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»Gestorben wird alleine, zum Töten des Anderen gehören zwei. Die Fähigkeit des Menschen, seinesgleichen umzubringen, konstituiert vielleicht mehr noch menschliche Geschichte als seine Grundbestimmung, sterben zu müssen.«
Der »gewaltsam Umgebrachten« zu gedenken, gehört zum Kern der politischen Kultur. Reinhart Koselleck hat mit seinen wegweisenden Arbeiten zum »Totenkult« ein neues Forschungsfeld erschlossen: die europäischen Denkmalslandschaften in ihrer ganzen historischen, ästhetischen und politischen Komplexität. Ob es sich um Opfer für das Vaterland oder um solche von Kriegen und Gewaltherrschaft handelt, ob Menschen in Bürgerkriegen und Revolutionen oder durch Staatsverbrechen, politischen oder religiösen Terror umgebracht wurden – alle sind »getötete Tote«. Ohne ihrer zu gedenken, so der Humanist Koselleck, ist ein Weiterleben nicht möglich.
Der Band versammelt Kosellecks Aufsätze zum politischen Totenkult, publizistische Beiträge zu den Debatten über die »Neue Wache« und das Holocaustmahnmal in Berlin, theoretische Überlegungen zum Erinnerungsbegriff und unveröffentlichte autobiografische Notizen über seine Erfahrungen in Krieg und russischer Gefangenschaft. In Distanz zur populären »Erinnerungskultur« betonen sie die Unhintergehbarkeit der Differenz zwischen individueller Erfahrung und kollektiven Erinnerungskonstruktionen. Die Historie soll solche kollektiven Identitäten nicht stiften, sondern kritisch analysieren. Darin liegt für Koselleck die Aufgabe der Geschichtswissenschaft.
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Seitenzahl: 712
3Reinhart Koselleck
Geronnene Lava
Texte zu politischem Totenkult und Erinnerung
Herausgegeben von Manfred Hettling, Hubert Locher und Adriana Markantonatos
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2023
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023
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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
Umschlagabbildung: Neue Wache, Unter den Linden, Berlin, Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (01) Nr. 0194721, Foto: Rudolf Steinhäuser, 1947
eISBN 978-3-518-77574-5
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
I
. Historische Analysen zum politischen Totenkult und zur politischen Ikonologie
Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden
I
.
II
. Der Übergang zur Moderne
III
. Die Funktionalisierung der Todesdarstellung zugunsten der Überlebenden
IV
. Die Demokratisierung des Todes
V
. Schlußbemerkung
Daumier und der Tod
I
.
II
.
III
.
Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne
Zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes. Ein deutsch-französischer Vergleich
I
.
II
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III
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Anhang
Weitere Literatur zu den abgebildeten Denkmälern und Gedenkstätten
Anmerkungen zum Totenkult in Wien
Die bildliche Transformation der Gedächtnisstätten in der Neuzeit
Die Demokratisierung des Reiters. Vom dynastischen zum nationalen Totenkult
I
.
II
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III
.
IV
.
V
.
Der Unbekannte Soldat als Nationalsymbol im Blick auf Reiterdenkmale
Literatur
Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste
I
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II
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II
. Zu bundesrepublikanischen Denkmalskontroversen
Bilderverbot. Welches Totengedenken?
Stellen uns die Toten einen Termin? Die vorgesehene Gestaltung der Neuen Wache wird denen nicht gerecht, deren es zu gedenken gilt
»Mies, medioker und provinziell«
Welches Gedenken?
Welches Gedenken?
Bundesrepublikanische Kompromisse. Die Deutschen und ihr Denkmalskult
Vier Minuten für die Ewigkeit. Das Totenreich vermessen – Fünf Fragen an das Holocaust-Denkmal
Monumentale Beklommenheit
Voreilige Entschiedenheit
Hierarchie der Totenmale
»Denkmäler sind Stolpersteine«
Erschlichener Rollentausch. Das Holocaust-Denkmal im Täterland
Reflexion und Heimatkunde
Die falsche Ungeduld. Wer darf vergessen werden? Das Holocaust-Mahnmal hierarchisiert die Opfer
Alle Opfergruppen wurden von demselben System ausgelöscht
Die Widmung. Es geht um die Totalität des Terrors
III
. Die Subjektivität und Diskontinuität von Erinnerung
Primärerfahrung und sekundäre Erinnerungen
I
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II
.
