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Der angesehene Bauunternehmer Viktor Reichwein verschwindet spurlos. Seine Frau Birgit und sein Sohn Ronald sehen jedoch keinen Grund zur Sorge, denn hatte sich Reichwein nicht schon öfter Auszeiten mit blutjungen Frauen gegönnt?Diesmal gibt es aber selbst nach einer Woche kein Lebenszeichen von ihm, und der Nieder-Olmer Bezirkspolizist Paul Kendzierski beginnt zu ermitteln. Dabei ist dieser mal wieder am stärksten mit seinem eigenen Privatleben beschäftigt: schließlich ist Kendzierski schwanger! Und trifft - o wie peinlich! - beim ersten Vatertagsausflug seines Lebens auf seinen Chef, Bürgermeister Erbes. Gut nur, dass ein anderer Vater in spe ihn anschließend zu einer Weinprobe auf den Windhäuser Hof einlädt.
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Seitenzahl: 326
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Vatertag
Für Nina, Phillip, Hanna, Fabian und Justus.
Andreas Wagner
Ein Krimi
Die Handlung und alle Personen sind völlig frei erfunden; Ähnlichkeiten wären rein zufällig.
© Leinpfad Verlag
Herbst 2014
Alle Rechte, auch diejenigen der Übersetzung, vorbehalten.
Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne die schriftliche Genehmigung des Leinpfad Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: kosa-design, Ingelheim
Leinpfad Verlag, Leinpfad 5, 55218 Ingelheim,
Tel. 06132/8369, Fax: 896951
E-Mail: [email protected]
www.leinpfadverlag.com
ISBN 978-3-942291-84-2
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Epilog
Reichwein zog vorsichtig die Tür hinter sich zu. Die kühle Nachtluft tat seinen erhitzten Wangen gut. Trotzdem würde er sich im Wagen gleich die Augenpartie mit diesem Wundergel einreiben. Das vermochte sogar die Folgen einer langen Nacht zu glätten. Es gab nichts Schlimmeres als den Blick in den Spiegel am Tag danach. Malträtierte Gesichtszüge, eine furchige Faltenlandschaft und dunkle Ringe, die seinen ohnehin gut sichtbaren Tränensäcken zusätzliche Geltung verschafften. Das Gel half dagegen. Ein Tipp seines Friseurs, des einzigen Schwulen, den er an sich heranließ. Bloß nicht einreiben. Die Haut um die Augen ist außerordentlich empfindlich. Tupfen, mit der weichen Spitze des Mittelfingers, ganz sachte. Er musste jedes Mal konzentriert an sich halten, um nicht prustend loszulachen: diese gehauchten und in die Länge gezogenen watteweichen Silben … Immer ein Erlebnis, der eigentlich schlichte wöchentliche Besuch beim Friseur, dessen Hauptgrund mit ein paar schnellen Handbewegungen abgearbeitet war. Trotz seines Alters waren seine Haare noch recht voll. Silbergrau zwar, aber kaum lichter werdend. Er fuhr sich wie zur Bestätigung mit der Rechten über den Kopf. Sie wuchsen kaum noch. Daran merkte man, dass er einundsechzig war. Lothar tat trotzdem jedes Mal so, als ob es etwas zu schneiden gab. Nur ein wenig an den Spitzen. Die sind aber wieder in die Länge geschossen und so volles Haar. Ein wenig Haargel und mit dem Hornkamm glatt nach hinten gekämmt, das war schon seit Jahrzehnten sein Markenzeichen. So kannten sie ihn, Reichwein, den Macher, den Entschlossenen, den Anpacker, das Vorbild an Bürgersinn. Wenn es doch bloß mehr von dieser Sorte gäbe. Kurz vor seinem Sechzigsten hatte er der stets klammen Stadt Mainz mit einer nicht unbeträchtlichen Zuwendung die Sanierung zweier Kindergärten ermöglicht. Zu seinem runden Geburtstag war daher mit ehrenden Worten nicht gegeizt worden. Den Auftrag hatte sein Freund, der Bauunternehmer Kurzenberger, bekommen. Dieser Umstand ließ ihn seine Spenden etwas verschmerzen.
Reichwein sog noch einmal die kühle Mailuft ein. Es war heute schon so sommerlich heiß gewesen, dass die nächtliche Frische angenehm war. Vorsichtig setzte er seine schwarzen Lackschuhe auf das Pflaster des Gehwegs. Jetzt war er kaum zu hören. Kurz bevor er die Hecke erreichte, lauschte er besonders konzentriert. Es war unwahrscheinlich, um kurz nach zwei in der Nacht hier noch auf jemanden zu stoßen. Aber man konnte ja nie sicher sein. Senile Bettflucht oder der alte Hund, der noch mal Gassi musste. Und schon hatte ihn einer gesehen, der es am nächsten Morgen brühwarm weiter erzählte. Das durfte nicht passieren. Ein Gerücht war das eine, die Bestätigung das andere.
Als er die Hecke erreichte, war auch die Hitze aus seinem Gesicht verschwunden. Das schnelle Glas Champagner war daran schuld gewesen, bevor sie übereinander hergefallen waren. Juliane hatte Stil, auch wenn es eine unnötige Zeitverschwendung war. Er kam nicht hierher, um zu reden und Brause zu trinken. Dafür bezahlte er ihr nicht die Wohnung. Eine seiner Firmen hatte dieses möblierte Apartment für Praktikanten angemietet. Da ihm das Haus selbst gehörte, schmerzte die Ausgabe nicht sonderlich.
Vorsichtig hob er den Kopf und kontrollierte die kaum befahrene Seitenstraße in beide Richtungen. Ausgestorben. Auch die großen Fenster des Mehrfamilienhauses gegenüber waren dunkel. Drei Parallelstraßen weiter lag sein zweites Objekt hier in Stadecken. Zwölf Parteien, alle problemlos, so wie man es als Vermieter gerne hatte. Keine Zahlungsausfälle und selten nervige Anrufe mit überzogenen Wünschen und sinnlosen Verbesserungsvorschlägen. Zwei Mietshäuser und ein Weingut – Stadecken-Elsheim war in den letzten Jahren zu einem kleinen Mittelpunkt seiner Tätigkeiten außerhalb von Mainz geworden.
