mich nicht?

Eigentlich ist das ein Grund, mich nicht weiter um ihn zu kümmern.

Doch andererseits ist dies genau der Grund, der mich neugierig macht.

Wer ist er?

Und dann dieser Blick, welcher fast in meine Seele eingedrungen ist.

Nein! Nicht fast! Er ist eingedrungen. Er hat etwas in mir verändert. Ja vielleicht geweckt. Etwas, das tief in mir geschlafen hat. Etwas, von dem ich glaubte, es nicht zu besitzen. Etwas, auf das ich neugierig geworden bin. So wie auf diesen seltsamen Mann. Ich spüre meine glühenden Wangen, die vor Nervosität rot geworden sind.

Und das liegt nicht an dem Baum, welchen ich nun wohl fällen werde

ICH

Meine Schmerzen im Fuß sind stark. Doch das sind nur körperliche Schmerzen, welche wieder vorbeigehen. Viel schlimmer sind die seelischen Schmerzen, welche auch noch nach Jahren nicht vorbeigehen. Ja an manchen Tagen viel schlimmer sind als zuvor. Und trotz all meiner Probleme schaue ich auf meine Hand und denke, noch immer die Berührung der Hand dieser wundervollen Frau zu spüren.

Eine wundervolle Frau.

Wann habe ich das zuletzt gedacht.

Ich kenne diese Antwort viel zu genau. Vor genau sechs Jahren, elf Monaten und drei Tagen und einige Stunden.

Genauso lange ist es her, dass meine Antonia gestorben ist.

Gedanken.

Ich versuche, die Säge aufzuheben, doch sofort schießt mir der Schmerz in das Bein. Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn und ich muss mich setzen. Ich werden den Auftrag nicht ausführen können. Nicht heute. Und dann werden sie auch morgen keinen Auftrag für mich haben. So ist die Welt, ohne Seele, nur mit Egoismus. Niemand interessiert sich für die anderen. Der Nächste ist jeder sich selbst. Wieder schaue ich auf das Display meines Smartphones, auf dem noch immer keine Anrufe angezeigt werden.

Der kleinen Antonia geht es gut.

Sie wird erwachsen und wird mich eines Tages nicht mehr brauchen. Dann ist meine Aufgabe zu Ende gebracht.

Dann werde ich meinen Träumen folgen und zu Antonia zurückkehren.

In eine andere Welt.

Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg, einer, der mir immer schwerer fällt.

Ich seufze und beschließe, es doch noch einmal zu versuchen. Genau in dem Moment, als ich die Säge greifen möchte, greift eine andere Hand danach. Eine sehr schlanke, die in einem viel zu großem klobigem Arbeitshandschuh steckt.

„Muss dieser hier gefällt werden?“, sagt die blonde Frau und schaut mich durchdringend an. Sie trägt professionelle Forstkleidung und einen Forsthelm. Zugegeben, ich wusste nicht, dass es das alles auch in Pink gibt. Aber man muss ja auch nicht alles wissen.

„Ja, der große hier. Was tun Sie da?“ Ich stehe auf und stütze mich auf einen abgebrochenen Ast.

„Ich fälle den Baum!“, sagt sie und stapft in dessen Richtung.

„Aber das geht nicht. Das ist gefährlich!“, sage ich und spüre, dass ich mir um diese mir völlig fremde Frau Sorgen mache.

„Nicht gefährlicher als für Sie!“, antwortet sie mir und zieht dasHelmvisierherunter. Ich stelle mich ihr in den Weg. Dann öffnet sie wieder das Visier und schaut mich fragend an. „So kann ich den Baum nicht fällen!“ Sie lacht etwas. Das erste Mal, seit ich sie getroffen habe. Ein kleines, aber ehrliche Lachen.

„Das geht überhaupt nicht. Das ist viel zu gefährlich für Sie“, sage ich und möchte mir die Säge zurückholen.

„Lassen Sie das! Warum soll das für mich gefährlich sein? Ich kann das und habe das schon öfters gemacht als Sie sich das denken können“, sagt sie und dreht sich weg, damit ich die Säge nicht erreiche. Es kommt mir fast vor, als seien wir zankende Kinder.

