Ganz alltägliche Weihnachtswunder - Ruth Senff - E-Book

Ganz alltägliche Weihnachtswunder E-Book

Ruth Senff

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Beschreibung

Ein indischer Arzt in Deutschland. Eine Mutter, die um das Leben ihres Sohnes bangt. Eine Familie, die wieder zueinander findet. Sie alle erleben ein unverhofftes Weihnachtswunder, für sie alle stellt Weihnachten einen Wendepunkt in ihrem Leben dar. Acht alltägliche Geschichten, die den Leser das Wunder von Weihnachten ganz neu erleben lassen.

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In Liebe und Dankbarkeit für meine Eltern – die Weihnachtsfeste meiner Kindheit sind für mich ein Sehnsuchtsort voller Wunder und Magie.

Inhaltsverzeichnis

Der Engel im braunen Anzug

Der Lebensretter

Der zweite Strich

Das bunte Fenster

Mikes besonderes Weihnachtsfest

Hoffnung auf Leben

Versöhnung am Heiligen Abend

Der letzte Moment

Der Engel im braunen Anzug

Heiligabend in einer Stadt, irgendwo in Deutschland. Es war keine besonders große Stadt, aber auch keine der vielen Kleinstädte, die es in diesem Land in jeder Region gibt. Die Stadt konnte mit kaum einer touristischen Attraktion aufwarten, es gab kein Schloss, zu dessen Füßen sich die Altstadt malerisch ausbreitete, keinen Hafen, in dem die Lichter der Schiffe für Abenteuerromantik sorgten, keinen Fluss, in dem sich die Lichter der Weihnachtsbeleuchtungen spiegelten. Es war keine besonders reiche Stadt, keine, auf deren Prachtstraße sich die Reichen und Schönen in den Boutiquen der angesagten Modelinien neu einkleideten und die weniger gut Verdienenden sich ihre Nasen an den Schaufenstern dieser Modeläden plattdrückten. Es war auch keine besonders arme Stadt, keine, in denen Industriebrachen und Fabrikruinen das Stadtbild prägten. Es war eine durchaus durchschnittliche Stadt. Das ein oder andere Haus, im Jugendstil erbaut, hatte den Krieg überlebt und schmückte heute die eher trostlosen Straßen der Innenstadt. Ein paar Grünanlagen waren in den letzten Jahren aufgewertet worden und boten den Familien aus dem Viertel einen Ort der Erholung. Die ein oder andere Kirche ragte imposant in den Himmel. Niemand war in diese Stadt gezogen, weil es hier besonders schön war. Viele blieben, weil es auch nicht ganz schlimm war, hier zu wohnen. Die meisten lebten hier, weil sie schon hier geboren worden waren und weil auch ihre Eltern und deren Eltern schon hier gelebt hatten.

Es war der 24. Dezember. Heiligabend. Es war winterlich kalt, der Schnee aber war, wie schon in den letzten Jahren und Jahrzehnten zum Weihnachtsfest ausgeblieben. Lediglich am Morgen, als die Stadt noch durch emsiges Treiben vibriert hatte - das Hasten derer, die die letzten Geschenke erstehen wollten, das Trödeln der Kinder, die in der Nachbarschaft Plätzchen und kleine Geschenke verteilen sollten, die Autos derer, die in den langen Schlangen in den Supermärkten noch die letzten Leckereien für das große Fest erstehen wollten und das Seufzen der Verkäufer, die zum einen froh waren, dass der weihnachtliche Trubel mit dem heutigen Tag endlich vorbei waren, die sich aber fragten, wie sie es noch schaffen sollten, nach ihrer Rückkehr nach Hause ihr Fest vorzubereiten - , da hatte eine hauchdünne Schicht Raureif die Ziegeln der Dächer und die ein oder andere Bank in einer der Grünanlagen überzogen. Es hatte ausgesehen wie die Schicht Puderzucker, die in den letzten Tagen auf so vielen Plätzchen verteilt worden war.

Die Glocken der Kirche in der Innenstadt läuteten in einem Chor, der etwas aus dem Rhythmus gekommen schien. Damit wurde das Ende des alljährlichen Krippenspiels angekündigt. Gerührte Großmütter, stolze Großväter, Tanten und Onkel, die pflichtschuldig lächelten und ein Gähnen unterdrückten, gestresste Mütter, Väter, die erleichtert die langen Beine streckten, strömten aus den Kirchenportalen, die Helden des Krippenspiels, freudig vor sich hinplappernd, in ihrer Mitte. Aus dem Tor der Kirche drang Kerzenschein, ein warmes, freundliches Licht. Die Parkplätze rund um das Gotteshaus waren überfüllt, die Politessen sahen an diesem Abend großzügig über im Halteverbot geparkte Autos hinweg, es war schließlich Heiligabend. Und auch die Hausbesitzer, deren Garagenausfahrten von den Wagen der Gottesdienstbesucher zugeparkt wurden, ließen sich von dem Weihnachtsfrieden anstecken und verzichteten darauf, Abschleppwagen zu rufen. Es war ja schließlich Weihnachten.

