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Der Seniorchef des Essenheimer Weinguts Baumann wird nachts in der Scheune erstochen aufgefunden. Nicht genug damit, hat es in der Nähe des Tatorts auch noch gebrannt ...Schnell gerät der Sohn Jochen Baumann, erfolgreicher Juniorchef im elterlichen Weingut, unter Mordverdacht: Mündet hier die Betriebsnachfolge in einen Vater-Sohn-Konflikt mit tödlichem Ausgang?Bei seinem dritten Fall ist für den Nieder-Olmer Bezirkspolizisten Paul Kendzierski alles anders: Ganz offiziell erhält er von seinem Chef Erbes den Auftrag, sich in die Ermittlungen einzuschalten. Ebenfalls ungewöhnlich ist die Tatsache, dass sich seine Lieblingskollegin Klara Degreif auffallend von ihm zurückzieht, und Kendzierski mal wieder rätselt, warum Frauen so ganz anders ticken.Gebrannt ist der dritte Weinkrimi des Essenheimer Winzers Andreas Wagner. Und wie in den beiden ersten, Herbstblut und Abgefüllt, gibt es auch hier einen zweiten Helden - den Wein.
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Seitenzahl: 301
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Gebrannt
Für Nina, Phillip, Hanna, Fabian und Justus
Andreas Wagner
Ein Wein-Krimi aus Rheinhessen
Die Handlung und alle Personen sind völlig frei erfunden;Ähnlichkeiten wären rein zufällig.
© Leinpfad Verlag
E-Book: Frühjahr 2015
Alle Rechte, auch diejenigen der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne die schriftliche Genehmigung des Leinpfad Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Lektorat: Ursula Niggemeyer, Angelika Schulz-ParthuUmschlag: kosa-design, IngelheimLayout: Leinpfad Verlag, Ingelheim
Leinpfad Verlag, Leinpfad 5, 55218 Ingelheim,Tel. 06132/8369, Fax: 896951E-Mail: [email protected]
ISBN 978-3-945782-06-4
Brand von Oberolm am 23ten August 1857
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An diesem Tag des Mittags gleich nach zwei Uhr erhob sich in der Gegend von Oberolm eine Rauchsäule. Man schloß daraus sogleich ein ausgebrochenes Feuer. Es war Sonntag, viele Leute waren in der Kirche, andere in ihren Wohnungen. Es dauerte nicht lange, so kam dann auch schon ein Feuerreiter und bat um Hülfe. Die Rauchsäule war inzwischen zu einer großen Wolke geworden, denn kaum in drei Stunden standen 67 Wohnhäuser, 54 Scheuern, 54 Ställe, 18 größere Nebengebäude (die kleinen Gebaulichkeiten mitgerechnet über 230) in einem Flammenmeer. Ein starker Ostwind trieb dieses Feuer vom einen bis zum anderen Ende des Dorfes. Dieses wütende Element verzehrte aber auch alles bis auf den letzten Keim. Die große segensreiche Erndte war in einem Nu dahin. Selbst der Mist, der noch nicht zu faul war, brannte aus bis auf den Boden. Kein Stückchen Holz, nicht einmal ein Überbleibsel von einer Kelter war sichtbar. Bäume, die in den Höfen standen, sind bis auf den Stamm verzehrt; und sämtliche Asche hat der Wind weithin getrieben; (...) zudem allem war es ein trockener heißer Sommer und Wassermangel. Es wurde Wasser von Essenheim, Niederolm, Kleinwinternheim, Marienborn und Bretzenheim herbeigefahren; es waren sogar drei Spritzen aus Mainz zugegen, aber alles umsonst. Viele Leute haben nichts als ihr Leben gerettet, und nur so viel Kleider, als sie gerade auf dem Leibe trugen. In vielen Kellern sind die Fässer verbrannt und der Wein von der Hitze ganz verzehrt, so dass nichts mehr als die Fassreifen übrig blieben, nicht einmal die Fasslager blieben verschont, ja man hat sogar zusammen geschmolzenes Geld in Kellern gefunden. Kühe sind ungefähr 8-10 Stück verbrannt, wovon die meisten ganz verkohlt waren. Schweine sind es noch viel mehr, denen es so erging; ich habe ein fettes Schwein gesehen, das so verbraten war, dass das Fett im ganzen Stall herumfloß. Gänse, Hühner, Katzen und dgl. sind fast alle verbrannt. (…) Man kann diesen Brand nicht schrecklich genug beschreiben, nein, man muss es selbst gesehen haben, um sich einen richtigen Begriff davon machen zu können.
Aus: Tagebuch von Adam Probst III.,Essenheim, begonnen 1855(Kopie im Besitz von Andreas Wagner)
Die mächtigen alten Bäume der Allee sahen in der Dunkelheit noch gruseliger aus. Die knorrigen Stämme, die Rinde mit ihren tiefen Furchen und vor allem die weit über den Asphalt ragenden Zweige machten ihm Angst. Ein Spalier entlang der Straße, wie mit dem Lineal gezogen. Über ihm das Dach aus Zweigen und Blättern, die sich im Wind bewegten. Im Licht der Scheinwerfer hatten sie ihr Grün verloren. Grau war alles, die Stämme und die Blätter.