Jetzt lache ich auch.

„Sie?“, frage ich schon etwas abwertend. Doch ich kann mir nicht vorstellen, dass eine so schöne Frau überhaupt körperliche Arbeiten ausführt. Oder überhaupt muss, sie lebt ja in einem Schloss.

„Ja ich! Ich habe eine Ausbildung in der Forstwirtschaft und einen Meistertitel.“ Sie ist stolz darauf und ich überrascht. „Darf ich jetzt?“

Ich nicke. „Warum tun Sie das?“

„Ja, weil der Baum doch gefällt werden muss und Sie verletzt sind.“ Sie startet die Säge. Doch eigentlich habe ich das nicht gefragt. Mich hat interessiert, warum sie das für mich tut. Und das tut sie für mich. Nur für mich, das spüre ich.

Sie startet die Säge und macht alles sehr fachgerecht. Zuerst den Fallkerb, dann den Sicherheitsschnitt und zuletzt durchtrennt sie das Halteband. Ich wollte noch auf die Sandsteinfigur hinweisen und auch auf so vieles, doch mit einem lauten Knacken, gefolgt von einem dumpfen Rumms fällt der Baum genauso wie er es sollte.

Ich hätte es nicht besser gekonnt.

Sie öffnet das Helmvisier und dabei fällt ihr eine Haarsträhne ins Gesicht, welche sie einfach wegbläst. Sie hat rote Wangen und Schweißperlen auf der Stirn.

„Das war großartig!“, sage ich kleinlaut.

„Danke! Habe ich auch gelernt. Katarina!“, sagt sie und zieht ihren Handschuh aus, um mir die Hand zu reichen.

„Angenehm“, sage ich und nenne ihr meinen Namen.

Sie kichert kurz und meint: Den kürzen bestimmt alle ab, oder?“ Ich nicke und denke an Antonia.

Der Mitarbeiter der Stromgesellschaft fährt heran und steigt aus. Kurz blickt er auf den Baum, doch dann zu Katarina.

„Oh, das ist ja nett, dass ich Sie hier treffe. Wir haben Sie doch nicht gestört?“ Beim letzten Teil seines Satzes schaut er mich vorwurfsvoll an.

„Im Gegenteil! Ich bin begeistert, was sie hier für eine tolle Firma und einen absoluten Profi engagiert haben. Ich wünsche nie jemand anderen hier am Schloss, ja?“, sagt Katarina und zwinkert mir zu. Dabei spüre ich, wie mein Herz einen Sprung macht.

Sonderbar.

Und das kann nicht sein. Mein Herz gehört Antonia, auch über den Tod hinaus. Nur ihr! Niemand anderem. Nur ihr und der kleinen Antonia. Der Mitarbeiter der Stromgesellschaft bekommt einen roten Kopf.

„Natürlich! Ich schalte den Strom wieder ein!“, ruft er mir zu und fährt mit hochrotem Kopf davon.

„Danke!“, ist alles, was ich zu Katharina sagen kann.

„Wofür?“, fragt sie und trägt mein Werkzeug zu meiner alten Karre. Ich humple hinterher.

„Was ist denn das? Fahren Sie mit dem noch?“ Katharina steht vor meiner alten Karre und stemmt die Hände in die Hüfte.

„Nur werktags!“, sage ich und denke an das neue Auto von Antonia, das ich mich nicht traue zu fahren. Es sind zu viele Erinnerungen damit verbunden. Erinnerungen an eine zu kurze Zeit.

„Wir fahren mit meinem Wagen!“, sagt sie und kommt zurück, um mich zu stützen.

„Fahren, wohin?“, wundere ich mich.

„In ein Krankenhaus, Sie brauchen einen Arzt!“

Katharina

Ich trete vor mein Schloss. Es ist ein schöner, ruhiger Herbsttag. Ich kann das leise Rauschen des großen Flusses bis hier hoch hören. Die ersten Blätter sind gefallen. Ich sollte öfters frei haben. Ich gehe um den großen Turm herum zur Stromleitung, welche vom Fluss herauf zum Schloss führt. Dort sitzt er und reibt sich seinen Knöchel.

Er hat Schmerzen und das bereitet mir Sorgen.

