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Ein verstörendes Verbrechen in Rheinhessen Unter einer verlassenen Gartenlaube bei Mainz werden menschliche Knochen gefunden. Zunächst deutet alles darauf hin, dass sie aus einem der Gräber des nahen Friedhofs stammen. Doch dann verdichten sich die Hinweise auf einen Mord, der erst wenige Jahre zurückliegt – und niemand scheint den Toten zu vermissen. Kriminalhauptkommissar Harro Betz und seine Kollegen stehen vor einer harten Probe. Wie sollen sie ein Verbrechen aufklären, dessen Opfer gar nicht zu existieren scheint?
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Seitenzahl: 398
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Andreas Wagner ist Winzer, Historiker und Autor. Nach dem Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Bohemistik in Leipzig und an der Karls-Universität in Prag hat er 2003 zusammen mit seinen beiden Brüdern das Familienweingut seiner Vorfahren in der Nähe von Mainz übernommen. Er ist verheiratet und hat vier Kinder.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2021 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Dirk Wustenhagen/Arcangel.com
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Marit Obsen
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-769-9
Originalausgabe
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Für meine Eltern
Toni hatte sich gestern krankgemeldet, und der Jugo war gar nicht erst aufgetaucht. Mit dem war sowieso nichts anzufangen. Sobald man ihm den Rücken zuwandte, ließ er die Arme hängen und sank in sich zusammen, um mit ein paar linkischen Bewegungen eine seiner krummen, selbst gedrehten Zigaretten zu fabrizieren, die so aussahen, als ob kaum ein Krümel Tabak mit ins Papier eingerollt worden wäre. Da hatte man die Hecke schneller selbst geschnitten, als dass er die Schere wieder in die Höhe nahm. Die meiste Zeit des Tages schleiften sie ihn mit durch. Toni sah das übrigens ganz genauso. Er sagte nur nichts, weil er Angst vor der Sippe des Jugos hatte. Bei denen wusste man nie genau, ob der Cousin einem nicht ein Messer zwischen die Rippen stieß.
Rolf strich sich die verschwitzten langen Haare aus der Stirn. Er hatte es erst letzte Woche Dienstag wieder überprüft. Das machte er immer mal, um zu belegen, dass der Jugo sich nicht einmal bemühte, etwas schneller zu werden. Fein säuberlich notierte er nach der Feierabenddusche bei einem sauer gespritzten Silvaner die Arbeiten des Tages. Dazu zog er drei Spalten mit dem Lineal und versah jede mit einem Namen: Toni, Jugo und Rolf. Sie hatten an diesem Tag die schier endlos erscheinenden Tujahecken um das Kulturzentrum in Form gebracht. Der Zaun um das riesige Gelände war vollständig zugewachsen, und die Hecken mussten zweimal im Jahr getrimmt werden.
Beim Heckenschnitt gab es keine Ausreden. Der Abstand zwischen zwei Zaunpfosten betrug genau fünf Meter. Er musste daher nur jedes Mal, wenn er den Pfosten als Erster erreichte, überprüfen, wie weit die beiden anderen hinter ihm gekommen waren. Dann zeigte er seinen Großmut, indem er ihnen half, damit sie den nächsten Abschnitt wieder zusammen beginnen konnten. Dass er damit nur kontrollieren wollte, was die beiden wirklich zustande brachten, brauchten sie ja nicht zu wissen.
Toni hatte es über den ganzen Tag hinweg durchgängig bis Meter vier geschafft. Er hatte im letzten Winter ja auch seinen Fünfzigsten gefeiert. Für sein Alter war die Leistung also ganz ordentlich. Der Jugo schaffte das nur in der ersten Stunde morgens und noch mal nach der stärkenden Mittagspause bis zur ersten Zigarette. Dazwischen beschnitt er um die drei Meter, um schließlich ab zwei Uhr nachmittags kontinuierlich weiter nachzulassen. Addierte man das alles einmal ganz korrekt, so wie er es von Zeit zu Zeit praktizierte, dann offenbarte sich schnell, was für eine Niete der Typ war. Nicht einmal die Hälfte der Meter von Toni betrug die Summe in seiner Spalte, wenn er darunter am Ende den Strich mit dem Lineal zog. Der alte Mann war also mehr als doppelt so schnell wie der Jugo.
Da er die Zettel mit dem jeweiligen Datum versah, lochte und in einem eigens dafür vorgesehenen Ordner abheftete, konnte er außerdem die langfristige Entwicklung überprüfen und hatte festgestellt, dass sich seine eigene Leistung im Vergleich zum letzten Mal noch einmal gesteigert hatte. Dafür zollte er sich selbst Anerkennung. Die Arbeit mit den Hanteln machte sich bezahlt, nicht nur optisch.
Zur erneuten Bestätigung schob er den kurzen Ärmel seines schwarzen T-Shirts, das über seinem Bizeps spannte, nach oben und ballte die Faust. Der Umfang seiner Oberarme hatte durch die Übungen und die Nahrungsumstellung, die er mit einem nach Stracciatella schmeckenden Proteinpulver zum Muskelaufbau unterstützte, um mehr als drei Zentimeter zugenommen. Und das in nur etwas mehr als zwei Monaten. Er musste der für sie zuständigen Gemeindesekretärin unbedingt Bescheid geben, dass sie bei der nächsten Bestellung der Arbeitsklamotten auf besonders elastisches Material achten sollte. Es sah mies aus, wenn das Bündchen tief ins Fleisch einschnitt. Er konnte ja nicht die ganze Zeit den Muskel angespannt halten.
Auf die Farbe der Klamotten musste er die Sekretärin auch unbedingt ansprechen, damit ihre derzeitige Kluft eine einmalige Verirrung blieb. Früher hatte das doch immer gut geklappt, warum musste sie jetzt plötzlich mit diesen Albernheiten anfangen? Sie kannte ihre Größen und bestellte zweimal im Jahr eine komplette Ausstattung, für ihn in Blau oder Grau, für Toni und den Jugo in Grün. Rot war auch schon mal dabei gewesen. Im Frühjahr hatte sie aber zum ersten Mal für alle die gleiche Farbe geordert, ein grell leuchtendes Kommunalorange. Jetzt sahen sie aus wie die ungleichen Drillinge von der Müllabfuhr. Im Dorf lachten sie darüber. Das konnte sogar ein Blinder sehen.
Rolf hob ein letztes Mal den Arm und rieb sich den salzigen Schweiß aus dem Gesicht. Die Haare klemmte er hinter die Ohren. Ein nicht unbeträchtlicher Teil schimmerte bestimmt wieder silbergrau im Sonnenlicht. Am Wochenende musste er sie unbedingt noch einmal tönen. Warum das so schnell ging bei ihm, hatte ihm bisher niemand sagen können. Keiner seiner Kumpels aus dem Fitnessstudio oder seiner Stammkneipe, wo sie sich zweimal die Woche zum Dartspiel trafen, hatte wie er schon mit Anfang vierzig graue Strähnen gehabt.
