Stauhitze - Andreas Wagner - E-Book

Stauhitze E-Book

Andreas Wagner

4,6

Beschreibung

Ein Jahrhundertsommer. Im Essenheimer Teufelspfad herrscht Stauhitze: Der Boden ist ausgetrocknet und die jungen Rebpflanzen verdorren. Als dort kurz nacheinander zwei Tote gefunden werden, eine junge Frau und ein Saisonarbeiter aus Moldawien, erwacht ganz Essenheim aus seiner Hitzestarre. Der Nieder-Olmer Bezirkspolizist Paul Kendzierski sieht sich diesmal nicht nur einem vollkommen unberechenbaren Gegner gegenüber, sondern muss auch täglich gegen seinen Schlafmangel ankämpfen: Seine kleine Tochter Laura schreit und schreit und schreit. Währenddessen beobachtet ein Stalker eine Frau Tag und Nacht: Noch Jahre würde er davon zehren, von den grellen Bildern dieses Sommers. Für alle anderen war es der Jahrhundertsommer. Für ihn war es der Sommer seines Lebens, der ihn aus einer aussichtslosen Sackgasse herausgeholte. "Der achte Kendzierski-Krimi ist Andreas Wagners witzigster: Verbandsbürgermeister Erbes in absoluter Bestform ... Was natürlich bedeutet, dass auch der Autor angesichts einer Fülle satirischer Kabinettstückchen und geradezu monströser Morde in absoluter Topform ist!" (Angelika Schulz-Parthu)

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STAUHITZE

Für Nina, Phillip, Hanna, Fabian und Justus.

ANDREASWAGNER

STAUHITZE

Ein Krimi

Die Handlung und alle Personen sind völlig frei erfunden; Ähnlichkeiten wären rein zufällig.

© Leinpfad Verlag2016

Alle Rechte, auch diejenigen der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne die schriftliche Genehmigung des Leinpfad Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: kosa-design, Ingelheim Layout: Leinpfad Verlag, Ingelheim

Leinpfad Verlag, Leinpfad 5, 55218 Ingelheim, Tel. 06132/8369, Fax: 896951 E-Mail: [email protected]

eISBN 978-3-945782-12-5

Inhalt

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Epilog

1.

Das grüne Reblaub knackte, als er sich tief in die Zeile hineindrückte. Die in alle Richtungen abstehenden Triebe schienen sich gegen ihn zur Wehr setzen zu wollen. Leise atmete er durch den weit geöffneten Mund aus und versuchte seinen Herzschlag zu erlauschen. Es hämmerte entschieden in seinem Brustkorb. Wenn er es nur schaffte einigermaßen ruhig im Schutz der dichten Reben auszuharren. Das stellte das größere Problem dar. Seine Unruhe, die Rastlosigkeit und Nervosität, die ihn umtrieben. Hinaus aus seinem Bett mitten in der Nacht, den Flur entlang über knarzende Dielen, die ihn schon mehr als einmal verraten hatten. Die steile ausgetretene Treppe hinunter, ungelenk auf der Suche nach den Stellen, die sein Gewicht trugen, ohne gequält aufzustöhnen. Ein sinnloses Unterfangen, weil es doch nie so recht gelang. Junge, wo willst du jetzt noch hin. Sonst immer ihr Zwischenruf aus dem Halbschlaf. Heute zum Glück nicht. Raus auf den Hof pissen, Mutter. Ihre stille Zustimmung, weil er das so machte, seit er ein kleiner Junge war. Die mächtige Kastanie im engen Hof, die er seit Jahrzehnten aufsuchte, in jeder Nacht. Eine bescheuerte Angewohnheit, die sich aus den dunkel verschleierten Jahren seiner Kindheit bis ins Jetzt hinübergerettet hatte. Weil sein Vater auch stets nach draußen gegangen war, bis sie den Misthaufen zuschütteten, da es kein Viehzeug mehr gab, für das man die stinkige Grube noch offen halten musste. Aus stillem Trotz hatte er sich weiter in den Hof gestellt und selbst im tiefsten Winter einen dampfenden Strahl auf die furchige Rinde des alten Baumes geschickt. Ihre Versuche, ihm diese schlechte Angewohnheit auszutreiben, waren nur halbherzig gewesen. Lange Jahre genoss er die Stille unter dem Baum, die sein Plätschern begleitete, ohne zu wissen, dass sie einmal sein bester nächtlicher Fluchtvorwand werden würde. Auch heute Nacht wieder.

Tief sog er Luft in sich hinein und sah auf das erleuchtete Nieder-Olm. Um ihn herum knackte es jetzt wieder. Die Blätter der Rebstöcke, in die er sich hineingedrückt hatte, brachen. Die alten Hecken vom Mini-Willy. Hier würde es nicht einmal auffallen, wenn er eine halbe Zeile komplett niederdrückte. Er verbot sich jeden weiteren Gedanken an den Mini-Willy, in dessen Weinberg er doch nur Schutz gesucht hatte, und nicht mehr. Mitten in der Nacht vor dem, der da plötzlich auf dem Feldweg auf ihn zu gewankt kam. Zumindest hatte es aus der Entfernung so ausgesehen. Der Gedanke daran, dass es ein nächtlicher Spaziergänger war, der nach dem Spätfilm seinen an der Leine zerrenden Köter nochmal ausführte, ließ sein Herz wieder schneller schlagen. Das fehlte jetzt gerade noch: Das Gekläffe einer Töle, die ihn gerochen hatte, obwohl er doch tief in das Gestrüpp eines Weinbergs eingetaucht war, der diesen Namen kaum noch verdiente. Wie verdächtig machte ihn das alles hier? Er würde sich über Wochen jeden weiteren Besuch an dieser Stelle verbieten müssen. Qualen, die er sich in diesem Moment der Anspannung besser nicht ausmalte. Was war schon dabei? Er stand hier zwischen den Reben. Auch er ein nächtlicher Spaziergänger, der nochmal raus musste und sich eben gerade erleichtert hatte. Dezent im Schutz der Rebgasse. Er würde sich an seinem Gürtel zu schaffen machen, um den eigenen Worten zu mehr Überzeugungskraft zu verhelfen. Das musste der ihm schon abnehmen. Wo blieb der eigentlich? Bestimmt schon vorbei und die Aufregung umsonst.

