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Jagoda Marinić weiß, weshalb Kroatien als Reiseland so beliebt ist und wo man im Sommer, wenn die Autokolonnen in den Süden strömen, noch auf »echte Einheimische« trifft. Sie lieben leidenschaftlich Familie, Fitness und Fußball und lassen abends in den weißen Städten die Tradition dalmatinischer Männerchöre hochleben. Die Autorin kennt Geheimtipp-Buchten und kleine Küstenorte jenseits der »Game of Thrones«-Fans. Sie führt in die kreative Szene der Hauptstadt Zagreb; verrät die Magie Istriens; warum in Kroatien das Wasser der Adria so klar ist und selbst viele Italiener lieber hier Urlaub machen. Welche Worte Sie richtig aussprechen können sollten, um von den Kroaten als Sprachgenie gelobt zu werden. Wie Sie sich den Fisch zubereiten lassen sollten – und wie Sie sich für einen Reifenwechsel wappnen. Und nicht zuletzt, warum Marco Polo vielleicht doch Kroate war.
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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deISBN 978-3-492-99052-3 © Piper Verlag GmbH, München 2011 und 2018 Redaktion: Matthias Teiting, Leipzig Karte: cartomedia, Karlsruhe Datenkonvertierung: Fotosatz Amann, Memmingen Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.
Inhalt
Karte
Statt eines ersten Händedrucks
Über autoput und Autobahn
Der Grenzübergang
Streitdorf und Sommerland
Orient und Okzident
Im Land der Regionen
Die Familienmast
Körperkult
Wo geht’s jetzt lang?
Zagreb. Immer ein Stockwerk kleiner als Wien
Oberzagreb und Unterzagreb
Das Museum der gebrochenen Herzen
Die letzten Überlebenden der Wiener Boheme
Die Beer Kings
Der Lebensbrunnen
Die Hauptstadt der Krawatten oder: Wer hat’s erfunden?
Harmlose Großmütterchen mit Zahnlückenlächeln oder Baba Jaga?
Istrien – die Toskana, wie sie früher war
Wer isst heute noch italienisch?
Brijuni – oder Titostalgija
Die Poren von Tilda Swinton
Motovun – der Zauberberg
Poreč und Rovinj
Grožnjan – wo die Musik spielt
Über die Glagolitische Allee nach Hum
Von Rijeka nach …
… Krk und zurück nach Rijeka
Die Dalmatiner und der gepunktete Hund
Apartment-Dealer 1: Grundwissen
Apartment-Dealer 2: Praxisbericht
Meeresorgel – morske orgulje
Die Blaue Grotte
Alfred Hitchcock und der schönste Sonnenuntergang der Welt
U planine – in die Berge
Aufs Rad, ins Kanu, ins Boot! Vom Ende der Faulenzerei
Ništa kontra Splita – nichts gegen Split
JADROLINIJA
Bol – das Goldene Horn
Die Feurigen und die Schmachtenden
Konoba
Jugoplastika – In Jugoslawien gab es nur Tourismus, oder?
Das Hinterland
Pilgern oder: Zur Muttergottes?
Dubrovnik oder: Der Schlag ins Gesicht
Das Theater mit dem Theater oder: »Die Revolution ist tot, es lebe das Huhn!«
Croatian Sensation
Statt eines ersten Händedrucks
Machen wir uns nichts vor: Kroatien ist nicht Italien. Was kein Nachteil sein muss. Denn nur weil es nicht Italien ist, packen Sommer um Sommer jeden August Tausende von Italienern ihre Koffer, um ihren »Ferragosto« an einem kroatischen Strand zu verbringen.
Es ist unter den Bewohnern der beiden Mittelmeerländer längst kein Geheimnis mehr, dass in diesem Teil der Adria die Strömung so verläuft, dass man in Kroatien den Meeresgrund sieht und in Italien die Algen. Die beiden Nachbarländer pflegen eine sympathiegetragene Rivalität, aus purer Lust an Kleinkämpfen und Abgrenzung. Die Italiener brüsten sich damit, einst, als ihre Kaiser und Könige kroatische Küstenorte als Altersresidenzen wählten, die Schönheit ins Land getragen zu haben. Die Kroaten kontern, dass die Schönheit der Natur offensichtlich schon damals auf dieser Seite des Meeres lag. Seit 2005 der beliebte Reiseführerverlag Lonely Planet Kroatien zur Destination of the Year kürte, lassen sich die Kroaten nur noch selten auf solche Diskussionen ein.
Während sich Kroaten und Italiener die Vorzüge des adriatischen Teils des Mittelmeers schon seit Jahrhunderten untereinander aufteilen, war Kroatien für viele Deutsche – bis vor Kurzem – ein weißer Fleck auf der Landkarte der europäischen Nachbarn. Natürlich gibt es einige, meist die in die Jahre gekommenen Eltern meiner Freunde, die früher mit ihrem blauen Käfer Cabrio in die Flitterwochen nach Jugoslawien gefahren sind und die nostalgisch werden, wenn sie meinen Namen hören, weil er Erdbeere heißt und sie an das Eis ihrer verliebten Zeiten erinnert. Doch bei den meisten fiel die Wahl damals auf diese Seite der Adria, weil die italienische noch nicht bezahlbar war. Das Ferienhaus kauften die Eltern meiner Freunde später trotzdem in der Toskana.