Ein Mann ging durch die Straßen der Innenstadt. Er war alleine, hatte keine Tüten mit Geschenken in der Hand, auch schien er nicht die Verpflichtung zu spüren, pünktlich zur Bescherung an einem bestimmten Ort sein zu müssen. Der Mann trug einen dunkelbraunen Anzug, der nicht der neusten Mode entsprach; der Anzug war weder dreckig, noch zerschlissen, an den Ellenbogen aber schon etwas abgewetzt und aus der Form geraten. Das Alter des Mannes war schwer zu schätzen. Er ging langsam, bedächtig, was an seinem Alter liegen konnte oder daran, dass er immer wieder anhielt, um in die beleuchteten Fenster der Häuser zu schauen. Er nutzte keinen Gehstock, hatte die Hände auf dem Rücken zusammengenommen. Sein Haar war schütter, aber ordentlich gekämmt, er war rasiert, und auch in seinem Gesicht suchte man nach Hinweise auf sein Alter vergebens: Keine tiefen Falten, keine Zeichen von einem langen gelebten Leben.

Wenn er in die erleuchteten Fenster schaute, breitete sich ein Lächeln auf dem Gesicht des Mannes aus, ein mildes, freundliches Lächeln. Sein Gesichtsausdruck und seine Stimmung waren schwer zu lesen. Es wirkte nicht so, als wäre er traurig. Nicht so, als würde er voller Neid und Sehnsucht in die beleuchteten Fenster schauen. Und doch wirkte er einsam. So, als würde er ziellos durch die Straßen der Stadt wandern, ohne Hast, aber auch ohne einen Plan, bedächtig, aber nicht zögernd, langsam, aber nicht schwerfällig. Während des Gottesdienstes mit dem Krippenspiel hielt er vor der Kirchentür an, lauschte, sah hinauf zum Kirchturm, lächelte; manchmal nickte er, so als wäre er zufrieden mit dem, was an gedämpfter Musik durch die schwere Kirchentür nach draußen klang; manchmal schaute er versonnen vor sich hin, so, als sei er tief in Gedanken. Doch ging er nicht die Stufen zu dem Kirchenportal hinauf, öffnete nicht die Tür, um sich in die hinterste Reihe zu setzen und von dort den Liedern zu lauschen.

Als sich das Kirchenportal öffneten und die Menschen mit dem Klang der Glocken und den letzten Akkorden der Orgel aus dem Tor strömten, blieb der Mann stehen, hielt sich aber im Hintergrund. Es war nicht so, als würde er sich verstecken, als wollte er ungesehen bleiben. Mehr so, als würde er Platz machen, als wollte er nicht im Weg stehen, als wollte er beobachten von seinem Platz unter der Platane, auf dem Platz vor der Kirche. Dem ein oder anderen Kirchenbesucher nickte er freundlich zu, lächelte. Denen, die beseelt von dem Weihnachtsgottesdienst entgegenkommenden Passanten ein frohes Weihnachtsfest wünschten, antwortete er mit demselben Gruß, freundlich lächelnd, nickend. Als der Strom der Kirchenbesucher abebbte, setzte der Mann seinen Weg fort, langsam, bedächtig, und ohne dass er ein Ziel zu haben schien.

Sie waren später dran als gedacht. Erst hatte sich seine Frau mit den Damen des kirchlichen Frauenkreises unterhalten; danach war ihr Sohn, einer der Hirten in dem Krippenspiel, unauffindbar; erst ein Hinweis des Küsters hatte sie in die kleine Teeküche schauen lassen, in der ein grinsender Hirte vor einem Teller Weihnachtsplätzchen saß und sich den Appetit auf das Weihnachtsessen gänzlich zu verderben schien. Danach hatte er selbst einen ehemaligen Schulkameraden getroffen, an dem er nicht hatte vorbeigehen können, ohne sich kurz zu unterhalten und ohne einander zu versichern, dass sie sich nun aber wirklich einmal auf ein Bier treffen wollten. Der Parkplatz der Kirche lag schon verwaist und dunkel vor ihnen. Seine Frau schaute angespannt auf die Uhr, rollte mit den Augen, der ganze Zeitplan von Heiligabend war bereits jetzt aus den Fugen geraten. Auf der Rückbank plapperte der kleine Hirte, erzählte von dem Lampenfieber und der Angst, seine Textzeile vergessen zu haben, erzählte von einem Geschenk, das alle Teilnehmer des Krippenspiels am Ende des Gottesdienstes erhalten hatten, das er aber irgendwo abgelegt und dann vergessen hatte; redete von der Vorfreude auf die anstehende Bescherung und wog in Gedanken ab, welches der Geschenke, die auf dem Wunschzettel Platz gefunden hatten, denn wohl den Weg unter den Weihnachtsbaum gefunden hatte. Genervt und leicht gereizt tippte seine Frau die frisch manikürten Fingernägel auf ihr Knie. Beruhigend legte er seine Hand auf ihren Unterarm.

