Gefühle im Unterricht - Klaus Dreymann - E-Book

Gefühle im Unterricht E-Book

Klaus Dreymann

0,0

Beschreibung

Gefühle im Unterricht beschreibt sehr anschaulich und nachvollziehbar, die Wichtigkeit und Verantwortung der Lehrkräfte an den Oberschulen im Umgang mit den Schülern und Schülerinnen des 7. - 10. Jahrgangs vom Beginn bis zum Ausklingen der Pubertät am Beispiel der Erfahrungen eines Lehrers, der das Lehramtsstudium als kaum hilfreich im Hinblick auf den ihn an der Schule erwartenden Realitätsschock erfahren hat. Trotzdem gelingt ihm das "Überleben" vor der Klasse und das Verhältnis zu den Schülern und Schülerinnen entwickelt sich in eine ungeahnte Richtung....

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 206

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für alle Ehemaligen...

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Praxisschock

Meine erste Unterrichtsstunde als Lehrer

Der erste Tag

Das Kennenlernen und der erste Eindruck

Die ersten Wochen

Die gemeinsamen Ängste und die Nestwärme

* Das Überleben vor der Klasse *

Die Unterrichtssituation als Training in kleinen Schritten

*

Die Transparenz und die Berechenbarkeit

*

Der Unterrichtsgegenstand als Mittel zum Zweck

*

Das Loben und der Stolz der Schüler Innen

*

Vom Umgang mit den Gefühlen

*

Kandinsky und das Kaufhaus-Gemälde

Die Pubertät und die besonderen pädagogischen Erfordernisse

Konkurrenz und Leistungsdruck

*

Wandertag und Klassenreise

*

Heraus aus dem Schulgebäude

*

Abbruch von Unterricht

*

Die Distanz und das Duzen

*

Das Tauziehen zwischen Ernst und Spaß

*

Der Wahlpflichtunterricht als pädagogische Nische

*

Die Provokationsmechanismen und die pädagogische Kurzsichtigkeit

*

Affektreaktion

*

Sexualität und Identität

* Die Kunst, liebevoll einen Kaktus zu umarmen

Unterrichtswirklichkeit

Ruhe und Ordnung

*

Rahmenplan und Zensierung, die angeblichen Sachzwänge

*

Die sogenannten kognitiven Fächer

*

Der ewige Dozent

*

Das Desinteresse der SchülerInnen

*

Mangelnde Kreativität

*

Die LehrerInnen als Testobjekte der SchülerInnen

*

Spontanreaktionen Strafmaßnahmen

*

Psychische Prügelstrafe

Konsequenzen

Was sind gute LehrerInnen? *

Sachkompetenz – Erziehungskompetenz – Persönlichkeit

* Die drei Drittel der Kollegien * Pädagogische Spezialisten statt Fachverkäufer *

Nicht jede/r sollte Lehrer/in werden dürfen

*

Utopieziel für die LehrerInnenausbildung

Reste

-

*2

Zitat

Nachwort

Danksagungen

Vorwort

Erwarten Sie keine wissenschaftliche Untersuchung zum Thema Schule, ich bin kein Wissenschaftler.

Studien über die Schule hat es genug gegeben aber sie haben die Schule bisher nicht grundlegend verändert.

Ich versuche die Schule als Insider zu beschreiben, als Lehrer mit knapp vierzig Jahren Praxiserfahrung vor Ort.

Natürlich habe ich während dieser Zeit zahlreiche Untersuchungen zu vielen Themenbereichen rund um Schule und Erziehung gelesen, aus denen ich alle möglichen Erkenntnisse gewonnen habe. (Siehe S. →) Im Laufe eines Lebens schreibt man sich dadurch sein eigenes Buch im Kopf zusammen.

Ich werde aber keine Studien zitieren – ich werde meine Eindrücke, Erfahrungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen aus meinem Unterricht so anschaulich wie möglich wiedergeben........

Praxisschock

Meine erste Unterrichtsstunde als Lehrer, irgendwann im September.

"Guten Morgen, mein Name ist Dreymann, ich bin Euer neuer Gesellschaftskundelehrer" (Ich schreibe den Namen an die Tafel).

Kursbuch aufklappen und die Anwesenheit kontrollieren.

Diese Gedanken füllten seit Wochen mein Gehirn aus.