Seit wann interessieren mich Sorgen der anderen?

Seltsam.

Egal, ich muss ihm helfen.

Warum?

Ich habe keine Antwort, doch sein Blick vorhin hat irgendwas in mir verändert. Neben dem großen Fahnenturm steht ein sehr dicker Bergahorn.

„Muss dieser hier gefällt werden?“, frage ich und sehe direkt in seine Augen. Man kann darin gefangen werden. Ein seltsamer Mann. Er steht und stützt sich auf einen abgebrochen morschen Ast. „Was tun Sie da?“, fragt er.

„Nach was sieht das denn aus?“, denke ich und sage das Einfache: „Ich fälle den Baum!“

„Aber das geht nicht, das ist gefährlich!“, ruft er mir nach. Macht er sich wirklich um mich Sorgen. Ein völlig Fremder, der mich nicht einmal erkannt hat, macht sich um mich Sorgen?

„Nicht gefährlicher als für Sie“, kontere ich und möchte beginnen. Er stellt sich vor den Baum. Ich muss lachen. „So kann ich den Baum nicht fällen.“

„Das geht überhaupt nicht!“, brummt er und möchte mir die Säge wegnehmen.

„Lassen Sie das“, sage ich und drehe mich weg, dass er die Säge nicht bekommt. Das muss albern aussehen, denn er lacht jetzt auch. Das erste Mal, seit ich ihn getroffen habe. Ich denke, er hat es nicht immer leicht gehabt im Leben und trägt einen Schmerz mit sich, der nicht heilen möchte. Niemand weiß es besser als ich, nicht all uns zugefügte Schmerzen heilen je wieder. Manche schmerzen heute schlimmer als früher.

„Ich habe das schon öfters als Sie sich das denken können!“ Ich verteidige die Säge, welche schon etwas schwer ist, um ehrlich zu sein.

„Sie?“ Er wirkt erstaunt. Ich erkläre ihm, dass ich fachlich gut ausgebildet bin. Vater war dies wichtig, wenn man so viel Wald besitzt wie wir.

Wie jetzt nur noch ich, da sonst niemand mehr da ist. „Darf ich jetzt?“ Er nickt und sieht mich dabei wieder so unglaublich lieb an.

„Warum tun Sie das?“, möchte er wissen.

„Weil der Baum doch gefällt werden muss!“, antworte ich und starte die Säge. Doch das ist nicht die Antwort, die ich hätte geben sollen.

Geben möchte.

Denn warum ich ihm, einem völlig Fremden, helfe, weiß ich nicht. Vielleicht ist es der Blick, den er mir zuwirft und der mich immer mehr gefangen nimmt. Ich weiß nicht, was mit mir geschieht, doch weiß ich, dass ich es geschehen lassen möchte.

Ich beginne mit der Arbeit. Auch wenn ich dies alles gelernt und auch schon ausgeübt habe, ist es Jahre her. Genau jetzt spüre ich, wie die Nervosität in mir aufsteigt. Er hat ja recht, diese Art der Arbeit ist gefährlich.

Doch ich schaffe es und bin echt stolz. Mit einem Mal ist mein ganzer Stress der letzten Monate verflogen.

„Das war großartig!“, sagt er und ich öffne das Helmvisier. Eine Strähne meiner langen Locken rutscht in mein Gesicht und ich puste diese weg.

„Danke! Habe ich auch gelernt! Katharina!“ Ich ziehe meinen Handschuh aus und stelle mich vor, da er mich wirklich nicht kennt. Seltsam.

„Angenehm!“, antwortet er und dann spüre ich wieder seine starke Hand in der meinen. Das fühlt sich sehr gut an. Er nennt mir seinen Namen und ich muss kichern. Das schickt sich natürlich nicht und trotzdem tue ich es. Ich weiß, dass niemand seinen Namen ganz ausspricht. Alle kürzen ab auf die ersten drei Buchstaben.

Ob er mir das auch erlaubt?

Irgendwann einmal?

Irgendwann?

Ich werde ihn wohl kaum wieder einmal treffen, oder? Ich sehe, dass er starke Schmerzen hat, das gefällt mir überhaupt nicht.