„Es ist Weihnachten, wir haben Zeit.“

Die Straßen waren leer, alle Kirchenbesucher schienen schon zu Hause angekommen zu sein, die Menschen waren wahrscheinlich bereits in den Wohnzimmern zur Bescherung zusammengekommen. Nur ein Mann ging einsam und alleine auf dem Bürgersteig der sonst viel befahrenen Straße. Er schien älter zu sein, ging langsam, bedächtig, hielt immer wieder an, um in die erleuchteten Fenster zu schauen.

Zunächst fuhr er an ihm vorbei, das Geplapper seines Sohnes im Ohr, die angespannten Bewegungen seiner Frau aus den Augenwinkeln wahrnehmend. Er dachte an die Christvesper. Vielleicht lag es daran, dass sein Sohn das erste Mal mit dabei gewesen war, vielleicht auch an der Zeile, die sie mit ihm wieder und wieder geübt hatten, damit der kleine Hirte auch textsicher war: „Denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“

Es war, als würde sich etwas in seinem Herzen bewegen. Kein Ziehen, zumindest kein krankhaftes. Eher so, als würde jemand an einem Band ziehen und seinem Herzen dadurch einen Schubs geben. Es war ein Ruck, der durch ihn durchging und von dem er später nicht sagen konnte, woher dieser kam. Es war das Wissen, etwas tun zu müssen, aber nicht zu wissen, warum er dies tat. Er bremste den Wagen ab, blinkte und wendete auf der vierspurigen Straße, auf der, anders als an jedem anderen Tag im Jahr, kein Auto zu sehen war. Fragend schaute ihn seine Frau an, die Augenbrauen in dem perfekt geschminkten Gesicht nach oben gezogen.

Mit dem Kinn deutete er auf den Mann, der ihnen auf der anderen Straßenseite entgegenkam. „Ich werde ihn einladen. Zu uns, heute Abend.“

„Das kannst du nicht tun! Du weißt doch gar nicht, was er vorhat. Vielleicht ist er auf dem Weg zu einem Weihnachtsessen.“

Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Wahrscheinlich aber nicht.“

„Du kennst ihn doch gar nicht.“

„Dann lernen wir ihn kennen.“

„Aber was… wenn er stinkt, riecht?“

„Dann haben wir Raumspray und das Räuchermännchen, das wird den Geruch übertünchen.“

„Was, wenn er keine Manieren hat? Lukas, was, wenn er…“

„Lukas wird seine Manieren nicht verlieren, nur, weil wir an einem Abend einen Gast haben, der sich vielleicht nicht so bei Tisch benimmt, wie wir es gewöhnt sind.“

„Aber… Unser Weihnachtsessen. Es ist ja nicht so, als gäbe es bei uns nur Kartoffelsalat und Würstchen. Die guten Delikatessen. Was, wenn er die nicht zu würdigen weiß?“

„Dann wird er vielleicht trotzdem satt und genießt die Gesellschaft.“

„Was, wenn er uns beklaut?“

„Im Wohnzimmer ist nichts, was nicht ersetzbar wäre. Geh nicht immer vom Schlimmsten aus.“

„Beantworte mir nur eine Frage: Warum?“

Hilflos zuckte er mit den Schultern. „Ich kann es dir nicht erklären. Ich muss es tun.“

Ergeben rollte sie mit den Augen, zuckte mit den Schultern. Sie wusste, sie hatte keine Chance, wenn ihr Mann sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte.

Wieder wendete er den Wagen auf der leeren Straße, schloss im Schritttempo zu dem Mann auf. Dieser lächelte, nickte, schaute weder verwundert noch abweisend.

Er ließ das Fenster der Beifahrertür nach unten rollen, lehnte sich über seine Frau. „Guten Abend. Haben Sie heute Abend schon etwas vor?“

Der Mann lächelte. „Ich gehe meinen Weg weiter. Ich habe keinen Plan.“

„Dürfen wir Sie zu uns einladen? Sie einladen, mit uns Weihnachten zu feiern?“

Der Mann lächelte wieder, nickte. „Das wäre sehr nett. Gerne. Vielen Dank.“

„Gut, dann steigen Sie bitte ein.“

Der Mann öffnete die hintere Tür, rutschte neben Lukas auf die Rückbank. Er begrüßte den Jungen freundlich, begrüßte dann die Dame auf dem Beifahrersitz.

Er konnte spüren, wie angespannt seine Frau war. Sah aus den Augenwinkeln die besorgten Blicke, die sie immer wieder zu ihrem Sohn auf die Rückbank warf.

Dieser plapperte unbeeindruckt weiter, froh darüber, jemandem, der seine Geschichten noch nicht kannte, von seinem Einsatz als Hirte im Krippenspiel zu erzählen, von seinem Wunschzettel, von der Vorfreude auf die Bescherung, von der Hoffnung, welches der gewünschten Geschenke sich unter dem Weihnachtsbaum befand. Der Mann hörte zu, lächelte, bewunderte, spendete Applaus und teilte die Aufregung des kleinen Jungen.

