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Wie erkenne ich einen Trend? Wie kann ich von Trends profitieren? Was sind Megatrends, Produkt-, Konsum,- Kultur- und Retrotrends? Ob als selbständiger Unternehmer, als Entscheider in der Wirtschaft oder in persönlichen Krisensituationen - das Wissen um Trends und zukünftige Mentalitäten ist entscheidend für erfolgreiche Geschäftsstrategien. Der renommierte Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx öffnet in seinem Buch den Blick der Unternehmenskultur nach vorn. In seinem Handbuch vermittelt er Strategien und Methoden, Trends zu erspüren, sie erfolgreich zu nutzen, von Trendentwicklungen zu profitieren und Innovationen durchzusetzen. Die professionelle Beschäftigung mit dem Thema 'Zukunft' erhöht die Intelligenz in der strategischen Planung und erzeugt so "Future Fitness." Future Fitness - die Zukunftskompetenz für Entscheider - ist unerlässlich für diejenigen in Unternehmen und Management, die Veränderung und Innovation anstreben und sich nicht mit Sicherheit und Tradition begnügen.
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Seitenzahl: 209
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Matthias Horx
Future Fitness
Wie Sie Ihre Zukunftskompetenz erhöhen
Edel eBooks
Vor einigen Jahren nahm ich am Arbeitsworkshop eines großen Lebensmittelkonzerns teil. Es ging um neue Snacks und Convenience-Food-Produkte, anwesend waren neben den Lebensmittelchemikern und dem Markenmanagement auch die Vertreter der Werbeagentur und der Verpackungsdesigner.
Der Markenmanager forderte mich auf, mit meinem Impulsreferat zu beginnen:
»Herr Horx wird jetzt über die wichtigsten kommenden Megatrends im Verpackungsdesign von Snackfood-Produkten berichten!«
Schrecksekunde. Nicht nur Megatrends! Auch noch im Verpackungsdesign! Und die allerwichtigsten! Und kommenden!
Ich machte eine gewichtige, seherische Einleitungspause. Dann sagte ich:
»Grün. Und metallic. Mit Laschen!«
Irgendwie gelang es mir auch mit Humor nicht, das Verfahrene aus der Situation herauszubekommen. Ich hatte mich auf eine Präsentation über das sich wandelnde Mobilitätsverhalten der Bevölkerung vorbereitet, daraus sollten sich Ideen für die veränderten Bedürfnisse der Kunden und daraus Inspirationen für neue, marktfähige Produkte ableiten lassen! Doch der Kunde wollte innerhalb seines Subsystems, seiner vorgefertigten Schubladen Fachwissen abfragen. Hard facts über die Zukunft! Er wollte eine Art billige Marktforschung mit Zukunftseffekt!
Hier handelt es sich um ein fundamentales Missverständnis, dem der Trend- und Zukunftsforscher immer wieder begegnet. Es ist das, was ich als »Tunnelproblem« bezeichnen möchte. Der Blick in die Zukunft wird auf ein Teilproblem verengt, und von den Trendforschern wird nun erwartet, dieses Teilproblem durch eine möglichst »angenehme« Prognose zu lösen.
Seriöse, mit Geist und Verstand betriebene Trendforschung verfolgt jedoch eine andere Absicht. Sie möchte zunächst den Winkel, mit dem wir Märkte, Produktstrategien, Warenevolutionen betrachten, um eine gesellschaftliche, systemische, soziale Komponente erweitern. Sie möchte die vielen kleinen Wandlungsphänomene, die uns umgeben, in einen größeren Kontext einordnen. Unternehmen (und natürlich bisweilen auch wir als Individuen) möchten es sich aber gerne einfach machen. Sie möchten gerne Produkte »vertrenden«, die vielleicht hoffnungslos veraltet sind. Sie neigen dazu, aus Substanzproblemen reine Marketingprobleme zu machen. Sie suchen nach schnellen (und billigen) Antworten gerade da, wo es darauf ankäme, neue und ungewohnte, bisweilen unangenehme Fragen zu stellen. Dabei werden – hoppla hopp – die Betrachtungsebenen wild durcheinandergemischt. Stilistische Details werden mit Megatrends verwechselt. Soziale Veränderungen mit Werbesprache vermengt. Heraus kommt eine Art Gonzo-Trendmacherei, die eher auf wilden Behauptungen, anglizistischen Wortgetümen und verengtem Wunschdenken beruht – und natürlich zu Frustration führen muss.