Entschlossen langte er nach dem Stemmeisen und wollte beim Anblick der Müllberge, die sich vor ihm auftürmten, am liebsten laut schreien. Wie schafften die Leute es nur, so viel Dreck und Unrat zu fabrizieren? Ganze Wagenladungen mussten die hier reingekarrt haben. Eine schöne Sauerei, die nun natürlich an ihm allein hängen blieb. »Neubaugebiet am Herrgottsacker in Essenheim«. Er musste kurz auflachen. Das farbige Schild mit den spielenden Kindern im Vordergrund, auf dem diese wohlklingende Bezeichnung stand, hatte die Baufirma schon letzte Woche aufstellen lassen. Blicken ließ sich von denen aber noch niemand. Erst musste er ran. Dabei bekam die Gemeinde, wenn endlich auch der letzte Kleingarten geräumt war, für das gesamte Bauland so viel Geld, dass der Chef ruhig einen professionellen Räumtrupp hätte engagieren können. »Was das wieder kostet!« Rolf äffte halblaut die viel zu hohe Stimme des Bürgermeisters nach, dessen Zunge bei jedem Zischlaut sachte an die Schneidezähne stieß. Dann summte er eine Melodie und sang lispelnd vor sich hin: »Wer soll das bezahlen, wer hat das bestellt, wer hat so viel Pinkepinke, wer hat so viel Geld?«
Mit voller Wucht ließ er das Stemmeisen auf die verfaulten Bodenplanken niedersausen. Das morsche, stinkende Holz splitterte. Er zerrte das Werkzeug heraus und setzte zum nächsten Schlag an. Rolf konnte die Spannung in seinen Oberarmen spüren. Noch entschlossener führte er den nächsten Hieb aus.
Wie das abgelaufen war, dazu brauchte man nicht die Schulbank gedrückt oder studiert zu haben. Über Jahre hinweg hatte ihr schlauer Bürgermeister den Alten im Dorf, die hier am Ortsrand die meist verwahrlosten Gärten besaßen, die Grundstücke zu Spottpreisen abgekauft. Mit einem Grüngürtel ums Dorf hatte er geworben. Streuobstwiesen, Spazierwege und ein Bolzplatz für die sonst an der Kirche herumlungernden Jugendlichen. Alles schön gepflegt und für alle im Dorf frei zugänglich. Warme Worte, hochtrabende Pläne, mit denen er jeden einwickelte.
Rolf hatte sich damals gleich hingesetzt und die Stunden addiert, die zur Pflege einer solchen Parkanlage über das Jahr erforderlich waren, um sie halbwegs in Ordnung zu halten. Was dabei rauskam, war unmöglich zu leisten, auch dann nicht, wenn sie den Jugo endlich rausschmissen und jemand Fähigeren dafür einstellten. Von dem Moment an war ihm schon klar gewesen, dass der Chef etwas ganz anderes im Sinn haben musste als die Errichtung einer dörflichen Parkanlage. Und er hatte wieder einmal recht behalten. In der Schule hatte er es zwar auf keinen grünen Zweig gebracht, aber im Leben kannte er sich aus. Er wusste, wie der Hase lief. Die anderen ließen sich alle verarschen. Ihm passierte das längst nicht mehr. Es war wichtig, nicht auf der Seite der Verlierer zu stehen, sondern bei den Gewinnern.
Nachdem der Chef das letzte Grundstück für die Gemeinde erworben hatte, waren kaum zwei Monate verstrichen, bis er stolz den Bauträger präsentierte, der schon bald loslegen sollte, um den für junge Familien dringend benötigten Wohnraum zu schaffen.
Rolf schleuderte die weichen Bretter hinter sich auf den Holzhaufen, der einen intensiven modrigen Geruch verströmte. Gleich daneben wuchs der Berg für all die anderen Materialien in die Höhe, die sie nicht verbrennen konnten. Die Hütte hatte nach dem Tod ihres Besitzers viele Jahre leer gestanden und den Halbstarken im Dorf als verbotener Spielplatz sowie einigen besonders Einfallsreichen als diskreter Müllplatz für all das gedient, was nur illegal oder mit Zusatzkosten zu entsorgen war. Unzählige auslaufende Autobatterien, einen Anhänger voller halb leerer, durchgerosteter Farbkanister und ein in Auflösung begriffenes Konvolut längst verbotener Pflanzenschutzmittel hatte er in den verschiedenen fauligen Anbauten der Hütte bereits zutage gefördert und abtransportiert. Jetzt blieb noch der zeitraubende Kampf mit dem weitgehend ungefährlichen Restinhalt der heruntergekommenen Hütte, der nur noch entfernt einer Möblierung ähnelte. Ließen Toni und der Jugo ihn damit die ganze Woche allein, wäre der vom Chef anberaumte Zeitplan für die restlose Räumung des gesamten Gartenareals nicht mehr als ein frommer Wunsch.
Zielsicher setzte Rolf das flache Ende des Stemmeisens an einer der noch recht stabil anmutenden Platten des Hüttenbodens an. Dabei beobachtete er den an seinem rechten Oberarm in dieser Haltung besonders klar definierten zweiköpfigen Armbeuger-Muskel. Er zeichnete sich so perfekt ab wie in den Hochglanzmagazinen, die sie im Fitnessstudio auslegten, um das Proteinpulver anzupreisen. Er ging leicht in die Knie. Zu gern hätte er jetzt auch freien Blick auf seine prallen Oberschenkel gehabt. Die langen, lächerlich orangen Arbeitshosen verhinderten das. Er hielt die Spannung reglos noch einen gedehnten Moment aufrecht und bewunderte das grandiose Muskelspiel. Gleichzeitig konzentrierte er sich schon auf das, was ihn womöglich gleich erwartete. Als er gestern den hinteren Anbau niedergerungen und dazu den Boden in die Höhe gehebelt hatte, waren darunter ein gutes Dutzend Ratten spitz fiepend in alle Richtungen auseinandergestoben. Die drei, die gemeint hatten, in seine Richtung rennen zu müssen, hatte er mit dem geschwungenen Bogen des Stemmeisens erschlagen. Es würde ihn nicht wundern, wenn sich der Rest der Nagersippe unter diesem letzten intakten Teil der Konstruktion wiedervereint und erneut häuslich eingerichtet hätte. Darauf war er vorbereitet. Er grinste breit.
In einer einzigen harmonischen Bewegung drückte er sich in die Höhe und mobilisierte so ein Maximum an Kraft, das die schwere, mehrschichtige Bodenplatte aus ihrer Verankerung hebelte. Die verfaulte Unterkonstruktion und die rostigen langen Schrauben boten keine Gegenwehr. Schnell drückte er die Platte nach hinten weg, um gleich darauf das Stemmeisen wie einen Baseballschläger zu umfassen. Rolfs Blick hetzte umher. Er war bereit, das Metall auf alles niederzudonnern, was sich in Todesangst davonzumachen versuchte. Ein dumpfer Geruch fand den Weg in seine Nase, noch bevor es seinem Verstand gelang, die Bilder vor seinen Augen zu sortieren.
Ein kahler Schädel, auf dessen rissiger Decke ein paar letzte dichte Büschel schwarzer Haare zu sehen waren, lag direkt vor ihm. Starrte ihn aus zwei leeren Höhlen erschrocken an, obwohl die Augen längst schon fehlten. Und überall war blasser, gelber Sand.
Ravindra Timotheus Bingenheimer trat kräftig in die Pedale seines Damenrades. Die Kette quietschte. Nach vier verregneten Wochen, die sein Gefährt ungenutzt im nicht überdachten Innenhof des Mehrfamilienhauses in der Mainzer Neustadt hatte ausharren müssen, war das wenig überraschend. Auch in voller Fahrt entlang der Boppstraße konnte Ravi deutlich erkennen, dass eine geschlossene Rostschicht alle wichtigen Bauteile dort unten zwischen seinen Füßen überzog. Das betraf die Kette ebenso wie den Zahnkranz und die Pedale. Die daraus resultierenden Geräusche klangen insgesamt wenig vertrauenswürdig, zumal er sich nicht erinnern konnte, dass das Kugellager schon vor seinem Urlaub an zwei Stellen so beängstigend geknackt hätte. Immerhin hatte er, als er gestern Nacht nach Hause gekommen war, feststellen dürfen, dass sein Fahrrad überhaupt noch da war. Das war in dieser Gegend keine Selbstverständlichkeit.