Als sie zuhause angekommen waren, erläuterte der kleine Junge unaufgeforderte das weitere Vorgehen. Die Mutter würde etwas fürs Abendessen in der Küche richten. Der Vater würde dem Weihnachtsmann helfen, die Lichter am Weihnachtsbaum anzuzünden. Er selber würde sich schnell umziehen und dann mit dem Gast im Flur warten, bis das Glöckchen klingelte. Erst dann dürften sie alle das Weihnachtszimmer betreten. Der Mann nickte, lächelte, schwieg und stellte sich geduldig wartend in eine Ecke des langen Flures, dort, wo er nicht im Weg stand. Nach einer Weile gesellte sich die Dame des Hauses dazu, lächelte dem Gast zu, nickte und schwieg ebenfalls. Zu ihrer Verwunderung musste sie feststellen, dass es nicht unangenehm war, neben dem schweigenden Gast auf das Klingeln des Glöckchens zu warten. Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass ihr Gast weder unangenehm roch, noch durch ungebärdiges Verhalten auffiel.

Als das Glöckchen klingelte, ließ der Gast Mutter und Sohn vorgehen und bildete den Abschluss der Prozession zum Weihnachtsbaum. Er hielt sich rücksichtsvoll im Hintergrund, sprach nicht, lächelte aber freundlich und teilnahmsvoll. Entschuldigend lächelte der Vater ihm zu: „Wir lesen immer noch einmal die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel.“ Auch das nahm der Mann mit einem Nicken und einem freundlichen Lächeln hin. Danach reichte die Frau einen Aperitif: Sekt für die Erwachsenen, Orangensaft aus einem Sektglas für den Jungen, dazu Nüsse, verteilt auf kleine Keramikschälchen. Der Mann, der bis dahin geschwiegen hatte, schlug vor, ob sie nicht ein Weihnachtslied singen wollten, „Oh du fröhliche“ vielleicht oder „Stille Nacht“? Skeptisch schaute sich das Ehepaar an. Sie hatten noch nie zusammen gesungen, auch wenn ihnen die Texte seit frühester Kindheit vertraut waren. Aber singen? Da stimmte die kräftigte Bariton-Stimme des Mannes die ersten Takte an, die Frau und der Mann stimmten ein, und selbst der Junge, noch nicht ganz textsicher, dafür mit viel Fantasie, trug mit heller, klarer Stimme zu dem Gesang bei. Als die letzten Worte verklungen waren, war es der Junge, der rief: „Noch eins, ich will noch ein Lied singen.“ Wieder stimmte der Mann ein Lied an, diesmal „Es ist ein Ros‘ entsprungen“. Der Vater stand auf, ging zum Klavier und holte das Gesangbuch – bei diesem Lied waren sie nicht mehr ganz so textsicher. Der Junge beschränkte sich darauf, bewundernd von einem Erwachsenen zum nächsten zu schauen, andächtig lauschend. Als die letzte Note verklungen war, war es wieder der Junge, der rief: „Noch eins!“ Ohne nachzudenken, stimmte der Mann erneut ein Lied an, „In dulci jubilo“. Der Vater und die Mutter, die sonst nie an Weihnachten gesungen hatten, sangen laut vernehmlich, wenn auch manchmal etwas atonal mit.

Die Mutter, die noch auf der Fahrt von der Kirche angespannt an den Ablauf des Abends und die Zubereitung des Festmales gedacht hatte, sang aus Herzenslust mit. Der Junge, der noch auf der Fahrt von der Kirche an nichts anderes als an die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum hatte denken können, wünschte sich ein Lied nach dem anderen. Ihr Gast, von dem sie so gar nichts wussten, stimmte text- und notensicher nach jedem Wunsch ein neues Lied an, ohne nachdenken zu müssen und ohne nach dem Text zu fragen.

Nachdem der Vater und die Mutter vom vielen Singen etwas aus der Puste und fast heiser waren und sich die Mutter entschuldigend in die Küche verabschiedet hatte, um das Abendessen zu richten, stand der Junge auf, zog den Gast vom Sofa und ging mit ihm, Hand in Hand, nicht zum Weihnachtsbaum und zu dem nicht ganz kleinen Berg an Geschenken, die dort aufgereiht lagen, sondern vielmehr zu der Truhe hinter der Sitzgruppe, auf der eine große hölzerne Krippe stand. Andächtig stand das Kind davor, zeigte dann auf die einzelnen Figuren, benannte jede einzelne und erzählte die passende Geschichte dazu, erzählte, warum das Jesuskind in einem Stall und nicht in einem Hotel zur Welt gekommen sei, erzählte von den Engeln, den Hirten, den Weisen aus dem Morgenland.