Das Dritte Reich des Traums. Nachwort
Vielerlei Abschied vom Krieg
Die Diskontinuität der Erinnerung
Gebrochene Erinnerung? Deutsche und polnische Vergangenheiten
I
. Geteilte Erinnerungen. Deutsche und polnische Vergangenheiten, die einander ausschließen, aber auch zusammenführen mögen
II
. Gebrochene Erinnerungen
Gibt es ein kollektives Gedächtnis?
Erinnerungen an das Dritte Reich
Ich war weder Opfer noch befreit
Über Krisenerfahrung und Kritik
IV
. Geronnene Lava. Autobiographische Notizen
Krieg
Gefangennahme
Arbeitslager 1945, Karaganda
Lazarettlager Spassk
Des Herrgotts Butter
Allgemeines zur Gefangenschaft
Heimkehr
Träume
Nachwort Reinhart Kosellecks Analysen zum Nachleben kriegerischer Gewalt im politischen Totenkult
I
. Der gewaltsame Tod als politische Herausforderung
II
. Politischer Totenkult
III
. Diskontinuität der Erinnerung
IV
. Erinnerungen an Krieg und Gefangenschaft – der Überlebende als Augen- und Ohrenzeuge
Editorische Notiz
Textnachweise
Bildnachweise
Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden
Daumier und der Tod
Zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes. Ein deutsch-französischer Vergleich
Die bildliche Transformation der Gedächtnisstätten in der Neuzeit
Der Unbekannte Soldat als Nationalsymbol im Blick auf Reiterdenkmale
Geronnene Lava. Autobiographische Notizen
Begriffs- und Sachregister
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In jüngster Zeit liefen drei Meldungen durch die Zeitungen, die offenbar wenig beachtet wurden. Die erste bezog sich auf ein Denkmal des Ersten, die beiden anderen auf Denkmäler des Zweiten Weltkrieges. In Hamburg versuchten einige Bezirksabgeordnete, eine Inschrift zu löschen, die die Überlebenden des Infanterieregiments 76 ihren Toten gewidmet hatten. Der Spruch stammte von Heinrich Lersch aus dem Jahre 1914: »Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen.« Auf Beschluß des Senats blieb die Inschrift erhalten – als Ansicht einer vergangenen Epoche.[2] Im September 1975 fand in Stukenbrock eine Gedenkfeier statt zu Ehren der Opfer des Stalag 326 VI-K. Dabei kam es vor dem Denkmal für die 65 000 sowjetischen Gefangenen, die auf dem Friedhof beigesetzt sind, und vor zahlreichen Besuchern aus dem Ostblock zu einer Schlägerei mit mehreren Verletzten. Es schlugen sich die Mitglieder der DKP und 12der KPD, die beide das wahre Erbe der Toten für sich beanspruchten. Die deutsche Polizei griff erst ein, nachdem die »Maoisten/Leninisten« vom Friedhof vertrieben waren.[3]
Im Juli 1976 wurde die Museumsbaracke im ehemaligen KZ-Lager Struthof/Elsaß von unbekannten Tätern verbrannt. Am Denkmal (Abb. 1, Struthof im Elsaß, Mahnmal für KZ-Lager), wie die Stifter 1960 gesagt hatten, Symbol für die Flamme des Krematoriums und als aufsteigende Spirale an die ewige Hoffnung erinnernd, war ein Datum aufgepinselt worden: der 27. Januar 1945. An diesem Tag waren – nach der Befreiung – 1100 neue Häftlinge eingeliefert worden, die der Kollaboration mit den Deutschen verdächtigt wurden.[4]
131 Struthof im Elsaß, Mahnmal für KZ-Lager
2 Marburg/Lahn, Grabmal des Landgrafen Wilhelm II. von Hessen, Elisabethkirche
3 Straßburg, Grabmal des Marschalls Moritz von Sachsen, Thomaskirche
4 Schlesien, Denkmal für Gefallene des Befreiungskrieges 1813
5 Waterloo, Preußisches Heldendenkmal
6 Sedan, Ehrenmal für die französischen Gefallenen 1870, errichtet 1897 durch Nationalsubskription
7 Sedan, Inschrift zum Ehrenmal
