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Kein Aufsatz, keine Szene, keine Geschichte – ein Gedicht an die Dauer, als sei sie ein Lebewesen, etwas Leibhaftiges, als sei mit ihr zu reden. Das Gedicht als ein Angebot, als eine Werbung, als bedürfe es lediglich der Bereitschaft beider, ›ja‹ zu sagen.
Was ist Dauer? Was war sie? Denn sie gründet auf Vergangenem, entsteht, da sich »das flüchtigste aller Gefühle« verflüchtigt hat, in der Gegenwart und wird zur vollendeten Zukunft.
Das Gedicht an die Dauer (Erstveröffentlichung 1986 in der Bibliothek Suhrkamp) ist ein Exerzitium, eine geistige und körperliche übung. Die Dauer ist kein zu erbittendes, zu erbetendes Geschenk, sie ist das Ergebnis, ein Zustand, der sich erreichen läßt.
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Seitenzahl: 26
Peter Handke
Gedicht an die Dauer
Suhrkamp Verlag
Zur Erinnerung an René Kalisky, an dessen verlassener Wohnung ich kürzlich vorbeiging.
Schon lange will ich über die Dauer schreiben,
keinen Aufsatz, keine Szene, keine Geschichte ‒
die Dauer drängt zum Gedicht.
Will mich befragen mit einem Gedicht,
mich erinnern mit einem Gedicht,
behaupten und bewahren mit einem Gedicht,
was die Dauer ist.
Immer wieder habe ich die Dauer erfahren,
im Vorfrühling an der Fontaine Sainte-Marie,
im Nachtwind an der Porte d'Auteuil,
in der Sommersonne des Karstes,
im vormorgendlichen Heimweg nach einem Einssein.
Diese Dauer, was war sie?
War sie ein Zeitraum?
Etwas Meßbares? Eine Gewißheit?
Nein, die Dauer war ein Gefühl,
das flüchtigste aller Gefühle,
oft rascher vorbei als ein Augenblick,
unvorhersehbar, unlenkbar,
ungreifbar, unmeßbar.
Und doch hätte ich, mit ihrer Hilfe,
welchen Widersacher auch immer
anlachen und ihn entwaffnen können,
hätte die Meinung,
ich sei ein böser Mensch,
umgewandelt in die Überzeugung:
»Er ist gut!«,
wäre, gäbe es einen Gott,
das Gefühl der Dauer lang dessen Kind gewesen.
Noch gestern hörte ich auf dem Waagplatz in Salzburg,
in dem Geschiebe und dem Gerassel des immerwährenden Einkaufstags,
eine Stimme wie vom entfernten Ende der Stadt her
meinen Namen rufen,
begriff im selben Moment,
daß ich den Text der Wiederholung,
mit dem ich zur Post unterwegs war,
am Marktstand vergessen hatte,
vernahm, zurücklaufend, jene andere Stimme,
welche vor einem Vierteljahrhundert,
in der Nachtstille eines Außenbezirkes von Graz,
vom entfernten Ende der leeren langen geraden Straße
ähnlich fürsorglich, wie von oben herab, mir entgegenkam,
und konnte da das Gefühl der Dauer umschreiben
als ein Ereignis des Aufhorchens,
ein Ereignis des Innewerdens,
ein Ereignis des Umfangenwerdens,
ein Ereignis des Eingeholtwerdens,
wovon?, von einer zusätzlichen Sonne,
von einem erfrischenden Wind,
von einem lautlosen, all die Mißtöne zurechtstimmenden
und einigenden zarten Akkord.
»Tage währts, Jahre dauerts«:
Goethe, mein Held
und Meister des sachlichen Sagens,
du hast es wieder einmal getroffen:
Die Dauer hat mit den Jahren zu tun,
mit den Jahrzehnten, mit unserer Lebenszeit;
die Dauer, sie ist das Lebensgefühl.
Unnötig vielleicht, zu sagen,
daß keine Dauer ausgeht
von den täglichen Katastrophen,
den sich wiederholenden Widrigkeiten,
den neuaufflammenden Kämpfen,
dem Zählen der Opfer.
Der wie üblich verspätete Zug,
das dich wieder einmal mit dem Pfützendreck
überschüttende Auto,
der dich mit dem einen Finger
über die Straße winkende schnurrbärtige Polizist
‒ an der Stelle des glattrasierten von gestern ‒,
die alle Jahre an einer anderen Stelle
wiederkehrende Stinkmorchel im Gartendickicht,
der dich allmorgendlich anknurrende Nachbarhund,
die mit jedem Winter neu aufjuckenden Kinderfrostbeulen,
die immergleichen Schreckensträume
vom Verlorengehen der Liebsten,
das ewige plötzliche Einanderfremdwerden
zwischen zwei Atemzügen,
das Elend der Heimkunft ins Heimatland
nach deinen Weltforschungsreisen,
jene Myriaden vorweggenommener Tode
in der Nacht vor dem ersten Vogellaut,
die tägliche Attentatsnachricht im Radio,
das täglich niedergefahrene Schulkind,
die täglichen bösen Blicke des Unbekannten:
Das alles vergeht zwar nicht
‒ wird nie vergehen, wird nimmer aufhören ‒,
doch es hat keine Dauerkraft,
es strahlt nicht die Wärme der Dauer aus,
es gibt nicht die Tröstung der Dauer.
Notwendig dagegen, zu unterscheiden:
Auch »des Augenblicks erstaunenswerte Wunder,
die sind es nicht, die das beglückende,
das ruhig mächtige Dauernde erzeugen«.