Ein gleichmäßiger Rhythmus aus schiefen Tönen begleitete seine morgendliche Fahrt. Selbst sein dunkler Rucksack mit dem Karabinerhaken daran klapperte im Drahtkorb hinter ihm. Die Oktobersonne schien und wärmte sogar noch ein wenig. Ravi empfand eine ehrliche Vorfreude auf die Arbeit und die Kollegen, die er so lange nicht gesehen hatte, obwohl er sich im Moment noch sehr fern von alldem fühlte, was ihm eigentlich alltäglich war. Die vergangenen Wochen hatten alles verändert. Ein paar Stunden daheim in seiner Wohnung hatten nicht einmal ansatzweise ausgereicht, um Ordnung in seinem Inneren zu schaffen. In seinem Kopf herrschte das reinste Durcheinander, und er war froh, den Schmerz, der ihn während des langen Flugs umfangen hatte, ab jetzt mit Ablenkung bekämpfen zu können.
Obwohl er sich ziemlich sicher war, dass das kein einfaches Unterfangen darstellte. Die vielen Eindrücke der Reise drängten in jeder freien Minute auf ihn ein und rissen an ihm. Er hatte versucht, Klarheit zu schaffen, und dadurch noch viel mehr neue Fragen aufgeworfen, die ihn ab jetzt begleiteten.
Der Fahrtwind wirbelte seine dichten schwarzen Haare durcheinander. Dass er sie wie jeden Morgen mit ein paar Bürstenstrichen zurückgekämmt hatte, war bereits nach kurzer Zeit kaum mehr zu erahnen. Er hatte seine Haare und seinen Bart während der Reise wachsen lassen. Im Unterschied zu dem, was auf seinem Kopf daraus geworden war, sah das Resultat auf seinen dunklen Wangen und am Kinn eher bedauernswert aus. Er bereute es jetzt schon, dass er die dünnen, in alle Richtungen stehenden Flusen vorhin nicht doch noch schnell wegrasiert hatte. Harro und Tobias würden sich prächtig über ihn amüsieren. Um das zu wissen, bedurfte es wenig seherischer Fähigkeiten.
Er musste grinsen, weil er ihre Stimmen bereits im Ohr hatte. Harros knappe und fast immer treffende Kommentare, in denen er nicht mit Spott geizte. Als Ältester und ihr Chef nahm er sich heraus, alles sagen zu dürfen, was ihm in den Sinn kam. Tobias hingegen würde sich wortreich winden, um sich auf kein wirkliches Urteil festlegen zu müssen, weil das die Harmonie im Raum stören könnte. Am Ende würde Harro das letzte Wort haben und eine kurze Zusammenfassung von Tobias’ langatmigen Ausführungen präsentieren, die haargenau seinen eigenen Standpunkt wiedergab.
Ravi war eigentlich ausreichend früh wach gewesen, um das zu vermeiden, doch statt dem fusseligen Bartansatz ein schnelles Ende zu bereiten, hatte er die Zeit damit verbracht, auf sein Postfach zu starren, das alle möglichen neuen Mails anzeigte, aber nicht die, auf die er seit fast vierzehn Tagen wartete. Die Anspannung krampfte auch jetzt wieder in seiner Magengegend und ließ ihn noch fester in die Pedale treten. Vielleicht war die Nachricht ja mittlerweile angekommen?
Begleitet vom Quietschen und Klappern bog er in die Goethestraße ein. Der Radweg war unter den vielen bunten Blättern kaum noch zu erahnen. Er wich einem auf einen Rollator gestützten alten Mann aus, der ihn entgeistert anstarrte und ihm kaum verständliche Unmutsbekundungen hinterherbrüllte. Was er seiner Frau wohl gleich wutschnaubend erzählen würde? »Einer von diesen Ausländern hat mich beinahe über den Haufen gefahren! Viel hat nicht gefehlt, und das mitten auf dem Gehweg! Die werden immer unverschämter, man kann sich ja nirgendwo mehr sicher fühlen!« Vielleicht hätte er ihm im breitesten Mainzer Dialekt eine Erwiderung zurufen sollen, um die Verwirrung komplett zu machen. »Host du koo Aache im Kopp? Des is der Radweg!« Das war noch immer seine bevorzugte Form der Reaktion.
Den Dialekt hatte er erst spät für sich entdeckt und spielte seither sehr gern damit, um seine Gegenüber zu verwirren, wenn man ihn mal wieder für einen indischen Gaststudenten, nordafrikanischen Flüchtling oder etwas zu dunkel geratenen albanischen Autoknacker hielt. Der erstaunte Blick war garantiert, der kurze Moment des nachdenklichen Innehaltens ebenso und nicht zuletzt die bald darauf nachgeschobene verständnisvolle Frage zur Herkunft. »Wo liegen denn Ihre Wurzeln?«
Je nachdem, in welcher Stimmung er war oder wie sympathisch ihm sein Gesprächspartner erschien, trieb er das Spiel auf die Spitze. In knappen Worten warf er ihnen seine persönlichen Daten vor die Füße: »Geboren im Juni 1988, Mutter Gisela Bingenheimer, geborene Bassermann, Vater Dr. Norbert Bingenheimer, leider verstorben, davor niedergelassener Allgemeinmediziner in Otterbach bei Kaiserslautern. Muttersprache Pfälzisch. Im Rheinhessischen, das hier in Mainz gebabbelt wird, bin ich noch nicht ganz sicher. Aber ich lerne schnell dazu. Und obwohl ich noch immer eine Dauerkarte beim 1. FCK auf dem Betzenberg habe, kann ich von einem Großteil der Mainzer Fassenachtsschlager zumindest die erste Strophe nahezu fehlerfrei mitsingen. Möchten Sie noch mehr wissen?«
Zwei Drittel lachten daraufhin und klopften ihm kumpelhaft auf die Schulter, andere schüttelten den Kopf und zogen kommentarlos ab. Ein paar wenige zischten ihm irgendetwas Bösartiges hinterher: »Du kannst dich anstrengen, wie du willst, aus dir wird doch keiner von uns!« Rein optisch war dem wenig entgegenzusetzen, da er nicht vorhatte, seine Haut bleichen und die tiefschwarzen Haare blondieren zu lassen. Innerlich verhielt es sich manchmal ähnlich.
Der Blick, der ausdrückte, dass er als andersartig wahrgenommen wurde, war seit jeher sein Begleiter. Er spürte ihn nun, da er ihn vier Wochen lang nicht wahrgenommen hatte, umso deutlicher. In der Masse der Menschen, die alle so aussahen wie er selbst, war er untergegangen. Es war eine Wohltat gewesen. Niemand starrte ihn an oder bemühte sich, scheinbar unbewusst an ihm vorbeizuschauen.
Mit rhythmisch knackendem Kugellager erreichte er den Fahrradparkplatz neben dem großen grau-weißen Gebäudekomplex. Er war froh, heil angekommen zu sein. Nur ein guter Kilometer auf dem Rad, aber viel zu viel Zeit für sinnlose Gedankengänge. Ein prüfender Blick auf die Auswahl an abgestellten Drahteseln zeigte, dass es hier sicher genug war, um sogar teures Profimaterial getrost seinem Schicksal zu überlassen, selbst wenn man es nur mit einem billigen Fahrradschloss aus dem Baumarkt festmachte. Ein Großteil der Räder würde in der Neustadt nicht mal in einem abgeschlossenen Innenhof unbeschadet und vollständig den nächsten Morgen erleben. Er musste grinsen und langte nach seinem Rucksack.