8 Hamburg-Eppendorf, Kriegerdenkmal des Inf. Reg. Nr. 76 für 1870/71
9 Béziers, Siegesmal für den Krieg 1914/18
10 Wörth, Regimentsdenkmal für 1870
11 Hinderwell, England, Gemeindedenkmal für 1914/18
12 Torgau, Sowjetisches Ehrenmal für 1945
13 St. Mihiel, Gemeindedenkmal für 1914/18
14 Péronne, Gemeindedenkmal für 1914/18
15 Schapbach im Schwarzwald, Gemeindedenkmal für 1914/18
16 Lüttich, Mémorial interallié für die Verteidiger von 1914, errichtet 1937
17 Dixmuiden, Yserturm
18 Buchenwald, Mahn- und Gedenkstätte für das KZ-Lager
19 Neuville-en-Condroz, Ardennen, US-Soldatenfriedhof, Zweiter Weltkrieg
20 Vladslo, Soldatenfriedhof 1914/18, Plastik ›Trauernde Eltern‹ von Käthe Kollwitz
21 Loretto, Ehrenmal für General Maistre und das 21. Armeekorps
22 Posen, Denkmal des 5. Armeekorps für die Schlacht bei Nachod 1866
23 Navarin-Ferme bei Reims, Alliiertes Denkmal und Ossuarium 1914/18
24 Vimy, ›Canadian National Memorial‹ für 1914/18
25 Zell, Niederbayern, Mahnmal für 1939/45
26 Treblinka, Teil des Mahnmals für das KZ-Lager
Alle drei Ereignisse verweisen uns auf einen gemeinsamen Befund. Die Denkmäler, die in die Aktionen einbezogen wurden, leisten offenbar mehr, als nur die Erinnerung an die Toten wachzuhalten, um derentwillen sie zunächst errichtet wurden. – In Hamburg suchten sich Überlebende oder Nachgeborene einer Forderung zu entziehen, die dem Betrachter seit den zwanziger Jahren angesonnen wird. – In Stukenbrock suchten zwei politische Parteien die Erinnerung an den vergangenen Tod der Russen auf heute einander ausschließende Weise für sich zu verbuchen. – In Struthof protestierten, soweit eine Deutung möglich ist, Elsässer gegen einen Denkmalskult, der die Opfer aus ihren eigenen Reihen ächtet, zumindest verschweigt. So verschieden die Reaktionen sind, gemeinsam ist die Herausforderung, die von einem Denkmal ausgeht. Denkmäler jedenfalls der genannten Art, die an einen gewaltsamen Tod erinnern, bieten Identifikationen: Erstens werden die Verstorbenen, die Getöteten, die Gefallenen in einer bestimmten Hinsicht identifiziert – als Helden, Opfer, Märtyrer, Sieger, Angehörige, eventuell auch als 21Besiegte; ferner als Wahrer oder Träger von Ehre, Glaube, Ruhm, Treue, Pflicht; schließlich als Hüter und Beschützer des Vaterlands, der Menschheit, der Gerechtigkeit, der Freiheit, des Proletariats oder der jeweiligen Verfassung. Die Reihen lassen sich verlängern.
Zweitens werden die überlebenden Betrachter selber unter ein Identitätsangebot gestellt, zu dem sie sich verhalten sollen oder müssen. »Mortui viventes obligant«, wie die Blindformel lautet, die je nach den oben angeführten Zuordnungen verschieden besetzbar ist. Deren Sache ist auch die unsere. Das Kriegsdenkmal erinnert nicht nur an die Toten, es klagt auch das verlorene Leben ein, um das Überleben sinnvoll zu machen.
Schließlich gibt es den Fall, der in allen genannten enthalten ist, der aber für sich genommen zugleich mehr oder weniger bedeutet: daß die Toten erinnert werden – als Tote.
Nun sind freilich Totenmale so alt wie die menschliche Geschichte. Ihnen entspricht eine dem Menschen vorgegebene Grundbefindlichkeit, die Tod und Leben ineinander verschränkt, wie auch immer sie aufeinander bezogen werden. Innozenz III. faßte ihre Nachbarschaft in die bekannten Worte: »Morimur ergo semper dum vivimus, et tunc tantum desinimus mori cum desinimus vivere«.[5] Totenmale setzen, bewußt oder nicht, diesen Befund voraus, den Heidegger später als »Sein zum Tode« analysiert hat.