"Dann nehmen Sie doch mal die Kerngruppe 8.13, die hätten jetzt Geschichte, die Feudalismuseinheit, Herr Kollege" hatte es geheißen.

Das Prinzip hatten sie uns ja an der Universität eingetrichtert: Motivationsphase, dann, auf dem entstandenen Schülerinteresse aufbauend, Wissen vermitteln, Übungs- und Anwendungsphase und zum Schluss den Lernzuwachs kontrollieren.

Fachlich fühlte ich mich sicher.

Fachlich hätten wir als Schüler damals unseren Lehrern auch kaum das Wasser reichen können. Aber es gab eben immer auch Stunden, in denen wir nichts lernten, Krawallstunden wie bei Dr. Grunwald, oder Stunden mit Langeweile oder mit Angst.

Ich wollte das alles anders machen, verständnisvoll sein, "Ihr könnt ja mit mir reden. Wenn Ihr Probleme habt, könnt Ihr zu mir kommen, ich bin doch auf Eurer Seite ..."

Die Klasse würde es schon merken, wenn jemand nett und freundlich ist, außerdem - lange Haare und Jeans sind bestimmt unverdächtig.

Ich hatte Angst.

Mein Stundenentwurf war schon lange fertig und die wichtigen Stellen hatte ich rot umrandet, Phasenwechsel, Methodenwechsel, Medien, Lehrerimpulse.

Ein paar Sätze, die ich sagen wollte, standen vorsichtshalber wörtlich und auch mit rot umrandet da und links die genauen Uhrzeiten. 8 Uhr Begrüßung, Vorstellung und Anwesenheitskontrolle:

"Guten Morgen, mein Name ist Dreymann, ich bin Euer neuer Gesellschaftskundelehrer" (Ich schreibe den Namen an die Tafel). Kursbuch aufklappen und die Anwesenheit kontrollieren.

Ich hatte die Stunde schon ein paar Mal gehalten, in Gedanken, und sie hatte eigentlich jedes Mal geklappt.

Meine Angst nahm deutlich zu, je näher der Tag x kam, eine lampenfiebrige Angst mit merkbar höherem Zigaretten- und Kaffeekonsum.

Um 8 Uhr war ich dran und um 5 Uhr war ich schon wach, ich ging die Stunde noch mal durch mit Zigaretten und Kaffee. Die Arbeitsbögen hatte ich schon lange vorher abgezogen, das Lehnswesen sollte rankommen, eine eigentlich todsichere Sache. Und witzig wollte ich einsteigen mit "Wie hieß denn der Bundeskanzler im Mittelalter?"

Ich fuhr sehr früh los, es hätte ja unterwegs ein Verkehrsstau sein können oder das Auto springt nicht an oder ich finde keinen Parkplatz, nichts von alledem.

Der Hausmeister schloss gerade auf.

Ich hatte noch über eine Stunde Zeit.

Im Raum 5.02.01 sollte alles stattfinden, ich ging schon mal nachsehen, ein Raum ohne Fenster, mit Klimaanlagenrauschen wie im gesamten Gebäude. Alle Stühle ordentlich hochgestellt, Schwamm und Kreide vorhanden, Tafel gewischt, zurück in den Lehrerstützpunkt Gesellschaftskunde.

Die erste Kollegin kam, "Na, ist heute der große Tag? Wird schon werden, wir haben ja alle mal angefangen ..."

Nach und nach kamen die anderen, ich hatte die meisten schon mal gesehen, und unterhielten sich über das Fernsehprogramm, das Wetter oder organisatorische Dinge, holten Kursbücher aus ihren Fächern und stapelten Arbeitsbögen.

Kaffee und Zigaretten.

"Na, geht's heute los? Schon aufgeregt? Die 8.13 haben Sie? Sind nicht ganz pflegeleicht, aber Sie werden das schon machen, toi, toi, toi..."

Schreck, das Klingeln, es ist aber erst Viertel vor, die Schüler dürfen ins Gebäude. Zwei Jungen klopfen an die offene Tür "Ist Herr Hellwig mal da? Wir sollen das Epi holen."

Sie schieben den Rollwagen raus, ganz nett eigentlich, kein Grund zur Angst, denke ich mit trockener Kehle.