Mit ein paar schnellen Schritten war er die wenigen breiten Stufen hinaufgeeilt. Die beiden Kollegen warteten bestimmt schon auf ihn. Harro war immer als Erster da und das Büro im Grunde sein eigentliches Zuhause. Daran, dass Tobias schon mal zu spät gekommen war, konnte Ravi sich nicht erinnern.
Schwungvoll drückte er die Tür auf und bog nach einem kurzen Gruß in Richtung der mit einem kaffeetrinkenden Kollegen besetzten Glaskiste in den langen Flur ab, an dessen Ende das K11 einen Teil seiner Büros hatte. In irgendeiner Reform der Organisationsstruktur vor seiner Zeit war das Kommissariat 11 ins Leben gerufen worden, das im Mainzer Polizeipräsidium für die Tötungsdelikte zuständig war. Sie waren die, die gerufen wurden, wenn sich der Kriminaldauerdienst sicher war, dass es um Mord ging. Harros trockenes Lachen konnte er schon hören. Es schallte den Gang entlang. Wahrscheinlich tauschten er und Tobias gerade ihre Wochenenderlebnisse aus. Tobias berichtete immer ausgiebig von seiner zweijährigen Tochter Lena und deren fünfjährigem Bruder Ben, die in ihrer Entwicklung an jedem Sonntag bahnbrechende Fortschritte machten. Die Euphorie machte den glücklichen Vater weitgehend blind für Harros kleine spöttische Bemerkungen. Dessen Tochter war längst erwachsen und hatte den Kontakt zum Vater auf ein Mindestmaß eingeschränkt. Das war jedenfalls Ravis letzter Wissensstand. Im Unterschied zu Tobias, der sie bis in Details, die sie nicht wissen wollten, am Gedeihen seiner Kinder teilhaben ließ, vermied Harro es, von seiner Ex-Frau und der gemeinsamen Tochter zu berichten.
»Unser Weltreisender! Herzlich willkommen daheim.« Tobias Schmahl sprang auf, als Ravi das Büro betrat, und streckte ihm die warme Hand entgegen. Sein luftiger Mittelscheitel wippte mit jeder Bewegung seines Kopfes. Kurz vor Weihnachten würde er vierzig werden, sah aber immer noch deutlich jünger aus. Er steckte in einem blauen Hemd, über das er einen seiner gefürchteten Pullunder mit weitem V-Ausschnitt gezogen hatte. Bis zur Geburt ihres ersten Kindes hatte seine Frau Sara die wärmende Oberschicht noch selbst gestrickt. Dünne, farbenfrohe Exemplare für den Sommer und dicke, in gedeckten Erdtönen für die kalte Jahreszeit, damit die empfindlichen Nieren auch bei langwierigen Ermittlungen in der freien Natur immer gut geschützt waren.
»Willkommen zurück in der Familie. Wir haben das multikulturelle Aushängeschild unserer Mordkommission sehr vermisst.« Harro Betz legte seine Hand auf Ravis Schulter und blickte ihn aus roten, müden Augen herausfordernd, aber freundlich an. Sein Schädel war frisch geschoren. Unter dem ausgewaschenen schwarzen Poloshirt zeichnete sich deutlich sein Bauch ab. Im Unterschied zu allen anderen sah er nach einem freien Wochenende stets weniger erholt aus als noch am Freitag davor.
Über Harro wusste Ravi wenig, außer dass man ihn auf seine Ex-Frau besser nicht ansprach. Wenn er ihn nicht im letzten Sommer eines frühen Morgens in Gonsenheim hätte abholen müssen, weil Harros Wagen nicht angesprungen war, wüsste er nicht einmal, wo er wohnte. Der stark abfallende Zugang zur Drei-Zimmer-Wohnung des Anfang Fünfzigjährigen im Souterrain eines ansehnlichen Einfamilienhauses aus der Gründerzeit hatte bei ihm den Eindruck erweckt, dass die winzige Tiefgarage für zwei bis drei Pkw nachträglich zu lukrativerem Wohnraum umfunktioniert worden war. »Mehr kann ich mir als Hauptkommissar nicht erlauben, solange meine Tochter mal hier, mal da in den teuersten deutschen Großstädten studiert und trotz ihres Alters keine Anstalten macht, zu einem Ende zu kommen.« Mit diesem Satz hatte er damals Ravis fragenden Blick kommentiert und sich nie wieder abholen lassen.
Harro gab den Weg zu Ravis Schreibtisch frei. Er und Tobias saßen zusammen im Büro, während der Chef ein Zimmer weiter allein sein durfte. Die meiste Zeit verbrachte er dennoch hier bei ihnen. Der Austausch war in laufenden Ermittlungen von entscheidender Bedeutung. Jeder musste möglichst auf dem gleichen Wissensstand sein. Außerdem stand die Kaffeemaschine bei ihnen im Raum. Ein Umstand, den er nicht selten als Ausrede für einen ausgedehnten Besuch nutzte.
»Danke für die Postkarte aus Sri Lanka.« Harro sah ihn herausfordernd an. »Wahrscheinlich ist sie noch auf dem Weg. Das soll ja mitunter Wochen dauern.«
Ravi nickte bedächtig, bevor er antwortete. »Nicht selten geht die Post auch auf dem Weg verloren. Das liegt meistens an der Mehrfachnutzung der Briefmarken. Man soll immer darauf bestehen, dass sie direkt entwertet werden, sonst löst der geschäftstüchtige Postbeamte sie umgehend wieder ab und verkauft sie an den nächsten gutgläubigen Touristen.« Den Rucksack stellte er ab und ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl sinken, der unter seinem Gewicht leicht nachgab.
Ravi konnte an den Blicken seiner Kollegen ablesen, was sie von ihm hören wollten. Die Stille im Raum unterstrich diese Erwartung noch. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Die emotionalen Eindrücke der vergangenen vier Wochen in diesem Land, das ihm anfangs so fremd gewesen war, bildeten ein unentwirrbares Durcheinander, das ihm die Kehle zuschnürte.
»Lass dir Zeit mit dem Bericht.« Harro nickte ihm aufmunternd zu. »Das holen wir bei einem Yogi-Tee nach. Hier hast du nicht viel versäumt. Einer in der Wanne, ein ganz Dicker auf dem Klo, für den wir vier Kollegen gebraucht haben, um ihn runterzubekommen. Eine Schießerei mit zwei Verletzten in Worms. Da sind wir noch dran. Der ganz normale Wahnsinn. Tobias klärt dich auf, und dann sehen wir weiter.« Harro hielt kurz inne. »Schön, dass du wieder da bist!«
Dann war er draußen. Tobias zuckte mit den Schultern. Die Tür stand offen. Er flüsterte: »Erstaunlich friedlich zurzeit. Ich weiß auch nicht, was mit ihm los ist.«
»Müssen wir uns Gedanken machen?« Ravi schaltete den Computer an. Er spürte, wie warm ihm war. Seine Hände fühlten sich feucht an.
»Er wird altersmilde.«
»Fertig sieht er aus.« Ravi flüsterte jetzt auch.
»Eigentlich wie immer am Montag. Dir fällt es nach vier Wochen Abwesenheit nur mehr auf.«
»Was macht der übers Wochenende?«
Tobias hob wieder leicht die Schultern und deutete mit der rechten Hand eine Trinkbewegung an.