Heute sieht das anders aus. Kroatien ist längst nicht mehr das Italien der Armen, vielmehr ist es Italien de luxe. Viele Deutsche bauen sich ein Haus an der Küste. Jahr um Jahr klopfen mehr von meinen deutschen Freunden kurz vor den Sommerferien an meine Tür und beziehen mich in ihre Urlaubsplanungen ein. Meist klingt das so: Wo genau liegt eigentlich Kroatien? Soll ja schön sein, nicht? Richtig mediterran? Ich schüttle den Kopf, gehe zum Schreibtisch, hole meine zerfledderte Landkarte aus der Schublade und breite sie vor ihnen aus. Meist staunen sie in Ahs und Ohs, wenn sie feststellen, dass Kroatien gar nicht neben Rumänien liegt. Sie machen große Augen, wenn sie sehen, wie sich das Land entlang des Mittelmeers zieht wie eine endlose Meeresbucht, so schmal ist der Küstenstreifen, so klein die Inseltropfen, die aus dem blauen Meerwasser ragen und Namen wie Krk, Brač und Korčula tragen. Meine Freunde brechen sich zwar die Zungen beim Vorlesen der Insel- und Städtenamen, doch bald schon glauben sie mir: An keinem Punkt Europas ist das Blau der Karibik so nah.
Kroatien sieht auf der Landkarte aus wie ein Paar Hosen. Darauf wäre ich selbst nie gekommen, darauf brachte mich die Kroatischlehrerin meiner Kindheit. Doch ganz gleich, was ich von diesem eher profanen Bild halte, sobald ich auf die Karte sehe, erkenne ich seither ein Paar Hosen. Das rechte Bein ist das Küstenbein und das linke das Landesbein. Beide zusammen bilden Kroatien. Im Landesinneren zieht sich das linke Hosenbein an Slowenien, Ungarn und Bosnien-Herzegowina vorbei bis ans heutige Serbien. Laut meiner Lehrerin sollen diese Hosen von den Kroaten pantalone genannt werden. Ein Italianismus. Manche erklären sich durch dieses Bild und seine italienische Benennung sogar die emotionale Nähe zu Italien, denn die Küstenkroaten fühlen sich seit jeher als das Hosenbein am Stiefel. Und liegen damit naturgemäß obenauf. Die von Österreich-Ungarn geprägten Nordostkroaten um Zagreb herum wollen in der Landesform partout keine Hose erkennen, sondern ein Kipferl, woran sich bereits das Gefälle zwischen dem Nordosten und dem Süden des Landes ablesen lässt: Im Süden wüsste kein Mensch, was ein Kipferl überhaupt sein soll, während im Nordosten niemand das italienische Wort für Hose auch nur gehört haben will. Dass die Halbinsel Istrien dabei sowohl das Kipferl als auch die Hose sprengt, passt genau ins Bild, denn Istrien ist eine Geschichte für sich. Manche behaupten sogar, es sei ein Märchen. Doch dazu später.
Zunächst zu den Menschen. Kroatien soll nur knapp über vier Millionen Einwohner haben. Unter diesen knapp über vier Millionen, fast alle Kroaten, finden sich immer wieder solche, die bei Europameisterschaften und Weltmeisterschaften fast aller Ballsportarten die vorderen Plätze erobern. Selbst bis nach Übersee, in die weit entfernte Redaktion der New York Times, ist dieses Phänomen vorgedrungen. So schrieb im Vorfeld der diesjährigen Europameisterschaft einer der dortigen Journalisten eine Fußballhymne auf die kroatischen Fans und ihr Team. Denn jeder, wirklich jeder in diesem Team, so der Journalist, wolle Stürmer sein. Was für ein Land, jubelt er, so klein und doch voll von großen Träumern, für die Fußballer sein das eine ist, doch Torschützenkönig das Eigentliche.
Abseits zu stehen ist für Kroaten auch jenseits des Fußballs keine Option. So eilen sie in Zeiten der Euro-Krise allen Hiobsbotschaften zum Trotz der gemeinsamen Währung wie einem Heilsversprechen entgegen. Dass die anderen Mittelmeerländer inzwischen nicht nur geografisch zu den Rändern Europas zählen, interessiert sie nicht. Sie wollen dabei sein. Um jeden Preis. Gleichzeitig ist es ein Land von Individualisten, die sich von niemandem etwas vorschreiben lassen. Das monströse Regelwerk der EU lehnen sie bei jedem Kaffee mit Freunden lautstark und mit heftigen Gesten ab, doch wehe, die EU würde die Mitgliedschaft Kroatiens ablehnen. Der Trainer der Fußballnationalmannschaft, Slaven Bilić, zahlt nach dem Spiel gegen den Lieblingsgegner Italien lieber eine Strafgebühr, als seine Entrüstung darüber zu verschweigen, wie wenig der Schiedsrichter für das kroatische Team getan hat. Ein männlicher Fan stürmt nach dem Spiel gegen Irland den Rasen und kämpft sich durch zum Nationaltrainer. Dieser, zwar überrumpelt und sichtlich genervt, doch nicht unbeeindruckt, belohnt laut YouTube und bösen Zungen die Aktion mit einem Bruderkuss – und das als Trainer von einem als homophob geltenden Land.
Sie sehen schon, die Reise nach Kroatien wird kein leichtes Spiel. Doch Vorsicht, es birgt Suchtpotenzial.