Ich nehme die Umgebung nicht mehr im Normalzustand wahr. Nur noch flüchtige Eindrücke, diffuse Gesprächsfetzen, Prospekte von Lehrmittelinstituten auf den Tischen, der Kartenständer, draußen vorbeilärmende Schüler, eine schneidende Männerstimme "Ist hier bald mal Ruhe, sonst könnt Ihr mich mal kennen lernen!" "Wie sieht denn das hier wieder aus, heb' das Papier auf!" "Das war ich aber nicht." "DU HEBST DAS SOFORT AUF !"

Grabesstille draußen. Ein paar Kollegen um mich herum grinsen. Es ist fast acht. Ich nehme mein Kursbuch mit den anderen Papieren darin und gehe mit forschen Schritten raus in den Flur, nach links, fünf drängelnde Klassen vor ihren Räumen mit Schubsereien und ein paar Mappen, die den Weg versperren. Hier und da Beine von Schülern, die auf dem Boden sitzen, ich mache große Schritte darüber hinweg, meine Klasse steht ganz hinten links, sie verhalten sich wie alle anderen auch.

Als ich mit Kursbuch und Schlüssel in der Hand auf ihre Tür zugehe merken sie, was los ist "Wer sind SIE denn?" Ich lächle unecht und schließe auf. Sie toben an mir vorbei in den Raum und reißen die Stühle von den Tischen, ein paar davon knallen hörbar auf den Boden.

Ich schließe die Tür hinter mir, Gedankenfetzen blitzartig und alle durcheinander, schweißige Handflächen, ob sie das wohl merken.....?

Sie müssen das doch sehen, hoffentlich nicht, und die Unruhe in meinem Rücken, ich drehe mich um und suche den Lehrertisch da ganz hinten irgendwo, während ich penetrant freundlich oder leutselig langsam in die Runde blicke, keinen richtig sehe, nur bunte Körperkulissen und Bewegungen, unsicher, wie nach Alkohol aber nicht gelöst, peinlich und nicht ich selbst, wie in der Tanzstunde damals als ich ausgerutscht bin.

Ich bin schon viel näher am Lehrertisch und meine Stundenplanung ist aus dem Kopf, Angst, wir haben damals ein paar neue Lehrer zum Brüllen gebracht, zu Klassenbucheinträgen provoziert, und gerade ich bin so ein Schüler gewesen.

Ich drehe mich zur Klasse, stehe irgendwie ungeschickt schräg, weiß auch nicht genau, warum ich mich nicht setze, bleibe oben, will wohl den Überblick oder dass sie mich alle sehen können und vielleicht Respekt haben, ruhig sind, endlich ruhig sind.

Keine Reaktion, als ob ich nicht da bin. Ich warte wohl erst mal von wegen Beruhigung und Adrenalin, es muss ja jetzt irgendwas passieren.

Sie wühlen über und unter den Tischen und kloppen sich, werfen mit irgendwelchen Sachen, lachen schrill und versuchen sich gegenseitig zu überschreien, blinzeln manchmal in meine Richtung aber ohne irgendein Anzeichen von Erwartung oder Respekt.

Ich nestle an dem Kursbuch herum, als hätte ich da noch was zu erledigen, kann dadurch wenigstens die Augen senken.

Ob das draußen zu hören ist, dieser Lärm? Wo ist der Stundenentwurf, ich stehe immer noch irgendwie da, blätternd, finde ihn dann mit feuchten Fingern, "Guten Morgen, mein Name, ich bin Euer", wie sollen die mich hören, es guckt kaum jemand, ob ich laut werden soll …?

"Guten MORGEN, mein Name ist DREYMANN, ich bin Euer neuer GK-Lehrer" höre ich meinen Mund und stehe schnell mit dem Rücken zu ihnen, schreibe, die Kreide bricht, den Namen, "Wie heißen Sie? Dreifuß, Einmann, Zweifrau", genau wie früher in der Grundschule, oder immer wenn ich in einer neuen Klasse als Schüler meinen Namen sagen musste, Kichern, oder nein, eigentlich meckerndes Lästern.

Ich drehe mich um, es muss ja irgendwann doch mal losgehen und ich habe wohl immer noch das Krampflächeln im Gesicht, bloß nicht zurück-schlagen, nicht autoritär sein, nicht schimpfen, nicht mal böse kucken, nicht so sein, wie die Lehrer und Lehrerinnen damals.