»Privatparty im Souterrain in Gonsenheim? Kann ich mir nicht vorstellen. Dazu bräuchte er ein Privatleben, mit Freunden und gemeinsamen Restaurantbesuchen, Theater, Kino oder so etwas. Harro ist doch eigentlich immer hier.« Ravi musste bei diesem Gedanken grinsen. Tobias winkte ab.
Ravis Computer brauchte eine gefühlte Ewigkeit, um sich zu sortieren und eine bedingte Einsatzbereitschaft zu signalisieren. Er schien unentwegt Daten zu ordnen und unterstrich das mit monoton summenden Geräuschen, die nach einer großen Endlosschleife klangen. Was würde er tun, wenn die erlösende Mail endlich einging? Sollte er sie sofort lesen, oder wäre es sinnvoller abzuwarten, bis er allein war? Zur Not musste er sich eben bis heute Abend gedulden. Er atmete viel zu laut aus, und Tobias sah ihn fragend an. Er schien zu warten.
»Willst du reden?« Tobias warf einen kurzen Kontrollblick in Richtung Tür. Der Chef war weg, sie konnten jetzt über alles sprechen.
»Noch nicht.« Er drückte den Kloß in seinem Hals nach unten. Im gleichen Moment blitzte mindestens ein halbes Dutzend neuer Mails in seinem privaten Account auf. »Und bei euch daheim, alles okay? Wie geht es den Kindern?«
Ravi war froh, als sich Tobias in seinem Stuhl streckte, um zu einem umfassenden Bericht über Lenas und Bens Entwicklung während der letzten vier Wochen auszuholen.
Die grobe Leberwurst vom Frühstück war soeben in einen Dialog mit ihm getreten. Egon Gröhl spürte, dass es nicht bei einem einmaligen Lebenszeichen bleiben würde. Die zweite Tasse Kaffee war schuld daran. Die hätte er ausschlagen sollen und sich besser gleich auf den Weg gemacht. Aber so kam eines zum anderen. Regina hatte die Kanne abspülen wollen und ihm den winzigen Rest, der dann doch eine randvolle Tasse ergab, aufgenötigt. Beim Gedanken daran drückte sich ein weiterer säuerlicher Schwall aus seinem gereizten Magen die Speiseröhre hinauf. Er schluckte tapfer dagegen an und versuchte, sich abzulenken, was aber nicht recht gelingen wollte.
Entschlossen stapfte er weiter durch das halbhohe feuchte Gras und die gelben Blätter, die beinahe alles zudeckten. Durch die dünnen Sohlen seiner um die massigen Waden engen Gummistiefel konnte er die Walnüsse spüren, die knackend unter seinem Gewicht zerbrachen. Veranstalteten die Krähen im Baum über ihm daher einen solchen Krach? Aus Vorfreude auf den Festschmaus, den er ihnen mit seinem Spaziergang bereitete? Wahrscheinlich folgten sie ihm nachher über die gesamte Wiese. Es hieß ja immer, dass Krähen ganz besonders intelligente Vögel seien. Sie sammelten die harten Nüsse auf, die sie selbst aus eigener Kraft nie geöffnet bekamen, und flogen zur nahegelegenen Landstraße, um sie dort aus großer Höhe auf den Asphalt prallen zu lassen. Wenn das nicht ausreichte, warteten sie geduldig ab, bis das nächste Auto darübergerast war.
Gestern erst hatte er ein besonders großes und schönes Exemplar bei dieser Beschäftigung beobachten können, als er am Morgen mit Bronko unterwegs gewesen war. Regina hatte ihre beiden Freundinnen, Isolde und Hannelore, zum Weißwurstfrühstück mit Prosecco erwartet. Grund genug für ihn, sich für die große Runde mit dem Hund zu entscheiden. Das Geschnatter der drei war schon nicht auszuhalten, wenn sie nüchtern waren. Nach dem Genuss von mehreren Gläsern Perlwein glich es einem furiosen Allegro aus sich überschlagenden Stimmen, die um die Oberhand rangen. Davon bekam er stets Kopfschmerzen.
Vom Knacken der berstenden Nüsse begleitet, trottete er weiter. Vielleicht kannten die Vögel mittlerweile seinen morgendlichen Weg und hatten diesen mit den Nüssen präpariert, damit er sie zertrat.
Bronko, sein von einem Hüftleiden gezeichneter Schäferhund, hockte ein Stück voraus mitten auf dem geschotterten Weg, der an den letzten Häusern entlangführte. Er starrte ihn gequält an, während seine Hinterläufe zitterten. Egon Gröhl wusste, was das bedeutete. Immer die gleiche Stelle und immer auf dem Weg, obwohl es zwei Meter weiter unter den Nussbäumen ausreichend Platz und reichlich Grün gab, um entspannt zu kacken. Ein Blick nach links zeigte, dass er auch diesmal um die lästige Pflicht nicht herumkam. Die alte Nomborn stand hinter der luftigen Gardine ihres Küchenfensters und war anscheinend überzeugt, dass sie dort niemand sehen konnte. Sie war ganz schlecht zu Fuß, wie sie jedem im Dorf ausschweifend erzählte, aber wenn er gleich weg war, würde es keine zwei Minuten dauern, bis sie kontrollierte, ob er den Haufen seines Tieres auch vorschriftsmäßig eingepackt und mitgenommen hatte.
Er hielt dem Blick seines Hundes so lange stand, bis dieser in die andere Richtung starrte, und kramte nach einem der schwarzen Beutel. Regina steckte sie ihm immer in ausreichender Menge in die tiefen Taschen seines alten Wintermantels, den er bei seinen morgendlichen Spaziergängen trug. Seine Kniegelenke knirschten beängstigend, als er sich schnaufend vorbeugte, um den dampfenden, warmen Haufen zu packen. Als Metzger im Ruhestand war er abgehärtet, aber Bronkos Hinterlassenschaften anfassen zu müssen ekelte ihn jedes Mal aufs Neue. Daher lief er gern den größeren Bogen ums Dorf. Auf den weniger frequentierten Wegen konnte er die Haufen seines Hundes getrost und ungesehen liegen lassen. Doch je nach Tagesform fiel Bronko der längere Marsch zusehends schwerer. Und da sie gestern schon die große Runde absolviert hatten, mussten sie heute die kurze Strecke gehen.
Ein Kontrollblick nach hinten bestätigte ihm, dass die Alte verschwunden war. Er ging weiter und summte zufrieden ein paar Takte eines zackigen Marsches vor sich hin, den er vorhin im Radio gehört hatte. Gleich würde er den schmiedeeisernen Zaun der Eheleute Pichel erreichen. Er war Oberstudienrat im Ruhestand, sie hatte nur gelernt, die Nase hoch zu tragen. Einmal hatte sie sich erdreistet, an einem Samstagvormittag in seiner gut gefüllten Metzgerei vor allen anwesenden Kundinnen zu behaupten, sein frischer Fleischsalat vom Donnerstag habe vergoren und die Fleischwurst vom selben Tag ranzig geschmeckt. Danach konnte er über etliche Wochen kaum noch einen Ring Fleischwurst, geschweige denn einen Becher seines selbst gemachten Fleischsalates verkaufen.
Als würde Egon Gröhl die Umgebung betrachten, drehte er sich gemächlich um und kontrollierte noch einmal beiläufig, ob er allein und ungesehen war, dann schleuderte er den prall gefüllten warmen Plastikbeutel in Richtung ihrer Terrasse. Voller Genugtuung lauschte er dem platschenden Geräusch, mit dem der Beutel gegen die große Glasfront schlug, die zum Wohnzimmer gehörte. Es war kurz nach zehn. Pichels waren um diese Zeit an jedem Wochentag im Fitnessstudio im Nachbardorf. Das wusste jeder hier, weil sie es stolz immer wieder erzählten, obwohl es keiner hören wollte.