Dieses »Eintopfrühren« ist auch im Reich des Journalismus weit verbreitet. Zum Beispiel ist in den Zeitschriften folgende Titelzeilen-Formulierung sehr beliebt:
Die Trends von morgen!
Ich habe keine Ahnung von den »Trends von morgen«. Und ich möchte behaupten, dass niemand diese haben kann – denn dafür gibt es kein kognitives Fundament! Trends sind nichts anderes als Veränderungsprozesse, die in der Gegenwart stattfinden. Man kann sie frühzeitig diagnostizieren und kartographieren, wenn sie erst »schwache Signale« aussenden. Man kann mit ihnen arbeiten. Man kann auf ihrer Grundlage Zukunftsszenarien entwickeln, in denen man ihre möglichen Konsequenzen schildert. Aber man kann nicht wissen, welche Trends morgen entstehen werden. (Das wäre nun reine Propheterie!)
Wenn mich Fotografen besuchen, um mich für eine Zeitschrift zu fotografieren, zaubern sie, nachdem sie Licht, Pappwand und Stative aufgebaut haben, meist ein kleines Accessoire aus dem Koffer, das ich dann standesgemäß beim Posieren in die Kamera halten soll. Ein Fernrohr. Meistens ein Piratenfernrohr. Wenn man da hindurchguckt, sieht man, meistens unscharf, eine Detailvergrößerung – eine Taube auf dem Dach oder die Geranien der Nachbarin. Nein, Fernrohre eignen sich, allen gegenteiligen Gerüchten zum Trotz, nicht als Handwerkszeug, denn sie verkleinern den Betrachtungsradius.
Wenn es ein angemessenes Instrument für die Zukunftsschau gibt, dann ist es – ein Satellit! Aus der Satellitenperspektive haben wir eine Übersicht über den blauen Planeten. Den Blick auf die langfristigen Wetterfronten, die seine Oberfläche überziehen. Auf seine Strukturen und Texturen. Wir können sehen, wie alles zusammenhängt und sich in ein Ganzes fügt, in eine Hoffnung, eine Struktur und eine Perspektive. Wie die Astronauten über eine komplexe, wunderschöne Welt ohne Grenzen staunten, so können wir erst aus der Distanz das ganze Bild erfassen.
Dieses Buch soll Ihnen dabei helfen, sich symbolisch in den Orbit zu versetzen – um sich dann wieder, systematisch und mit veränderter Sichtweise, auf den Erdboden Ihres Geschäfts, Ihrer Branche oder Ihres Produkts zu begeben.
Im ersten Teil – FUTURE MIND – geht es um die mentalen Aspekte der Zukunftsschau. Um Bilder, die wir uns von der Zukunft machen. Um Vorurteile und Klischees. Das ist deshalb wichtig, weil die Sicht auf die Zukunft von kollektiven Übereinkünften geprägt, von Ängsten und Erwartungen verzerrt ist. Wir müssen deshalb zuerst nach unserem »Zukunftshintergrund« fragen: Wie entsteht Zukunft in unseren Köpfen? Welche Versuche gab es, Zukunft zu erfassen, vorherzusagen? Welche davon waren erfolgreich? In welche Richtung sollten wir unsere inneren Haltungen korrigieren, um eine möglichst realistische Sichtweise auf die Zukunft zu bekommen?
Im zweiten Teil – FUTURE TOOLS – erzähle ich Ihnen alles über den Werkzeugkasten der heutigen Trend- und Zukunftsforschung. Wie hängen die verschiedenen Trend-Ebenen zusammen? Wie grenzt man sie sinnvoll voneinander ab, so dass Unsinn wie »Megatrends im Verpackungswesen« nicht entsteht? Hier finden Sie auch eine Übersicht über die wichtigsten derzeit aktiven Megatrends und Konsumententrends. Über die »driving forces«, die Märkte, Konsum, aber auch die Lebenswelten der Menschen verändern.
Der dritte Teil – FUTURE BUSINESS – handelt von Umsetzungen und Anwendungen im Bereich der Waren, Dienstleistungen, Firmenkonzepte, Innovationen. Es geht um Kunden, Marketing, Strategien, um Beispiele und Evolutionsmodelle in bestimmten Branchen.