Konzentriert lauschend löste er sich aus dem knackenden dürren Geäst heraus und spähte die schmale Rebzeile hinunter. Der konnte auch abgebogen sein. Das lag sogar noch viel näher. Wieder zurück in die Siedlung. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen und behielt den kleinen Ausschnitt des Weges genau im Blick. Außer dem Knacken des dürren Grases unter seinen Füßen war nichts zu hören. Ausgedörrt und staubig der Boden. Die Dunkelheit schluckte alle Farben. Die sengende Hitze der vergangenen Wochen hatte die Natur verändert. Eine Steppenlandschaft, in der nur noch das Grün der Rebhänge von Leben zeugte.

Vorsichtig spähte er in den Feldweg. Er hatte recht gehabt, der musste abgebogen sein. Er war jetzt wieder alleine. Hektisch fingerte er an seiner ausgebeulten Jackentasche herum. Auch auf die Entfernung konnte er mit bloßem Auge deutlich das Licht erkennen. Entschlossen riss er das kleine Fernglas heraus und presste es sich auf die Augen. Nur einen ganz kleinen Moment brauchte er, um in der Flut der dunklen Fenster das eine Erleuchtete zu finden. Er glaubte sie für den Bruchteil einer Sekunde gesehen zu haben. Ein Schatten nur noch, der mit dem erlöschenden Licht verschwand. Der ganze Weg und die Aufregung umsonst. Nicht einmal richtig erkannt hatte er sie, nur weil ihn die wankende Gestalt ins Dickicht getrieben hatte.

Morgen würde er wieder zur selben Zeit genau hier stehen, wenn sie das Licht anknipste.

2.

Das kaum hörbare Surren seines Handys riss Kendzierski aus dem Schlaf. Noch bevor das erste Intervall verklungen war, hatte er den Alarm bereits abgeschaltet. Einen Moment lauschte er in der Stille nach Atemzügen, einer Regung, einem Laut. Der Schmerz in seinem Rücken erinnerte ihn daran, wo er lag. Wohnzimmer, Sofa. Steifer Nacken, dumpfer Schmerz, der sich jetzt schon bis in seinen Hinterkopf vorgearbeitet hatte. Verkatert, ohne einen Schluck Alkohol. Unter diesen Bedingungen weigerten sich seine Augenlider standhaft, Licht hereinzulassen. Den Dämmerzustand erhalten, zurück in einen leichten Schlaf gleiten, der den Schmerz der erzwungenen Liegeposition wattig einhüllte und vergessen ließ. Widerstrebend schlug er die Augen auf. Gleißende Helligkeit, die in seinen Schädel fuhr. Er drückte die Augen wieder fest zu. Die ersten Sonnenstrahlen fluteten bereits das halbe Wohnzimmer. Ein weiterer greller Sommertag, der sich nahtlos an die vorherigen anschloss und die quälend ausdauernde Hitzeperiode weiter verlängerte. Der Jahrhundertsommer. Heißer, trockener, länger als alles je zuvor. Selbst die Zeitungen hatten es mittlerweile aufgegeben, nach weiteren Superlativen zu suchen.

Kendzierski rieb sich die Augen und bereitete seinen verschwitzten Körper auf einen neuen Schwung Helligkeit vor. Die Arbeit rief, keine Aussicht auf Hitzefrei, obwohl sie alle sichtlich litten im nichtklimatisierten Rathaus von Nieder-Olm, das sich mittlerweile so sehr aufgeheizt hatte, dass selbst die Nächte kaum noch für Abkühlung sorgten. Schon um kurz nach acht hatte jeder, dem er begegnete, große, dunkle Schweißflecken unten den Armen und länglich den Rücken hinunterwachsende ovale. Schlimmer noch als 2003. Das war ein Witz dagegen. Ein Vorglühen nur. Jetzt die Dürre auf den Feldern, Brandgefahr im Ober-Olmer Wald. Die Feuerwehr hatte zwei Dutzend Hinweisschilder aufgestellt, die davor warnten, Kippen oder Glasflaschen sorglos wegzuwerfen.

Gegen alle diese Aussichten quälte sich Kendzierski in eine senkrechte Position. Gähnend harrte er einen Moment im Sitzen aus. Die Polsterung des Sofas knarrte unter ihm. Seit der Geburt ihrer Tochter Laura im vergangenen Oktober war sein Schlaf nur noch ein ganz leichter. Leiseste Geräusche ließen ihn aufschrecken. Eine vollkommene Umkehr seiner früheren Schlaftiefe. Vor Laura hätte ein Flugzeug erfolgreich direkt neben ihm landen können, ohne ihn aus dem seligen Schlummer zu reißen. Jetzt reichte schon ein Seufzen seiner Tochter im vergitterten Bettchen aus, um seinen traumlosen Halbschlaf jäh zu beenden. Klara war dann immer schon wach und sah ihn erschöpft lächelnd an. Bei ihr schien schon ein sich ankündigender tieferer Atemzug ihrer Tochter auszureichen.