Aber ich bin doch nicht so einer, wieso ist die Klasse dann so, ich will doch freundlich mit denen umgehen, "...hat man Sie mit DEN Haaren überhaupt als Lehrer zugelassen?" Hitze wallt hoch, wie reagiert man jetzt, ich kann mich wenigstens mit meinen Augen an dem Fragesteller festmachen, "Ich bin Euer neuer GK-Lehrer" sage ich und meine Kehle, überhaupt alles im Mund ist trocken, klebt aneinander. Ich setze mich irgendwie beiläufig schräg auf die Tischkante, beuge mich ein bisschen nach vorn, will wohl Zugeneigtheit zeigen, nicht wie es mir wirklich geht. Wenn sie Angst mitkriegen lachen sie mich aus.

Ich muss hier was leisten. Wenn sie Unsicherheit mitkriegen machen sie mich fertig, in der Uni war das immer völlig anders.

Ich bin doch kein autoritärer Lehrer, wenn ich nett bin werden sie mich schon verstehen.

Ich warte immer noch und suche eine Lücke in der Lärmkulisse. Ich will jetzt anfangen. Was mache ich, wenn es keinen stillen Moment gibt? Ich warte unruhig, es steigt Wut in meinen Hals, jetzt nicht ausrasten, nicht alles verderben, oder vielleicht nur mal jetzt am Anfang, damit ich überhaupt was sagen kann, ich kann's ja später wieder zurücknehmen oder ihnen erklären.

Ich darf nicht wütend sein, ich lächle mit Schweiß auf der Oberlippe und eigentlich überall. Einer zieht einem Mädchen den Stuhl weg, muss ich jetzt nicht helfen, sie könnte sich verletzen? Ich klebe am Tisch, mein Oberkörper wippt etwas vor und zurück, sie lachen brüllend schadenfroh über das Mädchen, das sich nun heftig auf den Fußboden gesetzt hat. Sie steht auf und versucht dem Jungen eine zu knallen, er rennt weg über seinen Tisch, kommt in meine Nähe, ich halte ihn fest, am Oberarm, wohl doch mit Gewalt. Das Mädchen erreicht uns und ich flüstere mit beiden, die Klasse starrt gespannt in meine Richtung, was macht der jetzt wohl, ich will kein Aufsehen, flüstere "Jetzt setzt Euch bitte beide ruhig wieder hin ..." hebe dabei wohl die Augenbrauen, "ABER DER HAT ANGEFANGEN" schreit sie, "Du setzt Dich bitte auch hin" versuche ich verzweifelt unter Ausschluss der „Öffentlichkeit“ zu flüstern, "Is ja unjerecht hier, gebense dem doch 'n Eintrag" ..."Ja, sorgense mal für Ruhe..." brüllt von irgendwo einer, lautes Lachen in einer anderen Ecke. Die beiden setzen sich, kloppen sich aber immer noch ein bisschen, das ist jetzt der Moment, denke ich, "Ich bin also Euer neuer GK-Lehrer" und klappe das Kursbuch auf: "Angermann" - "Hier" - "Apitz" - "Hier hängter" - "Böhm" - "Fehlt" schreien mehrere und das Gemurmel schwillt wieder an, "Berger" - ..."BÄRRGÄRR" - eine Mädchenhand zeigt sich - "Bylik" - "BYLITSCH heiße ick !" Lachen, - "Cabriolet" tosender Lärm, Brüllen "Tschabrilo heißt der, können wohl nicht lesen?" Die Tür geht auf, ein Junge stutzt kurz, setzt sich dann hin, die Tür knallt laut zu, "Wer bist Du denn?" - "Wer sind Sie denn?" - ich merke meine Aggressionen immer heftiger - "Jetzt werde hier nicht frech, warum kommst Du erst jetzt?" "Ich musste noch mit Frau Wabke sprechen --!" "So, und wie heißt Du nun?" "Köhler, genannt Schummi, Herr Lehrer!

"Wieder das allgemeine Brüllen, ich versuche es zu ignorieren, "Daberkow" - "Hier" - "Delenschke"-"Hier hängter!"