Und im letzten Teil – FUTURE FITNESS – setzen wir das Bild zusammen. Hier geht es um uns selbst als »Ich AGs« und »Selbst GmbHs«. Um Techniken, die uns als Individuen »zukunftsgewandter« machen können. Aber auch um strategische Grundvoraussetzungen von »zukunftsfitten« Unternehmen in den unruhigen und komplexen Marktumfeldern der Zukunft.
Sehen Sie das Ganze bitte wie ein Haus. Um unser Gebäude »future fit« zu machen, müssen wir zunächst den Keller aufräumen. Dort wohnen die Dämonen und Geister, die unerlösten Zukunftsängste und -visionen. Im Parterre findet sich das Forschungslaboratorium, wo es um Erkenntnisse, Methoden und das Grundhandwerk geht. Im ersten Stock kann man die »Küche« besichtigen, in der aus Erkenntnissen Realitäten werden. Und oben, im Dachgeschoss, hat man schließlich freien Blick auf den Horizont.
Wien/Frankfurt, im Winter 2002/2003
Man fliegt nur so weit, wie man im Kopf schon ist.
DER SKISPRINGER JENS WEISSFLOG
Im Jahre 546 vor Christus plante Krösus, der unglaublich reiche König des sagenumwobenen Goldreichs Lydien, einen Feldzug, um seinen Reichtum weiter zu vermehren. Wie bei wichtigen Entscheidungen damals üblich, suchte er bei Institutionen Rat, die einen direkten Draht zu den oberen Instanzen, den Göttern, hatten. Zunächst unterwarf er die sieben renommiertesten Orakel, die im hellenischen Raum um Kunden warben, einem »pitch«. Er schickte Boten los und ließ fragen, was er, Krösus, am hundertsten Tag nach deren Abreise tue …
Das Orakel von Delphi schickte wenige Tage später einen Boten zurück, mit der in Ton geritzten Antwort: »Ich höre den Stummen und den Schweigenden – und zu mir dringt der Geruch des Lammes und der Schildkröte, und Kupfer ist darüber und darunter.«
Da Krösus am Stichtag von einem wortlosen Koch in einem Kupferkessel Lamm- und Schildkrötenfleisch kochen ließ, war die Wahl klar: Krösus befragte – unter Zurücklassung einer großzügigen Spende – das Apollo-Orakel von Delphi, ob und wann er einen Krieg gegen die Perser anfangen solle. Die Antwort haben viele von uns in der Schule auswendig gelernt:1
»Wenn du den Halys überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören!«
Krösus sammelte also seine Heere und zog über diesen Fluss, der heute Kizil Irmak heißt und in der Türkei liegt, nach Osten. Und handelte sich eine Niederlage ein, die ihn einen großen Teil seiner Ländereien kostete, einschließlich seines Ansehens als unbesiegbarer Kriegsherr. Nachdem er sich aus der Gefangenschaft bitter über die »Irreführung« beschwert hatte, antwortete das Orakel – so berichtet es jedenfalls Herodot:
»Apollon weissagte ihm nur, er werde ein großes Reich zerstören. Er aber verstand nicht das Wort und fragte auch nicht, ob sein eigenes Reich gemeint war.«
Gemein. Perfide. Ein Fall für die Staranwälte der Gegenseite! Haben Orakel eine Geld-zurück-Garantie? Begründet sich hier eine Orakel-Tradition, die bis heute anhält – Scharlatane, die viel Dampf aufsteigen lassen und ihre Kunden nach Strich und Faden ausnehmen, mit imponierenden Power-Point-Präsentationen und wachsweichen Weissagungen?
Wer von Ihnen ist dafür, dass Krösus seine Opfergaben und Goldstücke zurückerhalten soll?
Andererseits: Wie erklärt sich dann der anhaltende Erfolg des Orakels von Delphi? Mehr als 500 Jahre lang, von 600 bis ca. 100 vor Christi, blieb Delphi eine mächtige und florierende Institution, die weit über alle Meere einen guten Ruf hatte: Herrscher, Staatsmänner, Philosophen, aber auch einfache Bürger, Kaufleute der hellenischen Stadtstaaten, suchten hier Rat. Und viele von ihnen kamen immer wieder! Auf den Tonscherben, auf denen die Prophezeiungen aufgezeichnet worden waren, fanden sich erstaunlich konkrete Ratschläge und Hinweise (Heiratsempfehlungen, Geschäftsvorschläge etc.), die, wenn sie allesamt falsch gewesen wären, ziemlich schnell den Ruf ruiniert hätten.