Da Laura sie auch nach neun Monaten immer noch in unregelmäßigen Abständen vier- bis fünfmal pro Nacht mit einem lauten Aufschrei herauszwang, um Futter, eine saubere Windel oder ein gesäuseltes Wiegenlied einzufordern, schien Klara die Nacht in einer Art Dämmerzustand zu verbringen, der mit dem Begriff Schlaf kaum treffend zu beschreiben war. Eher ein Wachzustand mit geschlossenen Augen. Dunkle Ringe unter den Augen, blass der Rest ihres Gesichtes, das auch in den Sommerwochen kaum Farbe angenommen hatte. Die Müdigkeit schien dies zu verhindern, und Lauras verquerer Schlafrhythmus, der sie tagsüber mehr zur Ruhe kommen ließ als in der Nacht. Da Klara diese knappen Phasen der Ruhe nutzte, um die Wohnung bewohnbar, den Kühlschrank bestückt und die Kleidung ihrer Kleinfamilie vorzeigbar zu erhalten, baute sich langsam, aber sicher ein gut sichtbares Schlafdefizit auf. Eine als Provisorium in den ersten Tagen und Wochen nach der schwierigen Geburt akzeptierte Ausnahmesituation, die sich zum Dauerzustand ausgewachsen hatte.

Schnell schob sich Kendzierski in die Höhe und schlich in Richtung Bad. Wenn Klara ihn bis jetzt nicht gehört hatte, würde sie sich auch noch seinetwegen aus dem Bett quälen, um ihn zu wecken. Das wollte er verhindern. Vielleicht kam sie noch auf ein Stündchen leichten Schlaf, bevor der Tagestrott sie wieder in Beschlag nahm. Stöhnend drehte er auf dem Weg durch den Flur den Kopf in alle möglichen Richtungen. Das hörbare Knacken zwischen den Wirbeln im Nacken verriet nichts Gutes. Ein Sofa war eben kein Bett, auch wenn es durch die Distanz zum eigenen Schlafzimmer und dem Gitterbett ihrer Tochter eine trügerische Aussicht auf erholsame Nachtstunden vorgaukelte. Wenn man seinen Fall realistisch betrachtete und die neun Monate vor der Geburt mit einbezog, in denen er nächtelang aus Sorge wach gelegen hatte, dann war es geradezu ein Wunder, dass er sich noch immer täglich zur Arbeit ins Rathaus schleppte. Wobei das nur die halbe Wahrheit bedeutete.

Vorsichtig ließ er Wasser über seine Hände laufen. Schwach nur, weil das weniger Lärm machte. Er sammelte ein wenig und tauchte sein Gesicht hinein. Zarte Kühlung, die er gerne unter der kalten Dusche dem gesamten Körper hätte zukommen lassen. Da aber Laura stets vom Plätschern der Dusche wach wurde, verbot er sich schon seit dem Winter diese Variante der Morgenhygiene. Letztlich war es ja auch egal, ob man sich nach dem Aufstehen oder vor dem Schlafengehen unter den Wasserstrahl stellte.

Mit der Zahnbürste im Mund holte ihn der zweite Teil der Wahrheit gnadenlos ein. Das schlechte Gewissen, weil er immer wieder einmal aus dem quälenden Zustand der Übermüdung ausbrach. In letzter Zeit immer häufiger. Der Weg zur Arbeit als gefühlte Erholung. Die Stille und Ruhe im Büro, die Anspannung, die dort von ihm abfiel, weil er sich nicht in einer dauerhaften Hab-acht-Stellung befand. Im Februar, als der letzte Schnee lag und es noch früh dunkel wurde, hatte er es zum ersten Mal mit Erfolg ausprobiert. Nach fünf am Nachmittag kehrte im Rathaus zügig Ruhe ein. Vereinzelte schnelle Schritte gedämpft vom Flurteppich. Er hatte Klara den Abendtermin in den Tagen zuvor mehrmals angekündigt, um sicher zu gehen, dass sie ihn nicht vergaß. Nachbesprechungen mit allen Beteiligten des großen Nieder-Olmer Fassenachtsumzugs. Manöverkritik, Verbesserungsvorschläge, Parksituation, Sauberkeit und Ordnung. Das konnte dauern, bis alle Meinungen ausgetauscht waren. Kendzierski spuckte reichlich Schaum in das Waschbecken. Seinen dicken wollenen Winterpullover hatte er extra mitgenommen und seither im Schrank seines Büros deponiert. Nachdem er das Licht gelöscht und die Bürotür abgeschlossen hatte, war er mit dem Kopf auf den gefalteten Pullover auf seiner Schreibtischplatte gesunken und in einen mehrstündigen tiefen Schlaf gefallen, aus dem ihn erst die lärmenden Geräusche des Staubsaugers aufschrecken ließen, die den Reinigungstrupp beim nächtlichen Säubern der Flure und Büros des Rathauses begleiteten. Seither vergaß er nie, sich den Wecker auf 23 Uhr zu stellen, um nicht wieder in solch arge Erklärungsnot zu geraten wie damals im Februar.