Er mochte dieses Stück der Landstraße kurz vor Hahnheim nicht. Vor allem nicht nachts um halb eins, wenn weit und breit kein Leben zu erkennen war. Gespenstisch kam ihm das alles vor. Letzte Woche hatte er sich vor einer Krähe dermaßen erschrocken, dass nicht viel gefehlt hätte und er wäre an einer der Buchen gelandet. Im letzten Moment hatte ihn etwas davon abgehalten, das Lenkrad herumzureißen. Sein Glück. Er musste grinsen. Vielleicht gab es ja doch so etwas wie einen Schutzengel. Einer, der das Lenkrad festgehalten hatte, gegen seinen Druck. Schön in der Spur bleiben, immer geradeaus. Das war hier auf dieser Piste verdammt schwer. Die Bäume links und rechts ließen nur Platz für eine schmale Fahrbahn. Zur Seite hin fiel diese noch leicht ab, so dass man das Gefühl hatte, immer ein wenig dem langsamen Abdriften in den schwarzen Abgrund entgegenlenken zu müssen. Etliche Schlaglöcher im Asphalt erleichterten die Sache nicht unbedingt.
Eigentlich war das ja verrückt. Er konnte auf dem Heimweg noch so gut gelaunt sein, spätestens hier in der Allee verflog die gute Stimmung. Irgendetwas lag hier in der Luft. Auch diesmal wieder, jetzt reichte es aber! Morgen würden sie es so richtig krachen lassen. Tagsüber die Vorbereitungen für die theoretische Prüfung und abends Party. Entspannung von diesem vielen Lernen, noch mal abschalten vor der großen praktischen am Montag. Dann war das endlich vorbei, und er die Schule los. Die Lehrer, die ihn schon seit drei Jahren nervten, die Schule und das Hin-und-her-Fahren. Endlich Meister. Das waren wohlige Gedanken, die sich in ihm ausbreiteten.
In diesem Moment sah er, dass jemand mitten auf der Fahrbahn stand. Ziemlich weit entfernt, dort wo der Lichtkegel seines Autos die Landstraße nur schwach erleuchtete. Sein Herzschlag wurde schneller. Er spürte es deutlich, dieses rhythmische Schlagen im sich beschleunigenden Takt. Was machte der da? Vielleicht ein Unfall oder liegen geblieben. Das war sicher kein Spaß, hier in dieser engen Allee auf Hilfe zu warten, auf irgendeine Seele, die zufällig vorbeikam. Er kniff die Augen einmal fest zusammen. Vielleicht sah er ja schon Gespenster bei diesen wirren Gedanken um diese Uhrzeit. Er atmete tief durch. Da stand wirklich jemand mitten auf der Straße. Verrückt. Das war jetzt deutlich zu erkennen. Mitten auf der Fahrbahn, was machte der da? Ganz in Schwarz, schwer auszumachen. Nur das Gesicht, das Gesicht leuchtete. Er fühlte die Hitze, die ihm glühend in den Schädel schoss. Ein leuchtend weißes Gesicht, dem alle Konturen fehlten. Angestrahlt von den Lampen seines Wagens. Was sollte er bloß machen? War das ein Scherz, ein Hinterhalt? Hier auf der Landstraße? Seine Finger krampften sich um das Lenkrad. Er hielt es fest. Auf keinen Fall anhalten. Nicht hier, ganz bestimmt nicht! Waren das noch hundert Meter?
Es war eine Frau. Das Gesicht weiß wie Kalk, alles andere an ihr schwarz in diesem Licht. Was machte die nur da? Er wollte schreien. Weg da! Ich kann nicht anhalten! Jetzt waren ihre Augen zu sehen. Starr nach vorne gerichtet, auf ihn. Weit aufgerissene Augen einer Wahnsinnigen. Unaufhaltsam schoss er weiter auf sie zu. Das Lenkrad fest umschlossen, unfähig, Kontrolle über seinen Körper und diese Situation zu erlangen, hilflos. Alles wie in Zeitlupe. Gereihte Bilder. Wenige Sekunden noch bis zum Aufprall. Seine weit aufgerissenen Augen nahmen eine Bewegung wahr. Sie hob den Arm. Ganz langsam bewegte sich ihre weiße Hand in seine Richtung, in die Richtung, aus der er auf sie zuschoss. Unaufhaltsam. Der Zeigefinger ihrer rechten Hand war auf ihn gerichtet, sie deutete auf ihn. Er war gemeint.
Das war kein Zufall. Sie war es! Kurz vor dem Aufprall durchzuckte es ihn. Im letzten Moment konnte er wieder reagieren. Hastig riss er das Lenkrad zur Seite, nach links. Sie war es. Er konnte sie doch nicht einfach über den Haufen fahren! Der plötzliche Richtungswechsel in vollem Tempo ließ den Wagen ins Schlingern geraten. Mit einer schnellen Bewegung versuchte er gegenzulenken. Im Zeitraffer nahm er die einzelnen Bilder wahr, stockend aber unaufhaltsam. Helle Bilder, wie von einem Blitz gleißend erleuchtet, in schneller Folge. Die dunkle Straße mit ihren unterbrochenen Streifen. Die Bäume am Rand mit ihren schwarzen Blättern.
Der Wagen wurde herumgerissen. Ein kurzer stechender Schmerz an seiner linken Schläfe. Die Wucht des sich drehenden Wagens schleuderte ihn gegen die Scheibe der Seitentür und tauchte alles um ihn herum in weiches Schwarz. Eine dumpfe Dunkelheit im Übergang vom Leben in den Tod. Sein Auto prallte gegen den massiven Stamm einer hundertjährigen Buche. Der Motorblock schob sich durch den Aufprall in den Innenraum, drückte seinen Brustkorb tief ein und brach ihm alle Rippen. Die umherfliegenden Splitter der Windschutzscheibe zerschnitten sein Gesicht.
Er spürte das alles schon längst nicht mehr.