Delphi ist aber weniger wegen seines Consulting berühmt geworden als wegen seiner Inszenierung. In einer Felsspalte hockte auf einem Schemel die legendäre Pythia. Heute wissen wir, dass aus dem Travertinstein Methan- und Ethan-Dämpfe aufstiegen, so dass der Rauschzustand der Pythia wahrscheinlich nicht nur gespielt war. Ihr mystisches Gebrabbel, das Augenzeugen zufolge »manchmal einem Heulen und Schreien glich«, wurde dann von den Priestern des Ordens in Verse gebracht. Die Kunden nahmen, um an einen Orakel-Ratschlag zu kommen, eine Menge Entbehrungen in Kauf. Sie kamen mit ihrem gesamten Hofstaat – Sklaven, Frauen, Tiere – und mussten bei Wasser und Wein teilweise tagelang in fensterlosen Kammern warten, bis das Orakel sich bequemte zu sprechen.
Aber diese Inszenierungen waren nur der »Showroom« des Visions-Erlebnislandes Delphi. Im Hintergrund arbeitete ein Priesterorden (über lange Zeit von Frauen dominiert), der das verfügbare Wissen der damaligen Zeit sammelte und kartografierte. Man wusste genau Bescheid, wer in Athen gerade gegen wen intrigierte und wie die Olivenpreise standen. Der Aufstieg von Sokrates (und damit die Ära von Aristoteles und Plato) wurde von Delphi vorausgesagt, wenn nicht gar politisch befördert. Die Priester konnten schreiben – damals eine Seltenheit. Und verfügten über das damalig schnellste Kommunikationsmittel: laufschnelle junge Männer.
Delphi war eine Art Spionagezentrum der Antike, ein Geheimdienst. Ein »think tank«. Der Krösus-Schiedsspruch basierte auf einer genauen Einschätzung der militärischen Kräfteverhältnisse. Der Delphi-Orden war gleichzeitig – und das war der eigentliche Kern seiner Dienstleistung – Katalysator der ersten demokratischen Evolution der Menschheitsgeschichte. Die Pythia insistierte auf Mäßigung bei Konflikten, beharrte auf zivilen Formen des Konflikt-Managements. Das Orakel riet, auf Blutrache und Brunnenvergiftung, damals ein übliches Mittel, zu verzichten.2 Sokrates sollte später sagen: »Delphi brachte viel Gutes über die öffentlichen Angelegenheiten unserer Städte.«
Krösus hätte wissen können, auf welchen Prozess er sich einließ. Das Orakel testete seine Hybris – und Krösus fiel durch. Wer Augen zu lesen hat, der lese. Über dem Tor des Orakels stehen heute noch deutlich zwei Sätze:
»Ich weiß buchstäblich nicht, was die Leute damit meinen, wenn sie sagen, man muss nach vorne sehen, um zu wissen, wohin wir gehen. Worauf sollen wir denn blicken? In der Zukunft gibt es für uns noch nichts zu sehen. Nach-vorne-Blicken kann doch nur bedeuten, dass wir in unserer Vergangenheit nützliche und humane Ideen suchen, mit denen wir die Zukunft gestalten können.«3 So formulierte es vor kurzem der Medienkritiker Neil Postman. Noch trockener sagte es unser geliebter Karl Popper:
»We can know nothing about the future, otherwise we would know it!«
Zukunfts-Zynismus – also die Leugnung, dass die Auseinandersetzung mit Zukunft überhaupt einen Sinn machen kann – ist ein beliebter Freizeitsport, und er kann sich auf die Zitate kluger Männer berufen. Nichts ist leichter, als sich schenkelklopfend über die Unmöglichkeit jeder Prognose zu verständigen: Hoho – alles Unsinn – wenn nicht einmal die Wetterfrösche uns den Regenschauer von heute Nachmittag vorhersagen können!