Mit wenig Wasser, das er mit der Hand vor dem klatschenden Aufschlagen im Waschbecken abbremste, spülte er die Schaumreste hinunter und suchte sich aus seinem Klamottenhaufen ein paar für den heutigen Tag zusammen. Das Polohemd gehörte eigentlich in die Wäsche. Er verbot sich, daran zu riechen, weil es keine wirkliche Alternative gab. Beide wären spätestens dann wach, wenn er die Schublade im Schlafzimmer aufzog. Während er ausatmete, zog er sich das dunkelblaue Polohemd über den Kopf. Ein schmaler eingetrockneter Spuckestreifen zog sich von seiner rechten Schulter bis fast herunter zur Brust. Da Paul Kendzierski wenig Lust verspürte, seine übernächtigten Gesichtszüge noch einmal im Spiegel anzustarren, nahm er keine Notiz von den sichtbaren Zeichen seiner väterlichen Bemühungen des Vortages. Heute Nachmittag nach fünf würde er wieder in einen tiefen Schlaf fallen und spätestens zu Lauras erster Nachtflasche leidlich erholt zurück sein.

3.

Sie spürte noch immer die Erregung auf dem Weg hierher. Nicht mehr so heftig wie noch am Anfang des Sommers. Zehn-, elf-, zwölfmal, sie hatte keine Ahnung wie oft sie schon hier entlanggegangen war in den letzten drei Monaten. Einmal pro Woche war es doch ganz sicher gewesen. Also lag sie mit ihrer groben Schätzung nicht so weit daneben. Schnell schaute sie sich im Laufen um. Der Schotterweg lag einsam da in der morgendlichen Hitze. Meistens war sie am späten Nachmittag hierhergekommen. Einmal nur schon so früh. Es gab keine Regelmäßigkeit bei dem, was sie hier tat. Nicht nur aber doch zu einem nicht unbeträchtlichen Teil lag darin der besondere Reiz des Ganzen. Keine Routine, keine Langeweile. Überraschung, wenn die Nachricht auf ihrem Handy aufblinkte. Sie fuhr sich mit der Rechten durch die lockigen Haare, die sie nachher zu einem Zopf zusammenbinden würde. Im Laufen summte sie eine Melodie vor sich hin. Kein bestimmtes Lied, ein paar Tonfolgen, die sie noch aus dem Radio im Ohr hatte. Einer der Hits des Sommers, die man mit den ersten verfärbten Blättern Anfang Oktober nicht mehr hören konnte. Hierher passte das perfekt. Zum Ort, zu ihrer Stimmung, zur Hitze und der Leichtigkeit, die sie den Hang hinabtrug. Am liebsten wäre sie in diesem Moment losgerannt. Ein kleiner Spurt, um der Erregung ein Ventil zu geben. Ein Spannungsaufbau, wie er besser kaum sein konnte. Ob nur sie das so empfand? Herausgerissen aus dem öden Tagesablauf. Eine schnelle Ausrede auf der Arbeit. Der Weg hierher im Auto. Sie parkte den Wagen immer an einer anderen Stelle, aber nie weit von der Physiotherapiepraxis am Ortsausgang entfernt. Zur Not wäre das eine plausible Erklärung. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie die brauchte, ging aber ohnehin gegen Null. Wen aus ihrem Umfeld sollte sie hier in diesem Nest schon treffen? Keine der Arbeitskolleginnen aus dem Salon, bei denen sie sich heute mit einer hitzebedingten Migräne krank gemeldet hatte. Alle anderen ging das nichts an. Es war ihre Sache, wen sie wann und wozu traf.

Sie ließ noch einmal ihren Blick schweifen, weil sie die ersten niedrigen Sträucher erreicht hatte. Auch in den angrenzenden Weinbergen konnte sie niemanden ausmachen. Zu heiß schon jetzt am Morgen. Und wenn da einer auftauchte, konnte sie, wie vor ein paar Wochen auch schon, langsam weiterschlendern und abwarten, bis er wieder aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Die Anspannung wuchs dadurch nur noch mehr. Der Schauer des Verbotenen. Die kribbelnde Furcht, entdeckt zu werden. Das genoss er auch. Die Orte, an denen sie sich trafen, wählte schließlich er aus. So wie er auch das Wann bestimmte. Die knappe SMS. Zwei Worte reichten aus, um alles in ihr in Wallung zu versetzen. Das Codewort für einen ihrer drei Treffpunkte und die immer gleiche Zeitangabe. Halde SOFORT. Sie kramte im Laufen ihr Handy aus der Handtasche und kontrollierte seine Nachricht. Mit zwei knappen Bewegungen hatte sie die Mitteilung gelöscht. Das gehörte auch zu seinen Regeln. Sie hatte seine Anweisung zu befolgen und zuerst am Ort zu sein. Es war ein Spiel, auf das sie sich eingelassen hatte. Ein Spiel mit großem Spaßfaktor und geringem Risiko, zumindest für sie.

Für einen Moment hielt sie an. Sie spürte den Schweiß, der kitzelnd unter ihren Armen hinablief. Ein letzter Kontrollblick in alle Richtungen. Volle Konzentration vor dem letzten Schritt. Absolute Ruhe, nicht einmal ein Vogel war zu hören, obwohl sich hinter ihr ein dichtes Dickicht ausbreitete, in dem es nur so wimmelte von allen möglichen Viechern. Keine Ahnung, wie er auf dieses Versteck gekommen war. Der dicht zugewachsene alte Schuttabladeplatz war ihr heimlicher Lieblingsort. Einem Dschungel gleich wie im Fernsehen, durch den man nur mit einer Machete kam, wenn man die geheimen Pfade nicht kannte. Die schmalen Wege des Wildes, die er ihr am Anfang gezeigt hatte. Hilfe, ich bin ein Star!