-"Also jetzt reißt Euch mal `n bisschen zusammen -Dietrichs" -eine Hand - "Greinert" -"Is nich mehr da, is in de Sonderschule jekomm’, oder inne Klapsmühle" - "Könnt Ihr nicht mal ein bisschen leiser sein?" - "Machen Se sich nüscht draus, da ham sich die andern ooch schon dran jewöhnt!" - Höhnisches Lachen "Sehn Se sich lieber vor, wir ham schon janz andere fertich je- macht ... " - "Heinrich" - "Hier hängter" - "Müller" - "Welcher ?" - "Müller, Peter" - "Der kommt immer ne Stunde später, is'n Sozialfall" - "Müller, Wolfgang" - "Jestorben" -- schallendes Meckern -- "Ne, hier bin ick -" - sie machen, was sie wollen, es ist schon eine Viertelstunde um, ich komme mit der Planung nicht mehr hin, die Tür geht auf, knallt bis an die Wand, "Tach Jevat ter, ick musste meiner armen alten Oma noch Wein und Kuchen bringen" –

Mein Schädel platzt fast vor Wut "JETZT WERD'HIER NICHT NOCH FRECH !" "Heißt Du Peter Müller?" - "Richtig, Meister, sind ja ein kluges Kerlchen ... " - ich versuche irgendwas herunterzuschlucken - "Turan" - eine Hand - "Kutluay" - ein Finger - "Weber" - "Hier, icke!" - "Weinstein" --- "WEINSTEIN" - "Ja, ja, is ja jut, dit is so laut hier, man kann ja sein eigenes Wort nich verstehn!" - "Dann seid doch mal leiser --- " "Wörle" - "Fehlt ooch" - "Zeltner" - "ZU BEFEHL!" steht auf und salutiert - "Jetzt lasst mal diese Kindereien ... " "Jetzt werden se nich noch frech!" Wut im Bauch - "ICH SOLL WOHL IN MEINER ERSTEN STUNDE SCHON EINEN TADEL VERTEILEN ?!?!" --"Tun Se sich keen Zwang an, sowat sammeln wir" --- tosendes Gebrüll, Meckern und schallendes Lachen, minutenlang kommt es mir vor, nicht aus der Rolle fallen, es sind ja nur noch zwei Namen auf der Liste, "Ziehran" - "Hier" - "Zorgesheim" - eine Hand, ich klappe das Kursbuch zu und lege den Fehlzettelblock hinten in den Lehrerkalender.

Ich setze mich, fieberhaft überlegend, suche die Unterrichtseinheit, alles durcheinander vor mir auf dem Tisch, die Geräuschkulisse hebt wieder stark an, ich muss mich da irgendwie durchkämpfen, "Greifen Se doch mal durch!", - da ist die Einheit, jetzt müsste ich fragen, wie der Bundeskanzler im Mittelalter geheißen hat, aber ich traue mich nicht. Die nehmen mich nicht ernst, die sitzen hier ihre Zeit ab, benutzen mich für ihre Witzchen, ihre Belustigungsspielereien, ich bin viel schwächer als sie, sie sind in der Überzahl, aber ich bin doch erwachsen, erfahrener, - ich kann doch zeigen, wo es langgeht! Warum lasse ich mir das überhaupt bieten, ich bin doch viel stärker als sie, die Stunde werde ich schon irgendwie überleben, wenn ich sie nicht nach Planung über die Bühne kriege, merkt das ja von den Kollegen keiner, noch fünfundzwanzig Minuten bis zur Pause, wie mache ich das denn jetzt ?

Ich stehe energisch auf, es wird aber trotzdem nicht leiser, "Würdet Ihr mal bitte zuhören?" --- "WÜRDET IHR MAL BITTE ZUHÖREN !!!" ----- "RUHE, JETZT REDE ICH UND SONST NIEMAND !!!" ----- "RUUUHE!"----

Es wird tatsächlich ein merkbares Stückchen leiser und ich bin davon überrascht, blitzschnell muss ich jetzt was sagen, sonst machen die sofort mit ihrem Lärm weiter. Der Bundeskanzler kommt mir jetzt albern vor, in Sekunden rennen diffuse Gedanken durch meine Stirn, Ideen, - schweißnass, alle untauglich, ich verwerfe sie, muss schnell was sagen.