Der Mitarbeiter der Stromgesellschaft fährt heran und steigt aus. Er erkennt mich und möchte sich einschmeicheln. Das mag ich ja gar nicht.

„Im Gegenteil! Ich bin begeistert, was Sie hier für eine tolle Firma und einen absoluten Profi engagiert haben.“ Ich zwinkere meinem neuen Bekannten zu.

Bekannter? Ist dies die richtige Bezeichnung?

Nein! Denn ich kenne ihn ja überhaupt nicht. Erst seit wenigen Minuten ist er in mein Leben getreten.

Wieder stutze ich bei diesem Gedanken. Ich will nicht, dass jemand in mein Leben tritt. Und doch fühlt sich alles gerade gut, ja sogar richtig an. Der Mitarbeiter der Stromnetzgesellschaft ruft noch etwas und fährt dann mit hochrotem Kopf davon.

„Danke“, sagt mein neuer Bekannter, den ich jetzt einfach so nennen möchte, und wirkt seltsam verlegen dabei.

Doch heute ist schon alles seltsam. Ich nehme einen Teil seines Werkzeuges und trage es um das Schloss, wo ich sein Fahrzeug vermute. In dem Moment, als ich um den kleinen runden Turm biege, verschlägt es mir die Sprache. Dort steht ein verrosteter und verbeulter Pickup. „Was ist denn das? Fahren Sie mit dem noch?“ Ich schreie diesen Satz fast, so entsetzt bin ich. Mit so einem Fahrzeug riskiert man sein Leben.

Er lächelt verlegen. Ich gehe weiter und beschließe, meinen Wagen zu nehmen. „Wir fahren mit meinen Wagen!“, rufe ich ihm zu und sehe, wie er mir humpelnd folgt. Ich gehe zurück und stütze ihn.

„Fahren wohin?“, fragt er und ich glaube, das sollte eher eine rhetorische Frage sein. Denn es ist natürlich klar, wohin wir fahren.

„In ein Krankenhaus, Sie brauchen einen Arzt!“, sage ich und öffne die Türe zu meinem roten Sportwagen.

ICH

Ich sitze in einem kleinen roten Sportwagen, der bestimmt mehr gekostet hat als ein normales Einfamilienhaus. Es ist, als hätte ich ein Déjà-vu. Fast ist es wie damals.

Damals, als ich Antonia und ihr verbeultes Rad nach Hause gefahren habe. Doch es ist nur fast so.

Denn heute werde ich gefahren und kein Rad ist verbeult, sondern mein Knöchel. Und doch ist etwas genauso. Wieder blicke ich etwas verstohlen zur Seite und beobachte Katharina. Sie hat lange, blonde Lockenhaare. Ihre Wangen sind gerötet, weil sie nervös ist.

Warum sie wohl nervös ist?

Antonia war auch nervös.

Damals.

Vor so langer Zeit.

Und ich war nervös.

Damals.

Und heute?

Ja heute bin ich es auch, fast so wie damals. Und genauso wie damals kann ich mir das nicht erklären.

Wieder blicke ich kurz zur Seite und sehe, wie sich ihr Brustkorb hebt und senkt. Katharina ist wirklich eine sehr hübsche Frau. Hübsch und jung. Ich bin alt.

„Sie müssen das nicht tun! Fahren Sie mich einfach nach Hause und ich kühle den Knöchel. Der ist morgen wieder wie neu!“ Ich habe Angst vor Krankenhäusern und Ärzten.

„Oh nein! Das muss sich wirklich ein Arzt ansehen. Ich kenne da ein gutes Krankenhaus. Dort wird man sich um Sie kümmern.“ Katharina biegt am Kreisverkehr ab und fährt direkt hoch zum Haupteingang von Antonias Krankenhaus.

Vor unser Krankenhaus, welches ja jetzt der kleinen Antonia gehört.

Doch davon weiß sie nichts.

„Das ist hier eigentlich nur für Privatpatienten, aber machen Sie sich darüber keine Sorgen, ich bezahle Ihre Behandlung. Wobei ich gehört habe, dass seit einiger Zeit alle Patienten kostenlos behandelt werden. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Wie gesagt, ich komme für alles auf. Sie hält direkt vor dem Eingang. Ich schmunzele: Ein Déjà-vu!