Er hatte keine Ahnung von Wein, außer der undeutlichen Erinnerung an seinen Großvater, der ein paar Fässer für den Eigengebrauch gekeltert hatte. Wein aber war ein krisenfestes Investment. Als vor vier Jahren alles ins Wanken geriet und sogar die großen sicheren Banken strauchelten, hatte er kurzen Prozess gemacht. Vom einen auf den anderen Tag, weil es wie ein Wink des Himmels ausgesehen hatte. Die im Tagesgeld geparkten zwei Millionen und das angestaubte Weingut mit reichlich Geschichte und noch mehr schlummerndem Potenzial. Es hatte nur auf ihn gewartet und er hatte kurzerhand zugegriffen, obwohl er nichts davon verstand, außer der unbeholfenen Handhabung eines Korkenziehers.
Mit ein paar schnellen Schritten hatte er sich ausreichend weit von dem Grundstück entfernt. Sein Netzwerk war so verzweigt, dass es immer und überall jemanden gab, den er gerade getroffen haben konnte, auch so spät in der Nacht noch. Sein schwarzer Range Rover stand zwei Straßen weiter. Er stellte ihn immer woanders ab, aber nie vor ihrer Tür. Das wäre dann doch zu offensichtlich. Schnell sah er sich noch einmal um, weil er für einen kurzen Moment geglaubt hatte, es würde ihm jemand folgen. Kein Geräusch, mehr ein Blick, den er auf sich gespürt haben wollte.
Alles Einbildung, tief dunkle Nacht und absolute Stille um ihn herum. Im Laufen fingerte er in der rechten Tasche seines dunkelgrauen Maßanzuges nach dem Autoschlüssel. Die Batterie des Öffners war schon wieder so schwach, dass er direkt am Wagen stehen musste und kein Stoff dazwischen sein durfte. Das bekamen sie einfach nicht in den Griff. Die zweite oder die dritte Fernbedienung schon?
Vielleicht hatte er den kaum erkennbaren, schnellen Schatten an dieser Stelle zwischen zwei entfernt stehenden Straßenlampen doch noch wahrgenommen. Mehr als ein schwaches Erstaunen bekam sein Hirn aber nicht mehr hin, bevor ihn der kräftige Hieb auf den Hinterkopf traf. Ein spitzer Schmerz durchzuckte seinen Oberkörper und fuhr ihm brennend heiß bis in die Beine. Im gleichen Moment sackte er fast geräuschlos in sich zusammen und blieb reglos vor seinem Wagen liegen. Wenige Sekunden später schon hatte die automatische Türverriegelung den Fehler erkannt. Der Wagen war aus Versehen entriegelt worden. Niemand wollte einsteigen. Mit einem kurzen Blinken vermeldete das Fahrzeug die selbsttätige Wiederverriegelung aller Türen.
Viktor Reichwein nahm das aber schon längst nicht mehr wahr.
Langsam trottete Paul Kendzierski durch die kühle Morgenluft. Er stolperte gähnend und mit sich selbst im stillen Zwiegespräch die Pariser Straße entlang auf die in frischer Farbe und der Morgensonne erstrahlende Kirche zu. Die halbe Nacht hatte er wieder wach in seinem Bett gelegen. Gestern und vorgestern auch schon sowie die meisten Nächte davor. Viele Wochen schon. Ein sich kontinuierlich aufbauendes Schlafdefizit, das in nicht allzu ferner Zukunft damit enden würde, dass er mitten in einem Gespräch einnickte. Unfähig, dem Schlafbedürfnis, das sich nachts nicht einstellte, tagsüber aber quälend auf ihm lastete, weiter Widerstand zu leisten. Würde er im Laufen einschlafen oder mit dem Hörer am rechten Ohr auf dem Schreibtischstuhl?
Er schüttelte ungläubig den Kopf, wie sooft in den letzten Wochen und Monaten. Sein Leben stand Kopf, war aus den Fugen geraten, vollkommen durcheinander, obwohl es doch eigentlich in ganz geregelten Bahnen verlief. Das reinste Chaos, da oben in seinem Schädel und keiner sonst bekam es mit. Alle grinsten sie ihn an, lächelten freundlich, blöde beseelt. Er war von Menschen in den Arm genommen worden, denen er in den vielen Jahren davor nicht einmal die Hand gegeben hatte.
Vielleicht lag die einzige Rettung in einer vollständigen Umkehr seines Lebensrhythmus. Schlaf gab es am Tag und zur Arbeit ginge er dann folglich gegen Mitternacht. Kein so schlechter Gedanke. Schichtbetrieb. Absolute Ruhe am Arbeitsplatz, keine Anrufe und das Ende jeglicher Außentermine. Jetzt war ich schon dreimal bei Ihnen in Zornheim, habe Sie aber nie angetroffen.
Der blasse Einsiedler im Nieder-Olmer Rathaus. Ob sein Arbeitsverhältnis diese Variante zuließ? Es gab die Gleitzeit, aber auch eine Kernarbeitszeit, während derer man anwesend zu sein hatte. Und der Nieder-Olmer Bürgermeister, Ludwig Otto Erbes, achtete auf deren Einhaltung mit Argusaugen. Kendziäke, wo waren Sie denn? Ich habe mir ja die Hacken wund gelaufen auf der Suche nach Ihnen. Vorwurfsvoll den Kopf wiegend und mit schnellen wippenden Bewegungen der Füße, um sich ein wenig mehr Größe zu verschaffen. Die mutig quer gelegte, luftige Welle, die die größer werdende Lücke auf seinem Kopf nur notdürftig zu verdecken vermochte, folgte nachschwingend dem Auf und Nieder. Erbes war ein auf das Maß eines Zwergenkönigs gedrückter Kommunalpolitiker, der, wenn man ihn denn ließe, bis zum letzten Atemzug im Amt bliebe. Wahrscheinlich aus reiner Furcht, ansonsten täglich mit seiner Frau im Zwillings-Trainingsanzug und mit Stöcken bewaffnet klappernde Runden durch den nahe gelegenen Ober-Olmer Wald drehen zu müssen.