Über autoput und Autobahn
Als Kind ging es für mich jeden gottverdammten Sommer nach Dalmatien. Dieses Dalmatien lag damals in Jugoslawien, das es heute nicht mehr gibt. Wenn die Eltern meiner deutschen Freunde danach fragten, wo meine Familie den Sommer verbrachte, antwortete ich: »In Jugoslawien.« Kaum war mir das Wort Jugoslawien über die Lippen gekommen, hellten sich ihre Augen auf, als hätte ich ihnen mit der Antwort einen Gefallen getan: »Über den autoput, wie wunderbar!« Was genau daran so wunderbar war, erschloss sich mir nie. Wir waren Jahr um Jahr nach über zwanzig Stunden Fahrt einfach nur froh, wenn wir heil in unserem Haus ankamen. Für die Deutschen jedoch war das Stichwort Jugoslawien ganz eng verbunden mit dem Zauberwort autoput, das Erinnerungen an die längst begrabene Abenteuerlust weckte. Sie hielten mir dieses Wort entgegen wie einen Abenteurer-Ausweis: Hier, seht nur, ihr werdet es kaum glauben, aber so waren wir, genau so, als wir noch jung waren und uns verliebt auf den Weg machten, die Welt zu sehen. Die Welt im Land nebenan. »Meeein Gott, der autoput!«, schwärmten sie. Manche holten sogar ihre vergilbten Bilder hervor, auf denen sie, kaum wiedererkennbar, in kurzen Hosen und bemerkenswert schlank, meist an einem alten Käfer lehnten, alles Anfängerglück dieser Welt in den stolzen Gesichtern. »Mensch, was war das schön damals, als wir nach Griechenland gefahren sind …« Oder in die Türkei oder nach Bulgarien. Ich fragte mich, warum die Eltern meiner deutschen Freunde immer bei mir über den autoput ins Schwärmen gerieten, nur um mir wenig später zu sagen, dass sie zwar über mein Land, aber selten in mein Land gefahren sind.
Die erste jugoslawische Autobahn diente den meisten Deutschen nur als Brücke nach Griechenland, die Türkei oder den sonstigen Balkan. Erst als Erwachsene habe ich herausgefunden, dass dieser autoput, von dem sie immer sprachen, mit der kleinen Serpentinenstraße, die in mein dalmatinisches Hinterland führte, nichts, aber auch gar nichts zu tun hatte. Die Autobahn, die sie meinten, zog sich von Zagreb über Serbien tatsächlich bis nach Griechenland. Hätte mir damals einer erklärt, dass der autoput tief über das Inland verlief, hätte ich mich keinen Moment lang darüber gewundert, warum Jugoslawien nur das Brückenland war: Schön, das hatte man mir nämlich früh eingetrichtert, ist es nur am Meer. Vielleicht hätte ich die Eltern meiner Freunde einfach direkt fragen sollen, warum sie nie in Jugoslawien an der Küste Urlaub gemacht haben, sondern jedes Mal so tief runter ans Mittelmeer gefahren sind, aber sie haben die zwei t in autoput so seltsam ausgesprochen. Aus ihrem Mund, mit diesen deutschen Verschlusslauten in der Mitte und am Ende, klang autoput fast wie ein anderes Wort. Au-t-opu-t. Die haben keine Ahnung, dachte ich damals, sonst wüssten sie doch, wie man das richtig sagt. Autoput, das hieß, ganz gleich wie strahlend und wie oft nacheinander sie es aussprachen, nichts anderes als Autobahn. Stellen Sie sich vor, Sie erzählen jemandem von Deutschland, und dieser Jemand steht kurz darauf jubelnd vor ihnen und ruft zig Mal nacheinander strahlend »Autobahn!«. Ja, genau! Sie wüssten nicht, wohin mit sich. Und noch weniger wüssten Sie, wohin mit dem armen Mann oder der armen Frau. So ging es mir. Jahr um Jahr. Zumal »put« wörtlich übersetzt mehr Weg bedeutet als Bahn, was der damaligen Straßenqualität und der Zeit, der es bedurfte, auf ihr voranzukommen, wohl auch eher gerecht wurde.