Vorsichtig legte er das vergilbte Buch zur Seite. Der zerkratzte Buchdeckel war in der Mitte gebrochen. Der graue dicke Karton war an dieser Stelle zu sehen. Als ob er hervorquellen wollte, ganz weich fühlte er sich an. Gefangen unter dem harten schwarzen Leder und dem fleckigen Leinen an den Ecken. Das Buch war groß und schwer. Er spürte das Gewicht jetzt deutlich. Ein Schatz war es. Ein Schatz, den er einfach so gefunden hatte.
Die meisten wussten ja gar nicht, was sie da beim Sperrmüll wegschmissen. Das Kupfer, das Blei, was für ein Wert. Darauf waren sie alle heiß. Die Jäger und Sammler in ihren heruntergefahrenen Transportern. Bevor auch nur ein Sperrmüllhaufen auf der Straße zu sehen war, fuhren die schon herum. Ganz Osteuropa war vertreten, das ganze Dorf ein riesiger Kreisverkehr. Sie drehten ihre Runden, hintereinanderher, wie ein Rudel Wölfe.
Einen Nachmittag lang hatte er sich an sein Fenster zur Hauptstraße gesetzt und alle Autonummern aufgeschrieben. Nur aus Interesse. Es war alles dabei gewesen. Von hier gen Osten bis nach Weißrussland, außer China. Die brauchten doch den ganzen Stahl. Alle wollten sie das Metall, die Kabel, die alten Fahrräder. Die Haufen wühlten sie durch, schichteten hin und her, immer auf der Suche nach Metall. Alles andere war uninteressant.
Gegenüber hatte ein Stuhl gestanden. Mit Schnitzereien verziertes, massives altes Holz, dunkler als Fichte und Kiefer, die heute in jedem Baumarkt angeboten wurden. Ohne einen erkennbaren Schaden stand dieser Stuhl da über zwei Tage im Weg. Er wanderte einige Meter nach links, am folgenden Tag wieder ein Stück zurück. Das war alles. Es wollte ihn keiner. Die billige schiefe Stehlampe, die eigentlich gut zu ihm gepasst hatte, blieb keine zehn Minuten stehen. Sie stand da und machte einen so kläglichen Eindruck. Jetzt war sie in Litauen oder doch in China.
Morgens in aller Frühe drehte er seine Runde. Immer am Abfuhrtag um kurz vor vier. Da war Ruhe, keiner unterwegs, auch nicht die verrosteten Transporter, keine misstrauischen Augen hinter den stumpfen Scheiben. Was will der denn an dem Haufen? Den haben wir doch schon durch. Da war nichts. Findet der etwas, was wir übersehen haben? Das nervte ihn. Er wollte seine Ruhe haben. In Ruhe nachsehen. All die Kisten, die da standen. Der Hausrat, die weggeworfenen Bücher und Hefte.
Vorsichtig befreite er sie aus dem Chaos der durchwühlten Kartons, um sie dann fein säuberlich in seinen Handwagen zu legen. Er nahm längst nicht alles mit. Nur die Schicksale, wie er sie nannte. Bücher mit Eintragungen, persönlichen Notizen, Schulhefte, Tagebücher. Sie waren die eigentlichen Schätze. Achtlos weggeworfen die eigene Geschichte. Meistens waren es die Enkel, die in das Haus wollten. Die Oma tot, der Wohnraum teuer. Wir könnten doch da einziehen. Klasse, aber erst muss da mal ausgemistet werden, und renoviert werden muss das Haus auch noch. Wir brauchen zumindest ein neues Bad und frische Tapeten. Ein wenig mehr Farbe, die Alten haben nur grau in grau gewohnt. Ganze Generationen wandern dann auf den Sperrmüll. Das wenige, was sie aufgeschrieben hatten, wurde mit Briefen, Tagebüchern, Foto- und Poesiealben weggeschmissen.
Es war seine Aufgabe, all das sicherzustellen. Zu sammeln und zu erhalten. Zuerst reinigte er seine Beutestücke, nahm ihnen behutsam den Staub ab. Dicke schwarze Schichten wischte er herunter und legte alte Farben frei. Danach bekam jedes noch so dünne Heft auf die erste Seite eine kurze Notiz. Das war seine Ordnung, sein System. In jedem Buch vermerkte er, woher es kam. Mit dem Füller schrieb er die Straße und die Hausnummer auf das vergilbte Papier, auf fleckige Seiten. Danach ordnete er seine Schätze ein, in große Regale, für jede Straße ein Brett, Hausnummer für Hausnummer in aufsteigender Folge.
Über viele Meter zogen sich die Regale in seinem dunklen Büroraum hin. Einige Bretter waren voll beladen, eine ganze Reihe Bücher und Hefte eng gedrängt. Das waren die langen Straßen des alten Ortskerns, die Keimzelle des Dorfes. Und er sammelte ihre Geschichte, konservierte sie für die Zukunft, sicherte das, was achtlos weggeworfen wurde. Viele Stunden stand er voller Stolz vor dieser Sammlung. Er konnte sich kaum satt sehen an diesem Anblick. Das war eine tiefe Zufriedenheit, die er fühlte. Wärmend stieg sie in ihm auf, breitete sich langsam in seinem ganzen Körper aus.
Es regnete. Große schwere Tropfen, die vor ihm auf dem Asphalt auftrafen. Kendzierski konnte das klatschende Aufschlagen deutlich hören.