Mit Erbes war eine Nachtschicht kaum machbar. Es sei denn, der stellte seinen Lebensrhythmus auch um. Jetzt konnte Kendzierski ein Kopfschütteln nicht mehr verhindern. Es waren genau diese wirren Gedanken, die ihm seit Monaten den Schlaf raubten, sobald in seinem Kopf eigentlich Ruhe hätte einkehren müssen. Reiner Unsinn, der dort oben grassierte und ihn hellwach, auf dem Rücken liegend, zwang, die Unebenheiten der Raufasertapete an der Decke über sich zu vermessen. Klara schnorchelte unterdessen selig neben ihm. Ihr Schlaf war von geradezu unvorstellbarer Zuverlässigkeit. Sobald sie in der Waagerechten lag, brauchte er nur von zehn rückwärts zu zählen. Bei fünf atmete sie bereits gleichmäßig, bei null schlief sie und überließ ihn einsam und alleine der quälenden Nachtstille. Hatte er eben im Laufen schon wieder den Kopf geschüttelt? Ja, sicher. Er war auf dem geraden Weg in den Wahnsinn. Jawohl. Oder bereits dort angekommen. Wahrscheinlich.
Gequält erwiderte er mit einem knappen Nicken den überfreundlichen Morgengruß einer älteren Dame, die er irgendwo auf den Fluren des Rathauses schon einmal gesehen hatte. Standesamt, wie passend. Jetzt war neben der Schlaflosigkeit ganz sicher auch noch für reichlich Übelkeit heute Abend unter dem strahlend weißen Raufaserhimmel gesorgt. Ich frage dich nicht, Paul, darauf musst du schon selber kommen. Du willst doch sicher auch nicht, dass unser Kind als uneheliches zur Welt kommt. Und welchen Nachnamen soll es dann haben?
Er hatte sein Heil in starrem Schweigen gesucht und Klara ihn damals einstweilen in Ruhe gelassen. Fünf Monate noch, dann war es so weit. Zur Abwechslung war die Übelkeit jetzt schon da. Überall, in jedem dummen Film, ging es den Frauen schlecht. Nur bei ihm und Klara war es umgekehrt. Nicht, dass er sich regelmäßig im innigen Diskurs mit einer Kloschüssel befand, aber die Kombination aus Schlafmangel und wiederkehrenden Übelkeitsschüben kam eigentlich weiblichen Schwangerschaftsbeschwerden schon äußerst nahe. Ich bin schwanger. Er hätte seine entgleitenden Gesichtszüge in diesem Moment gerne selbst gesehen. Klara blieben sie zum Glück verborgen, weil sie sich bereits mit reichlich Schwung an seinen Hals geworfen hatte, um ihm schluchzend unter Tränen Unverständliches ins Ohr zu schniefen. Er hatte sie trösten wollen, bekam aber selbst kein Wort zustande. Sein Hals war zugeschnürt gewesen. Wir schaffen das, stehen es gemeinsam durch. Ich bin bei dir. Ich kann es mir auch nicht vorstellen. Noch so viel, was wir gemeinsam vorhaben. Im Rückblick hatte ihn die Sprachlosigkeit gerettet. Ihre Tränen waren Tränen der Vorfreude gewesen. Die Natur hat es so gewollt. Ihre Begründung für das Unmögliche, dessen Wahrheitsgehalt er in den vielen schlaflosen Nächten schon mehr als einmal in Zweifel gezogen hatten. Kendzierski musste schon wieder den Kopf schütteln. Zwanghaft war das mittlerweile. Eine Angewohnheit, die er bald nicht mehr loswerden würde. Fünf Monate noch. Und deutlich war die Tendenz zur Verschlimmerung erkennbar. Sich stetig steigernde Symptome vorgeburtlichen Irrsinns, der jetzt anfing, ihn auch noch tagsüber zu martern.
Er beschleunigte seine Schritte, um dem Ganzen auf diese Weise vielleicht für ein paar Stunden entfliehen zu können. Zumindest so lange, bis ihn Klara mit ihrem für ihn mittlerweile deutlich erkennbaren Bauch zum Essen abholen würde. Sie war heute schon in aller Frühe zum Kontrolltermin bei ihrer Frauenärztin aufgebrochen. Fast im Laufschritt steuerte er über den neu gestalteten Rathausplatz, dem es notdürftig gelang, das den Charme der frühen Siebziger versprühende Rathausgebäude zu kaschieren. Das gleiche Tempo hielt er auch durch das Foyer und die Treppen hinauf zu seinem Büro bei. Laufen als Form der Therapie. Passte in die Apotheken Umschau und gut zu seiner Situation.
„Bereiten wir uns schon aufs Vaterglück vor?“
Der ihm nachgerufene Satz holte ihn ein, als er den Sprecher lange schon passiert hatte. Erleichtert schnaufend drückte er die Tür seines Büros hinter sich zu und ließ sich erschöpft auf den Stuhl sinken. Vier, fünf Außentermine, Essenheim, Zornheim, Stadecken, Ober-Olm, Klein-Winternheim, dazu noch ein halbes Dutzend Akten. Ablenkung satt.
Der Zettel mit Klaras Handschrift holte ihn aus seinem Selbsthilfenotprogramm. Er lag direkt vor ihm. Wahrscheinlich hatte sie ihn noch heute Morgen schnell hier an dieser Stelle auf seinem Schreibtisch platziert. Bitte denke an den Sitzball. Hole dich um zehn ab. Kendzierski bewegte ungläubig den Kopf hin und her. Klatschend schlug seine flache Hand auf die Stirn. Crashkurs Geburtsvorbereitung. Zwei Tage, heute ab elf, morgen ab neun. Atemtechniken, Geburtsvarianten, wie kann ich meinem Partner helfen, Wochenbett.
Kendzierski musste würgend husten. Sein Kopf sank ganz langsam nach vorne auf die Tischplatte. Er hatte jetzt einfach keine Kraft mehr, sich der Müdigkeit zu widersetzen.