"Also dann fangen wir mal an, „äh, sagt mal, wie hieß denn der Bundeskanzler im Mittelalter?" -

Kichern, Lachen, Meckern, "Höh, höh, sind wohl ein Witzbold?".

Da war der Satz, den ich eigentlich mal sagen wollte und nun doch nicht mehr. Er ist einfach rausgekommen, ich hätte ja auch gar nicht mehr etwas anderes konstruieren können, aber er ist von selbst gekommen, ungesteuert. Die Anspannung setzt mich außerstande, zielgerichtet und kreativ zu denken. Überhaupt - das Denken - diese vollkommen unerwartet massiv vorhandene und lebende und handelnde Kindermasse, die wir nie an der Uni gehabt haben, das Leben in Form von Schülern führte durch ihre Übermotorik und das gleichzeitige Vorhandensein von fünfundzwanzig Individuen, und durch den Umstand, dass sie ja fast alle gleichzeitig irgendwas taten, dazu, dass ich keinen Augenblick zum Denken fand. Ich hätte meinen Kopf in Windeseile ständig hin und her drehen müssen, um ihre Aktionen und Reaktionen zu erfassen.

Schwarmverhalten gegen einen Beutegreifer sichert das Überleben durch ein wirres und im Ernstfall blitzschnelles Auseinanderstieben in möglichst viele verschiedene Richtungen, um den Angreifer zu irritieren und um ihn ins Leere schlagen zu lassen. Beide Reaktionen, das blitzschnelle Zustoßen und das konfuse Auseinanderstieben erfolgen rein instinktgesteuert.*2

Ich sitze immer noch auf der vorderen linken Lehrertischecke mit dem schwitzend gequälten Lächeln und warte, dass irgendwoher eine ernstzunehmende Reaktion auf meine Impulsfrage kommt, irgendwas und sei es noch so dämlich, um einzuhaken, weitermachen zu können. Jetzt bietet mir doch bitte diese Überlebensmöglichkeit. Wie soll ich sonst weitermachen? Ich kann doch die Frage nicht noch selbst beantworten. Dann wäre ich ja wieder am Anfang. Dann hätte ich ja zwanzig Minuten lang sinnlos einem Chaos gedient, alles vielleicht noch verschlechtert. Vielleicht sollte ich einfach rausgehen und noch mal hereinkommen, alles noch mal, - Schnitt - zweiter Versuch, Geschichtsstunde - die zweite - Klappe - Action bitte - oder so ähnlich. Reinen Tisch machen, als sei nichts gewesen ?

"Du da hinten", ich kann ja auch nicht mit ihren Vornamen hantieren, kenne sie nicht, "mit dem blauen Pulli", sie sieht mich nicht an, kann nicht wissen, dass sie gemeint ist.

Ich suche Blickkontakt im Umkreis, wer mir in die Augen sieht ist dran.

Zwei, drei, fünf gucken, aber eigentlich auch nicht zum Rannehmen, eher ablehnend, geringschätzend oder sogar provozierend. Ich blicke den wenigen Sehern abwechselnd in die Augen, ohne Worte, aufforderndes Erwarten.

Nichts außer Unruhe, Geräusche, Stimmen.

Plötzlich eine Hand, ein Arm irgendwo aus unerwarteter Ecke mit daran schlaff herunter hängender Hand!

Ich beuge mich wohlwollend, ermunternd schräg nach links, zeige mit offener Hand, Handfläche nach oben in ihre Richtung. "Bundeskanzler gab es da nicht..."

Während sie spricht suche ich meinen rot umrandeten Folgeimpuls in der Unterrichtseinheit, voller Hoffnung, nervös, geht die Stunde jetzt doch noch --- "Hm, prima, aber wie haben die denn dann ihr Land damals regiert?"

Zwischenruf von Schummi (kam zu spät, ist frech gewesen, schon hat man den ersten Namen gelernt !) "Na, die hatten eben `nen König..." - "Gut, richtig!" - Ich gehe zur Tafel, klappe auf und schreibe oben in die Mitte groß König, also mindestens zehn Zentimeter groß, wie gelernt.

Im Umdrehen sehe ich noch den Rest einer Armbewegung, die sich zurückzieht, und auf dem Teppichfußboden und den Tischen prasselt es. Überall liegen verstreut Gummibärchen herum, die Klasse gröhlt, viele greifen nach den Bärchen, bücken sich, kauen, die Werferin macht auf unbeteiligt, obwohl das anerkennende Gejohle unübersehbar in ihre Richtung geht.