Fallen wir also ruhig einmal ein in den Chor der Zukunftszyniker. Dabei brauchen wir noch nicht einmal die allbekannten Fehlprognosen-Bonmots zu bemühen, die heute jede zweite Rede schmücken (Dauerbrenner: die Prognose des »IBM«-Chefs Thomas Watson aus den 40er Jahren: »Es gibt einen Weltmarkt für vier Computer!«).4
Im Jahre 1910 wagte ein Dutzend abendländischer Publizisten und Denker aus dem deutschsprachigen Raum das ehrgeizige Projekt einer 100-Jahre-Voraussage. Sie erschien in Buchform unter dem Titel Die Welt in 100 Jahren in Berlin: 24 Kapitel über die Zukunft der Frauen, des Verkehrs, der guten Sitten, des Theaters und so fort. Hier einige Schlüsselzitate:
»Es gibt mancherlei, was wir trotz unserer Unzulänglichkeit voraussagen können. Zum Beispiel, dass das menschliche Vorwärtsstreben von jetzt ab weit schneller vonstatten gehen wird. In den kommenden Gärten werden Johannisbeeren wachsen so groß wie Damascenerpflaumen, Äpfel so groß wie Melonen […] Obwohl jede Ortschaft ihr Theater hat, wird man nur in New York und Paris Theater spielen und dies mittels Fernharmonium auf den Schirm in alle Welt übertragen. […] Nachts wird die Luft von Millionen Lichtern erhellt, und im tausendjährigen Reich der Maschine gleicht die Kriegsführung einem Schachturnier. Die Steppen Amerikas, die Dschungel Indiens, die Gletscherfirnisse der Alpen werden mit bunten, gen Himmel schreienden Plakaten bedeckt sein. Die Zahl der Wahnsinnigen wird irre steigen, das Verbrechen zur Domäne der Frauen geworden sein, die beiden großen Bewegungen der Neuzeit, die Frauen- und die Arbeiterbewegung haben ihre Ziele erreicht, u.a. durch die Mittel, die Menschheit ohne Elternschaft fortzupflanzen.«
Das scheint wie wilder Unsinn, gemischt mit zeitüblichem Pathos. Allerdings: Wenn man genauer liest, finden sich einige erstaunliche Erkenntnisse. Und im Kapitel »Die Kommunikation der Zukunft« wurde so gut wie alles präzise vorausgesagt, was unsere heutige Kommunikationswelt ausmacht:
»Die Bürger der drahtlosen Zeit werden überall mit ihrem ›Empfänger‹ herumgehen, der irgendwo, im Hut oder anderswo angebracht, auf eine der Myriaden von Vibrationen eingestellt sein wird. Der Empfänger wird trotz seiner Kompliziertheit ein Wunder der Kleinmechanik sein. Konzerte und Direktiven, ja alle Kunstgenüsse und das Wissen der Erde werden drahtlos übertragen sein. Monarchen, Kanzler, Diplomaten, Bankiers, Beamte und Direktoren werden ihre Geschäfte erledigen und ihre Unterschriften geben können, wo immer sie sind, sie werden eine legale Versammlung abhalten, wenn der eine auf der Spitze des Himalaya, der andere an einem Badeorte ist…«5
Grasen wir weiter auf der fruchtbaren Weide der Zukunftsirrtümer: Hermann Kahn, der wohl berühmteste US-Zukunftsforscher der 60er und 70er Jahre, ein Zwei-Zentner-Mann mit massivem Sendungsbewusstsein (er erfand zum Beispiel die »doomsday machine«, die Stanley Kubricks Film »Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben« inspirierte), machte 1968 in seinem berühmten Werk Ihr werdet es erleben6 zusammen mit Anthony J. Wiener, unter anderem folgende technische Prognosen für das Jahr 2000:
Wirksame Appetits- und Gewichtskontrolle; kein Mensch muss mehr wiegen, als er will,
»Winterschlaf« zu Erholungs- und Therapiezwecken auch beim Menschen,
Riesenunterseeboote für Massenguttransporte,
Verlässliche Wettervorhersagen und Beeinflussung des Wetters durch den Menschen,
Privatflugzeuge für jedermann.
Auch hier kann man mühelos die Formel »Der Wunsch ist der Vater aller Prognosen« erkennen. Doch diese sieben Fehltreffer sind lediglich ein kleiner Ausschnitt aus insgesamt 100 (!) Technik-Voraussagen Kahns, von denen die anderen 93 durchaus unser heutiges technisches Environment beschreiben. Zum Beispiel sahen Kahn und Wiener voraus:
den Boom der Bankautomaten,
den Siegeszug der Videorekorder,
die GPS-Ortungssysteme,
Hochgeschwindigkeitszüge.