Den ganzen Tag über war es heiß gewesen, unerträglich heiß. Er hatte nach dem Mittagessen nicht geglaubt, dass es noch wärmer werden konnte. Schweißtropfen waren ihm die Wangen heruntergelaufen, als er sein paniertes Schnitzel in kleinen Happen in sich hineinschob. Irgendetwas hatte seinen Blick beim Durchblättern der Speisekarte immer wieder auf die Seite mit den sommerlichen Salattellern gelenkt. Grüner Salat mit Putenbruststreifen oder auch mit Thunfisch, dazu leichtes Joghurtdressing. Das wäre eigentlich das Richtige gewesen. Die Vernunft hatte aber heute um zwölf nicht gesiegt, sondern der Appetit war es gewesen. Und der Geruch im Innenhof beim alten Grass. Sobald es nach Gebratenem roch, konnte Kendzierski nicht anders. Ein Schnitzel und Bratkartoffeln im Kampf mit geriebenen Möhren und großen dicken Gurkenscheiben, ein wirklich ungleicher Kampf. Das schlechte Gewissen war sofort nach der Bestellung gekommen, verstärkte sich beim ersten Blick auf den Teller und schnürte ihm mit jedem Bissen den Hals ein klein wenig enger zu. Er hatte das Gefühl gehabt, jeden Happen unendlich lange kauen zu müssen. Klatschnass war er schon nach wenigen Minuten gewesen, schweißgebadet vom Mittagessen, das doch eigentlich eine Erholung sein sollte.
Morgen würde er ganz sicher einen Salat nehmen.
Der Regen kühlte und der Wind, der mit ihm kam. Ein sonderbares Wetter diesen Sommer. Heiß, heißer und dann fast jeden Abend drückende Schwüle, die sich in einem Gewitter entlud. Danach war es angenehm. Dann begannen die schönsten Stunden. Diese vom Regen gereinigte Luft, zehn Grad weniger, der abflauende Wind, der zusätzlich kühlte. Er genoss diese Momente gerne bei einem kühlen Riesling in der Nieder-Olmer Weinstube oder bei einem Spaziergang durch die Felder. Das war alles nur ein paar Meter von seiner Wohnung entfernt. Wenige Schritte bis zur Erholung, die er in den letzten Monaten dringend gebrauchen konnte.
Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, dass er überall auffiel. Es war nicht sein Äußeres. Das war eher durchschnittlich: ein Meter achtzig, leichter Bauchansatz, kurze dunkle Haare mit den ersten Ausfallerscheinungen vorne – alles normal bei knapp vierzig Jahren. Als Bezirkspolizeibeamter der Verbandsgemeinde Nieder-Olm kannte ihn jeder. Er war viel vor Ort in den kleinen Gemeinden, die fast alle ein -heim hinten hatten: Jugenheim, Essenheim, Elsheim, Zornheim, Klein-Winternheim und so weiter. Kleine verschlafene Ortschaften mit reichlich Weinbergen drumherum. Buntes Hügelland.
Nach gut zwei Jahren, die er mittlerweile hier lebte, kannten ihn die Menschen. Manchmal fragte sich Kendzierski, wie man ihm begegnen würde, wenn hier in den letzten beiden Jahren nicht so viel passiert wäre. Er hatte zwei Mordfälle gelöst und war seither nicht mehr nur der Bezirksbeamte, der „Verdelsbutze“, wie sie ihn noch am Anfang genannt hatten. Damals war er im Herbst aus Dortmund hierher versetzt worden. Nicht ganz freiwillig, aber bei vollem Bewusstsein. Er wollte einfach nur weg, weit weg und neu anfangen. Irgendwo, wo es so ganz anders war als in der Großstadt, die er kannte.
Hier war es anders. Nieder-Olm war anders. Die Ortschaft nannte sich Stadt, aber erst seit wenigen Jahren. Es war ein aus den Fugen geratenes Dorf. Ein kleiner alter Kern, um den herum alles schnell angewachsen war. Viel zu schnell. Häuser, Hallen, Industrie, angetrieben durch die Autobahn, die Nieder-Olm streifte, und das nahe Rhein-Main-Gebiet. Große Lagerhallen, Ersatzteile und Frischfleisch, zäher LKW-Verkehr zwischen Autobahn und Gewerbegebiet.
Wenn er beim Metzger oder Bäcker wartete oder beim Grass saß, immer spürte er die Blicke, die auf ihn gerichtet waren. Ein kurzes Flüstern, das Grinsen dann. Da sitzt er. Hast du ihn auch gesehen? Der Sheriff, unser Chefermittler. Wird doch nicht schon wieder einer tot umgefallen sein, im Keller liegen, überfahren worden sein oder in der Maische ersoffen?
Sein Fell war dicker geworden. Es war zu ertragen. Es nervte, aber er konnte sich ja nicht ständig darüber aufregen. Und irgendwann würde das bestimmt nachlassen. Die dummen Bemerkungen und das hämische Gegrinse. Guten Morgen, Herr Kommissar, schon eine neue Fährte gewittert?
Zumindest die blöden Anrufe gab es nicht mehr. Nach dem letzten Fall hatte er täglich ein gutes Dutzend bekommen, wochenlang. Kommen Sie schnell, Kendzierski. In der alten Kirche in Sörgenloch hängt einer, am Kreuz. Mausetot. Wie witzig! Ein anderer stöhnte. Ein letztes röchelndes Atmen, im Angesicht des Todes. Helfen Sie mir, mein Nachbar war’s. Mit dem Messer. Er wohnt Kirchgartenstraße 13, Essenheim, 3. Stock rechts. Lochmann. Auch wenn er nicht aufmacht. Er ist zu Hause. Seine Kollegin Klara hatte ihm eine Geheimnummer besorgt, seither war Ruhe und das war gut so.