Die Mutter rief zum Abendessen an einen festlich gedeckten Tisch, der von Kerzen in großen Leuchtern erleuchtet war. Das Essen war köstlich und reichlich. Der Gast aß mit guten Manieren, der Junge aß ebenfalls, ohne nach Ketchup oder Extrawünschen zu fragen. Die Gespräche flossen leicht und mühelos dahin. Der Gast hörte zu, fragte nach, nickte, ermutigte, bewunderte; der Vater erzählte von seinem Job, den Sorgen eines Chefarztes, den Personalproblemen, den wirtschaftlichen Sorgen eines Krankenhauses, den Erfolgserlebnissen eines Arztes; die Mutter berichtete von den Kollegen, der Arbeitsbelastung, den Sorgen einer arbeitenden Mutter, die ihren Sohn ganztags in der Kita betreuen ließ, der Überlastung; zwischendurch plapperte der Junge, von seinem Krippenspiel, dem besten Freund im Kindergarten, dem verstorbenen Kater, der auf der Straße überfahren worden war. Nur der Gast, der erzählte nichts. Aber er hörte zu. Er war aufmerksam, verständnisvoll, nahm Anteil, nickte, lächelte, beruhigte.

Sie saßen viel länger beim Essen als sonst, zumindest seit dem Zeitpunkt, als ihr Sohn geboren war. Und selbst das Kind saß geduldig am Tisch der Erwachsenen, quengelte nicht, langweilte sich nicht. Manchmal stand es auf, holte eines seiner Spielzeuge und präsentierte es dem Gast, der es bewundernd zur Kenntnis nahm und kurz mit dem Jungen spielte. Vergessen war die Sorge der Mutter, der Gast könne keine Manieren haben; vergessen die Befürchtung, er könne riechen oder sonst das Weihnachtsessen unangenehm stören.

Nachdem die Mutter das Dessert gereicht hatte, dazu aus den guten, wertvollen kleinen Tässchen einen Mokka serviert und die Pralinen in der silbernen Schale, die wie ein Blatt geformt war und deren Benutzung für Weihnachten reserviert war, auf den Tisch gestellt hatte, stand der Gast auf. Er bedankte sich höflich und formvollendet für den Abend, die Einladung, das gute Essen, die Gesellschaft. Weder der Vater, noch die Mutter und schon gar nicht das Kind wollten den Gast gehen lassen. Sie drängten ihn, noch zu bleiben, vielleicht noch ein oder zwei Lieder zu singen. Sie hätten doch auch noch gar nicht die Geschenke ausgepackt. Der Mann jedoch bestand darauf, dass es Zeit sei für ihn zu gehen.

Die Familie brachte ihn zur Tür. Während die Mutter in ihr Zimmer eilte, fragte der Vater: „Ihren Namen. Sie haben uns gar nicht Ihren Namen gesagt. Und auch sonst, wir wissen gar nichts von Ihnen.“

Der Gast zuckte freundlich lächelnd mit den Schultern und schüttelte den Kopf: „Mein Name tut nichts zur Sache. Und meine Geschichte ist bedeutungslos. Ich hoffe, Sie behalten mich auch so in Erinnerung. Vielleicht denken Sie nächstes Jahr an Weihnachten an diesen Abend zurück. Ich werde Ihnen immer dankbar sein für diesen wunderbaren Abend. Gott segne Sie. Und frohe Weihnachten.“ Als er sich zum Gehen wandte, rief die Mutter ihn zurück. In der Hand hielt sie einen kleinen Beutel mit weihnachtlichen Süßigkeiten und ein in Weihnachtspapier eingeschlagenes Geschenk. „Nehmen Sie wenigstens diese kleine Aufmerksamkeit. Wir danken Ihnen für Ihren Besuch. Frohe Weihnachten.“

Nachdem er Gast gegangen war, schaute sich das Ehepaar fragend an.

„Wer war das? Was war das? Wir haben uns schon seit Ewigkeiten nicht mehr so gut unterhalten.“

„Und wir haben noch nie zu Weihnachten gesungen.“

„Ich habe mich so lange schon nicht so sehr verstanden gefühlt. Er hatte so ein gütiges Lächeln. Alleine durch sein Zuhören habe ich mich erleichtert gefühlt, besser. Als wäre mir eine Last von den Schultern genommen worden.“

„Und Lukas, er hat nicht einmal nach seinen Geschenken gefragt. Die liegen noch immer unbeachtet unter dem Weihnachtsbaum. Wo er sich doch so sehr darauf gefreut hatte.“

