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Ein packender, humorvoller Krimi über das dunkelste Kapitel rheinhessischer Winzergeschichte. Ein Sommer, wie es ihn noch nie gegeben hat: In Rheinhessen regnet es ohne Unterlass. Die Trauben faulen, und die Winzer fürchten um ihre Ernte. Als Tausende Liter Wein in die Kanalisation laufen, die ältesten Reben im Dorf zerstört werden und eine kopflose Leiche auftaucht, dämmert den Ersten, dass seit dem Glykol-Skandal von 1985 noch einige Rechnungen offen sind. Winzer Kurt-Otto Hattemer beginnt zu ermitteln – und begibt sich in höchste Gefahr . . .
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Seitenzahl: 330
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Andreas Wagner ist Winzer, Historiker und Autor. Nach dem Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Bohemistik in Leipzig und an der Karlsuniversität in Prag hat er 2003 zusammen mit seinen beiden Brüdern das Familienweingut seiner Vorfahren in der Nähe von Mainz übernommen. Von Andreas Wagner sind bislang neun Kriminalromane, ein Roman, eine Erzählung und eine Kurzgeschichtensammlung erschienen. Andreas Wagner ist verheiratet und hat vier Kinder.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2017 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/Waldemar Langolf
Umschlaggestaltung: Franziska Emons, Tobias Doetsch
Lektorat: Susanne Bartel
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-274-8
Originalausgabe
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Für Nina, Phillip, Hanna, Fabian und Justus
11. August 1985
Alles fühlte sich besser an, seit er wusste, was zu tun war. Die Last drückte weniger. Er hatte wieder genügend Kraft, um sich aus dem Sessel in der hinteren Ecke des Wohnzimmers zu erheben. Langsam drückte er sich in die Höhe. Seine Kniegelenke schmerzten. Er wankte, wusste aber, dass er nicht fallen würde. Unter seinen Füßen spürte er die Scherben der Fensterscheibe und der beiden Weinflaschen. Die Splitter knirschten bei jedem Schritt, den er vorsichtig setzte. Später würde er alles sauber machen, das Wohnzimmer und auch den Rest des Hauses. So sollte es niemand sehen. Vorsichtig schob er seine Füße in der Dunkelheit weiter. Er brauchte die Taschenlampe aus der Schublade im Flurschrank. Die Lichter mussten ausgeschaltet bleiben. Durch die Läden stahl sich immer ein Schimmer hinaus, der ihn verraten könnte. Seit zwei Tagen schon hatte es nicht mehr bei ihm geklingelt. Sämtliche Rollläden im Haus waren heruntergelassen. Sie sollten glauben, dass er untergetaucht war. Verschwunden aus diesem Nest. Weg aus Essenheim.
Selbst seine Eltern hatten es nicht ausgehalten. Sie waren schon vorgestern losgefahren. Für ein paar Tage nur, Junge. Wir ertragen es nicht mehr, die Anfeindungen, das Gerede, die Blicke. Er hatte sie darin bestärkt und gelogen. Seine Frau käme mit ihrem gemeinsamen Kind noch heute zurück. Sie wolle ihm in dieser schweren Situation beistehen. So hatten seine Eltern mit gutem Gewissen abreisen können. Es hätte ihn unnötig gequält, weiter den Schmerz in ihren Gesichtern zu sehen.
Er konnte den Türrahmen ertasten, drückte die Klinke hinunter. Aus dem Flur fiel Licht herein. Das Muster aus roten Kreisen im dunklen Terrazzo zog seinen Blick auf sich. Auf diese Weise hatten italienische wandernde Handwerker zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Hausflure in der Region verziert. Der Urenkel des Künstlers, der sich in ihrem Hauseingang verewigt hatte, kaufte noch immer bei ihnen seinen Wein ein. Einmal hatte er ihm erklärt, an welchen Details die Arbeiten seines Urgroßvaters zu erkennen waren. Der Urahne aus Italien hatte eine der örtlichen Bauerntöchter geheiratet, in deren Haus er den Boden gelegt hatte, und war geblieben.
Langsam zog er die Schublade auf. Das Licht reichte gerade aus, um unter den gefalteten Stoffbeuteln die Taschenlampe zu finden. Sie lag neben der dunklen Kleiderbürste. Die Ordnung seiner Frau war bis ins kleinste Detail zu erkennen. Selbst die Stoffbeutel wurden gebügelt, damit sie glatt und platzsparend übereinandergestapelt werden konnten.
Mit ihrem Einzug bei ihm und dem Wechsel seiner Eltern in das kleine Gesindehaus neben dem Weingut, das früher den Knechten und Mägden als Wohnstätte gedient hatte, war das Durcheinander verschwunden. Schon nach ein paar Wochen hatte jeder Gegenstand in diesem Haus seinen Platz gehabt. Eine feste Ordnung, die seine Frau allem gab und zügig so weit wie möglich über die Grenzen der Hausmauern hinweg ausdehnte. Der ehemalige Schweinestall, in dem sich seine Werkbank und die Mülltonnen befanden, der sich daran anschließende niedrige Raum, der als Garage und Stauraum diente, alles unterwarf sie ihrer Struktur, die erst am Scheunentor endete. Dort verlief die unsichtbare Grenze, und sein Reich begann. Die Scheune, die ihm als Kelterhaus und Lagerraum für seine Flaschenweine diente, sowie die beiden Tonnengewölbe darunter, in denen seine Weine in alten Holzfässern und neuen Kunststofftanks bis zur Abfüllung lagerten. Sie hatte niemals versucht, ihre Ordnung auf diesen Bereich auszudehnen. Hätte sie es getan, wäre es vielleicht nie so weit gekommen.
Er versuchte, sich von diesem Gedanken frei zu machen. Die Vorstellung von ihr trieb ihm die Tränen in die Augen. Schnell griff er nach der Taschenlampe und überprüfte, ob sie noch funktionierte. Eine unnötige Handlung.
Die Reihenfolge war klar. Zuerst musste er im Kelterhaus alles vorbereiten. Das würde schnell gehen, es blieben nur noch ein paar letzte Handgriffe zu tun. Der Entschluss war das Wichtigste. Er hatte lange gebraucht, um Gestalt anzunehmen und vollständig auszureifen. Jetzt stand er in allen Konturen deutlich erkennbar vor ihm. Wenn er nach hinten in sein Kelterhaus und hinauf auf den Heuboden musste, kam er an der Werkbank vorbei und konnte alle notwendigen Gegenstände mitnehmen.