Und wie steht es mit den »Trendbrüchen«, mit den völlig unerwarteten Ereignissen der Weltgeschichte? »A trend is a trend is a trend. But the question is: will it bend?« Wie es Alec Cairncross, Chefökonom der britischen Regierung, nach dem Krieg formulierte, lauern hier die wahren Fallen für die Zukunftsschau.
»Ich zweifle nicht daran, dass die Sowjetunion, dieses riesige ostslawische Imperium in die Endphase ihrer Existenz eingetreten ist«, schrieb der Dissident Andrej Amalrik in einem Essay des Jahres 1982.7 »Zehn Jahre, nicht länger, wird dieses tönerne Imperium noch dauern, bevor es zu Staub zerfällt.« Prophetische Sätze. Aber wer wollte in der Hochphase des Kalten Krieges hören? Wir alle hatten uns in der bipolaren Welt des Kalten Krieges gemütlich eingerichtet – im Osten wie im Westen.
14 Jahre vor dem Untergang der Titanic, 1898, erschien ein Buch des Autors Morgan Robertson mit dem Titel
Wreck of the Titan.
In diesem Buch kollidiert ein 75 000-Bruttoregistertonnen-Ozeanriese auf seiner Jungfernfahrt mit einem Eisberg und sinkt, mehr als die Hälfte der 3000 Passagiere ertrinken.
8
H.G. Wells, der Autor der
Zeitmaschine,
hat nicht nur Romane, sondern auch ein ernstes Prognosebuch geschrieben. In
The Shape of Things to Come
von 1933 sah er einige geschichtliche Entwicklungen, wie den Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich, den Zweiten Weltkrieg, den Luftkrieg, präzise voraus. 1933 wollte niemand das Buch lesen.
9
2000 erschien das Buch
Die kommende Internet-Depression
.
10
Eine sehr genaue Analyse der Mechanismen, mit der die Technologieblase die Weltwirtschaft für fünf bis zehn Jahre in den Keller ziehen wird … Soll ich daraus zitieren? Lieber nicht. Es ist zu deprimierend, weil es zu wahr geworden ist!
Selbst die Terror-Attentate vom 11. September 2001, in ihrem Wesen geradezu prototypische »Trendbruch-Events«, blieben keineswegs unvorhergesagt. Im Jahre 1998 erschien der Politthriller Ausnahmezustand, der mit Denzel Washington und Bruce Willis verfilmt wurde. Plot: 2000 Tote durch islamistische Terror-Attentate in New York. Im Juni 1999 (!!!!) erschien in der amerikanischen Zukunftszeitung The Futurist folgender Text:
»Der kommende Superterrorismus (Superterrorism: Assassins, Mobsters, and Weapons of Mass Destruction)
Die Natur des Terrorismus wandelt sich: Während ›billige‹ Bombenattentate und Geiselnahmen für Jahrzehnte auf der Tagesordnung standen, werden nun hochtechnologische Angriffe auf ganze Länder, Attacken auf große Bevölkerungsgruppen und die Infrastruktur ganzer Staaten wahrscheinlicher. Die USA werden langsam, aber sicher auch auf ihrem eigenen Territorium ein Ziel. Senator Bill Frith, ein Mediziner aus Tennessee, sagte bereits vor kurzem voraus, dass eine chemische oder biologische Attacke auf den Kongress in den nächsten fünf Jahren nicht unwahrscheinlich ist. Senator John Glenn äußerte die Hoffnung, dass es keines katastrophischen Anschlags bedarf, um die Konsequenzen aufzuzeigen.
Die kommende lange Schlacht wird wie folgt aussehen:
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann der Superterrorismus die Zivilisation, so wie wir sie kennen, ernsthaft beschädigen oder ausrotten.
Während der Kalte Krieg fünfzig Jahre dauerte, sollten wir uns auf eine viel längere Schlacht gegen den Superterrorismus vorbereiten.
Man kann unmöglich alle Ursachen für den Terrorismus – etwa Armut in der Dritten Welt – vollständig beseitigen. Die Auseinandersetzung mit diesen Problemen kann jedoch das Ausmaß der Bedrohung reduzieren.
Keine einzelne Regierung kann die kommenden Herausforderungen alleine meistern – eine neue Ära internationaler Zusammenarbeit steht bevor.