Die Schmerzen hatten ihn zurückgeholt. Sie waren überall. Reichweins Körper war eine einzige große klaffende Wunde. Von ganz oben, bis ganz nach unten. Wie weit? Durch die Pein hindurch mühte er sich, die Endpunkte zu erreichen. Ein spitzer Stich tief in seinem Schädel ließ ihn schaudern. Reglos lag er zusammengerollt auf dem Boden. Unter seinem Kopf, an seinem linken Ohr und an der Wange drückte der kantige Grund, auf dem er lag. Um seinen Mund spannte die Haut. Sein Brustkorb hob und senkte sich ganz leicht bei jedem schwerfälligen Atemzug. Der Stoff seiner Kleidung knisterte bei den Bewegungen. So feine Geräusche drangen an sein freies Ohr. Sie wollten ihm aber nicht weiterhelfen. Sein Gedächtnis ließ sie ungefragt passieren. Es wollte nichts mit ihnen zu tun haben, den Bruchstücken, dem muffig dumpfen Geruch, der Dunkelheit. Die Schwärze blieb. Er konnte jetzt aber das zaghafte Blinzeln seiner Wimpern und Augenlider fühlen. Das rechte vermittelte ihm sogar den Eindruck, dass es sich einen Spaltweit geöffnet hatte. Das linke zuckte dagegen weitgehend hilflos. Auf dieser Seite seines Gesichtes spannte die Haut auch am deutlichsten. Geschwollen, verklebt oder beides. Schwarz blieb alles um ihn und auch dort oben in seinem Kopf. Ein röchelndes Stöhnen erinnerte ihn nach einer Weile daran, dass er noch immer dalag, auf der Seite, gekrümmt, auf einem harten Untergrund. In seinem Kopf wollte keine Helligkeit entstehen. Er versuchte zwanghaft, gegen den Schmerz farbige Bilder aufleuchten zu lassen. Ein kurzer Blitz bloß, der ihm die Erinnerung zurückbrachte. Warum diese Schmerzen, was machte er hier? Fest drückte er die Augen zu und mühte sich, die nächsten Gedanken abzuwehren. Er wollte sie nicht haben. Sie sollten nicht bis an ihn herankommen. Keine weiteren Fragen. Stille, Ruhe, Dunkelheit und Nacht. Sanft schlummernd den Schmerz ertragen, wieder davongleiten, weit weg. Er musste in diesem Moment nicht mehr wissen. Seine Atmung ging schneller. Er konnte die beschleunigte Bewegung seiner Brust am deutlicheren Knistern seiner Kleidung hören. Sein Körper zitterte unter der Kälte, die seinen Rücken hinaufkroch. Eisige Ströme bahnten sich ihren Weg in seinen Schädel. Seine Zähne klapperten jetzt heftig. Er versuchte, die Lippen auseinanderzubekommen und zu rufen. Nach irgendjemandem, der ihm helfen würde. Hilfe gegen die Schmerzen, gegen die Kälte und die Dunkelheit in seinem Kopf. Ein kaum hörbares Röcheln kam aus ihm.
Zu wenig, um Reichweins Erinnerung zurückzubringen.
Mit einer schlechten Ausrede hatte er sich davongestohlen. Sie hatte es noch nie gemocht, wenn er wegfuhr, ohne ihr Bescheid zu geben, wohin. Sie wollte wissen, wo er war, obwohl sie ihn doch jederzeit auf dem Handy hätte erreichen können. Das war eine ihrer Marotten, nicht die Schlimmste, aber dennoch eine, die ihm ein gehöriges Maß an Geduld abforderte. Bisher hatte er sich stets zurückgehalten und auch heute brav in den langen Flur gerufen, an dessen Ende die Wohnzimmertür offen stand. Bin für eine halbe Stunde weg, brauche noch zwei Ersatzteile. Auf eine Antwort hatte er nicht gewartet. Sie wusste Bescheid und er konnte los. Das kurze Stück mit dem Auto war Qual genug. Am Auspuff musste dringend etwas gemacht werden. Der war so gut wie durch und produzierte einen Lärm, dass ihm nicht nur einmal jemand hinterhergeschaut hatte. Ausgerechnet jetzt! Letztlich war er ein Stümper, nichts weiter. Wirre Ideen und alles nicht bis zum Ende gedacht. Wie gestern Nacht auch. Er hatte ihn abgepasst, ihn beobachtet, wie er schnell auf sein Auto zusteuerte. Er kannte seine Wege, seine Verhaltensmuster, seine Zeiten und seine Orte. In den letzten Wochen hatte er ihm so ausgiebig nachspioniert, dass ihm kaum etwas verborgen geblieben sein dürfte. Ein ständiges Warten, Lauern und Langweilen in seinem Auto. Wechselnde Fahrzeuge, um die eigenen Spuren zu verwischen. Perfekt geplant, bis ins Detail ausgekundschaftet, um dann zuzuschlagen. Den Plan vollendet mit einem mächtigen Hieb auf den Hinterkopf des anderen. Die weißen langen Haare, die er kräftig gegelt nach hinten gekämmt trug, hatten sich schon dunkelrot eingefärbt, noch bevor er zusammensackte. Er hatte mit voller Wucht zuschlagen wollen und dafür ein Kantholz ausgewählt. Ein Eisenrohr wäre wahrscheinlich sinnvoller gewesen. Aber das Kantholz gab es überall und folglich bot es der Polizei später keinen Anhaltspunkt für die Ermittlungen. Diese Überlegung war schon bescheuert gewesen. Er trat das Gaspedal der alten Kiste bis aufs Bodenblech durch. Nur mühsam legte die Karre an Tempo zu, trotz der vielen PS, die sie unter der Haube hatte.
Das Holz war zu weich gewesen und er hatte im entscheidenden Moment versagt. Nicht das Holz war schuld. Er hatte nicht mit voller Wucht zugeschlagen. An seinen Händen, die das Lenkrad hielten, konnte er noch die raue Oberfläche des Holzes spüren. Die Latte musste weg. Hektisch hatte er sie in seinen eigenen Wagen geworfen.
Im entscheidenden Moment hatte er versagt, obwohl er den Ablauf so oft durchgegangen war. Er hatte geübt, Schwung geholt bis über den Kopf und mit aller Wucht und doch gezielt den Holzknüppel herabfahren lassen. Maximale Gewalt, die kein Schädel aushielt. Getroffen hatte er ihn, von hinten lautlos herbeigeeilt, an der richtigen Stelle. Im Schlag hatte ihn die Entschlossenheit verlassen, irgendetwas in ihm die Wucht gebremst. Die Angst vor der allerletzten Konsequenz, vor dem Geräusch des brechenden Schädelknochens, vor dem Blut, dem Tod. Mit halber Kraft nur war das Kantholz auf seinen Hinterkopf gefahren. Im Fallen hatte der andere sich umgedreht und ihn erstaunt aus weit aufgerissenen Augen angestarrt. Das Bild stand jetzt wieder vor ihm. Hell, bunt, leuchtend und das Blut in seinen weißen Haaren. Nur ein paar Sekunden hatte er reglos dagestanden. In der Hoffnung, dass sich alles von ganz alleine regeln würde. Dann lag er zu seinen Füßen. Rot quoll es schwach aus seiner Wunde am Hinterkopf. Ruhig und gleichmäßig hob und senkte sich sein Oberkörper. Er lebte und er hatte ihn gesehen. Seine Rechte, die das raue Kantholz umklammert hielt, zuckte. Die gleiche Bewegung vollführte sie jetzt am Lenkrad. Eine kurze Muskelanspannung, die sein Schädel wieder unterband. In der Nacht hätte er nur einen weiteren Schlag gebraucht, winzige Sekunden, um alles so zu Ende zu bringen, wie es vorausgeplant war. Ein einziges Mal die Hände in die Höhe und auf seinen Hinterkopf. Seine Hände hatten gezittert, sich geweigert. Keine Chance, sie nach oben zu bekommen. Kraftlos hatten sie an ihm herabge-hangen.