Den Rest der Nacht nutzte er, um sauber zu machen. Sie hatten es nicht verdient, dass er Haus und Hof in diesem Zustand hinterließ. Es sollte alles aufgeräumt sein, wenn sie wiederkämen. Die Zeit reichte aus, um ihre Ordnung auch auf seinen Bereich auszudehnen. Er würde alles mitnehmen, das Chaos beseitigen und seine Schuld tilgen.
Eugen Appenheimer achtete bei seinem Weg durchs Dorf ganz genau darauf, ob ihm jemand begegnete. Normalerweise spielte das keine Rolle, doch heute war es wichtig. Sonst lief er aber auch nie die Hauptstraße entlang. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern, nicht in diesem Moment, in dem er sich den zurechtgelegten Schlachtplan noch einmal vergegenwärtigte. Lange hatte er über ihm gebrütet, weil in diesem Fall alles anders war als sonst.
Er war den anderen im Dorf schon immer ein gutes Stück weit voraus gewesen, bei allem, was er bisher in Angriff genommen hatte. Warum sollte das also nicht auch diesmal gelingen? Er schüttelte kurz und heftig den Kopf, verbot sich aber schnell jede weitere unnatürliche Regung. Dass niemand um diese Uhrzeit unterwegs war, bedeutete nicht, dass er nicht gesehen wurde. Es war kurz nach acht, »Tagesschau«. Die beste Zeit, um unbeobachtet das Dorf zu durchqueren, trotzdem war Vorsicht geboten. Die alten, neugierigen Weiber aßen nämlich schon um sechs, schauten die Nachrichten um sieben und lagen dann, bis um Viertel nach acht endlich das ersehnte »Sommerfest der Volksmusik« begann, hinter der Gardine. Nicht nur die Krumbeern-Erna, auch die Käfergässer-Gerda und Posthalters Sigrun handhabten das so. Bei allen dreien musste er vorbei, und mindestens eine davon, wenn nicht sogar alle, hatten ihn bestimmt bereits beobachtet und sich gewundert, warum er zu Fuß und nicht wie sonst üblich in seinem schwarzen Land Rover unterwegs war. Gegen das Auto hatte er sich entschieden, weil es schwer gewesen wäre, in der engen Durchfahrtsstraße einen Parkplatz zu finden. Außerdem kannten alle seinen Wagen. Jeder halbwegs mit Verstand Gesegnete würde aus dem Standort seines Autos Rückschlüsse auf seine Absichten ziehen können. Und brächten sie ihn damit in Verbindung, bevor alles in trockenen Tüchern wäre, dann hätte sich das Geschäft schon erledigt, noch ehe es angebahnt war.
Eugen Appenheimer schluckte den Ekel hinunter, der sich in diesem Moment aus seinem Magen in seine Speiseröhre gekämpft hatte. Die nächsten zwei Stunden waren von großer Bedeutung und würden wahrscheinlich nur schwer zu ertragen sein. Jahrzehntelang hatte er sich bemüht, dem Ecke-Kurt, wie ihn alle im Dorf nannten, weil man ihm nachsagte, um Ecken sehen und lauschen zu können, aus dem Weg zu gehen. Als er noch selbst mit raus in die Weinberge gegangen war, hatte er sich jedes Mal schnell weggeduckt, wenn sich Kurt-Otto Hattemers Traktor lautstark ankündigte. Sein nicht enden wollendes Palaver über Dorfneuigkeiten und solche, die es noch nicht waren, ging ihm und den meisten anderen auf die Nerven. Viele der alten Weiber im Dorf waren ihm ähnlich, aber vor denen war man zumindest im Weinberg sicher. Bei Kurt-Otto wusste man nie, wo er einem auflauerte. Und war er erst einmal da, dann wurde man ihn nur noch schwer wieder los.
Die stattliche Zahl Weinberge, die sich noch unter seiner Obhut befand, pflegte Kurt-Otto seit Jahren mit stark reduziertem Aufwand. Die dadurch gewonnene Zeit nutzte er umso intensiver für seine Schnüffeleien und die Verbreitung sinnloser Dorfneuigkeiten. Da aber mittlerweile selbst der Dümmste im Dorf erfolgreich nachgerechnet hatte, wie alt Kurt-Otto war und wie viele Hektar er neben seinem nicht unbeträchtlichen Körpergewicht auf die Waage brachte, erfreute er sich seit geraumer Zeit größter Beliebtheit.
Erst vor zwei Wochen hatte Appenheimer das Schauspiel mit eigenen Augen ansehen können. Er schnaufte angewidert. Es empfahl sich eben doch, ab und an einen halben Vormittag draußen in den Weinbergen zu verbringen. Einerseits hatte er dann seine Rumänen besser unter Kontrolle, andererseits bekam er mit, was abging. Zuerst hatte der Kesselring vor vierzehn Tagen seinen Weinbergsschlepper zielsicher, was bei seinem vormittäglichen Alkoholpegel keine Selbstverständlichkeit war, neben Kurt-Otto Hattemers Riesling auf dem Klopp zum Stehen gebracht. Ein Zufall konnte das kaum sein, weil der Kesselring in dieser Ecke des Teufelspfades keine Weinberge besaß. Gleich darauf hatte der junge Stockinger direkt hinter dem Schlepper geparkt. Dass der sich um andere Weinberge bemühte, weil er kaum eigene besaß, wusste jeder im Dorf. Mit Kurt-Otto Hattemers schönen Rebanlagen könnte er sich ein ganzes Stück weit in der Rangliste der großen Winzer im Dorf nach oben arbeiten. Für Stockinger war es die letzte Chance, überhaupt auf einen grünen Zweig zu kommen. Der Senior hatte nämlich über die Jahre mit jedem in Essenheim Streit angefangen, diesen eisern gepflegt und war daher nie zum Zuge gekommen, wenn Besitz zur Verteilung anstand.