Egon Gröhl grinste selbstzufrieden. Er liebte die morgendlichen Spaziergänge mit seinem treuen, schweigsamen Gefährten.
Bronko war bereits vorausgelaufen und kam nun wieder auf ihn zugewetzt. Anscheinend konnte die Bewegung seine Schmerzen weitgehend lindern. Erst als sein Schäferhund schon ganz nahe bei ihm war, sah Egon Gröhl, dass er etwas zwischen den Zähnen hielt, das er ihm stolz präsentierte. Dabei wahrte der Hund den gebotenen Sicherheitsabstand, um sein Fundstück nicht gleich wieder entrissen zu bekommen.
Die Kälte hatte Gröhl Tränen in die Augen getrieben. Es dauerte daher etwas, bis er erkannte, was der Köter angeschleppt hatte. Als Metzger im Ruhestand kannte er sich mit Knochen aus. Und dieser Oberschenkel stammte weder von einem Schwein noch von einem Rindvieh. Ganz frisch war er auch nicht mehr, aber gerade, als er glaubte, noch etwas Knorpel daran zu erkennen, nahm Bronko Reißaus.
»Bleib hier, du Drecksköter!« Heiser brüllte Gröhl hinter seinem Hund her, der längst nicht mehr hörte. Er hetzte über die große geräumte Fläche, auf der die Baufirma schon den geplanten Straßenverlauf mit kleinen roten Pflöcken abgesteckt hatte. An einigen Stellen war zudem die obere Erdschicht weggeschoben und abtransportiert worden. Das Areal wurde von allen in Essenheim seit Generationen nur der »Herrgottsacker« genannt, weil der Friedhof zu Zeiten seiner Urgroßeltern bis hierher gereicht hatte, wo sie jetzt das Neubaugebiet planten.
Er konnte seinen Hund in dem frischen Erdhaufen wühlen sehen. Dahinter stieg die Böschung leicht an und führte auf das Gelände des neuen Friedhofs. Bronko grub hektisch im Erdreich und bellte heiser. Was hatte ihr Bürgermeister jetzt schon wieder für eine Sauerei angezettelt?
Rolf sah die Einsatzwagen, und ihn beschlich sofort das ungute Gefühl, dass es etwas mit den Knochen von vorletzter Woche zu tun haben musste. Die Sirenen hatte er nicht wahrgenommen, weil er den Gehörschutz auf den Ohren trug. Der Laubbläser machte einen solchen Lärm, dass er das Brummen auch noch am Abend und in der Nacht hörte, wenn er längst in völliger Stille auf seinem Sofa lag. Das konnte nicht gesund sein. Der Jugo hatte ihn angestoßen und auf die beiden Streifenwagen gezeigt, die gerade an ihnen vorbeischossen und auf den oberen Ortsausgang zuhielten. Seiner Ansicht nach wohl wieder ein Unfall an der unübersichtlichen Einmündung auf die Landstraße in Richtung Stadecken-Elsheim. Wie oft hatte es da nicht schon Blech- und Personenschaden gegeben. Er ließ den Jugo in dem Glauben. Der hatte wirklich keine Ahnung. Von nichts! Dafür besaß er eine große Klappe und nutzte die Ablenkung, um sich schon wieder eine seiner krummen, dünnen Zigaretten zu drehen. So würden sie nie fertig werden.
Rolf fröstelte beim Gedanken an den Nachmittag in der Hütte. Gleichzeitig rauschte das Blut in seinem Schädel, als die Erinnerungen aufblitzten. Oder kam das Rauschen in seinen Ohren von Tonis Laubbläser? Der Kollege stand weiter oben an der Straße und hatte wegen des Krachs nichts mitbekommen.
Fragend starrte der Jugo ihn an. Sollte er dem Kerl jetzt etwa noch dankbar sein, dass er sich auf den Rechen gestützt die Füße platt stand und den Verkehr beobachtete? Das machte ihn rasend, zumal er nicht die Ruhe fand, das Durcheinander in seinem Kopf zu ordnen. Bestimmt kamen sie gleich zu ihm und verlangten eine Erklärung, weil ihr schlauer Chef behauptet hatte, dass er von nichts wisse und der Abriss der Hütte ganz allein ihre Aufgabe gewesen sei. Genau so würde das laufen, und am Ende war der Chef fein raus, aber ihn hatten sie im Sack. Das galt es zu verhindern, und dazu brauchte er jetzt sofort ein paar Minuten Ruhe, damit er sich einen Plan zurechtlegen konnte.
»Was schaust du so blöde? Hast du nichts zu tun? Zieh die Blätter zusammen und sorge dafür, dass sie verladen werden, bevor der Wind sie wieder dorthin weht, wo sie herkommen!«
»Hoch in den Baum?« Der Jugo grinste ihn herausfordernd an und zog ein Blättchen aus der Pappschachtel im Tabakpäckchen. Den Filter hatte er schon zwischen den Lippen geparkt.
»Werd nicht unverschämt!« Rolf wollte noch etwas ergänzen, da raste der nächste Streifenwagen an ihnen vorbei und riss einen Großteil der Blätter mit sich fort. »So eine Scheiße! Da siehst du, was passiert, wenn man nicht hinterherkommt!«
Schnell setzte er sich den Gehörschutz wieder auf und schaltete den Laubbläser ein, um endlich unbehelligt nachdenken zu können. Die leeren Augenhöhlen starrten ihn an. Der Schädel mit dem Rest Haare, die noch daran hingen. Er hatte gar nicht erkennen können, was sich noch alles unter dem gelben Sand verbarg. Sein Gehirn hatte sich quasi umgehend verabschiedet und wollte auch jetzt keinen klaren Gedanken mehr fassen.
In seiner Not war ihm nichts Besseres eingefallen, als den Chef anzurufen. In dessen Auftrag war er schließlich dort oben mit dem Abriss der verrotteten Behausung beschäftigt gewesen. Aber der Chef hatte ihm gar nicht richtig zugehört. Er hatte ihn am Telefon sofort angebrüllt. »Wegen ein paar alten, vermoderten Knochen rufst du mich an? Sieh lieber zu, dass die Hütte endlich wegkommt. Was macht ihr da draußen eigentlich den lieben langen Tag? Wahrscheinlich muss man sich von früh bis spät neben euch stellen, damit überhaupt irgendetwas gearbeitet wird! Der Friedhof ging früher noch ein gutes Stück weiter. Das werden also nicht die letzten Knochen sein, die wir dort oben finden werden. Nimm den Radlader und kipp den ganzen Kram auf die Halde neben dem Friedhof. Und vergiss nicht, am Ende noch zwei volle Baggerschaufeln saubere Erde drüberzuwerfen, sonst spielen die Kinder dort oben demnächst mit den Gebeinen ihrer Urgroßeltern, und dann kannst du dir einen neuen Job suchen. Oder ich mache den Ivo zum Vorarbeiter, der geht mir wenigstens nicht ständig auf die Nerven!«
So hatte er es dann auch gemacht. Völlig abwegig war ihm das, was der Chef gesagt hatte, in dem Moment nicht vorgekommen. Als Bürgermeister musste er ja schließlich wissen, was in einer solchen Situation zu tun war. Ganz wohl hatte er sich trotzdem nicht gefühlt und zur Sicherheit noch eine dritte Schaufel Erde darüber abgeladen. Es wäre bestimmt nicht so weit gekommen, wenn die beiden Faulenzer hier am Abrisstag nicht gekniffen hätten. Wenigstens mit Toni hätte er sich ja vernünftig beraten können. Jetzt war es zu spät, und er musste allein sehen, wie er seinen Kopf aus der Schlinge zog.