Der autoput, das war eine lange, berüchtigte Straße in schlechtestem Zustand. Doch lange nicht so schlecht wie die kleinen Landstraßen bei uns im dalmatinischen Hinterland, wo ein Schlagloch das nächste jagte, eine Leitplanke nach der anderen aufgrund diverser Konfrontationen aus der Form geriet. Im Hinterland hatte man nichts vom autoput; schmale Asphaltserpentinen waren der einzige Weg, der ans Ziel führte. In der Dämmerung oder den frühen Morgenstunden war es, als würde man über eine wie von Geisterhand erbaute Straße fahren. Karstige Hügel. Vereinzelt Steinhäuser. Gebirgsketten. Die wahren Abenteurer, davon hatten die Au-t-opu-t-Eltern meiner Freunde keine Ahnung, fuhren immer schon durchs Hinterland, dachte ich. Autoput, das war im Grunde etwas für begradigte Schwächlinge. Und die richtig Lebensmüden? Die fuhren die Küste lang. Auf der Jadranska Magistrala. Von Triest bis Montenegro geht das – theoretisch. Schwindelerregend nah am Meer fährt man die asphaltierten Felsstraßen ab. Man muss sich das etwa so vorstellen, wie man es von den Bildern kennt, die nach dem Autounfall der monegassischen Fürstin Gracia Patricia alias Grace Kelly um die Welt gingen. Auf ihnen sah man die Küstenstraße, die Zypressen und das traumhafte Meer. Genauso schön ist es. Genauso lebensgefährlich. Und genauso gleichgültig gegenüber all jenen, die sich auf diesen Straßen auf den Weg nach Süden machen. Schmale Serpentinen wie im Hinterland schlängeln sich hier über tausend Meeresmeter die Küste entlang. Die Deutschen nennen sie Adria-Magistrale. Ich wollte immer schon lieber die Magistrale entlangfahren als durch das Hinterland. Wer nicht. Magistrale, das hatte etwas Majestätisches, so wie der Blick auf das türkisfarbene Meer. An manchen Stellen sah man in den Felshängen jahrzehntealte Autoleichen, die irgendwann, auf ihrem Weg nach Süden, aus der Kurve gestürzt sein mussten und nie entfernt worden waren. Da lagen sie, diese alten Karosserien wie aus Herbies Zeiten, und kein Mensch interessierte sich für sie. So also, dachte ich damals, konnte es kleinen Familien wie der meinen ergehen, wenn sie vom Norden in den Süden fuhren. Als kleine Familie sah ich uns deshalb, weil die großen Familien für uns meist in den vollgepackten türkischen VWs mit Berliner Kennzeichen saßen, bei denen wir uns ungläubig fragten, wie lange sie wohl schon auf den Straßen waren, das Gepäck bis obenhin gestopft, oft weit mehr als drei Kinder im Auto. Die Sachen, die in den Bus geladen waren, hätten für eine Zweizimmerwohnung gereicht. Zusammengepfercht saßen sie da, wurden von uns überholt und dabei schadenfroh ausgelacht. Mein Bruder und ich lehnten uns nach jedem Überholmanöver stolz zurück, beruhigt, dass es Familien gab, die weit uncooler waren als wir, bei denen das Reisetoilettenpapier sogar gut sichtbar hinter den Fensterscheiben lag und nicht unter dem Deckel des Kofferraums.
Früher, in diesen Zeiten, von denen die Eltern meiner deutschen Freunde schwärmen, da fing Kroatien spürbar an: Sobald ich über die Grenze war, sei es im Bus oder Auto, rumpelten mich die Schlaglöcher fast in den Schlaf. Meist fuhren wir in Deutschland so los, dass wir bei Dunkelheit die Grenze nach Kroatien passierten und bei Sonnenaufgang ankamen, um nicht in der Mittagshitze durch das Land zu fahren. Die Qualität der Straßen ließ mit jedem Meter Richtung Süden nach. Ungeduldig erwartete ich das Holpern, denn Straßenholpern, das war der Anfang vom Süden. Ich spürte, wie mein Kopf mit jedem Loch, mit jeder Unebenheit etwas schwerer wurde und ich im Polster der Rückbank versank. In diesen Schlaglöchern, so wirkte es, hielt sich die Müdigkeit versteckt und kroch mit jedem Aufprall zu uns herauf. Doch kurz bevor mir die Augen zufielen, blendete mich das Scheinwerferlicht eines ungeduldigen Irren, der meinte, gerade jetzt einen weit über dem Tempolimit fahrenden Lkw überholen zu müssen, dabei Kurven und Gegenverkehr seinem ausschlagenden Tachometer unterordnete und mit Vollgas auf unserer Seite der Fahrbahn fuhr. Diese Überholidioten vertrieben mir mit ihren Scheinwerfern den Schlaf, denn irgendeiner musste auf meinen Vater aufpassen, und schon früh war mir klar: Kleine Mädchen haben auf solchen Straßen als Schutzengel über den Fahrer und die nächtlichen Straßen zu wachen. Mein Vater war mit diesen Nachtkamikazen nicht gerade zimperlich, attestierte, nachdem der frontale Zusammenstoß erfolgreich vermieden worden war, den Irren ein amputiertes Hirn, gottlose Lebensmüdigkeit und Egoistenalkoholismus, meist in dieser Reihenfolge. Nur wenig später schien er unbeeindruckt weiterzufahren, während ich mich sichtlich beeindruckt aufsetzte, kerzengerade zwischen ihn und meine schlafende Mutter. So bestarrte ich die Straßen, als könnte ich für ihn vor-sehen, ihm die Sicht freimachen, damit er jeden Irren, der gleich hinter der Kurve oder einem Lkw hervorschießen würde, frühzeitig sah. Noch als Teenager, als ich längst nicht mehr mit meinen Eltern, sondern mit dem Reisebus nach Kroatien fuhr, blendete mich früher oder später einer dieser Irren in die Kerzengerade: Schutzengelstellung. Gedanken an Schlaf undenkbar. Engel schlafen nicht.