Den Abschluss des munteren Reigens auf dem Klopp hatte schließlich Adam Fehrenbach gebildet, der in seinem funkelnagelneuen Fendt Vario mit Vollgas an den aufgereihten Schleppern vorbeiraste, um kurz darauf voll in die Eisen zu steigen. Das Quietschen der Reifen hatte er noch über etliche Rebzeilen hinweg hören können. Fehrenbachs bekanntermaßen langsam arbeitendes Hirn schien ihm doch noch rechtzeitig vermeldet zu haben, dass Gefahr im Verzug war, die seine Anwesenheit in Kurt-Ottos Riesling notwendig machte. Appenheimer musste bei der Erinnerung daran kichern. Wie gerne hätte er als Mäuschen im Weinberg gelauscht, wie sie dem Ecke-Kurt Honig ums Maul geschmiert und sich gegenseitig in Schmeicheleien überboten hatten. Er schüttelte entschlossen den Kopf. Keiner der drei war eine wirkliche Konkurrenz für ihn.
Wieder musste er gegen den bitteren Geschmack der Magensäure anschlucken. Etwas anderes würde ihm heute auch nicht übrig bleiben. Im Unterschied zu den anderen hatte er ein mehr als schlagkräftiges Argument. Wie zur Bestätigung klopfte er sich mehrmals auf die ausgebeulte rechte vordere Hosentasche. Mit diesem Argument war er noch immer erfolgreich gewesen. Die anderen wollten zum üblichen Hektarpreis und zur Not, sollte es ums Ganze gehen, vielleicht noch mit einem kleinen Aufschlag pachten. Wortreich und gequält würden sie sich ein paar Euro mehr abringen, um die anderen auszustechen. Er hingegen würde Kurt-Otto ein dickes Bündel Geld direkt und ohne Umschweife unter die Nase halten und ihm ein Angebot für den Kauf all seiner Weinberge unterbreiten, das er unmöglich ablehnen könnte. Niemand zahlte die Summen, die er bereit war, auf den Tisch zu legen. Dazu waren die anderen in diesen Zeiten viel zu klamm. Er wusste davon, weil sie zu ihm kamen und um Vorschuss bettelten. Wenn die Weinpreise im Keller waren, weil der Markt von fetten Ernten auf der ganzen Welt überschwemmt wurde, dann war das die beste Zeit, um den eigenen Besitz zu mehren.
Appenheimer reckte sich und sah sich noch einmal kurz um. Weit und breit niemand zu sehen. Entschlossen drückte er das schmale Türchen gerade so weit auf, dass er sich schnell durch die Öffnung schieben konnte, und hörte Kurt-Ottos schallendes Lachen. Wunderbar: Gute Laune war die beste Voraussetzung für sein Vorhaben. Zufrieden rieb er sich die Hände. Vorfreude breitete sich wärmend in ihm aus. Das Ziel seiner Bemühungen schien um die Ecke auf der Veranda vor dem Hauseingang zu sitzen. Es würde ihn nicht wundern, wenn einer seiner gefürchteten Süßweine vor ihm stand. Aber auch darauf war er vorbereitet. Vorsorglich hatte er sich daheim noch eine Spritze gesetzt, um die Menge an Fruchtzucker in Kurt-Ottos Trockenbeerenauslese körperlich verkraften zu können. In diesem Moment mischte sich in das dunkle Lachen ein helleres Meckern, das ihm bekannt vorkam. Appenheimer zuckte zusammen, obwohl er wusste, dass das nichts daran ändern würde. Das Lachen, das wie die Unmutsbekundung eines alten Ziegenbocks klang, gehörte zu Klaus Dörrhof. Appenheimer hielt den Atem an und tastete vorsichtig hinter sich nach der Türklinke. Bloß weg von hier.
Dunkelheit allein reichte nicht aus. Mitte Juli herrschte manchmal auch noch spät abends in der Dämmerung reger Betrieb in den Weinbergen. Und ganz besonders in einem Jahr wie diesem. Das hatte er noch nie erlebt, und auch sein Großvater wurde nicht müde, die Unvergleichbarkeit dieses Jahrgangs herauszustellen: »Siebenundachtzig Jahre bin ich jetzt alt. An fünfundsiebzig Jahrgänge kann ich mich genau erinnern, weil ich Januar bis November im Wingert verbracht habe. Gute wie schlechte Jahrgänge. Alles war mit dabei: Frühjahrsfröste, Hagel und Dauerregen im Herbst, aber eine solche Regenzeit im Sommer hat es bei uns noch nie gegeben.«
Von Ende April bis Mitte Juli war kaum ein Tag vergangen, an dem es nicht geregnet hatte. In wenigen Stunden fielen Mengen wie sonst in einem Monat nicht. Die Folge waren massive Pilzerkrankungen in fast allen Rebanlagen. Viele Weinberge hatte der Mehltau mittlerweile grau verfärbt, und auch die Trauben, die durch die kühlen Temperaturen in ihrer Entwicklung weit zurückhingen, waren bereits geschädigt.
Ein Jahr zum Vergessen, wenn er es nicht so bitter nötig gehabt hätte. Er brauchte dringend eine respektable Erntemenge, steigende Preise und kaufwillige Kellereien. Zu viele unerfüllbare Wünsche auf einmal, und er war nur einer von vielen, denen es so ging. Die Keller der meisten Kollegen lagen wie auch bei ihm noch voll, und die Zeit wurde knapp. Wenn es so weiterging, steuerte man auf eine Noternte unreifer Trauben Mitte September hin. Wie sollte man unter Zeitdruck mit den Kellereien überhaupt verhandeln können? Das war ja genau deren Absicht: Abwarten, bis die Winzer verkaufen mussten, weil im Keller der Platz für den neuen Jahrgang gebraucht wurde, dem jetzt schon der Ruf der Ungenießbarkeit vorauseilte. Vielleicht würden sie dann für den letzten Jahrgang zumindest ein paar Cent pro Liter mehr bekommen. Ein frommer Wunsch mit geringer Aussicht auf Erfüllung, weil auch die paar Cent nicht viel daran ändern würden, dass es hinten und vorn nicht ausreichte.
Über die Milchbauern berichteten sie wenigstens ab und an im Fernsehen. Aber dass es den Winzern mit einem Literpreis von vierzig bis sechzig Cent nicht viel besser ging, das war niemandem bewusst. Die wenigen fetten Jahre nach der Jahrtausendwende hatten mit dazu beigetragen, das tiefe Grab auszuheben, in das ihre Branche nun langsam abgesenkt wurde. Damals hatte es knappe Jahrgänge gegeben, in denen für Fassweine gut bezahlt worden war. Deutsche Weißweine, insbesondere der Riesling, waren gesucht gewesen. Es waren Preise aufgerufen worden, die den Blick dafür verstellten, dass sich die Kellereien und der Handel schon nach günstigeren Alternativen umsahen. Und bei einer konstanten jährlichen Überproduktion, die den weltweiten Weinsee speiste, war es ihnen nicht schwergefallen, diese zu finden. Langsam, aber kontinuierlich waren deutsche Weine aus den Supermarktregalen verschwunden und durch Südeuropäer ersetzt worden, mit denen sie, die hiesigen Winzer, preislich ohnehin nicht mithalten konnten.