Schnell fasste sie ihre langen blonden Locken am Hinterkopf zusammen und streifte das Haargummi, das sie ums Handgelenk getragen hatte, darüber. Dann tauchte sie hinein und fühlte sich schon im nächsten Moment verschluckt. Gebückt lief sie weiter. Der Schatten unter den Blättern ließ es hier fast angenehm kühl erscheinen. Der zarte Schauer der Vorfreude. Ihr Atem ging schneller. Einmal halb rechts und nach einer kurzen gebückten Strecke links, dann weitete sich das enge Dickicht. Keine wirkliche Lichtung, weil die umstehenden Bäume und größeren Sträucher ein undurchlässiges Dach bildeten, durch das zwar Licht, aber keine direkten Sonnenstrahlen drangen. Hier herrschte heute wirkliche Urwaldschwüle. Der Geruch verriet, dass sich hier in den Nächten auch die Tiere trafen. Auf den letzten Metern zu der kleinen Hütte zerrte sie sich schon ihr Trägerhemd über den Kopf. Sie wollte bereit sein, wenn er auftauchte. Zusammen mit ihrer Handtasche warf sie es in die Dunkelheit des Bretterverschlages, den eine schmale Matratze ausfüllte. Als die Tür hinter ihr zuschlug und alles um sie herum in tiefe Dunkelheit tauchte, beschlich sie bereits das dumpfe Gefühl, dass irgendetwas heute anders verlief als in den letzten Wochen.

4.

Kendziäke!“

Er zuckte auch diesmal wieder zusammen, obwohl er sich fest vorgenommen hatte, daran zu arbeiten. Das war sein Name und kein Befehl, auch wenn es aus dem Mund von Ludwig-Otto Erbes, dem Nieder-Olmer Bürgermeister, genau so klang. Kendziäke! Still gestanden! Er war selbst nie bei der Bundeswehr gewesen, aber mit der aus alten Kriegsfilmen gespeisten Fantasie, entstanden farbige Bilder in seinem Kopf, in denen ein kleiner, gedrungener Feldwebel knappe Befehle brüllte, um dann mit kritischem Blick die aufgereihten, stramm stehenden und zitternden Rekruten zu mustern. Soweit lag er bei Erbes nicht daneben. In launiger Runde, nach einigen Gläsern Riesling bei der Weihnachtsfeier oder dem alljährlichen Betriebsausflug, wenn die Gezwungenheit der weinseligen Ausgelassenheit wich, gab sein Chef nicht selten angestaubte Kasernenerinnerungen zum Besten. Hauptmann der Reserve. Mit uns wäre kein Krieg zu gewinnen gewesen. Heute eine schwer vorstellbare Situation. Sein Chef in einer knappen Uniform, die über dem Bauch spannte. Er reichte ihm kaum bis ans Kinn. Ein auf die Größe eines Hobbits gedrückter Kommunalpolitiker, der die Angewohnheit besaß, durch ständiges nervöses Wippen auf den Zehenspitzen ein klein wenig mehr an Körpergröße herauszuschinden. Die sich in den letzten Jahren stetig erweiternde lichte Fläche auf seinem Kopf versuchte er durch eine mutig quer gelegte Haarsträhne notdürftig zu kaschieren. Ein Unterfangen, das spätestens seit diesem Frühjahr kaum mehr gelang, da sich auch die ehemals voluminöse Locke langsam verzehrte. Übrig waren noch ein paar lange Flusen, die oft in Erbes Wippstakkato mit auf- und niederschwangen, um danach wirr in alle Richtungen zu stehen.

„Kendziäke, es ist gut, dass Sie schon so früh hier sind. Bei den Temperaturen, die sie für heute angekündigt haben, müsste man sich an den Spaniern orientieren. Siesta von zwölf bis vier und dann eine Spätschicht, wenn es langsam abkühlt.“ Erbes hatte ihn jetzt erreicht. Beide standen sie sich kurz vor Kendzierskis Büro gegenüber. Der Chef wippte nur langsam und kaum merklich in die Höhe. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass nichts Ernsthaftes anstand. Ein sich langsam ausdünnendes Rathaus, weil die ersten Urlaub hatten, noch zwei Wochen bis die große Flucht mit den Schulferien einsetzte. Dann begann Kendzierskis liebste Zeit hier. Ruhe und Stille, kaum Bewegung in den langen dunklen Fluren. Hatte Erbes eigentlich schon angedeutet, wann er mit seiner Frau weg wollte? Zum Wandern in die Berge. Beide im gleichen Outdoor-Outfit mit klappernden Stöcken bewaffnet. So war ihm der Chef mal im nahen Ober-Olmer Wald über den Weg gelaufen. Beide in identischen Trainingsanzügen. Erbes gequält lächelnd und mit einem Stirnband der Krankenkasse geschmückt, das seine luftige Haarpracht zusammenhielt.

„Ich hoffe, Ihre Kleine leidet nicht zu sehr unter der Hitze.“ Erbes sah ihn fragend an.