Die allabendlichen Gewitter brachten es mit sich, dass im Innenhof beim alten Grass kaum etwas los war. Er würde ein ungestörtes Eckchen finden, hinter einem der großen Oleander, eine gute Aussicht für den Abend. Er war jetzt auf dem Heimweg, Freitag vierzehn Uhr, Dienstschluss. Ein ganzes Wochenende lag vor ihm, ohne einen Termin, ohne irgendeine Verpflichtung. Er musste lächeln. Eine schöne warme Freude tief in ihm. Heute Abend würde er sich nach dem Essen und bei einem Extraglas Wein einen Plan für diese beiden langen Tage machen. Mal rumfahren. Es gab hier in dieser Gegend noch so viele Ecken, die er nicht kannte. Vielleicht zum Rhein. Da gab es einige Weinlokale mit Plätzen direkt am Wasser. Oder nach Mainz. Nicht schlecht für eine erste Idee. Mal sehen, was ihm sonst noch so einfiel. Jetzt waren erst einmal zwei Stunden Mittagsschlaf angesagt. Die Woche aus dem Kopf verdrängen, die Verkehrssperrungen, Umleitungen und den ganzen Rest.
Er hatte verschlafen. Mist! Schon dunkel, tiefschwarz alles. Mühsam quälte sich Kendzierski aus seinem Bett. Er fühlte sich benommen, wie nach einer durchzechten Nacht, alles hinter einem dichten Schleier. Etwas pochte in seinem Kopf. Sein T-Shirt klebte an ihm fest, alles nass geschwitzt. Diese verdammte Hitze. Wie spät war es bloß? Die Uhr hatte er im Bad abgelegt; zäh sickerte die Erinnerung durch.
Langsam schlich er aus seinem Schlafzimmer. Durch die geöffnete Badezimmertür fiel Licht in den engen Flur seiner kleinen Wohnung. Das Schlafzimmer lag ganz am Ende. Vom Flur gingen links drei Türen ab. Die einfallslose Aufteilung einer Neubauwohnung aus den siebziger Jahren: kleines Bad mit Milchglasfenstern, ein Wohnzimmer und ganz vorne die Küche, komplett ausgestattet. Helles Holzfurnier und Doppelspüle. Er war froh über die Wohnung gewesen als er hierherkam. Sie war günstig und er der einzige Interessent. Nicht weit zur Arbeit und in die Felder, eigentlich eine ganz ruhige Gegend, wenn nicht in der Stadthalle eine der berüchtigten Ü 30-Partys stattfand. Alle, die deutlich unter dreißig waren, schienen sich dann in seinem Holzamer-Weg zu sammeln. Kreischende Sechzehnjährige, kleine Flaschen in der Hand mit leuchtend bunter Flüssigkeit. Spitze Schreie bis tief in die Nacht, Kotze vor der Tür am Morgen. Kein schöner Anblick beim Brötchenholen.
Im Bad war es hell. Die Uhr, halb acht. Das sah doch noch ganz gut aus. Er hatte vorhin im Schlafzimmer die Rollläden heruntergelassen, um einschlafen zu können, daher die Dunkelheit. Er blickte in den Spiegel. Seine Haare klebten fest, nass und verschwitzt sah er aus. Tiefe Ringe unter den Augen wie nach zwei Flaschen Rotwein. Plätschernd lief das kühle Wasser über seine Handflächen. Er fing es mit beiden Händen auf und klatschte es sich ins Gesicht. Erfrischend kalt.
Verdammt, Klara! Eine Verabredung. War das für heute oder morgen? Mensch, Kendzierski, denk nach! Sein Kopf tat weh, ein pochender Schmerz, in gleichmäßigem Takt. Klara hatte vorhin noch angerufen, sie waren verabredet, 19 Uhr beim Grass, jetzt war es halb acht. Der Anrufbeantworter blinkte. Das war sie. Sie haben drei neue Nachrichten. Genau um 19.15 Uhr war sie dran gewesen. Wo bleibst du, Paul? Ich sitze hier schon beim Grass. 19.26 Uhr die zweite Nachricht, wieder Klara, genervt. Kendzierski, ich warte jetzt genau noch fünf Minuten! Die dritte Nachricht wartete er nicht mehr ab. Schwarze Jeans, die Schuhe, sein Portemonnaie, alles im Laufen. Zum Grass brauchte er höchstens drei Minuten. Wenn er Glück hatte, erwischte er sie noch. Das Donnerwetter konnte er sich schon gut vorstellen. Das würde sie wieder bestätigen.
Klara Degreif war seine „liebste Kollegin“. Der Ausspruch stammte von ihm. Eigentlich war sie auch die einzige Kollegin, mit der er etwas mehr zu tun hatte. Sie war ihm gleich sympathisch gewesen, schon vor zwei Jahren, als er hierher kam. Eine zarte Figur, dunkelbraune Haare und ein verschmitztes Lächeln. Sie machte sich einen Spaß daraus, ihn aufzuziehen. Ganz besonders dann, wenn er schlecht gelaunt war. Keine Zurückhaltung, kein sanftes Nachfragen, nein, spitze Bemerkungen, Unverschämtheiten, bis er reagierte. Sie lockte ihn aus der Reserve, kitzelte ihn so lange, bis er nicht mehr anders konnte und sich wehrte. Dann strahlte sie über das ganze Gesicht. Zufrieden mit sich selbst. Na, Paul, ich wusste doch, dass du irgendwann reagieren würdest.
Sie war ihm vertraut mit ihrer Art und er genoss ihre Nähe. Was das mal werden würde, wusste er selbst noch nicht so genau. Seine bisherigen Beziehungen waren alle gescheitert. Die meisten davon ziemlich kläglich. Die letzte wirkliche Beziehung hatte seinen Abschied aus Dortmund beschleunigt. Seither war er ohne Frauen ganz gut gefahren. Kein Stress, keine Probleme, nur sein eigenes Leben. Keine Diskussionen, die mit dem aussichtslosen Satz begannen: Du willst mich nicht verstehen. Bloß nicht! Er war solchen Diskussionen nie aus dem Weg gegangen. Wahrscheinlich war das der Fehler. Alles schön ausdiskutieren, mit dem Resultat, dass er nur noch tiefer hineinrutschte in die vielen Probleme, von denen er keines selbst bemerkt hatte. Du interessierst dich ja nur für dich! Wie ich mich fühle, ist dir doch egal! Es war immer nur um ihre Probleme gegangen, ganze Abende, in Gesprächen, die sich wie die endlose Warteschleife seines DSL-Anbieters anfühlten. Nein, danke, darauf konnte er gut verzichten. Aber Klara war anders und sie konnte verdammt sauer werden, wenn er sie wieder einmal warten ließ.