„Hallo! Ich brauche Hilfe!“, ruft sie und ein Pfleger, der Katharina irgendwie komisch ansieht, bringt einen Rollstuhl. Das ist albern, laufen kann ich noch selber. Wenn auch mit Mühe. Katharina geht voraus und ich werde in das Krankenhaus geschoben.

Ich war lange nicht mehr hier, und doch spüre ich die Dunkelheit und die Kälte von jenem Abend wieder in mich hineinkriechen. Dabei beginnen diese, alles Leben und Lachen in mir zu ersticken. So wie dieser Ort das schönste Lachen der ganzen Welt für immer erstickt hat.

Doch es ist nur ein Ort.

Vielleicht war es auch ich, der mit seinem egoistischen Verhalten Antonia in den Tod getrieben hat.

Es geht nicht!

Ich muss nach Hause, und vor allem muss ich hier weg.

Jetzt!

Ich springe aus dem Rollstuhl und möchte ein paar Schritte gehen. Der stechende Schmerz ist zurück und ich knicke um und stürze zu Boden. Jemand ruft etwas.

Ich höre noch mehr Schreie und das Trampeln von Füßen. Mir ist schwindelig. Aber ich liege weich. Katharina war schneller und hat meinen Sturz abgefedert. Sie kniet neben mir auf dem Boden und hält meinen Kopf.

„Was tun Sie nur?“, fragt sie und schaut mich an, als würde sie sich wirklich um mich sorgen. Um mich, den sie ja gar nicht kennt. Von dem sie ja gar nichts weiß. Ein Mann in einem weißen Arztkittel beugt sich über mich.

„Das ist ja eine Überraschung. Lange nicht gesehen!“, sagt der Klinikleiter.

„Jemand muss meiner Tochter in der Schule Bescheid geben“, sage ich noch, dann wird alles dunkel.

Katharina

Er hat schon starke Schmerzen. Das habe ich gefühlt, als er sich in meinen kleinen Sportwagen gezwängt hat. Mir war nie bewusst, dass ich Dinge bei anderen Menschen fühlen kann. Doch so war es vorhin und jetzt mache ich mir Vorwürfe, denn ich hätte besser einen Krankenwagen gerufen.

Was, wenn ich durch meinen Leichtsinn ihn noch mehr verletzt habe.

Was, wenn er nicht mehr ganz gesund wird?

Dumme Gedanken, die so gar nicht zu mir passen.

Ich schiele kurz zur Beifahrerseite, denn er schaut mich schon wieder an. Nur kurz und nur so, dass ich es nicht merken soll.

Doch das tue ich und sein Blick macht mich nervös. Ich spüre, wie mein Blut in Wallung kommt.

Mich hat noch nie der Blick eines Mannes nervös gemacht. Und überhaupt haben mich die anderen Menschen noch nie interessiert.

Ja, ich glaube bis heute war ich ein Egoist.

Bis heute?

Und jetzt?

Jetzt fahre ich egoistisch direkt vor den Eingang der Privatklinik in unserer Kreisstadt. Hier ist er gut aufgehoben. Ich bemerke seinen sorgenvollen Blick. Er denkt an die Kosten, doch ihn wird es nichts kosten.

„Das ist hier eigentlich nur für Privatpatienten, aber machen Sie sich darüber keine Sorgen, ich bezahle Ihre Behandlung“, sage ich und halte direkt vor der Eingangstüre im Halteverbot. Ich steige aus und rufe einen Pfleger um Hilfe. Dieser kommt gleich mit einem Rollstuhl und sieht mich sehr fragend an.

Er hat mich erkannt. Natürlich oder glaubt mich zu kennen und weiß nicht woher. Ich sehe auch anders aus als in den Fernsehsendungen oder Stadien samstags. Kein Abendkleid, keine langen Haare und hohen Schuhe. Nein! Heute trage ich Forstklamotten, die jedem Mann besser stehen würde, wenn diese nicht pink wären. Grobe Schuhe und meine langen Haare habe ich hochgesteckt und mit einer Spange aus Holz fixiert. Eigentlich bin ich heute eine andere.