Da ist der erste dicke Konflikt - was mach’ ich nun ? - zeigen, dass ich weiß, wer es war ? - und dann ?

Brüllen ? - Eintrag ? - Tadel ? - Ermahnung ? - Verwarnung ? -geht es dann hart auf hart los mit mir und der Pädagogik ?

Irgendwo ist die Grenze, muss sie sein, wo ist die Grenze ?

Geht es im Unterricht immer an Grenzen - testen sie, wo bei mir die Grenze ist ?

Die Königsvasallen verschwimmen unwichtig im Abseits meiner eigenen Aufregungen, die nah an meiner eigenen Grenze sind -

wo ist meine eigene Grenze ?

Ich entscheide mich für eine Nichtreaktion, vielleicht geht der Konflikt ja noch glimpflich vorbei. Ich will keinen „Grenzkonflikt“, sage irgendwas über das Werfen im Unterricht, über Störung, über Verschmutzung des Teppichbodens, usw.

Jetzt ist die Stelle mit dem kurzen Lehrervortrag dran. Ich erzähle ein paar Minuten lang über die Schwierigkeiten des Königs, ein großes Land zu regieren, besonders was die entfernteren Landesteile betrifft, mit zwischendurch mehrmaligem "Seid doch mal leiser", "Nicht so laut bitte", oder mit demonstrativ eisigem Schweigen in Richtung des jeweiligen Störers.

Sie hören nur zu wenn sie Lust dazu haben, die meisten hören wohl nicht zu. Nur bei Blickkontakten mit einzelnen reagieren diese mit Zuhörerhaltung. Wenn man mir nicht ins Gesicht sieht, bin ich offenbar auch nicht anwesend.

Das Sehen verpflichtet die Seher/innen und zwingt sie in die von mir vorgegebene „Kommunikationsstruktur“.

Deshalb weichen wohl auch viele meinen Blicken aus. Aber wenn ich jemand `im Blick' habe, dann funktioniert er auch als Empfänger. Nur, es sind fünfundzwanzig, und meine Augen wandern nervös zu den Kopfsilhouetten von links nach rechts, und ich will Blicke fangen, verliere dabei die, die ich schon hatte, und die Anzahl der Nichtseher bleibt deprimierend hoch.

Ich stehe hier vorn in einem großen Kreis mit einem Ball in den Händen und suche jemand, dem ich ihn zuwerfen kann, und immer wenn meine Arme eine Wurfbewegung in eine bestimmte Richtung andeuten, dreht sich der damit gemeinte um, weg von mir.

Ich habe das Gefühl, dass ich von allen aus den Augenwinkeln beobachtet werde, obwohl ich manchmal fast nur noch Hinterköpfe sehe und ich bin mir sicher, dass sie es sofort sehen würden, wenn ich mich plötzlich „wegbeamen“ könnte und stattdessen ein „Alien“ weitermachen würde.

Irgendwann bin ich mit meinem Vortrag bis zu den Königsvasallen gekommen und ich sage laut "Königsvasallen" - Kehrtwendung zur Tafel, sekundenkurze Erholungspause durch das Schreibenmüssen - ich schreibe in die Tafelmitte mit Abstand unter den König die Königsvasallen, zehn Zentimeter hoch mit nicht abbrechender Kreide.

Diesmal drehe ich mich instinktiv blitzschnell um und sehe, wie die Werferin von vorhin mit beiden Händen gerade eine große Menge Gummibärchen durch den Klassenraum wirft !

Prasseln, Gröhlen, Bücken, Kauen - ich höre mich ziemlich laut: "Das ist ja eine Unverschämtheit, was denkst Du eigentlich, wer ich bin, habe ich nicht vorhin ausdrücklich gesagt......."

Die Klasse hat plötzlich Interesse, alle blicken in meine Richtung, was jetzt passiert ist abwechslungsreicher als die eigenen Schwatzereien, es muss ja was passieren.

Ich habe es gesehen und alle haben gesehen, dass ich es gesehen habe. Die Werferin, Rita heißt sie, kann sich auch nicht mehr in der Anonymität verstecken.