Die Grundrechte sind ein wichtiges Rückgrat unserer Gesellschaft, müssen aber der neuen Gefahrenlage angepasst werden.«
Popper hat Unrecht. Und dennoch Recht: Was »wir« über die Zukunft wissen, ist in der Tat oft spärlich. Aber nicht, weil es keine Möglichkeit der Prognose gibt, sondern weil »wir« davon keine Kenntnis nehmen. In der Geschichte gab es keine Erscheinung, keine Evolution, keine Technologie, die nicht von sensiblen Geistern oder analytischen Denkern vorhergesehen und beschrieben wurde. Das Problem nur: Es hörte ihnen keiner zu!
Woran liegt das? Prognosen sind, wie vieles andere auch, eine Frage des Angebots und der Nachfrage. Ihr Markt wird von komplexen Faktoren wie Zeitgeist-Strömungen und nicht zuletzt ökonomischen Interessen geprägt. Damit sieht sich der Prognostiker einem Geflecht von Widerständen, Erwartungen, »Zukunftsklischees« gegenüber. Prognosen, die öffentlich wahrgenommen werden, sind oft nichts anderes als die Bestätigungen von Erwartungshaltungen, kollektive Übereinkünfte über unsere kognitiven comfort zones.
WICHTIGE ZUKUNFTSFORMEL
Richtige Prognosen kauft einem (meistens) keiner ab!
Es könnte aber eigentlich alles ganz einfach sein: Wir müssen lediglich die richtigen Zukunftsseher heraussuchen – und die Scharlatane, die Opportunisten und Ideologen aussortieren. Die Zukunftsspreu vom Weizen trennen!
Zukunft ist wie eine schwere Krankheit: Wir holen immer mehrere Urteile über sie ein. Das ist richtig und verständlich. (Ich kann gut damit leben!) Aber wichtig ist zu wissen, bei wem wir die Expertise einholen:
Propheten kommen in der Menschheitsgeschichte in regelmäßigen Abständen immer wieder vor – sie sind Begleiter eines historischen Bruchs, eines Übergangs – einer Revolution. Propheten bündeln die Wünsche und Sehnsüchte von großen Menschengruppen, schaffen ein Bild für diese Sehnsüchte – und dienen dann oft als Führer in einem Transformationsprozess.
Abraham war der erste bekannte Prophet. Auf ihn berufen sich gleich drei Weltreligionen (die derzeit im Nahen Osten über genau dieses Erbe in schweren Konflikt geraten sind). Abraham sah die Zukunft des Volkes Israel jenseits der Versklavung, und er machte diesen Traum wahr.
Propheten haben einen funktionalen Bezug zur Zukunft. Sie fragen nicht, was kommen könnte, sie definieren Zukunft – und machen sie auf dem Resonanzboden einer historisch reifen Situation. Sie machen ihrer Anhängerschaft Stress: Sie arbeiten mit starken Zeichen, mit Erlösungshoffnungen. Sie sind prinzipiell gefährlich. Ghandi war Prophet. Aber auch Hitler. Martin Luther. Martin Luther King. Arafat. Und Bin Laden.
Visionäre verfügen meist nicht über die Fähigkeit, Menschen zu führen oder zu organisieren. Sie stellen das Mögliche in Worten, Bildern oder Metaphern dar – sie tun dies begeisternd und talentiert. Aber sie betreiben es eher als eine Art emphatisches Hobby, weniger als Weltveränderungsjob.
Jules Verne war spekulativer Romanautor mit einer kindlichen Lust am Abenteuer, an Weltreise, Seebären und zu rettenden Frauen. Kein Mensch kann seine Visionen vom Kanonenschuss auf den Mond oder der Reise zum Erdmittelpunkt als Prognosen missverstehen. Und doch stammen aus seiner Feder mindestens zwanzig Volltreffer über die Zukunft – er sah in seinem Traktat
Paris im Jahr 2000
Erfindungen voraus, die im 20. Jahrhundert allesamt Wirklichkeit wurden.
11
Stanislaw Lern, das grummelnde Multigenie, hat in seinen theoretischen Traktaten so ziemlich alles präzise vorausgesehen, was uns heute umtreibt – von der
virtual reality
(»Phantomatik«)
12
bis zur Debatte um Gentechnik.