Zur gleichen Zeit, als die Kirche mit ihrem Glockengeläut das Ende des Krippenspiels ankündigte, zog eine junge Frau ein quengelndes Kind hinter sich her durch die leeren Straßen. Sie hatte bis mittags arbeiten müssen, an der Kasse in einem der Supermärkte, in dem die Menschen bis kurz vor Toresschluss für das Weihnachtsessen einkauften. Teilweise neidvoll, teilweise voller Unverständnis hatte sie die Berge gesehen, die von den Einkaufswagen auf das Kassenband und dann wieder in die Einkaufswagen gewandert waren. Hatte bei jeder Summe, die sie auf dem Bon ausgewiesen hatte, überlegt, was sie mit dem Geld hätte anstellen können, wofür sie es hätte verwenden können. Dabei hatte sie schuldbewusst an ihre Tochter gedacht, die sie bei einer alten Nachbarin gelassen hatte, weil sonst niemand da war, der sich um das Kind kümmern konnte. Immer wieder hatte sie auf ihr Handy geblickt, in der Hoffnung, dass mit ihrem Mädchen alles in Ordnung war. Nachdem sie den Supermarkt verlassen hatte – lange, nachdem er letzte Kunde gegangen war, nachdem sie die Kassenabrechnung gemacht, die abgelaufene Ware aussortiert und in den Container hinter dem Gebäude gebracht hatte - hatte sie ihre Tochter abgeholt. Gemeinsam waren sie zu dem Pflegeheim gelaufen, in dem ihre Mutter lebte, dement, die meiste Zeit in ihrer eigenen Welt gefangen. Und weil das Personal in dem Pflegeheim wieder unterbesetzt war, weil die Zahl der Krankmeldungen die der anwesenden Mitarbeiter wieder einmal überschritt, hatte sie sich bereit erklärt, ihrer Mutter das Abendessen zu reichen, sie dann zu waschen und für die Nacht fertig zu machen. Währenddessen hatte ihre Tochter ungeduldig in der Ecke gestanden, eingeschüchtert durch die Frau, die sie weder erkannte, noch wusste, wofür ein Löffel benutzt wurde; irritiert durch die Frau, die eigentlich ihre Oma sein sollte, die aber weniger konnte als sie als Grundschulkind, die auf ihr Erzählen so gar nicht reagierte, noch nicht einmal auf das, was die Enkeltochter vom Krippenspiel in der Schule erzählt hatte.

Die junge Frau war erschöpft von dem langen Tag; sie fühlte sich traurig und einsam. Das Geld reichte kaum, und so sehr sie sich gewünscht hatte, ihrer Tochter ein wunderschönes Weihnachtsfest zu bereiten, solche, wie sie sie aus ihrer eigenen Kindheit kannte, so hatte es doch nur für Kartoffelsalat und Würstchen und ein paar billige Geschenke aus dem Basteldiscounter gereicht. Ihre Tochter war übermüdet, eingeschüchtert durch den Besuch bei der Großmutter, sie hatte Hunger, blieb aber trotzdem alle paar Meter stehen, um die Weihnachtsdekoration in den erleuchteten Fenstern der Häuser zu bewundern. Sie hatte in den letzten Tagen wenig Zeit mit der Mutter verbracht, deswegen stand ihr Mund nicht still. Sie erzählte vom Weihnachtsbasteln in der Schule, vom Krippenspiel, vom Weihnachtsgottesdienst der Grundschule. Dabei blieb sie immer wieder stehen, um ihre Erzählungen mit vielen Gesten zu unterstreichen.

Vor ihnen ging ein Mann, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Er ging beständig, aber bedächtig, außer, wenn er sich die Lichter in den Häusern ansah und in die dekorierten Fenster schaute. Er ging ein wenig vornübergebeugt, was aber auch nur an der Haltung und nicht unbedingt an seinem Alter liegen musste. Er ging ohne Hast und ohne erkennbares Ziel.

Das Mädchen zog an der Hand der Mutter: „Mama, ist das ein Bettler?“

Die Mutter reagierte unwirsch. „Ich weiß es nicht. Vielleicht.“

„Meinst du, er hat kein Zuhause?“

„Woher soll ich das wissen? Komm jetzt!“

„Der Pfarrer im Schulgottesdienst, der hat gesagt, dass Weihnachten eine Zeit ist, in der wir die Türen öffnen sollen. Wollen wir den Mann einladen?“

„Komm jetzt. Es wird Zeit, dass wir nach Hause kommen. Und nein, wir laden keine fremden Männer ein.“

„Aber er sieht freundlich aus.“ Das Mädchen riss sich los und lief springend zu dem Mann vor ihnen. Sie zupfte ihn an Ärmel.

Freundlich wandte sich der Mann dem Mädchen zu und lächelte.