Normalerweise diente die Erde dazu, abgesackte Gräber auszugleichen. Soweit er wusste, sollte der ganze Haufen aber nach der Einebnung des Baugeländes abtransportiert werden, um am äußersten Rand der Gemarkung einen ehemaligen Kalksteinbruch zu verfüllen. Wie er den Chef kannte, wäre das unter normalen Umständen ihre nächste Aufgabe gewesen, sobald die letzten gelben Blätter von den Bäumen und der Straße runter waren. Es hätte also auch alles gut gehen können.
Wenn sie zu dritt zu einem Tatort unterwegs waren, fuhr Harro nie. Er beanspruchte aber den Beifahrersitz, weil der mit der Herrschaft über das Autoradio einherging. Daher lief während der Fahrt aus der Stadt heraus mal wieder SWR 4. Helene Fischer war gerade zu einem glücklichen Ende gekommen. »Keine Schwerkraft mehr. Nur noch du und ich und ein Lichtermeer. Und ein Lichtermeer, uh-oh, oh, oh. In meinem Kopf ist eine Achterbahn.« Der Moderator kündigte den neuen Hit irgendwelcher Herzbuben an. Harro schien die Melodie bereits zu kennen, er stimmte summend ein, auch wenn er nicht alle Töne traf. Am Fenster zogen scheinbar unendlich die Rebhänge entlang der Landstraße vorbei. Ravi hatte bis jetzt nicht herausbekommen, ob Harro diese Musik auch privat hörte, oder ob sie der Psychohygiene diente, als Maßnahme, um das hinter sich zu lassen, was ihr Beruf an verstörenden Grausamkeiten mit sich brachte.
Auch nach drei Jahren beim K11 spürte er auf jeder Fahrt zu einem Todesfall noch eine leichte Anspannung. Das Gefühl war nicht unwillkommen, es schärfte die Sinne und erhöhte die Konzentration. Sie waren zwar oft nicht die Ersten vor Ort, aber mit ihrem Erscheinen oblag ihnen die Verantwortung, gaben sie den Takt vor. Manchmal hatten die Schutzpolizisten bereits Anhaltspunkte für einen Mord entdeckt, oder die Kollegen vom Kriminaldauerdienst riefen sie hinzu, wenn klar war, dass weitergehende Ermittlungen eingeleitet werden mussten. Der KDD war so etwas wie der erste schnelle Einsatzwagen der Feuerwehr, sie waren der Löschzug, der danach eintraf, um dem Brand den Garaus zu machen, und der dafür sorgte, dass aus einem kleinen Tatort schnell ein großes Einsatzgebiet werden konnte, wenn die Kriminaltechnik, der Rechtsmediziner und womöglich noch eine Hundertschaft der Bereitschaftspolizei angefordert werden mussten, um das Gelände rundherum weiträumig abzusuchen.
An den Blicken der Menschen, von denen sie vor Ort in Empfang genommen wurden, war immer schon abzulesen, was sie gleich erwartete. Ravi suchte das ganz bewusst in den Gesichtern. Die offensichtlichen und die versteckten Anzeichen, die ihm halfen, sich auf die Situation vorzubereiten. Bleiche Streifenpolizisten, die zum ersten Mal das Opfer einer brutalen Gewalttat gesehen hatten und froh waren, nun, da die Kriminalpolizei übernahm, endlich Abstand halten zu können. Der starre Blick eines reglosen Angehörigen, den der Polizeiseelsorger vom Tatort zu lösen versuchte, um ihm weitere Qualen zu ersparen.
Das letzte Durchatmen im Auto brauchte er, um das zu erlangen, was jeder Tatort erforderte: eine große Ruhe und Konzentration, weil längst alles vorbei war und nicht geändert werden konnte. Sachliches Vorgehen ohne Emotionen. Sie kamen nicht her, um jemanden zu retten, dafür war es immer zu spät. Ravi wusste, dass er genau damit nicht zurechtkommen würde: mit einem Menschen, der um sein Leben kämpfte, womöglich schrie vor Schmerz und Angst, in die Augen des Sterbenden zu sehen und hilflos danebenzustehen. Diese Bilder würde er ganz sicher mit nach Hause nehmen. Die Ruhe hingegen, die ein Leichnam ausstrahlte, half ihm, die Eindrücke und selbst die Gerüche als Teil seiner Arbeit zu betrachten, den er daheim besser ausblenden konnte als vieles andere, das ihm widerfuhr.
Die Herzbuben waren noch nicht ganz fertig, als sie das Dorf erreichten. Harro summte weiterhin mit, nun aber kaum noch hörbar. Nach einem Blick auf sein Handy gab er die Informationen durch, die er während der Fahrt erhalten hatte.
»Der Hund des Zeugen hat einen menschlichen Knochen ausgegraben. Anscheinend befindet sich der Erdhaufen, in dem er gebuddelt hat, gleich neben dem Friedhofsgelände. Der Mann hat die 110 gewählt, und die Kollegen von der Polizeiinspektion sind rausgefahren, in der Annahme, dass es sich um menschliche Überreste aus einem der alten Gräber handelt, die es früher auf dem Areal gegeben hat, als der Friedhof noch größer war. Es hat sich aber schnell herausgestellt, dass die Überreste zwar schon länger im Erdreich lagen, aber doch auch wieder nicht so lange, dass man nicht genauer hinsehen sollte. Knochen, Knorpel, Sehnen und Haare, alles noch da. Und Kleidungsstücke, die nicht sonderlich alt zu sein scheinen, höchstens ein paar Jahre.« Harro sah aus dem Fenster, um sich an den Straßenschildern zu orientieren. Tobias nutzte die winzige Pause zwischen zwei Liedern, um mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung das Radio auszudrücken.
»Sind es nur einzelne Knochen, oder ist es ein vollständiges Skelett?« Ravi war nach vorne gerutscht und hatte sich in die Lücke zwischen den beiden Vordersitzen geschoben.
»Sie haben längst noch nicht alles zusammen, aber es scheint sich um mehr als nur ein paar verstreute Einzelteile zu handeln.«
Am Straßenrand tauchte jetzt ein Polizist auf. Er stand unter einem großen bunten Werbeschild, das familienfreundliches Wohnen am Herrgottsacker ankündigte. Als er sie sah, schleuderte er schnell seine halb aufgerauchte Zigarette hinter sich und kam ihnen entgegen. Mit ungelenken Bewegungen wies er ihnen den Weg. Tobias steuerte den Kombi durch die Zufahrtsstraße, die an ihrem Ende zum Feldweg wurde und schließlich nach rechts auf eine große offene Fläche abzweigte. Die Wiese fiel leicht nach hinten ab und grenzte an die ein paar hundert Meter weiter befindliche Wohnbebauung.
Ravis Blick fiel auf die in gleichmäßigen Abständen im Boden steckenden roten Pflöcke. »Was wird das?«
»Sieht nach Neubaugebiet aus.« Tobias lenkte den Wagen unter den ausladenden Ästen von Walnussbäumen hindurch auf eine Ansammlung von Menschen zu, die sich am hinteren Ende der freien Fläche zusammengefunden hatte. Ein halbes Dutzend unterschiedlicher Fahrzeuge parkte bereits neben den das Areal säumenden Hecken. Sie fuhren bis dicht heran.