In seinem eigenen Keller lag der dritte Jahrgang in Folge, den er, wenn überhaupt, nur mit massiven Preisabschlägen losbekommen würde. Bei all denen, die nicht zumindest einen Teil ihrer Produktion selbst vermarkten konnten, waren die dünnen Reserven längst aufgebraucht. In diesem Monat hatte er zum ersten Mal den Kredit für die neue Kelterhalle nicht bedienen können, weil er die teuren Pflanzenschutzmittel für den Kampf gegen die Pilzerkrankungen nur noch gegen Bares bekam. Es war absehbar, dass ihm der ganze Laden um die Ohren fliegen würde.
Er wischte sich den Regen aus dem Gesicht. Darauf konnte man sich in diesem Sommer zumindest verlassen. Auf den ausgedehnten Schauer in der Nacht, der dafür sorgte, dass er ungestört dem nachgehen konnte, was er sich so viele Monate lang nicht getraut hatte. Die Not verschob die Prioritäten. Sie verdrängte die Angst und ließ den Hass wachsen. Ohne sich noch einmal umzuschauen, tauchte er ins Dickicht. Er schaltete die kleine Taschenlampe ein, um auf dem kaum erkennbaren Pfad voranzukommen, der sich durch das Unterholz schlängelte. Sie schienen nach ihm greifen zu wollen, die brüchigen Äste der Hecken. Er verlangsamte seine Schritte, weil es bergauf ging. Noch ein paar Minuten, dann würde er nach einer geeigneten Stelle suchen.
Er ließ den schmalen Lichtkegel der Taschenlampe wandern. In seiner Erinnerung hatte das alles ganz anders ausgesehen. Eine über die Jahre zugewachsene Streuobstwiese, auf der die Bäume früher dicht beieinandergestanden hatten. Aber außer Hecken war nichts mehr zu erkennen. Kein dicker Stamm, überall nur noch dürres, nutzloses Geäst.
Dampfend schnaufte er gegen den Regen an und kämpfte sich weiter hinauf. Endlich wurde der Pfad durchs Dickicht breiter, aber er musste aufpassen, dass er auf dem vom vielen Regen durchweichten, seifigen Untergrund nicht ausrutschte.
Die Stelle war perfekt! Prüfend blickte er sich um und vermaß die Abstände. Eine winzige Lichtung zwischen zwei knorrigen Apfelbäumen. Er ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe wandern. Ein Stück weiter hatten es sich die Wildschweine gut gehen lassen: Die Erde war zerwühlt. Der Pfad führte an der Suhle vorbei weiter hinauf. Vorsichtig nahm er den Rucksack vom Rücken, hängte ihn an einen der Zweige und tauschte die Taschen- gegen die mitgebrachte Stirnlampe. Für das, was er vorhatte, brauchte er beide Hände und mehr Licht.
Der Dörrhof war endlich weg. Schnell schenkte sich Kurt-Otto Hattemer einen ordentlichen Schluck aus der Flasche nach. Viel war nicht mehr drin. Er hielt kurz inne und traf dann doch die übliche Entscheidung. Es lohnte kaum, das winzige Restchen wieder mit in die Küche zu nehmen. Genüsslich lehnte er sich in dem Plastikstuhl zurück und strich sich mit der flachen Hand über seinen ergrauten buschigen Schnurrbart. Der Kunststoff unter ihm quietschte verdächtig.
Kurt-Otto Hattemers Blick wanderte über das holperige Kopfsteinpflaster des Innenhofes bis zum offen stehenden Scheunentor in einiger Entfernung. Dort konnte er seinen Traktor erkennen, der bereitstand für den nächsten Morgen. Im Teufelspfad erwartete ihn jede Menge Arbeit. Der Graue Burgunder und der Bacchus daneben hingen böse durcheinander. Eigentlich hätte er bei beiden noch vor dem heftigen Gewitter am Wochenende die Haltedrähte einen Haken weiter hängen müssen. Die grünen Triebe waren in den letzten sieben Tagen regelrecht in die Höhe geschossen. Milde Temperaturen und das viele Wasser im Boden beschleunigten das Wachstum. Die Haltedrähte hätten die Triebe vielleicht ausreichend stabilisiert, sodass der Wind sie nicht so übel zugerichtet hätte, doch jetzt hingen sie kreuz und quer bis in die Gasse hinein. Reichlich Beschäftigung für den morgigen Tag. Einem Winzer wurde es im Sommer nie langweilig.
Er war spät dran in diesem Jahr, weil die unbeständige Witterung kaum ein geregeltes Arbeiten zuließ. Manche Böden waren mittlerweile so voller Feuchtigkeit, dass sie einem Schwamm glichen. Trat man an einer Stelle zu fest auf, quoll ein paar Meter weiter das Wasser gurgelnd in die Höhe. Nicht wenige seiner Parzellen glichen einer matschigen Sumpflandschaft. Sie waren nicht mehr in der Lage, noch mehr Wasser aufzunehmen, komplett gesättigt.
Dem Dörrhof hatte es einen frisch gepflanzten Weinberg regelrecht hinweggespült. Die ganze letzte Woche war der Kollege damit beschäftigt gewesen, die hinabgeschwemmten Erdmassen mit dem Traktor und seinem Anhänger wieder den Hang hinaufzutransportieren. Eine beschwerliche Arbeit mit ungewissem Ausgang, denn in den Jungfeldern des Frühjahrs hatte sich noch keine Grasnarbe gebildet, die den Hang vor der Erosion bewahren konnte. Nach dem nächsten Sturzregen würde der Dörrhof mit seinen beschwerlichen Erdtransporten wahrscheinlich wieder von vorn anfangen müssen. Der rheinhessische Sisyphos, der den Weinbergsboden hinaufschaffte. Doch noch bevor er seinen Erfolg bestaunen konnte, war die Erde als Schlamm schon wieder hinabgerutscht.