„Du-hu? Du siehst einsam aus. Hast du kein Zuhause? Willst du mit uns nach Hause kommen und Weihnachten feiern?“

Wieder lächelte er. Er nickte, wandte sich dann der Mutter zu, warf ihr einen fragenden Blick zu. Was konnte den Abend jetzt noch schlimmer machen? Der Kartoffelsalat würde auch für drei reichen, die Würstchen auch. Vielleicht hatte sie sogar noch eine Flasche Wein im Küchenschrank. Und der Mann sah nicht so aus, als würde er über sie herfallen oder ihnen etwas antun. Ergeben fügte sie sich in ihr Schicksal, zuckte mit den Schultern und nickte. „Es gibt aber nur Kartoffelsalat und Würstchen, nichts Besonderes also.“

Wieder lächelte der Mann. „Das perfekte Weihnachtsessen. Ich freue mich darauf.“

War die junge Frau zunächst noch etwas skeptisch, so waren alle Sorgen und alle Angst verflogen, als sie in ihrer Wohnung ankamen. Ihr Gast verhielt sich rücksichtsvoll, zurückhaltend, freundlich. Er half den Tisch zu decken, saß abwartend auf einem Küchenstuhl, während sie sich umzog und die kleinen Geschenke für ihre Tochter unter die Plastiktanne im Wohnzimmer legte. Im Wohnzimmerschrank fand sie ein paar Kerzen die sie auf den Küchentisch stellte. Im Küchenschrank stand tatsächlich noch eine Flasche Wein, statt Weingläsern goss sie diesen in die Saftgläser mit Blümchenmotiv.

Während des Essens erzählte zunächst das Kind. Vom Krippenspiel in der Schule, in dem sie die Maria gewesen war und das die Mutter wegen ihrer Schicht im Supermarkt nicht hatte besuchen können. Vom Wichteln in der Schule, von dem Geduldsspiel, das sie aus dem Sack mit den Geschenken gezogen hatte; von ihrer Oma, die sie gerade im Pflegeheim besucht hatten, die aber nicht wie eine richtige Oma mit ihr reden konnte, sondern die nur im Bett lag und nicht mehr alleine essen konnte. Danach erzählte die Mutter. Von ihrer Arbeit an der Kasse eines Supermarktes. Den Überstunden, dem Druck, als alleinerziehende Mutter, dem wenigen Geld, das sie verdiente und das sie gerade so über die Runden brachte, aber keinen Raum für Extras lies. Von dem Stolz auf ihre Tochter, die schon so selbständig war, die gute Noten in der Schule hatte und nach diesem Schuljahr aufs Gymnasium gehen würde. Von der Sorge um die Tochter, weil sie als Mutter viel zu wenig da war, weil der Vater des Kindes sich nicht mehr meldete, auch keinen Unterhalt zahlte, sich nie um das gemeinsame Kind gekümmert hatte. Der Mann hörte zu. Er fragte nach, zeigte Verständnis, Anteilnahme, beruhigte, bestärkte. Er lächelte ermutigend, fand tröstende Worte – und hörte zu. Von sich selbst erzählte er nichts. Die junge Frau fühlte sich merkwürdig erleichtert. Sie hatte das Gefühl, alleine durch das Zuhören des Gastes wäre ihr eine Last von den Schultern genommen worden. Sie fühlte sich gesehen, verstanden, fühlte sich, als sei sie nicht mehr alleine mit ihren Sorgen und Nöten. Sie hätte es später nicht erklären können, aber ihr Gast gab ihr das Gefühl von Geborgenheit und Wärme.

Irgendwann sprang das Mädchen auf, flüsterte der Mutter etwas ins Ohr, sah sie fragend an. Die Mutter nickte. Dann lief das Kind in sein Zimmer, kam mit zwei Geschenken wieder zurück. Eines reichte sie der Mutter, eines dem Gast.

„Für mich?“

„Ja. Wir haben in der Schule zwei Geschenke gebastelt. Eins für Mama, eins für Papa. Aber mein Papa ist nicht da, deswegen kannst du das Geschenk haben. Außerdem machst du, dass Mama wieder lächeln kann und dass wir das schönste Weihnachten überhaupt haben.“

Beschämt hielt der Mann einen selbst gebastelten Teelichthalter in der Hand. Er bewunderte ihn von allen Seiten, lächelte und bedankte sich aufs Herzlichste bei dem Mädchen.

Danach zogen sie ins Wohnzimmer um. Unter der künstlichen Tanne lagen zwei kleine Geschenke. Beschämt schaute die Mutter nach unten. So gerne hätte sie ihrer Tochter mehr geschenkt, hätte ihr Geschenke gegeben, wie sie ihre Klassenkameraden auch bekamen, Geschenke, die sie vorzeigen konnte, auf die sie stolz sein konnte. Innerlich wappnete sie sich für die große Enttäuschung, für einen Wutausbruch ihrer Tochter. Doch als das Mädchen die Geschenke öffnete, füllten Begeisterungsrufe das Wohnzimmer. Ein Strahlen war auf ihrem Gesicht zu sehen, die Wangen gerötet von Freude und Begeisterung. Wieder und wieder bedankte sie sich bei ihrer Mutter, die zunächst skeptisch war, ob ihre Tochter sie vorführte, sich mokierte, die dann aber voller Erstaunen feststellen musste, dass die Freude ihres Kindes echt war.

Nach der Bescherung stand der Gast auf und entschuldigte sich. Höflich und zuvorkommend bedankte er sich für den wunderbaren Abend, die nette Gesellschaft, das köstliche Essen.