Wer heute nach Kroatien fährt, tut dies über eine nagelneue, garantiert schlaglochfreie Autobahn. Nirgends auch nur die geringste Unebenheit im Asphaltboden, nicht einmal bei genauestem Hinspüren. Schon früh nach der Unabhängigkeitserklärung wollte die Regierung das Land durch eine Autobahn einen. So fahren die einstigen Irren inzwischen anständig, fein durch Leitplanken im Zaum gehalten, auf der anderen Seite des autoput, im Vergleich zu früher fahren sie fast schon in einer anderen Erdumlaufbahn. Ich dachte immer, wenn es eines Tages aufhört, auf der Autostraße zu huckeln, würde es nicht mehr die Einfahrt nach Kroatien sein. Es huckelt längst nicht mehr. Die Autobahn, die echte, ist bei uns angekommen und erleichtert das Reisen ungemein. Die Strecke von Zagreb nach Split nennt sich A1. Im Volksmund Dalmatina. Der autoput heißt immer noch autoput mancherorts. In Kroatien eher autocesta. Doch ganz gleich, wie die Straßen heißen, ob sie die Stoßdämpfer einer Prüfung unterziehen oder eher das Gaspedal, noch immer, kurz nach dem Grenzübergang, fängt der wilde Schlag meines Herzens an. Ich könnte schlafen heute, die Irren fahren hinter der Leitplanke und tun einem nichts mehr, doch wieder schlafe ich nicht, weil ich zwar keine Irren, aber durchaus etwas Irres verpassen könnte: den Moment, in dem die Sonne aufgeht und das türkisblaue Meer in den ersten Morgensekunden zwischen den Bergrücken hervorblitzt … In die Kerzengerade. Nur den Schutzengel, den braucht es so nicht mehr.
Der Grenzübergang
Ich möchte Sie zu Beginn, bevor wir weiter ins Land fahren, vorsichtig warnen: Kroatien ist inzwischen nicht mehr nur das Italien de luxe. Es ist zunehmend auch die Türkei de luxe, Barcelona de luxe, Tunesien de luxe und so weiter. Reisebüros am Mittelmeer beschweren sich über die Verschiebung zugunsten des kleinen Landes an der Adria. Inzwischen kommen auf jeden Einwohner sechs Touristen. Und das spült nicht nur Geld in die Kassen, sondern fordert hier und da Geduld, kreative Lösungen und eine Grundtoleranz angesichts von Stränden, die bis in die letzte Ecke mit Handtüchern übersät sind. Manche Touristen legen abends schon ihr Badetuch ans Meer, beschweren es mit Steinen und hoffen, sich so ihren Platz an der Sonne für den nächsten Tag zu sichern. Die Kommunen sind ratlos.
Die Infrastruktur des Landes ist auf einen Bruchteil der Menschen zugeschnitten, die dieses kleine Land jeden Sommer zu beherbergen hat. Das heißt im Klartext: Die Notaufnahmen sind überlastet, die Strom- und Wasserversorgung ist nicht auf die Millionen Gäste eingestellt, und es wird zu Ausfällen kommen. Das alles werden Sie gleich bemerken, wenn Sie ins Land fahren: Der Grenzübergang hat nicht auf Sie gewartet. Zumindest hat er sich nicht auf Sie vorbereitet. Auch die Zahlstellen für die A1 sind nicht so hochgerüstet, dass Sie einfach durchrauschen könnten. Sieben Stunden Wartezeit bei 37 Grad Hitze? Sollten kein Problem sein für Kroatientouristen in der Hochsaison. Jeden Sommerferienanfang dieselben Bilder in den Abendnachrichten: Kolonnen von Touristen stehen bei brütender Sommerhitze stundenlang vor dem Grenzübergang oder den Zahlstellen der Autobahnen. Bitte glauben Sie mir, ich übertreibe nicht, und bereiten Sie sich auf Folgendes vor: Es wird niemand kommen, um Ihnen Wasser zu bringen. Es wird niemand kommen und Ihnen hübsche Fächer mit chinesischen Mustern aushändigen. Es wird höchstens ein Journalistenteam mit Kamera an Ihre Autotür klopfen und Sie fragen, wie es ist, ohne Trinkwasser sieben Stunden lang am Grenzübergang auszuharren. Und wenn das Fernsehteam sich nach Ihrem Wohlbefinden erkundigt, stellen Sie sicher, dass Sie es mit Humor nehmen, um sich in den Nachrichten nicht zu blamieren. Denn jedes Jahr sieht man empörte Touristen, die bei der Einreise völlig unvorbereitet auf die Hitze und Wartezeit schimpfen und diesem Land jegliches Recht absprechen, Teil der EU zu sein. Solche Einreisebedingungen seien eines EU-Landes im 21. Jahrhundert nicht würdig, heißt es dann gern. Die kroatischen Zuschauer (1:6 zwar, aber dennoch!) stimmen entweder mit ein oder werden selbst ungehalten: Ja, hat denn der Tourist im 21. Jahrhundert keine Kühltaschen, keinen Zugang zu Stauprognosen und Wettervorhersage, um sich auf das, was ihn erwartet, vorzubereiten – oder dem Ganzen eben auszuweichen? Erboste Väter, die ihre Wutausbrüche im kroatischen Fernsehen auslassen, sind in der Ferienzeit jedoch Normalität.