Der Grenzkonflikt - jetzt haben sie mich da, wo ich nicht hin wollte.

Blitzschnelle Disziplinierungsüberlegungen, ich will nicht wie meine Lehrer reagieren; warum provozieren die mich genauso wie wir das damals getan haben, ich will nicht strafen, durchgreifen, disziplinieren, kein Pauker sein, partnerschaftlich mit ihnen umgehen - diese verdammten....., haben es dann eben nicht anders verdient, wenn ihr es so haben wollt, bitte sehr, ich war immer nett und freundlich zu Euch, meine Schuld ist es ja nicht...

"Also pass mal auf, Rita, ich notier' mir jetzt hier Deinen Namen, und wenn von Dir noch irgendwas kommt, was mir nicht passt, kriegst Du einen Tadel - Ihr seid Zeugen!"

Gemurmel, vielsagende Gesichter überall, Rita schweigt betreten.

Es geht weiter über die Königsvasallen, und Dienst und Treue und Schutz und Treue bis zu den Untervasallen und es kommt mir vor, als ob die Unruhe weniger geworden ist. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein und mein wütender Augenblick hat nur meine Augen und Ohren von einem Druck befreit.

Jedenfalls gibt es bei dem Begriff "Aftervasallen" zwar vereinzelte Gröhler aus der Fäkalsprache aber es ist nicht mehr so, dass die gesamte Klasse sofort mitjohlt.

Ich drehe mich wieder zur Tafel und schreibe Dienst und Treue und Untervasallen und zeichne Pfeile von hier nach da und außen herum die Pyramide. Dann die Überschrift und ich gehe zwei Schritte zurück, um mein Tafelbild zu begutachten. Als ich dabei gegen meinen Stuhl stoße, wende ich den Kopf und - ich glaube es einfach nicht - Rita wirft schon wieder!-

"So, jetzt reicht’s ! - Tadel !!!"

Ich platze fast vor Wut, mache aber äußerlich auf cool.

"Ich hab's Dir ja gesagt, Ihr seid Zeugen gewesen..."

Grabesstille - Rita legt das Gesicht auf die Unterarme auf dem Tisch, ich schreibe in das Kursbuch und lese laut dabei "....trotz mehrfacher Ermahnungen und erhält hiermit einen Tadel."

Plötzlich tosender Beifall, alle klatschen in die Hände in meine Richtung, Rita heult leise.

Mein erster Erfolg, ich fühle mich bestätigt, sie stimmen mir zu, sind einverstanden mit dem, was ich getan habe, ich bade in dem Beifall, versuche mit vorsichtig herunterdrückenden Handbewegungen den Lärm zu beschwichtigen. Ich werde ernst genommen. Ich bin jemand.

Stress fällt ab von mir, ich habe plötzlich verwundert das sichere Gefühl jetzt Unterricht machen zu können, wie es geplant war.

Ich hole die Arbeitsbögen hervor und frage, ob sie jemand verteilen möchte - acht (!) Hände, auch Schummi, er kriegt sie, ich habe so ein merkwürdiges Gefühl von sich verstehen, von Anerkennung-bekommen-wollen-und-haben was Schummi betrifft, und er spielt mit, er verteilt für mich.

Mein Lehrervortrag in schriftlicher Kurzfassung und auf der Rückseite die Lehnspyramide ohne die Begriffe und die Pfeile. "Übertragt mal jetzt bitte das Tafelbild" - alle suchen nach Stiften und Lineal, Rita schluchzt noch leise mit rotem Gesicht.

Es ist zum ersten Mal eine Arbeitsatmosphäre, und Ruhe. Alle schreiben, mein Stress verschwindet, ich gehe herum, sehe über Schultern, bin plötzlich ein Lehrer, kann mich vorbeugen und hilfreiche Ratschläge geben, sie hören mir zu.

Für die Überprüfungsphase bleibt keine Zeit mehr, es ist mir auch egal, ich habe zum ersten Mal das zufriedenstellende Gefühl etwas gegeben zu haben, das nun von einer Klasse verarbeitet wird, das in ihr Wissen aufgenommen wird.

Aber da ist noch Rita.

Sie rührt den Arbeitsbogen nicht an, war die Verliererin in dem Spiel Unterricht.

Bin ich der Sieger ?