Arthur C. Clarke, der
grand old man
der Zukunftsvisionen, beglückte uns nicht nur mit mystischer Science-Fiction –
2001
–
Odyssee im Weltraum
geht auf sein Konto – sondern auch mit einer Vielzahl von scharfsinnigen, allerdings stets auch technizistisch verspielten Visionen über das bunte Leben im Jahr 2100.
Auch Karl Marx war Visionär. Er beschrieb bereits im 19. Jahrhundert emphatisch die weltumspannende Ökonomie der Globalisierung und die gewaltigen Kräfte, die sie entfachen sollte. (Das Prophetentum, das »Machen«, überließ er dann allerdings seinen Apologeten, den Kommunisten.)
Prognostiker sind die fleißigen Lieschen unter den Zukunftssehern. Die Handwerker der Möglichkeiten, die Bastler der Wahrscheinlichkeiten. Das Angenehme an ihnen ist, dass sie ihre Prämissen reflektieren. Sie erstellen Statistiken und mühen sich redlich, Zukunft objektiv zu erfassen.
Oft allerdings fehlt ihnen ein Quentchen Inspiration. Mal ganz unter uns gefragt: Warum sollen wir uns mit einer Zukunft beschäftigen, die ziemlich »vielleicht« ist?
Zukunftsagenten sind eine Spezies, die keiner der drei geschilderten Typen wirklich zuzuordnen ist. Es sind dies Menschen – oder Gruppen, Netzwerke, Denkbrüder und -schwestern – die ihren Job nicht so sehr in der Entwicklung spektakulärer Zukunftsbilder sehen, sondern in der Initiierung von (mentalen und realen) Prozessen, die zu einer besseren Zukunft führen können. Oft sind diese Menschen innerhalb größerer Organisationen (Firmen, Behörden) beschäftigt. Oft sind sie Berater, Selbständige, die den Geist des Neuen von außen in Unternehmen hineinzubringen versuchen. Sie fühlen sich nicht den einfachen Lösungen verpflichtet, sondern den Abenteuern und Verführungen der steigenden Komplexität.
Zukunftsagenten sind keine Wahrsager. Aber Wahr-Sager! Sie interessieren sich fanatisch für die »drei Ps«:
THE POSSIBLE – DAS MÖGLICHE
THE PROBABLE – DAS WAHRSCHEINLICHE
THE PREFERABLE – DAS, WAS VORZUZIEHEN IST
In ihrem legendären Bestseller Megatrends markierten John Naisbitt und Patricia Aburdene im Jahre 1984 unter anderem folgende vier Zukunftsparameter für die Zeit bis zur Jahrtausendwende:13
Die Frauen werden in die Zukunftsetagen einziehen
Die Biologie wird die zentrale Wissenschaft werden
Die Religionen werden wieder auferstehen
Das Individuum wird Triumphe feiern
Keine dieser Aussagen ist aus heutiger Sicht besonders spektakulär oder »prophetisch«. Aber im Jahre 1984 – wir erinnern uns: Kalter Krieg, Nachrüstung, Öko-Bewegung –, war dies alles klarsichtig und »auf den Punkt gebracht«.
Dies ist eine treffende Beschreibung des Jobs, den Zukunftsagenten zu verrichten haben: auf den Punkt bringen, worauf es in Zukunft mehr und mehr ankommt.
Wir sind jetzt so weit, dass wir uns an eine »Verortung« unserer inneren Haltungen trauen sollten – jener Haltungen, die unsere Sicht auf die Zukunft bestimmen. Wir können dies mit Hilfe eines einfachen Rastersystems tun:
Bitte markieren Sie auf der waagerechten Achse einen Punkt auf einer Skala von eins bis zehn für die folgende Frage (1: Glaube ich absolut nicht; 10: Glaube ich mit voller Überzeugung; 5: Weder – noch):
Glauben Sie, dass die Zukunft für die überwiegende Anzahl der Menschen auf dem Planeten Erde eine bessere Zeit wird, als die Vergangenheit es (für die meisten Menschen) war – oder glauben Sie das nicht?
Zweite Frage für die senkrechte Achse: Auf einer Skala von eins bis zehn (1: Glaube ich absolut nicht; 10: Glaube ich mit voller Überzeugung; 5: Weder – noch):
Der Mensch wird eine Zukunft errichten, in der er sich mittels Technologie über sich selbst, über die Grenzen von Raum und Zeit erhebt. Das ist sein evolutionäres Programm.
Das Zukunftsmentalitätsprogramm