Ich möchte hier meinen Leserinnen und Lesern gleich zum Auftakt einen Vorteil verschaffen: Wenn Sie zu dieser Gebrauchsanweisung greifen, müssen Sie sich nicht schon am ersten Einreisetag blamieren. Sie gehen dem gelassen entgegen, planen es ein, bringen ihren Kindern bei, bei Stau den anderen Autos strahlend zuzuwinken. Vielleicht holen Sie sich vorab einen Pass für die Video-Maut, um zumindest an den Zahlstellen schneller zu sein als die anderen. Nehmen Sie ausreichend Wasser und Essen mit für ihre Kinder, und wenn Sie ein Baby an Bord haben, fahren Sie so von zu Hause los, dass Sie nicht zur Mittagshitze an den Grenzübergängen stehen. Wenn Sie tief in den Süden des Landes reisen, ziehen Sie in Betracht, eine Übernachtung in Zagreb einzulegen. Auch Zagreb lohnt sich – und selbst langes Warten dehnt die Reise nicht in die Ewigkeit. Wobei sich aus dem Ärger der Touristen auch immer unterhaltsame Szenen ergeben: Letzten Sommer ging das Video eines einreisenden Vaters viral, der aufgebracht über das fehlende Organisationstalent seines Gastlandes schimpfte. Am Ende des Kurzinterviews sah er hilflos auf sein Baby auf dem Rücksitz und schimpfte in die Kamera: »Kind kaputt!«. Das Interview wurde zum Lacher.
Als Leser dieser Gebrauchsanweisung können Sie ja auf der Seite der Lachenden statt der Verlachten stehen. Daher denken Sie daran: Sie sind inzwischen einer von sehr vielen, die in dieses Land reisen. Kroatien ist kein Geheimtipp mehr, und je früher Sie sich demütig ihre wartenden Leidensgenossen zu Verbündeten machen, desto schöner wird Ihre Zeit in Kroatien werden. Als ich klein war, hatten viele noch Kartenspiele dabei oder Federballschläger im Kofferraum, oder andere Ablenkungen, mit denen man sich die Beine vertreten und Aggressionen abbauen kann. Für manche beginnt der Urlaub in dem Moment, in dem sie sich auf den Weg machen, für andere erst dann, wenn sie angekommen sind. Erstere haben mit Sicherheit mehr Spaß an der Einreise.
Streitdorf und Sommerland
Ich werde Ihnen jetzt natürlich nicht den genauen Namen meines Kindheitsdorfes verraten. Es muss zwischen Autorin und Lesern auch Geheimnisse geben, vor allem deshalb, weil Reisende das, was sie selbst entdecken, am meisten lieben. Daher werde ich Sie durch diese Gebrauchsanweisung für Kroatien lotsen wie durch ein Heiß-Kalt-Spiel. Ich werde Ihnen gerade so viel erzählen, dass Sie fast da sind, sonst müssten Sie ja nicht mehr hin.
Trotz allem sollten Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben und was ich mit dem Land zu tun habe, in das Sie reisen möchten. Sie reisen durch mein Sommerland. Ich habe lange nur die Sommer in diesem Land verbracht, erst die Schulferien, später die Semesterferien. Dann ein halbes Jahr. Und erst sehr viel später die Winter. Es muss ja nicht schaden, dass ich Kroatien vor allem von der Sonnenseite kenne, denn ich vermute, das ist genau die Seite, die zu finden Sie sich aufgemacht haben.
Die Sommermonate, Juli und August, das sind die Monate, die ich am besten kenne. Monate trockener Hitze. Wie oft kam ich aus verregneten deutschen Sommern, den Glauben an Wärme und Hitze fast verloren, im Süden an, und es hieß: Du musst sparsam sein mit dem Wasser, es hat hier seit Monaten nicht geregnet. Seit Monaten nicht geregnet? Das klang wie eine Lüge, ein Ding der Unmöglichkeit, ein Raub an meinem Sommerleben, dachte ich manchmal, wer hatte mir denn dann all den Regen geschickt? So leid es mir tat, um das Land, die Bauern und die Ernte, ich war glücklich über die trockene Hitze, die warmen Nächte und die Flipflops an meinen Füßen.
Das kleine Dorf, aus dem meine Eltern stammen, wurde von der Slobodna Dalmacija, der bekanntesten Zeitung Dalmatiens, als Streitdorf porträtiert, das gab fast den nächsten Streit, doch im Kern der Sache war man stolz, es auf eine Doppelseite gebracht zu haben, ganz gleich, wie unehrenhaft der Anlass war. Der Titel des großen Aufmachers: Ein Dorf im Hahnenkampf. Es gab niemanden, der in diesem Dorf nicht schon bis aufs Blut zerstritten war – nur, um sich kurz darauf mit großen Gesten zu versöhnen. Denn wie sonst sollte man von Neuem streiten?
Das Gezeter begann schon bei den Mitbringseln für die Daheimgebliebenen. Im Sozialismus gab es einiges von dem, was es in Deutschland gab, in Jugoslawien nicht zu kaufen. Und so brachten wir, mal auf Bestellung, mal auf Eigeninitiative, etwas von den Sachen mit, die es nicht zu kaufen gab. Richtige Windeln zum Beispiel, solche, die man nicht waschen musste, sondern wegwerfen konnte. Natürlich hatten wir im Auto nur Platz für eine Packung, es wäre jedoch von Streitdörflern zu viel verlangt gewesen, für so eine banale Tatsache Verständnis aufzubringen. Am wenigsten die jeweils vier Geschwister meiner Eltern, von denen jeder mindestens drei Kinder stolz sein Eigen nannte. Aus unserem bescheidenen Wunsch, eine kleine Freude zu bereiten, entfachte sich ein unbescheidener Familienstreit, eine Familienfehde beinahe, denn es war lautstark zu klären, weshalb die Schwester der Mutter mehr bekam als der Bruder des Vaters … Schon hing in den ersten Urlaubstagen der ohnehin schräge Familiensegen schief.