Er war nicht schwer gewesen. Mit ein paar mühsamen Schritten hatte er sein Auto erreicht und ihn im Kofferraum verstaut. Alles war so automatisch abgelaufen, als ob er auch diese Variante in Gedanken etliche Male durchgegangen wäre. Handgriffe aus dem Unterbewusstsein. Der Kontrollblick, dass noch kein Blut auf den Asphalt vor seinem Geländewagen getropft war. Ein Bündel alter Zeitungen hatte er in seinem Kofferraum schon ausgelegt gehabt, weil der Abtransport der Leiche fester Bestandteil seiner Planungen gewesen war. Die Zeitungen würde er später mit dem blutigen Kantholz im Ofen verheizen. Er schaltete einen Gang zurück und ließ den Motor aufheulen. Nur so kam die Kiste auf Touren. Damit waren die wenigen Spuren beseitigt. Blieb nur noch er. Mit der Rechten rieb er sich den schweißig heißen Nacken. Er musste sterben. Es gab keinen anderen Ausweg.
Das Klingeln seines Telefons riss ihn aus dem Schlaf. Paul Kendzierski fuhr erschrocken in die Höhe. Sein Puls raste. Er konnte das Hämmern deutlich bis hinauf in seinen Schädel spüren. Tief und fest hatte er geschlummert. So weit entfernt, dass er zwei weitere Klingelintervalle benötigte, um einigermaßen zu sich zu kommen.
Wo war er? Nicht zu Hause, nicht in seinem Bett. Ein großer runder Fleck auf seiner Schreibtischunterlage. Nass war auch seine linke Wange. Wie lange hatte er hier gelegen? Die Tür abgeschlossen? Er verbarrikadierte sich doch nicht im eigenen Büro. Wenn auch nur einer heute Morgen zu ihm gewollt hatte, war mittlerweile wahrscheinlich schon das halbe Rathaus unterdrückt glucksend an ihm vorbeigepilgert. Unser Verdelsbutze macht die Arbeit im Schlaf. Wollt ihr es auch sehen? Das vierte Klingeln zwang seine Hand an den Telefonhörer.
„Ja?“ Reichlich verquollen klang das.
„Paul?“
„Ja.“
„Alles o.k. bei dir?“ Klara wartete eine Antwort erst gar nicht ab. Das Rauschen im Hintergrund verriet, dass sie vom Handy aus telefonierte und anscheinend im Auto unterwegs war. „Denkst du an den Sitzball?“ Stilles Rauschen, das vom Klacken des Blinkers begleitet wurde. „Bist du noch dran?“
„Ja.“
„Bist du erkältet?“ Wieder herrschte kurz rauschende Stille. „Paul, keine Ausreden!“ In Klaras Stimme schwang ein zarter drohender Unterton mit. „Du wolltest den Crashkurs. Besser alles auf einmal. Das waren deine Worte. Aber nicht, um alles auch nur mit einer Ausrede zu umgehen. Der Kurs ist für Paare und ich gehe da ganz bestimmt nicht alleine hin.“ Sie schnaufte ins Telefon. An seinem Ohr kam das als ein donnerndes Grollen an. Das Grummeln eines schon recht nahen Gewitters, kurz vorm Ausbruch.
„Klara, ich –“ Weiter kam er nur in Gedanken, aber nicht in Worten.
„Ich bin in fünf Minuten vor dem Rathaus. Vergiss den Ball nicht!“
„Ich –“
Das war unfair. Aus dem Schlaf gerissen, überfallen, falsch verstanden und jeglicher Möglichkeit zur Selbstverteidigung beraubt. Bis Klara unten vor dem Rathaus stand, hatte sich bei ihr der vollkommen falsche Eindruck wie Beton verfestigt, dass er sich mit einer fadenscheinigen Ausrede um den Hechelkurs hatte drücken wollen. Dieser Tag schickte sich an so weiterzugehen, wie er begonnen hatte. Beste Voraussetzungen für eine entspannte Geburtsvorbereitung. Kendzierski schob sich schwerfällig aus dem Stuhl in die Höhe. Notdürftig rieb er sich die noch immer feuchte Wange ab. Mit dem rosa Sitzball aus Klaras Büro machte er sich auf den Weg nach unten.
„Kendziäke, Sie habbe doch Urlaub.“
Erbes wippte vor ihm und dem Ball. Wenn er den etwas anhob, war der Bürgermeister verschwunden. Einfach so weiterzulaufen, verbot sich trotzdem.
„Ich bin auch nur kurz hier gewesen, um den hier für Klara zu holen.“ Er stockte kurz. „Weil sie ihn zu Hause braucht.“ Er wollte weiter, aber Erbes machte keinerlei Anstalten, den Weg freizugeben. Er konnte ihn ja kaum mit dem Ball vor dem Bauch zur Seite stoßen.
„Ich freue mich ja so für Sie beide. Unser erstes Rathauskind.“ Erbes hatte die Arme ausgebreitet und bewegte sich weiter auf und nieder. Da sich der rosa Sitzball zwischen ihnen befand, bestand keine ernsthafte Gefahr, dass ihn der Bürgermeister auch noch umarmen würde. Warum bloß waren alle so beseelt von dem Gedanken, der ihm schlaflose Nächte bereitete. „Das müssen wir feiern, wenn es so weit ist. Ich stehe sozusagen als Ersatz-Patenonkel gerne zur Verfügung.“ Erbes lächelte steif und ein wenig unbeholfen, weiter gleichmäßig vor ihm auf den Zehenspitzen wippend. „Mit der Frau Degreif haben Sie wirklich eine gute Partie gemacht.“ Jetzt beherrschte Anerkennung seinen Blick. Weiter wippend, gab er endlich den Weg frei und ließ Kendzierski mit dem rosa Sitzball vorbei.