In den sonst üblichen trockenen Sommern gab es solche Probleme nicht. Zwischen April und Juli fiel kaum Niederschlag, und als Winzer war man froh über jeden Tropfen. Dann glichen die Weinberge einer ausgetrockneten Steppenlandschaft. Nur die Rebstöcke mit ihren Wurzeln, die sich im Laufe der Zeit mehrere Meter tief ins Erdreich hineingearbeitet hatten, trotzten in sattem Grün der Trockenheit.
Doch in diesem Jahr war alles anders und er mit den notwendigen Handarbeiten mächtig im Verzug. Morgen würde er auch im strömenden Regen draußen bleiben müssen, in der Ganzkörpergummimontur, die ihn einschnürte wie eine Presswurst. Er stöhnte genervt. Die gelbe Gummilatzhose stammte aus Zeiten, in denen er etliche Kilo weniger gewogen hatte. Sie spannte nicht nur über dem Bauch und nahm ihm den Hang hinauf die Luft zum Atmen, sodass er wie eine alte Dampflok schnaufte, auch weiter unten zwickte sie bei jedem Schritt. Zudem schien sie sich über die Jahre, die sie unbenutzt in der Scheune im Spind neben der Werkbank gehangen hatte, auch noch verzogen zu haben, denn sie endete ein gehöriges Stück oberhalb der Knöchel. Eine regenfeste Hochwasserlatzhose. Aber es brauchte ihn ja niemand anzusehen, wenn sich denn überhaupt jemand bei den angekündigten Regenmengen morgen nach draußen in den Teufelspfad trauen würde.
Das stärker werdende Trommeln über ihm holte Kurt-Otto Hattemer aus seinen Gedanken. Der nächste Schauer kündigte sich mit einzelnen großen Tropfen an, die auf die durchsichtige Plastiküberdachung seiner Veranda klatschten.
Er nippte vorsichtig an seinem Glas. Ein winziger Schluck nur, der half, die schlechte Laune am späten Abend zu vertreiben. Die konzentrierte Süße und das an Dörrobst erinnernde Aroma fluteten seine Zunge. Zehn Jahre war sie mittlerweile alt, seine Trockenbeerenauslese. Auch damals hatte es viel geregnet. Aber erst im Oktober. Die Ausbreitung der Edelfäule war dadurch beschleunigt worden. Botrytis cinerea, der Pilz besiedelte bei idealen Bedingungen vollreife Trauben. Er bohrte sich durch die Beerenhaut, um an das Wasser darin zu gelangen. Im Anschluss setzte ein natürlicher Austrocknungs- und Konzentrationsprozess ein, der dazu führte, dass von den Trauben nur mehr Rosinen übrig blieben.
Das Konzentrat des Jahrgangs war sein Lieblingstropfen, den sie mittlerweile fast alle verschmähten. Selbst der Dörrhof hatte sein Glas vorhin nicht leer getrunken. Früher hatten sie nicht genug davon bekommen können. Edelsüße, ölige Weine waren die Verkaufsschlager und in dieser Qualität wie sein 2006er nur selten und in winzigen Mengen zu ernten gewesen. Damals waren für Trockenbeerenauslesen und selbst für die leichteren Auslesen stattliche Summen bezahlt worden. Die Nachfrage war nicht zu stillen gewesen, vor allem nicht in kühlen Jahren.
Vom Klimawandel, über den sie in den heißen Sommern der letzten Jahre alle ständig geredet hatten, war damals noch nichts zu spüren gewesen. In einem kühlen Jahr hatte man froh sein können, wenn man eine Auslese und zwei Spätlesen erntete. Die aufgerufenen Preise und die daraus gespeiste Gier machten einige erfinderisch. Mit reichlich Zucker wurde nachgeholfen, um leichte und saure Weißweine aufzumöbeln, bis der große Skandal in den 1980ern alles in Trümmer legte. Von dem Moment an wollte sie kaum noch einer haben, die edelsüßen Dessertweine. Jeder von ihnen wurde verdächtigt, gepanscht zu sein. Als rein galten nur noch die trockenen, die davor kaum jemand hatte haben wollen. Zu sauer, zu wenig Aroma, keine Fülle, kein Schmeicheln und Liebkosen der Geschmacksnerven. Bis heute hatte Kurt-Otto sich damit nicht anfreunden können und schien in dieser Beziehung einer der Letzten seiner Art zu sein. Eine aussterbende Spezies. Die Kollegen ließen ihn das nur allzu oft spüren. Unser letzter lebender Süßwein-Dinosaurier. Die Ausmaße hat er mittlerweile. Den müssen wir unter Artenschutz stellen und später ausgestopft im Oppenheimer Weinbaumuseum hinter Glas präsentieren.
Kurt-Otto seufzte, nahm noch einen größeren Schluck und ließ ihn genüsslich schmatzend im Mund kreisen. Für einen Moment schloss er die Augen, lauschte dem gleichmäßigen Trommeln des Regens, das ihn müde machte, und verbat sich weitere Gedanken an die längst vergangenen Zeiten. Sie kamen nicht wieder, und mit ihm würde nach dem kommenden Herbst auch der letzte der Alten verschwinden. Das war der Grund, warum sie plötzlich alle seine Nähe suchten. Er war nicht dumm. Jeder, der ihn sah, wollte mit ihm sprechen. Selbst die, die früher einen weiten Bogen um ihn gemacht hatten. Auf der Straße, im Weinberg. Manchmal kamen sie sogar zu zweit oder zu dritt, beäugten und taxierten sich gegenseitig, während sie ihm auf die Schulter klopften und seine Weinberge in den besten Lagen lobten, um sich gleich darauf selbst wortreich und umständlich ins rechte Licht zu rücken.
Klaus Dörrhof war schon zum vierten Mal abends bei ihm gewesen. Als Erster hatte er heute mit einem konkreten Angebot herausgerückt. Kurt-Otto musste schmunzeln und schluckte. Das Aroma getrockneter Aprikosen blieb auf seiner Zunge zurück, und in seinem Magen breitete sich eine wohlige Wärme aus. Dieser Wein war die beste Medizin gegen alle trüben Gedanken. Stimmte er dem Angebot Dörrhofs zu, dann wäre es vorbei. Unumkehrbar, für immer. Dann hätte die zweihundertjährige Familientradition ein Ende gefunden. Er wäre der letzte Hattemer, der in diesen Gemäuern gekeltert und Wein ausgebaut hatte. Wieder griff er nach dem Glas. Sein Gemütszustand forderte die Süße auf der Zunge regelrecht ein. Selbst als damals feststand, dass Renate und er keine Kinder bekommen konnten, hatte ihn dieser Umstand nicht so gequält. Alles hatte noch in weiter Ferne gelegen. Der Endpunkt war kaum auszumachen gewesen, schnell verdrängt und weggeschoben. Niemand hatte gewusst, was sich noch ergeben würde.