Kendzierski erreichte unterhalb der beiden Tankstellen die Pariser Straße. Jetzt nur noch zweihundert Meter weiter, dann war er in der Weinstube. Der große Innenhof, die vielen Tische. Er keuchte, gehetztes Atmen. Das war einfach alles zu schnell gegangen. Vor zehn Minuten hatte er noch geschlafen und jetzt war er schon hier. Und Klara längst weg. Die meisten Stühle lehnten an den Tischen, die Schlechtwetterposition. Der alte Grass ließ die Stühle schräg stehen, damit der Regen besser ablaufen konnte. Das wirkte nicht gerade einladend, aber alle Stammgäste wussten, dass der Alte nichts dagegen hatte, wenn man sich die Stühle einfach selbst zurechtrückte. Drei Tische waren besetzt, höchstens zehn Personen, Klara war nicht darunter. Das hatte er schnell gemerkt. Ganz hinten rechts der kleine Tisch für vier. Drei Stühle standen angelehnt, einer gerade. Ein Weinglas auf dem Tisch, noch halb gefüllt. Weißwein. Klara trank eigentlich fast immer Weißwein. Er konnte sich das in allen Farben vorstellen. Wutentbrannt. Der letzte Schluck. Zahlen und nichts wie weg. Der kann mich mal!
Kendzierski spürte die ersten Blicke auf sich gerichtet. Er stand im Innenhof und starrte auf den Tisch mit diesem halbleeren Glas. Suchender Blick, aufgerissene Augen und weit offener Mund. Erst jetzt wurde ihm klar, wie bescheuert das aussehen musste. Der Dorfsheriff war mal wieder unterwegs. Wir haben ihn gesehen. Nichtsahnend haben wir beim Grass gesessen, da kam er angerannt. Was der nur wieder gesucht hat. Die nächste Leiche wahrscheinlich. Der zieht das Verbrechen an. Hier hat es noch nie einen Mord gegeben, bis der kam! Einmal hatten vor ihm beim Metzger zwei Frauen gestanden. Er hatte es selbst mit angehört. Ihre hochroten Köpfe, als sie ihn bemerkten, hatten ihn entschädigt.
Jetzt war ihm nicht nach Grinsen. Hier bleiben oder wieder nach Hause ins Bett? Er konnte doch nicht um acht schon wieder ins Bett gehen. Es war Wochenende.
„Na, als ob ich es geahnt hätte! Du auch schon hier?“
„Klara?“ Es war kaum mehr ein Krächzen, das da aus seinem Mund kam. Sie stand direkt hinter ihm und lächelte. Kendzierski hatte keine Ahnung, was hier passierte. Der Ausbruch, das Donnerwetter, gut versteckt hinter einer lächelnden Fassade? Mal sehen, was er zu seiner Verteidigung zu sagen hat und dann volle Breitseite zurück? Immerhin war sie nicht weg.
„Kannst dich beruhigen. Ich habe mir das schon gedacht, dass du wieder mal zu spät bist. Das ist ja nicht das erste Mal. Vorsichtshalber habe ich dich mal ganz sanft erinnert. Aber du warst wahrscheinlich schon unterwegs. Deinen Anrufbeantworter kannst du nachher gleich löschen. Ich bin da drauf.“
Sie grinste herausfordernd. Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
„Wie siehst du eigentlich aus? Bist du aus dem Bett gefallen, Paul?“
Kendzierski blickte an sich hinunter. Das dunkelblaue T-Shirt klebte an seinem verschwitzten Oberkörper fest. Deutlich waren die Spuren seines verspäteten Mittagsschlafes zu sehen. Es war total zerknittert und hing halb aus seiner Hose heraus. Zumindest sein Hosenlatz war zu. Das wäre die Krönung gewesen. Ganz dunkel erinnerte er sich an sein Spiegelbild, kurz nach dem Wachwerden, im Bad, zu Hause. Die verklebten Haare. Ganz toll. Irgendwie war er froh, dass er sich jetzt nicht selbst sehen konnte.
Die grünen Gummistiefel hatten an der rechten Ferse einen kleinen Riss. So war er kaum zu sehen, nur wenn er den Stiefel hinten zusammendrückte, klaffte die Öffnung auseinander. Vorhin im Fass hatte er das gemerkt. Die dunkle Feuchte des gemauerten Behälters, seine nasse Socke. Mit dem Hochdruckreiniger hatte er sich an die tiefroten Überreste herangemacht. Der Rote war schon vor einer Woche geholt worden. Das letzte Fass des Jahrgangs war an die Kellerei gegangen, um Platz zu schaffen für den Neuen, der draußen heranreifte. Er hatte sofort danach in die Klinik gemusst, nach Mainz, diese leidige Sache mit dem Herzen, Nachkontrolle. Drei Tage kostete ihn das jedes Vierteljahr. Ruhig liegen an den Maschinen, verkabelt, gefangen. Stundenlanges Warten ohne etwas zu tun. Nur damit einer dieser Ärzte mal kurz nach ihm und den meterlangen Aufzeichnungen sah. Hm, ja, das sieht gut aus. Das machte ihn fertiger als jeder noch so harte Arbeitstag während der Lese.