Aber vielleicht bin ich heute ja ich. Und jene Frau, die Massen in Shows lockt, ist eine andere. Eine, die ich selber nicht wirklich kenne. Und die andere, die ich heute bin, musste erst zu Leben erweckt werden.

Vielleicht ist es so.

„Er ist verletzt!“, flüstere ich dem Pfleger zu, der dann sofort meinem Bekannten aus dem Wagen in den Rollstuhl hilft. Ich blicke ihm ins Gesicht und gerade, oder eigentlich seit wir uns getroffen haben, war da immer etwas Fröhliches, ja Lebensbejahendes. Doch dies scheint nun fort zu sein. Sein Blick ist starr, ängstlich. Ja fast abwesend. Als wenn er mit den Gedanken nicht hier wäre, als wenn er mit seinen Gedanken an einem schlimmen Ort oder in einer schlimmen Erinnerung gefangen wäre.

Ich gehe voraus. Der Pfleger schiebt den Rollstuhl durch die automatische Türe in den Empfangsbereich. Gleich vor uns ist der Tresen, hinter dem sich zwei Frauen erstaunt anschauen. Die eine zückt ihr Smartphone und dann schauen beide im Wechsel zu mir und zum Gerät. Auch die beiden glauben mich zu kennen. Sie tuscheln und kichern. Ich hoffe, sie machen kein Foto von mir und den pinken Forstklamotten. Das ginge in den sozialen Medien durch die Decke und würde Bernhard an den Rand eines Herzinfarktes bringen.

Bernhard!

Wie lange kenne ich ihn?

Zehn Jahre? Bestimmt.

Doch eigentlich kenne ich ihn nicht, denn für ihn habe ich noch sie gefühlt. Ja ich denke, ich habe noch nie etwas für ihn gefühlt. Ich folge meinen Gedanken und erschrecke, als mein neuer Bekannter plötzlich aus dem Rollstuhl springt und zur Eingangstür zurückgehen möchte. Doch er macht nur einen kleinen Schritt, schreit kurz vor Schmerzen auf und sackt in sich zusammen.

Ich bin schneller und fange ihn auf, bevor er unkontrolliert zu Boden geht. Der Pfleger ruft nach einem Arzt. Ich knie mich neben ihn und halte seinen Kopf. Er blickt mich fast zufrieden und sehr dankbar an.

„Was tun Sie nur?“, frage ich, doch er antwortet nicht. Seine Augen flackern.

„Darf ich mal!“, sagt nun ein Mann in einem weißen Arztkittel und kniet sich neben mich. „Das ist ja eine Überraschung! Lange nicht gesehen!“ Der Mann im Arztkittel scheint meinen Bekannten zu kennen. Dessen Augen öffnen sich noch einmal kurz und flackern wieder.

„Jemand muss meiner Tochter in der Schule Bescheid sagen!“, flüstert er und wird dann bewusstlos.

Im selben Moment spüre ich, wie sich eine kalte Hand um mein Herz legt. Panisch und fragend sehe ich den Arzt an. Doch dieser nimmt keine Notiz von mir, er kämpft um seinen Patienten.

ICH

Meine Klamotten kleben auf meiner Haut. Mir ist kalt und heiß zugleich.

Ich renne.

So schnell ich kann den Berg nach oben. Denn ich darf nicht zu spät kommen.

Aber eigentlich komme ich immer zu spät. Immer wenn ich den Berg hochrenne, komme ich zu spät und alle sind längst fort. Sie lassen mich alleine zurück.

Alleine mit meinen Gedanken und Ängsten.

Mit meiner Sehnsucht.

Der Regen wird stärker und sein Prasseln auf den gelben Herbstblättern übertönt das Pochen meiner Herzen.

„Antonia!“, rufe ich und bekomme wie immer keine Antwort. Doch dann packt eine knochige Hand meinen Arm und ich wirbele erschrocken herum.

„Warum bist du hier?“, fragt Amalie.

„Ich suche Antonia!“ meine Stimme zittert.

„Sie ist nicht hier!“ antworte Amalie.

„Sie muss hier sein!“ Ich flehe darum.