Jetzt stand nur noch eine einzige, letzte Weinlese an, bevor es endgültig vorbei sein sollte. Im November wurde er fünfundsechzig. Wer keinen Betriebsnachfolger hatte, der hörte in diesem Alter auf, weil es sonst keine Rente gab. Zumal die Lage auf dem Weinmarkt nicht so rosig war, um freiwillig noch ein paar Jahre dranzuhängen. Eine größere Reparatur an einem seiner vielen Geräte, die mit ihm in die Jahre gekommen waren, würde das wenige, was überhaupt übrig blieb, verzehren. Im letzten Jahr hatte er sogar draufzahlen müssen, weil die Preise für Fassware ins Bodenlose gefallen waren.
Als ruheloser Geist würde er trotzdem täglich seinen alten Fendt durch die Weinberge steuern, beschloss Kurt-Otto. In einer Endlosschleife ohne Sinn und Ziel, einem Hamster gleich, der in seinem Rad unermüdlich Runde um Runde drehte. Er schüttelte den Kopf und riss die Augen auf. Er würde daran zugrunde gehen. Das konnte Renate doch auch nicht wollen! Ein Kompromiss wäre es, wenn er dem Dörrhof die Weinberge verpachtete und selbst noch so lange ein paar schöne Parzellen pflegte, wie es körperlich noch ging und ihm die Arbeit Spaß machte. Altersteilzeit quasi. Er könnte seinen Traktor behalten, hätte eine tägliche Beschäftigung und am Ende des Jahres ein, zwei Fässer Wein für den eigenen Verbrauch. Wein, wie er ihn gerne trank, nicht so, wie die anderen ihm ihn vorschreiben wollten, trocken und mineralisch. Er brauchte ihn fruchtig und mit einer wohltuend intensiven Süße. Jawohl!
Er streckte sich, griff nach dem Glas und leerte es mit einem großen Schluck. Er konnte ihre Schritte im Hausflur hören. »Renate, mein Schatz, hast du noch etwas zu essen für mich? Tut mir leid, dass es so spät geworden ist, aber der Dörrhof wollte einfach nicht heimgehen.«
Vorsichtig setzte Locke das Stemmeisen am Fensterrahmen an und hielt inne. Es herrschte absolute Stille. Nur das Rauschen war zu hören, obwohl er nicht wusste, ob es in seinen Ohren war oder von den Bäumen um ihn herum rührte.
»Worauf wartest du noch? Mach endlich! Mir läuft schon die Brühe in den Nacken.«
»Halt’s Maul!« Er hatte kaum hörbar gezischt. Dass sie nicht einmal in einer solchen Situation die Fresse halten konnten. Locke spürte, dass auch ihm der Schweiß kitzelnd aus den Achselhöhlen am Körper hinabrann. Sein Gesicht glühte unter der Sturmmaske. Wenn es doch schon vorbei wäre. Noch gab es einen Weg zurück. Bisher war nichts passiert, gar nichts. Das Stemmeisen lag schwer in seiner Hand. Durch die gummierten Arbeitshandschuhe spürte er das kühle Metall nicht, aber er wusste, wie es sich anfühlte. Auch jetzt, in diesem winzigen Moment, in dem er ins Schwanken geriet. Abbruch der ganzen Aktion! Es machte ohnehin keinen Sinn, es würde nichts bringen. Lasst uns zu mir gehen. Laute Musik bis zum nächsten Morgen und ein paar Flaschen Wein dazu, um in ihnen die Feigheit zu ersäufen.
Wie oft hatten sie das schon ausdiskutiert? Es brauchte ein Zeichen. So konnte es nicht weitergehen. Andere hatten es schon getan. Sie waren sowieso wieder die Allerletzten. Das Rauschen wurde lauter und kündigte ein Fahrzeug auf der ausgebauten Ortsumgehung an. Seine Muskeln kontrahierten, während er weiter abwartete. Schnell schwoll der Lärm an. Mit ihm kam Wind auf, der die Blätter um sie herum im dichten Gebüsch sich bewegen ließ. Dicke Tropfen fielen herab, aber ob es noch immer regnete, konnte er nicht sagen. Auf dem Weg hierher hatte es eigentlich aufgehört. Sie hatten den Wagen auf dem Parkplatz hinter dem Altersheim abgestellt. Halb zwei Uhr nachts, zu spät für einen Besuch bei der Oma. Auf dem geschotterten Feldweg neben der Landstraße trieb sich um diese Uhrzeit ohnehin niemand herum. Nicht unter der Woche und schon gar nicht bei dem Wetter. Jedes nahende Geräusch hatte sie in die Knie gezwungen. Im Schutz der Böschung hatten sie kurz ausgeharrt, bis das Fahrzeug an ihnen vorbei war, um dann ungesehen weiter voranzuhasten. Eine Viertelstunde hatten sie bis zur Rückseite der riesigen Lagerhalle gebraucht.
In diesem Moment donnerte der Lkw hinter ihnen auf der Landstraße vorbei. Mit aller Kraft drückte Locke das Stemmeisen nach unten, um es gleich darauf noch einmal anzusetzen. Das Glas der kleinen Fensterscheibe riss und fiel splitternd nach innen. Das Rauschen in seinen Ohren war jetzt so laut, dass er nicht mehr wusste, welchen Lärm er selbst produzierte. Die anderen hinter ihm drängten nach. Er hatte kaum noch Platz, um das Fenster herauszustemmen.
»Hör auf damit! Schlag den Rest der Scheibe ein und mach den Rahmen sauber, dann kommen wir alle durch!«
Er spürte, dass sie ihn zur Seite drückten.
»Gib schon her!« Josch riss ihm das Eisen aus der Hand und schlug die restlichen Scherben aus dem Fensterrahmen. »So passt das. Jetzt gehen wir alle rein, und morgen Nacht schneiden wir ihm den Riesling im Hähnerklauer ab. Der soll sehen, dass er zu weit gegangen ist.« Joschs Augen funkelten, dann war er auch schon durch die Öffnung verschwunden.