»Wir nehmen alles mit und schauen uns das erst einmal in Ruhe an. Christian und Olaf sind vor Ort.« Harro hatte die Tür schon aufgedrückt, noch bevor der Kombi wirklich stand. Er eilte voraus, während Tobias und Ravi die beiden Koffer und den Rucksack aus dem Kofferraum holten.
Christian Schweickhart hatte sie gesehen und kam ihnen entgegengelaufen. Der Kollege von der Kriminaltechnik steckte vollständig in einem weißen Schutzanzug. Über seine Schuhe hatte er weiße Stulpen gezogen, die aufgrund der morgendlichen Feuchtigkeit bereits reichlich verdreckt aussahen. Seine langen dunkelblonden Haare, die er immer zu einem Pferdeschwanz zusammenband, waren vollständig unter der Haube verschwunden.
»Guten Morgen zusammen, herzlich willkommen zur Frühstücksleiche. Wir müssen hier lang.« Er machte eine halbe Drehung und stapfte an den aufgereihten Fahrzeugen entlang. Harro ging neben ihm. Ravi und Tobias folgten. »Wir haben direkt am Erdhaufen ziemlich gute Reifenspuren unter den Blättern sicherstellen können. Das Laub hat sie an einigen Stellen bestens gegen den Regen der letzten Tage abgeschirmt. Ich denke, daraus lässt sich etwas machen. Schweres Gerät, den Abdrücken nach vermutlich ein Bagger oder Radlader oder irgendetwas in der Art. Aber das kriegen wir raus.«
Sie steuerten auf den in unterschiedlichen Gelbschattierungen schimmernden Erdhaufen zu, der sich vor einem ausgeleierten Maschendrahtzaun über eine Breite von mehr als zehn Metern hinzog. Hinter der Begrenzung führte eine mit Efeu bewachsene Böschung sachte in die Höhe. Dort oben stand ein gutes Dutzend neugieriger Zuschauer, die zum Teil mit Gießkannen oder langstieligen Gartenwerkzeugen ausgestattet waren und sich grüppchenweise zusammengefunden hatten. Ein bisschen wie die sich langsam füllende Zuschauertribüne eines Sportplatzes, an dem die Dorfbewohner auf dem Weg zum eigenen Gartengrundstück zufällig vorbeikamen und für einen Moment stehen blieben, um den unbeholfenen Bemühungen der heimischen Fußballmannschaft zuzuschauen.
»Das ist der Friedhof?« Harro deutete mit einer knappen Kopfbewegung in Richtung der überschaubaren Menschenansammlung. Christian nickte. »Können wir das irgendwie zubekommen? Ich will nicht, dass die uns direkt auf den Schreibtisch gaffen. Oder sind wir hier in ein paar Minuten fertig, und es lohnt nicht?« Sein Grinsen war für Ravi und Tobias zu erahnen, aber nicht zu sehen.
»Die Kollegen sind schon dabei. Wir werden oben auf dem Friedhof den hinteren Teil absperren, damit haben wir Ruhe. In ein paar Minuten sind die Gaffer weg.«
Sie hatten den Erdhaufen erreicht. Davor lag eine weiße Plane ausgebreitet am Boden. Olaf Hartmann legte gerade einen weiteren Knochen darauf ab. Er war mit Mitte zwanzig der Jüngste der Kollegen und erst seit wenigen Monaten im Einsatz. Seine erhitzten Wangen leuchteten rot. Die konzentrierte Anspannung zeichnete sich deutlich auf seinem Gesicht ab.
»Guten Tag, die Damen und Herren.« Harro trat an die Plane heran, auf der die bisher gefundenen Knochen und Kleidungsreste ruhten. »Jetzt sind wir also unter die Archäologen gegangen. Römischer Legionär oder schwedischer Soldat aus dem Dreißigjährigen Krieg? Was haben wir noch für Möglichkeiten?«
Einer der beiden Schutzpolizisten lachte. Der Rest reagierte nicht auf Harros Begrüßung. Ravi stellte den Metallkoffer ab. Die Knochen waren so gruppiert, wie es dem menschlichen Körperbau entsprach. Manche Einzelteile wurden noch von Sehnen und Knorpel zusammengehalten. Das rechte Bein erweckte diesen Eindruck. Beim linken war das nicht zu erkennen. Aus einer nur noch an den Rändern blau schimmernden Hose, die wie eine Jeans aussah, ragten Teile der Fußknochen hervor. Der kleine Brustkorb und die Wirbelsäule hingen auch noch zusammen. Der Kopf fehlte. Das war kein erwachsener Toter, sondern ein Kind.
»Der Größe nach zwischen acht und zwölf Jahren, wobei ich mich mit diesen Einschätzungen immer schwertue. Die Rechtsmedizin ist informiert. Frau Dr. Lieberknecht kommt her, sie möchte sich gern persönlich ein Bild von der Auffindesituation machen. Die Ruhe hat also bald ein Ende.« Christian verzog sein Gesicht leicht genervt.
Harro ging nicht darauf ein. Er betrachtete die auf der Plane ausgebreiteten Knochen. »Kleidung?«
»Vieles ist nur in Fetzen vorhanden, das meiste dürfte beim Transport der Überreste zerfallen sein. Dem ersten Anschein nach trug das Kind T-Shirt, Unterhemd, Unterhose, Jeans, Socken und gut erhaltene Turnschuhe von Nike in Größe 34. Es scheint genug zu sein, um die Kleidung weitgehend komplett für eine Rekonstruktion und den Abgleich mit den offenen Vermisstenfällen zusammenzubekommen.«
»Wie weit könnt ihr die Reifenspuren des Fahrzeugs zurückverfolgen?« Harro drehte sich um und ließ seinen Blick über die große freie Fläche schweifen. An einigen Stellen sah der Boden zerwühlt aus.
»Nicht so weit. Um die zehn bis fünfzehn Meter. Dann kommen so viele andere Reifenspuren dazu, dass es unübersichtlich wird. Hier haben in den letzten Tagen etliche Leute gearbeitet. Nächste Woche soll mit den Tiefbauarbeiten begonnen werden, Kanalisation und so weiter. Ist alles frisch eingemessen worden.«
Ein Kollege brachte die nächsten Fundstücke. Sie konnten es rieseln hören, als er sie vorsichtig auf der Plane ablegte.
»Sand?« Harro beugte sich hinab, um besser sehen zu können.
»Ja, an nahezu allen Überresten und den Kleidungsstücken finden sich Sandkörner. Das ist ganz anderes Material als der Rest des Erdhaufens oder der Oberboden hier.«
Tobias beugte sich hinunter, hielt aber einen Sicherheitsabstand ein, weil er sich keinen Rüffel wegen der noch fehlenden Schutzkleidung abholen wollte. Harro hielt sich selbst nicht immer an die Regeln, achtete aber bei allen anderen ganz besonders darauf.
»Der Erdhaufen besteht aus dem Unterboden. Das ist Löß, der Staub der Eiszeiten, der schimmert immer leicht gelb. Obenauf liegt die Humusschicht, die ist dunkler. Das an den Knochen ist von der Farbe her zwar ähnlich wie der Löß, aber viel grobkörniger. Es sieht aus wie gelber Sand vom Strand.« Tobias richtete sich wieder auf, dabei war Ravi sicher, dass er die winzigen Sandkörner gern noch näher in Augenschein genommen hätte.
»Unser Geologe.« Harro verrieb ein paar der Körner zwischen Daumen sowie Zeige- und Mittelfinger.
»Nein, kein Geologe, bloß der Enkel eines erdverbundenen Weinbauern, der in den Herbstferien bei jedem Wetter mit in die Weinlese musste.«