Spontan nahm das Mädchen den Mann in den Arm. „Das ist das schönste Weihnachten, das ich je erlebt habe.“

Die Mutter nickte. „Wir sind Ihnen so dankbar für Ihren Besuch. Auch für mich war es ein wunderbarer Abend.“ Sie stutzte. „Bitte entschuldigen Sie, wir haben uns gar nicht vorgestellt bei Ihnen.“

Der Mann lächelte. „Namen tun nichts zur Sache. Es war auch so ein wunderbarer Abend, für den ich Ihnen von Herzen danke. Vielleicht denken Sie nächstes Jahr zu dieser Zeit einmal an diese Stunden zurück? Ich würde mich freuen, wenn Sie mich nicht vergessen. Gott segne Sie. Und frohe Weihnachten.“

Wieder zur gleichen Zeit, als sich das Portal der Kirche öffnete und die Gottesdienstbesucher mit teilweise seligem, teilweise gestresstem Gesichtsausdruck das Gotteshaus verließen, machte sich auch eine alte Dame auf den Weg zurück in ihre Wohnung. Auch wenn sie nicht weit von der Kirche entfernt wohnte, war der Weg für sie beschwerlich. Sie stütze sich auf ihren Rollator, machte immer wieder Halt, um Luft zu holen und die schmerzenden Beine auszuruhen. Sehnsuchtsvoll schaute sie bei diesen Gelegenheiten nach oben, in die hell erleuchteten, weihnachtlich geschmückten Fenster der anderen Wohnungen. Dieses Weihnachten würde, wieder einmal, ein einsames werden. Ihr Mann war bereits seit vielen Jahren tot, ihr einziger Sohn lebte mit seiner Familie im Ausland und würde erst im neuen Jahr wieder auf Besuch kommen. Ihr Herz wurde schwer, wenn sie an vergangene Weihnachtstage dachte, als ihr Mann noch lebte, als ihr Sohn noch nicht den wichtigen Posten im Ausland angenommen und mit seiner Familie Deutschland verlassen hatte. Auch wenn sie sich bewusst war, dass Weihnachten ein besonderer Tag war, war es für sie ein Tag wie jeder andere. Sie dekorierte ihre Wohnung schon seit langem nicht mehr, zu mühselig war es, die Kartons aus dem Schrank zu holen und später alles wieder wegzuräumen. Für sie alleine lohnte es sich auch nicht, etwas Besonderes zum Essen zu machen; sie selber hatte wenig Appetit, und der Aufwand des Kochens war einfach zu viel. Vielleicht gäbe es ein Weihnachtskonzert im Fernsehen, dann würde sie sich nicht ganz so alleine fühlen.

Ein Mann in braunem Anzug, vielleicht etwas jünger als sie – sein Alter war schwer zu schätzen – kam auf sie zu und half ihr, mit ihrem Rollator die Straße zu überqueren; gerade bei den Bordsteinen, die meistens nicht abgesenkt waren, fühlte sie sich unsicher und war erleichtert, dass jemand ihr half, den schweren Rollator über die Bordsteinkante zu heben. Dankbar lächelte sie ihn an. Freundlich lächelte er zurück, hakte sie unter und half ihr, auf den unebenen Gehwegplatten ihren Weg fortzusetzen. Heutzutage konnte man niemandem trauen. Vor allem, seitdem sie zum Gehen auf den Rollator angewiesen war, hatte die alte Dame Angst, das Opfer von tätlichen Angriffen zu werden, von solchen, von denen man immer wieder im Radio und Fernsehen hörte. Aber dieser Mann wirkte so, dass sie sich in seiner Gegenwart sicher und wohl fühlte. Nicht so, als würde sie ihn kennen, aber trotzdem wirkte er vertraut, seine Anwesenheit beruhigte sie. Später hätte sie nicht mehr sagen können, was sie dazu bewogen hatte, aber sie lächelte ihrem Begleiter zu und fragte: „Wollen Sie mich begleiten und mit mir Weihnachten feiern? Ich muss mich entschuldigen, es gibt kein besonderes Essen, und meine Wohnung ist so gar nicht weihnachtlich hergerichtet – die alten Knochen, der fehlende Appetit, nichts ist mehr, wie es früher einmal war. Aber vielleicht möchten Sie mir Gesellschaft leisten?“

Der Mann nickte, lächelte und sagte: „Nichts würde ich jetzt lieber tun. Ich danke Ihnen für die Einladung.“

Er hakte sie unter, führte sie sicher bis zu dem Haus, in dem ihre Wohnung lag, stützte sie auf dem Weg in den ersten Stock. Dort angekommen, bedeutete er der alten Dame sich zu setzen. Er ließ sich erklären, wo er das gute Geschirr, die guten Gläser fand; er fand, den Anweisungen der Hausherrin folgend, die Zutaten für belegte Brote und richtete diese liebevoll auf einer Porzellanplatte an. Er kochte eine Kanne Tee und fand im Wandschrank des Wohnzimmers, den Angaben der alten Dame folgend, eine Flasche