Klara stand schon bereit. Sie hatte die Heckklappe seines Skoda Kombis bereits geöffnet.
„Wie siehst du denn aus? Bist du gerade erst aus dem Bett gefallen? Ich dachte, du wolltest noch ein paar Akten durchsehen, die so dringend waren, dass nicht einmal für den Besuch bei der Frauenärztin Zeit übrig war.“ Klara nahm ihm den Ball ab und verstaute ihn im Kofferraum.
Kendzierski schüttelte den Kopf. Jede Antwort war zwecklos. Jetzt und hier in dieser verfahrenen Situation. Sanfte Geburt, beste Voraussetzungen für einen harmonischen Tag mit einem Dutzend Schwangerer nebst mitfühlender Partner.
„Du hast noch nicht einmal gefragt, wie es unserer Tochter geht.“ Klaras Stimme zitterte. Schnell war sie auf dem Fahrersitz und hatte die Tür lautstark zugeschlagen. Sicher standen ihr jetzt auch schon die Tränen in den Augen. Neben seinen wachen Nächten war das die zweite Konstante der letzten Monate. Klaras Gefühlsschwankungen, die sie vom einen auf den anderen Moment zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt hin und her katapultierten. Kendzierski setzte sich neben Klara. Sie wartete kaum ab, bis er richtig saß, und fuhr los.
„Klara, ich habe kein Auge zu getan heute Nacht.“ Er rieb sich zur Bestätigung mit beiden Händen übers Gesicht. Da sie nicht antwortete, klappte er den Sonnenschutz herunter und warf einen schnellen Blick in den Spiegel. Fast hätte er sich vor dem erschrocken, der ihn da aus roten Augen anstarrte. Eindeutig zu alt für Mitte vierzig. Die eine Wange leuchtend rot, zu der die zweite einen aschfahlen Kontrast darstellte. Auf der roten Seite standen zusätzlich seine dünnen Haare seitwärts starr in die Höhe. Feuchtigkeit und Schreibtischunterlage hatten ihnen anscheinend die notwendige Stabilität verliehen. Zusammen mit dem stoppeligen Dreitagebart sah er reichlich zum Fürchten aus. Die ihm von Erbes zugeschriebene gute Partie schien Klara umgekehrt nicht gemacht zu haben.
„Ach, Klara.“ Er schnaufte. „Die Situation überfordert mich.“
„Aber du musst doch das Kind nicht zur Welt bringen.“ Sie grinste ihn versöhnt an. „Du wirst sehen, die nächsten beiden Tage nehmen dir viele deiner Ängste und es tut bestimmt gut, mit anderen darüber zu reden. Wir sind nur sechs Paare, da bleibt ausreichend Raum für Gespräche mit anderen betroffenen Männern. Denen wird es ähnlich ergehen.“ Klara nickte ihm aufmunternd zu.
Kendzierski versuchte sich an einem Lächeln, das er gerne im Spiegel vor sich kontrolliert hätte, um es nicht zu sehr nach einer gequälten Grimasse erscheinen zu lassen.
Schweigend fuhren sie auf der Pariser Straße durch das in eine strahlend klare Maisonne getauchte Nieder-Olm. Die Hebammenpraxis lag im Mainzer Vorort Drais. Klara hatte sie nach langwierigen Recherchen im Internet und Empfehlungsgesprächen mit befreundeten Exschwangeren ausgewählt. ‚Bauchgefühl‘ hatte das Rennen gegenüber ‚Erdenlicht‘, ‚Mittendrin‘, ‚Kugelrund‘, ‚Lichtblick‘ und ‚Andere Umstände‘ gemacht. ‚Lichtblick‘ war wegen des Namens, der Klara zu sehr an einen Stromlieferanten erinnert hatte, schon recht früh aussortiert worden. ‚Andere Umstände‘ hatte es aufgrund des fortgeschrittenen Alters der Hebamme nicht in die Endauswahl geschafft. Warum es letztlich ‚Bauchgefühl‘ wurde, entzog sich seinem Wissen. Die Hebamme hatte angeblich selbst keine Kinder, aber ihre Fähigkeiten standen außer Frage. Es glich einem Hauptgewinn, bei ihr einen Platz im Kurs zu ergattern, obwohl sie die Ganztagesveranstaltungen konsequent unter der Woche abhielt. Der Name der Praxis passte zumindest ganz gut zu seiner seelischen Großwetterlage, deren Auswirkungen auch in seiner Magengegend Spuren hinterließen. Über Klein-Winternheim, Ober-Olm und am Lerchenberg vorbei durch den Wald fuhren sie in Richtung Drais.
„Gleich hier vorne, eine der ersten Hofreiten muss es sein. Den Fotos im Internet nach ist es das gelbe Haus. Die Praxis muss in der ausgebauten Scheune dahinter liegen. Das sah sehr einladend aus.“ Nur ein kleines Stück weiter steuerte Klara die erste Parklücke an. Nachdem der Motor verstummt war, beugte sie sich zu ihm hinüber und drückte ihm einen Kuss auf die stoppelige Wange. „Ich finde es wichtig, dass wir das zusammen erleben.“ Sie seufzte. „Ich bin auch mächtig nervös wegen dem, was da auf uns zukommt. Einerseits ist es die pure Freude, zum anderen aber auch ein gehöriges Maß an Respekt. Tamara ist bekannt dafür, dass sie einem die Angst vor der Geburt nimmt. Sanfte Geburt nennt sie das. Man kann sich durch bestimmte meditative Übungen selbst in diese positive Richtung lenken.“
Das Hoftor stand offen. Tamara Burdinski, Hebammenpraxis Bauchgefühl. Das vielfarbige Schild war am Wohnhaus zur Straße angebracht. Im gepflasterten schmalen Innenhof standen mehrere überlebensgroße Buddhafiguren aus Bronze mit reichlich grünlicher Patina. Im Unterschied zu den dicken Buddhas der Chinarestaurants blickten diese hier reichlich finster drein. Keine grinsenden freudigen Mondgesichter aus Pappmaschee in Vorfreude auf Ente süßsauer.