„Allzu viel Ruhe hat sie ihrer Mutter noch nie gegönnt.“ Kendzierski seufzte. „Außer der einen Nachtflasche, die sie immer zur gleichen Zeit kurz vor Mitternacht bekommt, hat sie keinen wirklichen Rhythmus. Damit hält sie Klara und mich ganz schön auf Trapp. Und sie verfügt jetzt schon über einen ausgeprägten Willen, dem wir uns unterzuordnen haben.“

„Ja, das erste Jahr geht schon an die Substanz.“ Erbes schwieg und setzte für einen kurzen Moment auch das Wippen aus. Ein entrückter Blick über Kendzierskis rechte Schulter in die Tiefe des Rathausflures und in seine eigene Jungvaterzeit. „Aber dafür sind die heutigen jüngeren Väter ihren Frauen eine ganz andere Hilfe.“ Erbes Augen blieben an Kendzierskis Schulter hängen. Der Chef schmunzelte. Kendzierski fiel der schmale, krustig eingetrocknete Spuckstreifen ein, der sein dunkles Polohemd von der Schulter bis zur Brust zierte. Toll. „Ihre Frau kann sich glücklich schätzen.“ Erbes wippte jetzt wieder. „Sie haben aber auch mit Ihrer Klara eine sehr gute Partie gemacht. Ich freue mich mit Ihnen beiden.“ Mit zwei, drei schnellen Bewegungen unterstrich Erbes sein knappes Lob und beendete die kurze außerdienstliche Unterredung mit einem scharfen „So!“, noch bevor sich in Kendzierski ein schwaches schlechtes Gewissen rühren konnte. Die vorgeschobenen Abendtermine, um zumindest ab und an ein wenig zur Ruhe zu kommen. Er hatte schon mehrmals auch seinen Chef als Grund dafür bei Klara angegeben.

„Ich habe vorhin einen Anruf aus der Mainzer Uniklinik bekommen.“ Erbes beschleunigte seine Wippfrequenz. „Der Arzt der dortigen Notaufnahme.“ Er hielt abrupt auf den Zehenspitzen inne. Der Chef reichte ihm in diesem Moment bis zur Oberlippe und sah ihn aus großen Augen an.

Erst jetzt fiel Kendzierski auf, wie sich der Bürgermeister heute gekleidet hatte. Es würde außerordentlich schwer werden, die nächsten Minuten ohne ein lautes Losbrüllen zu überstehen. Erbes‘ Kleiderordnung war eigentlich eine recht übersichtliche: Anzug plus Krawatte, vollkommen losgelöst von allen Jahreszeiten und Wetterbedingungen. Gefürchtet waren die sich daraus ergebenden Kombinationsmöglichkeiten. Der Chef variierte stets bunt und brachte Muster und Farben zusammen, von denen die Modewelt und selbst der Geschmack normaler Menschen Abstand nahmen. Kendzierski versuchte durch einen schmerzhaften Biss in seine Zunge, das sich andeutende breite Grinsen im Keim zu ersticken. Erbes hatte sich heute in einen Zweiteiler gezwängt, dessen zwei dunkle Grautöne so gar nicht zusammenpassen wollten. Die Hose glänzte dazu noch fast silbern. Das war aber alles nur Dekoration für den eigentlichen Höhepunkt, der sich später wie ein Lauffeuer durch das gesamte Gebäude verbreiten würde: Erbes hatte ein neues Hemd. Er trug unter grauem Sakko und gelber Krawatte ein farbenfrohes Hemd in Rot, Grün und Blau, dessen wildes Blumenmuster Kendzierski an ein Hawaii-Hemd erinnerte. Die leuchtend gelbe Krawatte darüber kam ihm bekannt vor. Sie könnte aus dem Kleiderschrank von Rainer Brüderle stammen. Kendzierski spürte, wie ihm die Hitze in den Schädel schoss. Bloß nicht loslachen, nicht jetzt direkt vor ihm. Jürgen von der Lippe oder Norbert Blüm beim rheinischen Karneval.

Erbes, heftiger wippend, gedachte jetzt, in seiner scheibchenweisen Darreichung der brandaktuellen Neuigkeiten fortzufahren. „Die Hitze.“ Er hielt auf den Zehenspitzen inne.

Kendzierski nickte verständnisvoll.

„Die Alten trinken zu wenig. Darauf muss man mehr achten.“

Kendzierski nickte noch einige Male weiter, obwohl er nicht recht verstand, worauf Erbes hinaus wollte. Er hatte von den Alten gesprochen. Natürlich oder doch nicht? Restlos sicher war er sich in diesem Moment nicht mehr. Der Chef würde nie so von seiner Frau reden. Die Alte trinkt zu wenig. Er schüttelte den Kopf. Die vollkommen falsche Reaktion.

„Ich konnte das auch nicht recht glauben. In den Zeitungen hatten sie es ja schon davon. Die Hitze nimmt die Menschen über achtzig ganz besonders mit.“

Kendzierski schnaufte hörbar aus.

„Es sterben viele und der Oberarzt aus der Notaufnahme wollte mich davon in Kenntnis setzen, dass es gerade hier bei uns und in den Dörfern drum herum sehr auffällig ist.“ Erbes schüttelte ungläubig den Kopf. „Er hat auch keine wirkliche Erklärung dafür. Wir sollen ein Auge darauf haben und unsere Möglichkeiten zur Aufklärung nutzen. Das stellt der sich so einfach vor. Wir können doch nicht bei allen alten Menschen über achtzig täglich mehrmals anklingeln und sie ans Trinken erinnern.“ Erbes stand auf den Zehenspitzen und starrte ihn fragend an. Sein Chef im Hawaiihemd und grauem Anzug. Die Reaktion der kommunalen Verwaltung auf den Klimawandel.