Wir Kinder flüchteten schnell aus dem Haus und unter die Dorfkinder, waren dabei in diesen zwanzigköpfigen Horden schnell auszumachen, weil wir die einzig pummeligen Kinder auf den Höfen und Straßen waren. »In Deutschland frisst man nur! In Deutschland frisst man nur!«, neckten sie und dichteten uns ganze Lieder über unser vermeintliches Dicksein an den Leib: »Debo debeli …« So fing das Lied für meinen Bruder an: »Dicker Dicker« hieß das. Doppelt hält besser … Und noch besser im Chor. Mit ganz viel Liebe für jedes Gramm Fett zwickten sie ihn in den Bauch. Meist sangen wir mit, denn nach dem Lied wurde laut gelacht und Räuber und Gendarm gespielt.
Neben unserem Dicksein war, unmittelbar damit zusammenhängend, unser Deutschsein ein Phänomen. Als Deutsche galten in Kroatien die Schwaben. Widersprechen Sie also nicht entrüstet, wenn man Sie fragt: »Švabo?« Das heißt so viel wie: »Deutscher?« Der Švabo ist in Kroatien der Deutsche, ganz gleich, ob Sie Bayer, Ostfriese oder Sachse sind, in Kroatien sind Sie Schwabe. Wir Kinder wurden damals JugoSchwaben genannt. Zuerst Jugos, dann Deutsche, also Schwaben, reine Chronologie. Wenn wir in unserem jährlich wechselnden Opel die Dorfstraße hoch zu unserem Haus fuhren, sammelten sich auf dem Kilometer Strecke mindestens zehn Kinder an, die um unser Auto herumhüpften und uns beäugten. Als wir das Auto vor dem Haus abstellten, standen schon zwanzig großäugige Kinder da, um zu sehen, was wir aus dem Kofferraum holen und die Treppen hinauftragen würden. Wir waren die Sommerattraktion, der persönliche Wanderzirkus. Am Anfang hielten sie Abstand, die Zeigefinger oft am Mund, und staunten. Schon ein paar Stunden später war alles wie im letzten Jahr, unsere JugoSchwaben sind wieder da, erzählte man sich im Dorf. Geliebt und beneidet. JugoSchwabe, eine Wortschöpfung, die beides vereinte und mir klarmachte: Du bist eine von »uns« und noch etwas mehr als eine von »uns«. Oder vielleicht doch nur »so ein wenig« eine von »uns«. Keine »Neigschmeckte«, wie meine Schwaben zu mir sagten, sondern eher eine »Nausgschmeckte«? Dieser Blick von innen wie außen ist mir bis heute geblieben. Kroatien war lange ein Sommerland für mich, von dem ich vorwiegend die Sonnenseiten kannte. Ein Kindheitsglück. Das Land hat sich verändert. Jugos gibt es nicht mehr. Aber Schwaben. Ein Teil meiner alten Identität ist mir also geblieben. Die Kroatin ist, wie ihr Land, erst knapp über zwanzig Jahre alt. Und wird in diesem Jahr Mitglied der EU.
Orient und Okzident
Kaum lässt einer in Kroatien das Stichwort Europa fallen, beginnt schon das Reden über Orient und Okzident. Was hat Kroatien wie stark geprägt? Von Deutschland aus könnte man ins Schwärmen geraten: dieses Aufeinandertreffen der Kulturen, die Begegnung mit dem Fremden, die Spuren in der Sprache, Geschichte und Architektur des Landes. In Deutschland. Nicht so in Kroatien. Dort sind die Chancen hoch, nach dieser Frage den ganzen Abend mit nervenaufreibenden Diskussionen zu bestreiten. Sollten Sie auf die Idee kommen, in all das Verbalgezeter um die historischen Wurzeln noch den Balkan ins Spiel zu bringen, müssen Sie um den Erholungsfaktor Ihres Urlaubs fürchten. Ein Kroate wird Ihnen stundenlang, wenn Sie nicht abfahren, auch tage- oder wochenlang, ohne Rücksicht auf historische Fakten eröffnen, weshalb dieser grottenschwarze Balkan erst hinter der kroatischen Grenze beginnt und »Schwarze Katze, weißer Kater« von Emir Kusturica mit der kroatischen Lebenswelt rein gar nichts zu tun hat. »Schwarze Katze, weißer Kater«, das ist ein Film, den nur jene als Film über den Balkan feiern, die vom Balkan nicht die geringste Ahnung haben, wird es heißen, nur für jene, die glauben, wenn der Westen einen serbischen Filmemacher feiert, dann müsse der gut und erfolgreich sein, dabei habe dieser Filmemacher den Film doch nur so gedreht, weil er wusste, mit welchem Bild vom Balkan man im Westen Geld verdient … Ich rate Ihnen, an dieser Stelle des Gesprächs auszusteigen, wenn Sie nicht streiterprobt sind. Kroaten lieben das Streiten. Und machen sich dabei keine großen Sorgen um die Freundschaft: Die akute Ablehnung ist absolut, das Vergessen des Streitthemas auch.