Klara steuerte zielstrebig auf die Scheune zu. Hinter der großen Glasfront, in der sich der Eingang befand, waren Menschen zu erkennen. Neben Kendzierski plätscherte ein kleiner Brunnen. Er folgte Klara, die die Tür bereits erreicht hatte, mit ein paar Schritten Abstand. Ein süßlich-blumiger Räuchergeruch fand den Weg in seine Nase. Sanfte Geburt durch bewusstseinserweiternde Rauschmittel. Klara vor ihm hantierte schon an ihren Schuhen herum. In diesem Moment war er sich nicht restlos sicher, ob er heute Morgen frische Socken angezogen hatte. Bei der Hitze in den letzten Tagen, im nichtklimatisierten Büro des Rathauses. Er hoffte für alle Beteiligten der sanften Geburt, dass er heute Morgen nur seine Rasur vergessen hatte. Gegen zweimal getragene Socken käme nicht einmal eine ganze Schachtel gleichzeitig verheizter Räucherstäbchen an. Gestern waren es die dunkelblauen gewesen, heute schwarze, also Entwarnung. Kendzierski atmete erleichtert durch. Über grob geflochtene Bastmatten laufend blieb er dicht hinter Klara. Den Schuhen nach zu urteilen waren die meisten schon da. In großer nervöser Vorfreude seit einer halben Stunde, um sich im aufgeregten Plausch über die bisher gemachten Schwangerschaftserfahrungen auszutauschen. Ich habe wochenlang gekotzt. Aber Gurken konnte ich trotzdem nicht essen. Kendzierski atmete schwermütig aus. Anderthalb Tage unter Räucherstäbchendauergeruch. Über Ethno-Orient-Hippie-Teppiche ging es aus dem kleinen Vorraum in einen zweiten großen. Handgebatikte Tücher im gleichen Esoterik-Stil hingen an den Wänden. Anscheinend konnte man diese bunten Stoffe auch gleich kaufen. Die hinduistische Göttin Lakshmi bringt Wohlstand und Glück. Für fünfzig Euro konnte man sich ihre Gewogenheit sichern.
„Hallo Klara, hallo Paul.“ Eine hauchzarte Stimme, die zu einer außerordentlich jungen Frau gehörte, die im Schneidersitz auf einem knallroten Hippie-Teppich saß. Vor ihr standen mehrere verbeulte Metallschüsseln in unterschiedlichen Größen. „Zwei Teppiche sind noch frei, hier rechts von mir. Legt euch bequem auf den Rücken. Wenn es bei dir nicht geht, Klara, kannst du die für dich angenehmste Liegeposition wählen. Reihum wollen wir uns vorstellen. Ich begleite euch dazu auf meinen Klangschalen. Schließt die Augen und genießt die Momente der Stille.“ Kendzierskis Augen huschten schnell im Kreis über die anderen Beteiligten dieser buddhistischen Séance mit Medium Tamara. Die anderen lagen schon mit geschlossenen Augen im Halbkreis um die Hebamme, die gerade nach einem Klöppel langte, mit dem sie begann, die Größte der vor ihr stehenden Blechschüsseln in kreisenden Bewegungen zu bearbeiten. Schon nach wenigen Umrundungen gab der alte Suppentopf ein sonores Brummen von sich. Kendzierski ließ sich neben Klara auf dem Rücken nieder. Tamara hatte die Schüssel und den Klöppel gewechselt. Mit einem kleineren vollführte sie jetzt schnelle Runden um einen abgegriffenen, dunklen Milchtopf. Ihm entlockte sie ein unangenehmes spitzes Surren, das sich stimmig in das dumpfe Brummen seines großen Kollegen einfügte. Kendzierski schloss die Augen.
„Mein Name ist Tamara. Ich habe noch keine Kinder, weil mich der passende Mann noch sucht.“ Sie schwieg für einen gedehnten Moment. Kendzierski unterdrückte ein mächtiges Gähnen. Es war kurz nach elf, helllichter Tag. Sie zwang ihn, die Augen zu schließen. Bei seinem verqueren Schlafrhythmus musste das dumm ausgehen. „Spürt die Ruhe, die sich eurer bemächtigt. Wir beginnen rechts von mir bei Klara. Horcht in euch hinein und sagt mir, wie ihr euch die Geburt eures Kindes wünscht.“ Eine dritte Schüssel fiel ein, zwischen dem Milch- und dem Suppentopf. Kendzierskis Magen erwiderte den Gruß mit einem dumpfen Grummeln.
„Ich bin Klara Degreif. Ich wünsche mir eine sanfte Geburt.“ Stille. Nur das Brummen der verbeulten Blechschüsseln.
„Paul? Auch von dir möchten wir wissen, wie du dir die Geburt wünschst.“
Kendzierski schreckte auf. Er hatte sich recht erfolgreich gegen den Schlafzwang behauptet, aber nicht damit gerechnet, dass auch er sich hier zu äußern hatte. Er war doch nur mitgekommen.
„Äh, Paul Kendzierski. Schnell soll sie sein.“ Irgendwo war ein Kichern zu hören. Da er die Augen geschlossen hatte, konnte er nicht mit Sicherheit sagen, woher es gekommen war.
„Nadine Barth. Ich wünsche mir, dass es meinem Kind bei der Geburt und danach gut geht.“
„Gudrun.“ Kendzierski hatte während des Namens gähnen müssen und daher den Nachnamen nur undeutlich verstanden. Es hatte irgendwie nach Brüsebü geklungen. „Wir machen den Kurs zur Auffrischung ein zweites Mal. Mein erstes Kind habe ich unter Wasser geboren. Ein Erlebnis, das ich nicht missen möchte. Jaromir ist jetzt zwei. Lenka soll im Sackstuhl zur Welt kommen.“ Kendzierski bekam das alles nur noch im Halbschlaf mit. Weit weg schon getragen von den sphärischen Klängen der Blechtöpfe, an denen sich Tamara weiter fleißig zu schaffen machte. Warum bloß gab man einem Kind den Namen eines Fahrradteiles? Lenker? Bei einem Glas Matetee würde er Frau Brüsebü später dazu befragen. Und warum durfte eine kinderlose Hebamme Kurse zur Geburtsvorbereitung geben? Das war doch wie die Einführung in Sexualpraktiken durch einen im Zölibat lebenden Benediktinerpater. Die hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Die beseelt um ihn liegenden Frauen und Männer schien das nicht zu interessieren. Entrückter Gleichklang, willenlos gemacht durch das sphärische Klangschalengebrumme und Tamaras monotone Stimme, die jetzt das Wunder der Geburt beschrieb.