Nacheinander schoben sich auch die anderen beiden hindurch, die Beine voran. Locke folgte ihnen. Ein letzter Blick in das Gebüsch, das ihnen eben noch als Deckung gedient hatte. Die schmale Wiese dahinter war nicht zu erkennen, genauso wenig wie der Feldweg. Auf der Landstraße flammten die hellen Scheinwerfer eines Fahrzeugs auf. Seine Füße suchten nach Halt, den ihnen die glatte Wand nicht bieten wollte. Plötzlich spürte er den entschlossenen Griff um seine Fersen. Eine Macht, die ihn unerbittlich in die Tiefe zog.
»Was ist denn los mit dir?« Matschie blickte ihn fragend an. Unwirklich, der schmale Ausschnitt, den die schwarze Sturmhaube von seinem Gesicht frei ließ. »Komm, die anderen sind schon weiter.«
Er spürte den Schlag auf die Brust kaum. Kein Schmerz, nur eine Erschütterung.
»Weißt du noch, was du zu machen hast?«
Locke nickte schnell, weil die Augen eine Reaktion einforderten, doch Matschie war ihm schon vorausgeeilt. Zitternd hob Locke seine Hand und bewegte die Finger. Sie tasteten nach der Stirnlampe auf seinem Kopf, schalteten sie ein. Ein weißer Lichtstrahl flackerte hektisch vor ihm herum, während er vorsichtig kleine Schritte auf knirschende Glassplitter setzte. Er konnte sie hören. Weit entfernt und durch das immer noch gleichmäßige Rauschen hindurch. Ebenso das bekannte Quietschen eines Metallgewindes und sein Nachhallen in der Weite der riesigen Halle.
Als der blank polierte Edelstahl das grelle Licht seiner Stirnlampe zurückwarf, kniff Locke die Augen erschrocken zusammen und riss sie gleich darauf wieder auf. Was war bloß los mit ihm? Eisig rannen ihm dünne Ströme aus Schweiß den Rücken hinunter. Es war seine Idee, sein Plan gewesen, und er hatte keine Ahnung, was er in diesem Moment tun sollte. Aus einer anderen Richtung drang erneut das Geräusch eines quietschenden Stahlgewindes an seine Ohren. Metall, das scheppernd auf hartem Betonboden auftraf. Alles so weit entfernt. Ein Hall nur, der sich in seine Gehörwindungen verirrt hatte. Einer, der gar nicht für sie bestimmt zu sein schien. Locke fühlte sich in diesem Moment wie ein unbeteiligter Zuschauer einer Welt, der er nicht angehörte.
»Wasser marsch!«, rief Krücke oder Josch. Die Umgebung verzerrte die Stimme.
Lockes Lichtkegel wanderte in die Höhe, während sich ein zweites Rauschen zu dem in seinen Ohren gesellte. Wie ein starker, mit Wucht auf einen festen Untergrund treffender Strahl, der hart zurückgeworfen wurde. Das Rauschen schwoll an. Ohrenbetäubend, als stünde man direkt unter einem mächtigen Wasserfall. Es überlagerte alle anderen Laute. Nichts außer ihm war mehr zu hören.
Die plötzliche gleißende Helligkeit der unzähligen, im selben Moment aufflackernden Neonröhren machte ihn einen Augenblick lang blind. Spitze Schreie drangen durch das Rauschen, das noch immer alles erfüllte. Locke folgte der Schlucht aus Edelstahlbehältern. Ein roter Strom vereinigte sich vor ihm mit einem zweiten helleren, der von links kam. Nach rechts öffnete sich ein schmaler Gang. Ineinander verschlungen lagen sie dort, völlig durchnässt. Ungelenke Bewegungen wie in Zeitlupe. Unten einer von ihnen, Krücke, Josch oder Matschie. Es war nicht zu erkennen. Auf ihm kniete der andere. Ihre Hände verkrallt.
»Zeig dein Gesicht, du feiges Schwein! Ich reiß dir die Mütze vom Schädel!«
Das Anstechrohr aus Edelstahl befand sich rechts von ihm unter der ovalen schwarzen Öffnung eines leeren Weintanks. Locke bückte sich langsam danach. Es war schwerer als erwartet, obwohl er doch ständig mit Weintanks zu tun hatte. Alles war jetzt klar. Kalt drang die Flüssigkeit durch seinen linken Handschuh, mit dem er sich eben noch auf dem Boden abgestützt hatte. Ein fettiger Kranz dünner Haare umgab eine fast lichte Stelle, auf die er mit voller Wucht hieb. Getroffen vom blanken Stahl, sackte der Mann in sich zusammen. Blut quoll aus der Wunde an seinem Hinterkopf. Feine Schlieren, die sich schnell im hellen Rosé des auslaufenden Weines verloren.
Posthalters Sigrun bot alle ihr zur Verfügung stehenden Kräfte auf und schraubte den Kunststoffdeckel der Wasserflasche so fest zu wie möglich. Die gefüllte Flasche stellte sie neben die anderen und betrachtete voller Stolz ihr Werk. Die halbe Nacht hatte sie im Bademantel auf der Straße verbracht. Zwischendurch waren ihr Bedenken gekommen, ob sich der Aufwand wirklich lohnte, doch jetzt hatte sich bestätigt, dass alles richtig und gut war. Sehr gut sogar. Sie nickte eifrig. Elf zweckentfremdete Sprudelflaschen standen vor ihr. Und ein Vielfaches ihres Inhalts wartete noch auf die weitere Verarbeitung. Eine stolze Ausbeute für eine Nacht, in der sie ansonsten doch wieder nur sinnlos stundenlang wach gelegen hätte, weil sie die Erinnerungen an die letzten siebzig Jahre nicht zur Ruhe kommen ließen.
Es war schlimmer geworden in den letzten Monaten. Fast jede Nacht trieben sie sie um, dafür dehnte sich der ehemals kurze Mittagsschlaf nach eins mittlerweile auf den gesamten Nachmittag aus. Manchmal trank sie ihren Nachmittagskaffee erst gegen halb sieben, wenn auf der Straße die Traktoren schon auf dem Heimweg waren und sich mühsam die steile Gasse hinaufquälten. Sie konnte sie alle am Klang erkennen, am Aufheulen, wenn sie vor ihrem Wohnzimmerfenster in den ersten Gang zurückschalteten, um auf dem letzten und steilsten Straßenstück nicht den Motor abzuwürgen.