Bei seinem Rundgang durch den leeren Rotweinkeller hatte er vorhin erst gemerkt, dass das Fass noch nicht sauber gemacht war. Zum Glück war der Junge schon weg. Er hätte sich kaum bremsen können. Karl-Heinz, dein Herz. Der Junge hat das einfach vergessen. Das kann ja mal vorkommen. Beruhige dich.
Seine Frau nahm ihn immer in Schutz, ihren Sohn. Obwohl sie genau wusste, dass Jochen einfach nur faul war. Abends war er unterwegs, bis tief in die Nacht und morgens kam er nicht aus dem Bett. Das wird besser, wenn der erst einmal den Betrieb übernommen hat. Wenn er älter ist, wenn er eine Frau hat, wenn, wenn, wenn. Den Betrieb hatte er, 26 war er mittlerweile und auch verheiratet, aber geändert hatte sich nichts. Stundenlang musste er auf ihn warten. Gereizt war der dann und schnell wieder weg. Zum Fußball ins Stadion, zu irgendeiner Feier oder was auch immer. Der Rest blieb an ihm hängen oder wurde gar nicht erst gemacht. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Die Freude und der Elan, vor acht Jahren, als feststand, dass der Betrieb weitergehen würde. Sein Sohn, sein Nachfolger in der Familientradition. Weitermachen, nach vorne, nach oben, sie beide zusammen.
Und jetzt? Der Dauerstreit, jeden Tag. Das ist doch alles Mist, was du da gemacht hast. Vergiss es. Schnee von gestern. Alter Kram. Immer Krach, wegen jeder Kleinigkeit.
Seine rechte Socke war klatschnass. Sie hing schwer nach unten. Seine Stiefel stellte er neben der Kellertür ab und zog sich die rechte Socke vom Fuß. Die Hausschuhe würden sonst auch noch nass werden.
Er drehte sich noch einmal um und blickte die lange schmale Scheune nach hinten. Links und rechts ging es nach unten in die beiden Gewölbekeller durch große Bögen aus gehauenem Sandstein. Rechts der Rotweinkeller mit den Beton- und den Holzfässern. Links der Weißweinkeller mit den neuen Edelstahltanks. Jeder einzelne Behälter mit einer eigenen Kühlung für eine langsame Gärung. Die neueste Technik, alles vom Feinsten. Für seinen Sohn. Weiter hinten kamen der Kelterraum mit dem grauen Betonboden und dann der neue Anbau.
Die Tür dort stand schon wieder offen. Ein schmaler Spalt nur. Verdammt, wie oft sollte er ihm das denn noch sagen! Von hinten durch den Garten konnte so jeder in den Keller hineinspazieren. Die vielen teuren Geräte, der Wein. Aber der Jochen musste ja immer wieder nach draußen, nach hinten in den Garten, eine rauchen. Die Kippen lagen auf dem Rasen verstreut. Ein rauchender Winzer. Die Tür machte er eigentlich nie zu. Insgeheim wünschte er sich, dass mal einer etwas klauen würde. Siehst du, warum hältst du auch diese Tür nicht verschlossen? Irgendwann musste das ja mal passieren.
Langsam ging er durch die Scheune in Richtung Kelterraum. Die Presse aus glänzendem Edelstahl war jetzt schon zu sehen. Sie stand links an der Wand. Große grüne Wannen daneben. War da jemand? Er hatte ein Geräusch gehört. Ein Knacken, klar und deutlich. Das Brechen eines dünnen Astes. Wer war dort hinter der Scheune? Er spürte das gleichmäßige Schlagen seines Herzens. Ruhig bleiben. Dort draußen saß die fette braune Katze der verrückten Nachbarin. Ganz sicher war die das. Aber die brach keine Äste entzwei. Vorsichtig ging er weiter. Leise Schritte auf grauem Beton. Wieder knackte etwas. Nur noch ein paar Meter. Noch war nichts zu sehen. Da war jemand! Er spürte die Nähe eines Menschen. Er hörte ihn atmen, sich bewegen, seine Schritte im Gras. Das Knacken und Knistern eines Feuers. Jetzt war es auch zu riechen. Er erreichte die Tür, die hinaus in den Garten führte. Ein loderndes Feuer, hungrige Flammen schossen Funken in den Himmel. Ein schwarzer breiter Rücken.
„Verdammt noch mal! Bist du denn verrückt geworden! Du kannst doch hier kein Feuer machen, so nahe an der Scheune. Wenn hier alles abbrennt!“
Er hatte einige Mühe, diese verflixt kleine Öffnung des Schlüsselloches zu treffen. Der Bewegungsmelder gab ihm einfach zu wenig Zeit. Sobald er sich hinuntergebeugt hatte und das Schloss fixierte, den Schlüssel konzentriert heranführte und das Loch zu treffen suchte, war das Licht schon wieder aus. Alles stockdunkel! So ein Mist. Er versuchte die Öffnung zu ertasten und dann den Schlüssel in die Nähe zu bringen. Drei Versuche, ohne Erfolg. Dann doch noch mal die paar Schritte zurück, um den Bewegungsmelder zu aktivieren. Licht, der nächste Versuch.
Mann, das waren einfach ein paar Gläser zuviel gewesen. Das Zittern der Hände, alles verschwommen, das kam davon. Aber ein Spaß war es trotzdem gewesen. So viel hatten sie gelacht, gelöste Stimmung, noch ein Glas und noch ein Glas, nachdem der offizielle Teil vorbei war, die Arbeit getan. Sie hatten sich für heute verabredet, um ein gutes Dutzend Silvaner zu probieren. Die eigenen und ein paar der ganz großen Namen. Seit dem Ende der Ausbildung war das eine gute Sitte, ihre Treffen.