„Erst durch den Geburtsschmerz wird man von der Frau zur Mutter.“ Kendzierski konnte Klara neben sich schlucken hören. „Die Angst davor möchte ich euch nehmen.“ Tamara schien sich an der großen Schüssel abzumühen. Der dunkle Ton wurde lauter. Spannungsvolles Brummen. „Unser erstes Kind erleben wir gemeinsam.“ Kendzierski spürte, dass Tamara ihren Platz verlassen hatte und umherlief. „Paul, würdest du uns dabei helfen.“ Er brauchte einen Moment, bis er merkte, dass er der Angesprochene war. Erschrocken riss er die Augen auf. Klara warf ihm einen schnellen Blick zu, in dem sich Aufmunterndes mit einem Hauch Stolz verband. Er hievte sich schwerfällig in die Höhe. Wieder unsanft aus dem Halbschlaf gerissen. Diesmal fühlte er sich aber hellwach. „Wir wollen zusammen das Wunder der Geburt erleben. Atmet tief ein und aus. Lasst euch führen von mir und Paul.“ Tamara drückte ihm ein wollenes Bündel in die Hände und machte sich wieder auf den Weg zurück zu ihrer Sammlung ausrangierter Blechtöpfe. Kendzierski stand in der Mitte des Halbkreises, um ihn herum lagen sie tief atmend. Frau Brüsebü musste die Dicke sein. Der Dürre daneben, dessen Namen er nicht mitbekommen hatte, ihr Mann, der sicher mit großer Freude und Begeisterung zum Nachsitzen hierhergekommen war. Frau Brüsebü war in mehrere Schichten wallender Gewänder eingehüllt. Die neben ihrem Körpervolumen auch die Schwangerschaft gut zu kaschieren vermochten. Der Rest der Teilnehmer sah eigentlich ganz normal aus. Alle deutlich jünger als er. „Die Gebärmutter umschließt das Kind.“ Tamara sah ihn auffordernd an. Kendzierskis Blick wanderte auf das Bündel in seinen Händen. Eine selbst gestrickte Wollwurst in blauroter Ringeloptik, die etwas Hartes umschloss. Kendzierskis Hals war wie zugeschnürt. Sein Verstand verbot ihm ein heiseres Würgen. Gleichzeitig zwang er sich unter äußerster Kraftanstrengung, das wollene Paket nicht fallenzulassen. „Wir atmen tief aus dem Bauch heraus.“ Tamara rieb die mittlere Blechschüssel mit dem großen Klöppel. Ihr gesamter Oberkörper vollführte die kreisende Bewegung um den Topf mit. Auch sie hatte die Augen jetzt geschlossen. „Paul, gib uns eine Wehe.“
Kendzierski starrte sie entgeistert an. Sein Blick wechselte hektisch zwischen der verzogenen Pudelmütze in seinen Händen und ihr hin und her. Sie reagierte nicht und bearbeitete stattdessen weiter ekstatisch ihre ererbte Topfkollektion. „Atmet tief aus und lasst uns die erste Wehe willkommen heißen.“ Säuselnd erreichte ihn ein vielstimmiges gedämpftes Stöhnen. „Spürt ihr, wie sich das Kind seinen Weg sucht? Es schiebt sich mit jeder Wehe ein wenig weiter. Paul, kannst du es schon sehen?“
Er riss Augen und Mund auf und starrte sie an. Tamara drehte sich schneller um ihre Töpfe. „Paul, siehst du es?“ Hektisch suchte Kendzierski nach einer Öffnung an den Enden der zweckentfremdeten, unförmigen Pudelmütze. Da ging es hinein. Da war doch nicht wirklich …? Weiter kam er in seinem Erschrecken nicht. „Wir atmen in die nächste hinein. Paul, der Kopf ist jetzt zu sehen.“ Eine neue Welle vielstimmigen Stöhnens trieb ihn zur Eile an. Entschlossen zerrte er am offenen Ende der Strickwurst herum. Es musste sich verhakt haben. Die elastischen, in gleichmäßigen Schlaufen miteinander verbundenen Ösen leisteten seinen unbeholfenen Bemühungen heftigen Widerstand. Sie waren nicht bereit, den sperrigen Inhalt freizugeben. Noch vor der nächsten Wehe, die sich lautstark ankündigte, hatte er mit aller Entschlossenheit den Kopf freigelegt. Tamara hatte doch tatsächlich eine Plastikpuppe in die wollene Pelle gezwängt, die sich mit erhobenen Armen und gespreizten Fingern gegen ihre Befreiung aus der schützenden Hülle zur Wehr setzte. Kendzierski schoss glühend die Hitze in den Kopf. Selbst die Männer um ihn herum stöhnten jetzt mit. Frau Brüsebüs Mann gab sich ganz besondere Mühe. Vielleicht war der im Kurs des Benediktinerpaters besser aufgehoben.
„Paul!“
„Der Kopf!“ Wie auf Befehl war es pflichtschuldig aus ihm herausgekommen.
„Die nächste Wehe brüllen wir so laut und ausdauernd wie nur möglich heraus.“
Um ihn herum brandete ein ohrenbetäubendes, vielstimmiges Gebrüll auf. Zwischen die dumpfen Töne der Blechschüsseln mischte sich der spitze Schrei Gudruns, die die Situation anscheinend ebenso falsch verstanden zu haben schien wie ihr Mann. Dafür hielt sie mit zitternder Stimme am längsten durch. Tamara rieb weiter mit hektischen Drehungen ihres Oberkörpers am großen Topf. Mit einem lauten Gong erstarb das vielfarbige Klangspektakel. Der kurze Moment der Stille wurde von einem dumpfen Schlag zerrissen. Die nackte Plastikpuppe war kopfüber aus der blau-rot geringelten Pudelmütze herausgefallen und auf dem Hippie-Teppich vor ihm aufgeschlagen. Kendzierski stand wie versteinert da. Die Wollwurst in seinen Händen hatte böse gelitten. Mehrere Laufmaschen hingen als deutlich sichtbares Zeichen seiner grobschlächtigen Geburtsbemühungen ausgeleiert herab. Noch waren alle Augen um ihn herum geschlossen. Nur Tamara starrte ihn entgeistert an. Um die Situation irgendwie zu retten, hatte er sich schnell und ohne groß nachzudenken die Pudelmütze auf den Kopf gezogen.
Klaras Blick verriet, dass er das besser gelassen hätte.