„Vielleicht gibt es in den Dörfern einfach nur sehr viele allein lebende ältere Menschen. Gerade in den alten Ortskernen, den alten Bauerngehöften, da wohnt oft nur noch eine Person. Die Menschen trauen sich bei der Hitze kaum vor die Tür. Es fällt also gar nicht auf, wenn man den Nachbarn ein paar Tage nicht zu Gesicht bekommt. Aber ob das als Erklärung ausreicht? Vielleicht ist es einfach auch nur ein Zufall.“

Kendzierski merkte, dass er eben auch gewippt hatte. Das steckte an. Erbes schien es aber nicht aufgefallen zu sein. Der hielt sich eisern auf den Zehenspitzen. „Wir könnten es über die Ortsbürgermeister weiterleiten. Hier am Rathaus und in den Gemeinden ein Aushang. Das sollte reichen. Mehr können wir selber nicht tun.“ Kendzierski zuckte mit den Schultern.

„Das dachte ich mir auch so. Aber unter uns, einen wirklichen Effekt wird das nicht haben. Und ich will mir über den Sommer nicht den Ruf verdienen, dass in meiner Verbandsgemeinde die alten Menschen verdursten. Zumal ein Ende der Hitzeperiode nicht absehbar ist.“ Erbes wippte jetzt wieder schnell. „Nach dem Sommer 2003 gab es eine Deutschlandkarte, die die Häufung der Hitzetoten verzeichnete. Würde mich wundern, wenn so etwas in diesem Jahr nicht auch den Weg in die Zeitungen fände. Und am Ende ist die Verbandsgemeinde Nieder-Olm der deutsche Meister.“ Erbes schüttelte heftig den Kopf und schob sich in gefährliche Höhen. „Wir müssen mehr tun. Das sind wir unseren verdienten alten Mitbürgern schuldig.“

Kendzierski dämmerte schon in diesem frühen Stadium, dass sein Gegenüber bereits etliche Schritte weiter war. Kein offenes Gedankenspiel: Was können wir machen? Was meinen Sie? Wie sollten wir, wo liegen unsere Grenzen? Kendziäke! Der Befehl von vorhin. Still gestanden! Die Sachlage, meine Anweisung, Ihre Umsetzung. Tägliche Berichterstattung, Abtreten! Genau so würde es kommen. Hübsch verpackt in ein scheinbar offenes Frage- und Antwortspielchen. Er konnte sich in diesem Moment mit einer Liste der Meldebehörde ausgestattet durch die verwaisten Straßen Zornheims, Essenheims, Ober-Olms und so weiter ziehen sehen. Den Finger auf der Klingel. Entschuldigen Sie die Störung, was haben Sie heute getrunken? Diesen unter flirrender Hitze hart erarbeiteten Ruf des Jahrhundertsommers würde er bis zur Pensionierung nicht mehr loswerden. Der Getränkebeauftragte der Verbandsgemeinde Nieder-Olm. Ich trinke, aber nur, wenn Sie einen mittrinken. Prost! Er würde besoffen durch die Straßen ziehen und Klara sich von ihm trennen.

Erbes reckte sich, bereit zur Urteilsverkündung. „Kendziäke, die Feuerwehr hat einen Einsatzwagen mit guter Mikrofonanlage.“ Erbes wippte zweimal entschieden. Kendzierski konnte sich selbst schlucken hören. Er wollte eigentlich in diesem Moment den Kopf schütteln. Keimender Widerstand ohne Aussicht auf Erfolg. „Wenn wir das in den nächsten Tagen mehrmals hinbekommen. Es ist ja kein großer Aufwand.“ Erbes lächelte. Reichlich Stolz auf seinem Gesicht. „Ein Fahrer und Sie. Ich denke einmal am Vormittag und einmal am Nachmittag sollte reichen. Und irgendwann muss diese quälende Hitze doch zu Ende gehen.“ Erbes atmete tief ein, weiter auf den Zehenspitzen stehend. Jetzt sah er aus wie der stolze Feldherr. Napoleon war doch auch nicht groß gewesen. In überlegener Pose, mit stolz geschwellter Brust vor dem Hofmaler posierend im Hawaiihemd. Gerne hätte Kendzierski jetzt gelacht. Mehr als ein gequältes Grinsen bekam er in diesem Moment aber nicht mehr zustande.

„Ich lasse die Presse informieren. Das gibt ein schönes Motiv. Wir kümmern uns, wenn die Menschen uns am dringendsten brauchen. Wir sind ganz nahe dran. Kendziäke, Sie werden sehen, unser Beispiel wird Schule machen! Die Feuerwehr ist schon informiert. Der Wagen wird gerade noch betankt. Um elf kann es losgehen.“ Erbes klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Sie kann man gebrauchen. Ein guter Einfall, Kendziäke. Die Getränke gehen auf mich!“

Noch bevor Kendzierski einen einzigen Laut herausbrachte, hatte sich Erbes schon schwungvoll abgewandt und marschierte strammen Schrittes davon.

Wie gerne hätte er jetzt gelacht!

5.

Klaus, was soll das! Lass mich raus. Ich mag das nicht.“ Sie trommelte mit den Fäusten gegen die Bretter der schiefen Tür.

„Hör auf damit!“ Sie schrie und merkte, dass ihr Tränen der Wut über die Wangen liefen. Der Zorn trieb sie zu weiteren Schlägen, die aber nur die Schmerzen verstärkten. Verdammt! Jetzt hatte sie sich auch noch einen Splitter in den Handballen getrieben. Ein Stich, der sie aufschreien ließ.