„Sie kommt nicht zurück, und für dich ist längst noch keine Zeit. Geh zurück, du wirst gebraucht.“ Amalie blickt mich mit gütigen und verständnisvollen Augen an.

„Ich weiß, aber ich möchte, dass sie mitkommt. Wir brauchen sie.“ Ich zittere vor Kälte und Angst.

„Sie weiß das, dennoch wird sie nicht kommen und jetzt ist es Zeit für dich, zu gehen!“ Amalie nimmt mich an der Hand und führt mich zum Tor an der Mauer der alten Ruine.

„Bitte!“, flehe ich, doch sie schiebt mich hindurch und beginnt das alte Tor zu schließen. „Das Leben geht weiter. Genieße deine Momente, keiner wird je wiederkommen!“, sagt sie und dann ...

… wache ich auf.

Katharina

Der Arzt und auch die Pfleger wirken hektisch. Sie haben meinen Bekannten auf eine Bare gehoben und jagen mit dieser durch die Gänge. Dabei fragt der Arzt dauernd etwas. Mich nimmt keiner wahr und ich folge dem Tross in meinen pinken, recht klobigen Arbeitsklamotten. Irgendwie frage ich mich, was genau ich hier eigentlich tue.

Warum ich hier bin.

Und genau darauf finde ich keine Antwort. Ich höre auf mein Herz und das möchte hier sein.

Verrückt.

Eine Tür wird aufgestoßen und sie schieben die Bare in einen Raum, der wie ein Operationssaal aussieht.

„Sie können hier nicht rein. Bitte warten Sie draußen“, sagt eine der Schwestern und möchte mich hinausschieben.

„Das ist schon in Ordnung, Babette. Seine Frau darf hierbleiben. Sagen Sie mir, was geschehen ist?“

Ich möchte widersprechen, tue es aber nicht.

„Er hat sich das Bein verletzt. Da habe ich ihn hergefahren.“

„Das sehen wir uns später an, mir macht sein Kreislauf Sorgen, dieser ist zusammengebrochen. Aber wir kriegen das wieder hin.“ Er lächelt mir zu und dann injiziert er etwas in seinen Arm.

„Seine Tochter, er meint, man müsste dieser Bescheid geben“, fällt mir ein. Doch das kann ich nicht, ich kenne sie nicht, weiß nicht, wie sie heißt und wo sie wohnt, schon gar nicht, in welche Schule sie geht.

Der Arzt blickt auf. „Sie sind nicht seine Frau, oder?“

„Nein.“

Er nickt fast zufrieden. „Ja ich hätte das wissen müssen. Sie können trotzdem bleiben, vielleicht bekomme ich ein Autogramm? Später?“ Er dreht sich von mir weg.

„Sicher! Ich weiß nicht einmal, wie seine Tochter heißt.“ Vielleicht steht diese schon alleine vor einer verlassenen Schule.

„Dann kennen Sie sich aber noch nicht lange, denn seine Tochter wäre Ihnen in Erinnerung geblieben.“

„Wir kennen uns eigentlich gar nicht. Er wollte Forstarbeiten bei mir am Schloss ausführen und ja, das ist das Ergebnis. Ich fühlte mich verantwortlich. Aber jetzt ist er ja in guten Händen, da kann ich wieder nach Hause gehen.“ Ich höre meine Worte, möchte aber nicht nach Hause gehen.

„Forstarbeiten, hmmm. Sie heißt Antonia und ist eine ganz besondere junge Dame.“ Der Arzt überprüft den Puls meines Bekannten. „Die Schwester ruft in der Schule an“, fügt er noch hinzu.

„Sie kennen seine Tochter?“

„Oh ja, ich habe sie auf die Welt geholt!“, sagt er und dann mit einem Male ist sein freundlicher und fröhlicher Blick einem traurigen gewichen. Er steht kurz still da und schaut ins Leere, als ob er wie mein Bekannter in einer dunklen Erinnerung gefangen wäre. Fast denke ich, es liegt an diesem Ort. Doch das kann ja nicht sein. Es gibt kein moderneres und besser ausgestattetes Krankenhaus weit und breit. Ich selber habe hier schon vor ein paar Jahren die eine oder andere Schönheitskorrektur machen lassen.

Doch das ist lange her.