Selbst Altkanzler Schröder wurde verziehen. Der trat – trotz diplomatischer Ratgeber – in genau dieses Balkan-Fettnäpfchen. 2003 bereiste er das Land und erklärte den Beitritt Kroatiens zur Herzenssache. Bundeskanzler Schröder kam, ließ sich nach allen Regeln der Staatskunst hofieren, Kroatien zeigte sich an jeder Ecke von seiner wirklich allerbesten Seite, nur um am Ende des Staatsbesuchs Schröder in den Abendnachrichten Folgendes sagen zu hören: Kroatien ist ein wunderbares Land, es kann auf jeden Fall mit Rumänien und Bulgarien mithalten. Mit Rumänien und Bulgarien? Mithalten? Die Presse lief Sturm, die Kroaten schlugen Alarm: So einer will uns dabei helfen, in die EU zu kommen? Der weiß doch noch nicht einmal, wo der Balkan beginnt. Na ja, das weiß er vielleicht schon. Nur weiß er eben nicht, wo er für Kroaten beginnt: Rumänien und Bulgarien gehören für Kroaten zum Balkan – und Kroatien eben nicht. Nicht für die von außen. Von außen hat bitte niemand festzulegen, dass bei uns, an dieser einmaligen türkiseuropäischen Küste, der Balkan beginnt. Wenn jedoch einer von innen, ein Kroate selbst, sagt: »Hier beginnt der wilde Balkan!«, so ist das ein Statement. Dasselbe Statement aus dem Mund eines Nicht-Kroaten mutiert umgehend zur Beleidigung.
Ich bin einmal in Rumänien in einem siebenbürgischen Dorf einer kroatischen Reisegruppe begegnet und habe zu fragen gewagt, ob sie sich an die kroatischen Dörfer in Slawonien erinnert fühle. Die Antwort: »An unsere Dörfer??? Unsere Dörfer sind New York dagegen … Ach was: Parriiz! Das hier, das ist der lebende Balkan.« Das war nur eine meiner Lektionen über das kroatische Balkanverständnis. Diese Lektion wurde immer wieder – in schönen und weniger schönen Varianten – vertieft. Inzwischen habe ich sie gelernt. Ein Wunder, dass Schröder keinen kannte, der ihn wissen ließ: Kroatien gehört nicht zum Balkan. Schon gar nicht aus seinem Staatsbesuchsmund und vor dem ganzen Land in den Acht-Uhr-Nachrichten. Der Balkan beginnt auf dem Balkan, und der Balkan beginnt immer erst nach dem eigenen Grenzübergang Richtung Osten. Will sagen: Für Kroaten beginnt er in Bosnien. Für Bosnien beginnt er in Serbien. Für Serbien beginnt der wilde Balkan in Rumänien, Bulgarien, Makedonien, Albanien und dem Kosovo. Nicht zu vergessen: In Griechenland. Sie müssen sich das bitte gut merken, wenn Sie keine Lust auf Diskussionen haben oder sich hier und da als Kenner des Landes ausgeben möchten. Man wird Sie nicht ernst nehmen, sobald Sie Kroatien und den Balkan in einem Atemzug nennen. Gleich wird einer ausrufen: Ma kakvi Balkan! Was so viel bedeutet wie: Ach was, wo sehen Sie hier den Balkan? Es wird heißen: Den Balkan, den haben, wenn es ihn überhaupt gibt, die Geschichtsbücher erfunden! Dann wieder, sobald ein Kroate im Straßenverkehr jede zu beachtende Regel missachtet und dies den deutschen Beifahrer ärgern sollte, wird er Ihnen klipp und klar sagen: »Wenn es dich stört, fahr eben nicht zum Urlauben auf den Balkan.« Das klingt für Sie widersprüchlich? Nun, die Nordeuropäer haben die Dialektik der Aufklärung und die Südosteuropäer die Dialektik an sich.
So, mit diesem Wissen kommen wir zur Sprache. Ja, in Kroatien spricht man Kroatisch. Klingt einfach, ist es aber nicht. Als Kroatien noch zu Jugoslawien gehörte, nannte sich die Hochsprache Serbokroatisch. In der SFRJ (Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien) wurden die einzelnen Dialekte und Regionalsprachen zwar gepflegt, Serben malten ihre Buchstaben und Straßenschilder kyrillisch, doch ansonsten schrieb man lateinische Buchstaben und rechnete mit arabischen Zahlen. Das Konstrukt über allen Sprachen nannte sich »Serbokroatisch«. In Kroatien gab es damals schon drei vorherrschende Dialekte, die jeweils über das Fragewort »Was« benannt werden: Ča, kaj und što. Die Dialekte hießen damals wie heute: Štokavica, Kajkavica und Čakavica und wurden jeweils den Regionen zugeordnet. Die Endung kavica dürfen Sie dabei nicht mit dem Morgenkaffee verwechseln …
Besagte Dialekte wurden im Alltag gesprochen, die Standardsprache orientierte sich an der Štokavica. In Büchern und offiziellen Kontexten dominierte das für Jugoslawien geschaffene Serbokroatisch, das die Schnittmenge für alle jugoslawischen Länder war, auch für Slowenien. Die Slowenen sind unter den sogenannten Ex-YU-Ländern insofern eine Ausnahme, als die anderen Staaten untereinander durchaus in ihren Dialekten kommunizieren können, während die anderen mit den Slowenen nur deshalb reden können, weil die Slowenen mit ihnen reden können. Sie mussten in der Schule Serbokroatisch lernen, Slowenisch musste sonst niemand in Jugoslawien lernen. Aber Kyrillisch lesen und schreiben konnten alle.
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