Meistens waren sie zu fünft. Vier Winzer mit ihrem eigenen Betrieb und der Heiko von der Schule. Er hatte als einziger nicht das Weingut von seinem Vater übernommen, obwohl es das größte war. Damals hatten sie ihn für verrückt gehalten. Ich mach mir doch den Stress nicht. Keine Ferien, kein Wochenende. An der Schule ist mittags um vier Schluss, freitags um zwei, was will ich mehr?
Heute konnte er ihn gut verstehen. Manchmal. Wenn er im Sommer nicht wusste, wie er die viele Arbeit draußen im Weinberg schaffen sollte, im Herbst, wenn wieder mal alle Sorten gleichzeitig reif waren und ihn Dauerregen in Panik versetzte. Und am besten konnte er ihn verstehen, wenn er seinen eigenen Vater sah. Ihm graute jetzt schon vor dem Blick morgen früh. Diese Verachtung, die aus seinen Augen sprechen würde. Der Vorwurf, das verdammte schlechte Gewissen, das er ihm mit jedem noch so kleinen Satz machte. War wieder spät gestern, habt ihr euch wieder zulaufen lassen? Neue Spinnereien, von deinen größenwahnsinnigen Freunden. Die haben gut reden. Was wissen die schon von der Arbeit. Die muss erst einmal gemacht werden. Aber dafür haben die feinen Herren ja ihr Personal. Von denen ist doch keiner mehr draußen im Weinberg. Auf Messen im Anzug, gescheite Sprüche machen. Wie oft war der Uwe von und zu schon pleite? Der Weinadel, das ich nicht lache. Das kommt davon, wenn man nie gelernt hat anzupacken. So ein Betrieb ist kein Zuckerschlecken. Die Arbeit muss geschafft werden. Dann kommt der Spaß.
Blablabla. So war er, der Alte. Immer nur alles negativ sehen, alles, was er anpackte. Das war nichts, das taugte nichts. Und er musste sich das Tag für Tag anhören, dieses Geschwätz.
Heiko hatte ihn gewarnt, Uwe auch. Mach den Betrieb alleine, schmeiß den Alten raus, der ist doch bekloppt. Oder komm zu mir. Uwe hatte ihn einstellen wollen. Ich brauche einen guten Verwalter. Das war vor gut drei Jahren gewesen, kurz nach dem Tod von Uwes Vater. Die von Dornbergs besaßen eines der größten Weingüter unten am Rhein. Ein ehemaliger Klosterbesitz. Mit etlichen Angestellten und den Banken im Nacken. Das alte Schloss mit seinem riesigen Park fraß den Gewinn des Weingutes auf. Uwe war meist am Limit, aber irgendwie bekam er es immer wieder hin. Er wickelte sie um den Finger. Tauschte die eine gegen die andere Bank aus. Und genoss das Leben.
Er hatte ihm damals abgesagt. Das hier war sein eigenes Weingut, aus dem wollte er etwas machen. Wenn er gewusst hätte, dass sein Vater mit jedem Jahr schlimmer wurde, starrsinniger und nerviger, dann hätte er den Job angenommen, ganz sicher. Er spürte Schadenfreude in sich aufsteigen. Der hätte Augen gemacht, wenn er plötzlich weggewesen wäre. Ganz alleine hier auf dem Hof. Alleine mit den Weinbergen, dem neuen Keller und den Schulden dafür. Von denen war nie die Rede gewesen, nicht in seiner Jugend und schon gar nicht, als er mit der Weinbauschule anfing. Alles lief bestens. Die Gewinne waren da. Sein Vater hatte Pläne. Jetzt, wo du in den Betrieb einsteigst, bauen wir ganz groß. Nicht mehr dieses Gewurschtel hier in dem alten Hof. Wir gehen raus. Ein neuer Aussiedlerhof, mitten in den Weinbergen. Große Hallen, Traubenannahme, Kelterstation, ein riesiges Flaschenlager, klimatisiert. Sie hatten Grundrisse entworfen, die idealen Wege für ihre Trauben, mehrere Ebenen in der neuen Halle, Höhenunterschiede, um die Trauben, den gepressten Saft ohne eine Pumpe nach unten zu befördern. Bloß keine mechanische Belastung, um die Aromen nicht zu gefährden, alles ganz sanft und schonend. Da waren sie noch ein Team gewesen. Die Euphorie am Anfang, sie verflog schnell, sehr schnell. Der Alte war stur und hatte keine Ahnung.
Seine Mutter hatte ihn zur Seite genommen. Die Bilanzen der letzten Jahre, große Umsätze mit dem vielen Wein, aber auch große Ausgaben, kaum Gewinne. So sah es aus. Der Hof in den Weinbergen, der Neubau, das wäre der schnelle Tod gewesen, wenn eine Bank das überhaupt bezahlt hätte. Nicht zu machen, alles heiße Luft in einer riesigen Seifenblase, die lautlos zerplatzte. Sie richteten die alten Keller wieder her. Neue Edelstahlfässer, neue Holzfässer, eine Kühlung für die großen Behälter, um den gärenden Saft kontrollieren zu können, eine ordentliche schonende Kelter. Vor drei Jahren den Anbau hinter der Scheune für die Maischebehälter. Gerade genug Schulden, um nicht zu ersticken, auf zwanzig Jahre.
Verdammt! Dieser Abend war so schön gewesen, seine gute Laune, hier schon, als er das Hoftor wieder hinter sich geschlossen hatte, zerfetzt, nichts mehr war übrig davon. Er atmete tief durch, jetzt nur noch schlafen. Marga schlief bestimmt schon. Sie war immer früh im Bett.