Der ohrenbetäubende Schlag hatte sie aufschrecken lassen. Carmen Nebel hatte doch gerade erst das große Finale angekündigt, und sie wollte sie alle noch einmal sehen. Eigentlich hatte sie die ganze Zeit nur darauf gewartet. Auf den Anblick ihrer gemeinsam singenden Lieblinge auf der Bühne. Auf das funkelnde goldene Konfetti, das vom Studiohimmel regnete, und den Hauch Kunstnebel. Andrea Berg, Wencke Myhre, Mireille Mathieu und Howard Carpendale hatten zusammen »So ein Tag, so wunderschön wie heute« angestimmt. Die Tränen waren sofort da gewesen. Das Lieblingslied ihres Mannes aus dem Mund so vieler großer Stars. In diesem Moment hatte sie ihn wieder vor ihrem geistigen Auge gesehen. So lebendig, obwohl er doch schon seit mehr als zwanzig Jahren oben hinter der Kirche auf dem Friedhof lag.
Beim oder kurz nach dem großen Finale musste sie eingeschlafen sein. Erst der Donnerschlag hatte sie aufgeweckt. Auf dem Bildschirm hatten dunkle Waldszenen geflimmert. Bestimmt einer dieser Krimis, die sie nicht ausstehen konnte. Mühsam hatte sie sich nach der Ruhestörung aus dem Sessel gequält. Wer wusste schon, was da passiert war. Vielleicht eine Explosion irgendwo in der Nachbarschaft. Schnell hatte sie sich die Strickjacke über den dünnen Bademantel gezogen und war dann hinausgeeilt. Noch bevor sie ihr Hoftor zur Straße erreicht hatte, schwoll der Lärm an. Ein Motorrad heulte auf. Der Krach steigerte sich, um sich kurz darauf in einem weiteren bebenden Schlag zu entladen. Der Rüben-Rudi mit seiner Maschine, wer sonst. Sogar mitten in der Nacht. Sie musste nicht weitergehen, zog aber doch das Türchen zum Gehsteig einen Spalt weit auf und warf einen schnellen Blick hinaus. Er war auf einem seiner vielen verschiedenen Motorräder längst vorbeigerast. Weit über fünfzig Jahre alt war der Rüben-Rudi, der mit seinem Lkw im Spätherbst und Winter die Zuckerrüben abtransportierte, und noch immer unterwegs, als ginge er in die Berufsschule.
Sie hatte den Kopf geschüttelt. Es war der Geruch gewesen, der sie davon abgehalten hatte, das Hoftürchen sofort wieder zuzudrücken und abzuschließen. Es roch ungewöhnlich vor ihrem Haus. Obwohl der Regen aufgehört hatte, strömte ein schmaler Fluss an ihr vorbei, den Berg hinunter. Die Gemeinde musste dringend dafür sorgen, dass die Schmutz-Eimer unter den Gullydeckeln gereinigt wurden. Der viele Niederschlag der letzten Wochen schien sie restlos gefüllt zu haben, sodass sie kein Wasser mehr hindurchließen. Alles war verstopft, beim nächsten heftigen Wolkenbruch würde es die größte Sauerei geben. Am Ende liefen noch die Keller voll, und dann hätten sie alle den Schaden.
Im hellen Schein der Straßenlaterne vor Sigruns Haus funkelten die Wogen des gleichmäßig fließenden Bachs vor ihren Füßen. Seine Farbe und sein Geruch zogen sie magisch an. Ein schneller Blick die Straße hinauf und auch hinunter, nur zur Sicherheit. Die Nachbarn mussten sie nicht unbedingt in Bademantel und Strickjacke sehen. Dann hieße es wieder, die neugierige Sigrun mache die Nacht zum Tage. Vorsichtig beugte sie sich hinab und atmete tief ein, um anschließend den ausgestreckten Zeigefinger in den Strom zu tauchen. Als sie ihn wieder herauszog, war er rot gefärbt und roch nach Wein. Und schmeckte auch so. Ein Fluss aus Rotwein ergoss sich die Gasse hinab, und niemand schien es bemerkt zu haben.
Schnell eilte sie zurück ins Haus und sammelte mit wenigen Handgriffen alles zusammen. Das alte verbeulte Messblech, das sie sonst nur samstags zum Kuchenbacken verwendete, und den großen Putzeimer, den sie hastig noch einmal mit Wasser ausspülte. Gut gerüstet hetzte sie schließlich wieder nach draußen auf die Straße. Nicht dass es schon zu spät war. Das Wunder von Essenheim. Ein Schlaraffenland direkt vor ihrer Tür. Und die gesamte Nachbarschaft schlief. Dieser Umstand steigerte ihre ohnehin schon prächtige Laune noch zusätzlich. Das hatten sie davon, zur besten Zeit im warmen Bett zu liegen. Der schnelle Vogel fing den Wurm. Das alte Sprichwort schien sich in dieser leicht abgewandelten Variante wieder einmal zu bewahrheiten.
Hastig schaufelte Posthalters Sigrun den Rotwein in den Putzeimer. Sie hatte das Gefühl, als würde der Strom weiter anschwellen. Den gut gefüllten Eimer schleppte sie unter Aufbietung all ihrer Kräfte ins Haus und leerte ihn in Ermangelung weiterer tauglicher Großgefäße in die ohnehin nutzlose Badewanne. Sie duschte ja viel lieber, weil sie in ihrem Alter nicht sicher sein konnte, aus der Wanne wieder herauszukommen.
Um den breiten Weinstrom auf der Straße ein wenig zu kanalisieren, nahm sie den Putzlappen mit nach draußen. Fest zusammengerollt diente er als Barriere und führte ihrem Messblech schnell größere Mengen des kostbaren Weines zu. Sie verlor den Überblick darüber, wie oft sie den Putzeimer füllte und den auf diese praktische Weise gewonnenen Inhalt in ihre Badewanne kippte. Als der Strom im Morgengrauen langsam versiegte, war sie klatschnass geschwitzt gewesen, und ihr ehemals blütenweißes Nachthemd, der hellrosa Bademantel und ihre Strickjacke darüber hatten ausgesehen, als wäre sie dem Metzger im Dorf beim Schlachten zur Hand gegangen.