„Lass mich sofort hier raus. Ich will das nicht!“

Sie verstummte für einen Moment und zog kurz die Nase hoch. Draußen war nichts zu hören. Absolute Stille. Sie schniefte noch einmal. Auf diese Bretter, aus denen die windschiefe Hütte zusammengenagelt war, konnte sie lange eindreschen. Das würde doch nichts ändern. Massives Holz, Abfall zwar aus dem überwucherten Schutt, der hier überall herumlag, aber doch so stabil und dick, dass sie unmöglich mit eigener Kraft wieder herauskommen würde. Ein dummer Scherz das alles? Sie schüttelte den Kopf, mehr für sich, und rieb sich mit der unverletzten Linken die Tränen aus dem Gesicht. „Klaus, bitte, bitte, mach doch die Tür auf.“ Sie schluchzte hinterher, weil sie in diesem Moment spürte, dass das sinnlos war. Ein dummer Jungenscherz? Jemand, der sie beobachtet hatte auf dem Weg hierher und sich einen Spaß daraus machte, sie in der Bude einzusperren. Der konnte was erleben, wenn Klaus gleich hier ankam. Wieder lauschte sie in die Stille. Sie presste ihr linkes Ohr an eine der Ritzen zwischen den Brettern. Nichts zu hören, kein Laut. Grillen zirpten. Ein Vogel kreischte in einiger Entfernung. Sie versuchte, durch den Spalt hindurchzuspähen. Durch den Tränenschleier würde sie sowieso nichts erkennen. Sie zog noch einmal den Rotz hoch. „Du Arschloch da draußen! Melde dich, wenn du noch da stehst!“ Im Halbdunkel, an das sich ihre Augen mittlerweile gewöhnt hatten, langte sie nach ihrem Top und streifte es sich über. Schnell hatte sie auch in der Handtasche die Dose gefunden. Der konnte was erleben, wenn er sich hier reintraute! Verdammt, wo war Klaus? Wenn ihm etwas dazwischen gekommen war und er gar nicht kam? Das war noch nie passiert. Sie langte nach ihrem Handy und drückte zitternd darauf herum. Keine neue Nachricht. Das Knacken ließ sie aufschrecken. Das war direkt vor der Tür gewesen. Erschrocken ließ sie das Telefon fallen. Es landete gedämpft auf der Matratze, genau neben ihrer Handtasche.

„Klaus, bist du das?“ Bebend wartete sie auf eine Antwort. „Klaus, bitte sag doch was.“ Ein kaum verständliches Wimmern waren diese letzten Worte gewesen. Statt einer Antwort konnte sie jetzt deutlich das Brechen dünner, dürrer Zweige hören. Jemand stand direkt vor der Tür, jetzt in diesem Moment. Der musste sie hören können. Ihre Schreie, ihr Schluchzen. Warum gab er denn keinen Laut von sich?

Zitternd, mit rasendem Herzen hielt sie das Pfefferspray in die Richtung, in der sie ihn vermutete. Das Schnaufen war von ihm gekommen, sie hatte es deutlich gehört. Ihr eigener Atem klang anders. In kurzen Stößen sog sie die Luft ein und näherte sich ganz vorsichtig dem Spalt, an den sie vorhin noch Ohr und Auge gepresst hatte. Ihre Hand mit dem Spray war jetzt genau an dieser Stelle. Schnell holte sie noch einmal tief Luft und presste die Augen zusammen. Dann drückte sie den Plastikkopf der Dose fest nach unten. Ein leises Rauschen signalisierte, dass das Spray noch voll funktionsfähig war, obwohl es schon Jahre ungenutzt in ihrer alten fleckigen Lederhandtasche herumgelegen hatte. Das hatte der nicht anders verdient, egal wer sich dort draußen herumtrieb. Zuerst stotternd und dann von einem letzten Gurgeln begleitet erstarb das Geräusch. Fast im gleichen Moment rang sie hektisch nach Luft und riss die Augen auf. Ein brennender Schmerz in ihrem Hals fraß sich rasend die Kehle und die Luftröhre hinunter. Gleichzeitig begannen ihre Augen zu tränen. Sie brüllte heiser in das grelle Licht der offenen Tür. Den dunklen Umriss konnte sie kaum erahnen.

Sie wusste noch nicht einmal, ob er wirklich Klaus hieß.

6.

Ihre Schreie taten weh. Bei jedem Laut, den Laura herausquälte, zog sich etwas in Klara zusammen. Ein Krampf in der Brust, der sich bis in den Magen fortsetzte.

Die Sonne schien herein. Draußen zwitscherten die Vögel wild durcheinander. Stimmen waren dazwischen zu erkennen. Undeutlich nur, weil sie von Lauras Wimmern überlagert wurden. Die holte jetzt erneut Luft. Eine kleine kurze Ruhepause, deren Ende absehbar war. Klara ließ die Hand über die weiche Haut gleiten, vollführte sachte kreisende Bewegungen auf dem Bauch. Richtig hart fühlte er sich an, gespannt und verkrampft. Das Öl tat bestimmt gut, obwohl es noch nie wirklich Wirkung gezeigt hatte. Der Geruch ließ Klara mittlerweile kalt. Anfangs hatte sie sich noch geekelt, weil sie Kümmel nicht ausstehen konnte. Schon als Kind nicht. Die Samen klemmten zwischen den Zähnen fest und sonderten unablässig diesen penetranten Geschmack ab. Das hatte sich so bei ihr eingeprägt, dass sie das Aroma auch dann nicht mehr ausstehen konnte, wenn alles zu feinem Staub zermahlen war. Kümmel gab es nicht in ihrem Haushalt und jetzt rieb sie ihre Tochter mehrmals täglich damit ein, massierte ihren steinharten Bauch, wenn sie sich wieder einmal bei der Verdauung quälte. Laura brüllte. Ein endlos wirkender Schrei aus einem schmerzverzerrten Gesicht.