Anders verhält es sich mit Kriegermalen, die an einen gewaltsamen, von Menschenhand verursachten Tod erinnern sollen. Über die Erinnerung hinaus wird die Frage nach der Rechtfertigung dieses Todes beschworen. Hier kommen Faktoren der Willkür, der Freiheit und Freiwilligkeit und ebenso des Zwangs und der Gewalt hinzu, die über den gleichsam natürlichen Tod hinaus legitimationsbedürftig und deshalb offenbar besonders erinnerungswürdig sind. So müßte der Spruch des Innozenz variiert werden: Der Mensch lebt, solange er nicht getötet wird, und erst wenn er aufgehört hat, getötet werden zu können, hat er aufgehört mit Leben. Oder in die Fraktur22schrift der zwanziger Jahre übersetzt, handelt es sich beim menschlichen Sein zum Tod – auch – um ein Sein zum Totschlagen.
Gestorben wird allein, zum Töten des anderen gehören zwei. Die Fähigkeit des Menschen, seinesgleichen umzubringen, konstituiert vielleicht mehr noch menschliche Geschichte als seine Grundbestimmung, sterben zu müssen.
Es wird nicht nur gestorben, sondern ebenso gestorben für etwas. Dabei mag zunächst offenbleiben, wer darüber befindet, wofür gestorben wird: der Tötende oder der Sterbende, oder die Handlungsgemeinschaft, innerhalb derer die Beteiligten oder Betroffenen agieren, oder alle zugleich, wenn auch auf verschiedene Weise. Hier gibt es zahlreiche Varianten, mit denen sich eine historische Anthropologie beschäftigen mag.[6] Sicher ist, daß der Sinn des Sterbens für …, wie er auf Denkmalen festgehalten wird, von den Überlebenden gestiftet wird, und nicht von den Toten. Denn die Sinnleistung, die die Verstorbenen ihrem Sterben abgewonnen haben mögen, entzieht sich unserer Erfahrung. Der früher gemeinte Sinn kann mit der Sinnstiftung der Überlebenden zusammentreffen: dann wird eine gemeinsame Identität der Toten und der Lebenden beschworen. Der Spruch der Thermopylenschlacht wurde von zahlreichen folgenden politischen Handlungseinheiten im Sinne ihrer vaterländischen Moral variiert. Aber die Sinnstiftung ex post kann ebenso den Sinn verfehlen, den, wenn überhaupt, der Verstorbene in seinem Tod gefunden haben mag. Denn der Tod des je einzelnen ist uneinholbar.
So liegt in der Differenz zwischen dem vergangenen Tod, der erinnert wird, und dem optischen Deutungsangebot, das ein Kriegsdenkmal leistet, ein doppelter Identifikationsvorgang beschlossen. Die Toten sollen für dieselbe Sache eingestanden sein, wofür die überlebenden Denkmalsstifter einstehen wollen. Ob es dieselbe Sache ist oder nicht, ist der Verfügungsgewalt der Toten entzogen.
Aber mit Ablauf der Zeit, und das lehrt die Geschichte, entzieht sich die intendierte Identität ebenso der Verfügung der Denkmalstif23ter. Denkmäler, auf Dauer eingestellt, bezeugen mehr als alles andere Vergänglichkeit.
Das ist ein Widerspruch, der sich im Zuge der Darstellung auflösen wird. Die These, die ich historisch ableiten will, lautet, daß die einzige Identität, die sich hintergründig durch alle Kriegerdenkmäler durchhält, die Identität der Toten mit sich selber ist. Alle politischen und sozialen Identifikationen, die das Sterben für … bildlich zu bannen und auf Dauer zu stellen suchen, verflüchtigen sich im Ablauf der Zeit. Damit ändert sich die Botschaft, die einem Denkmal eingestiftet worden war.
Im Maße, als die biologischen Todesursachen wissenschaftlich aufgeklärt und damit die Lebensspannen verlängert worden sind, haben sich – ebenfalls dank der Naturwissenschaft – die Todesarten vervielfacht und die Todesraten durch eine gewaltsame Tötung der Menschen erhöht. Das gilt jedenfalls für die beiden letzten Jahrhunderte, deren Sterbestatistiken überblickbar sind.[7] In diese Zeit fällt auch die Entstehung und Ausbreitung der Kriegerdenkmale, die sich in fast allen Gemeinden Europas finden.
Kriegerdenkmäler bieten Identifikationen, wie sie vor der Französischen Revolution noch nicht geboten werden konnten. Deshalb seien zunächst zwei Hinweise auf Totendenkmale der vorrevolutionären Zeit gestattet. Erstens wurde das außerirdische Jenseits des Todes bildlich angezeigt, der Tod nicht als Ende, sondern als Durchgang gedeutet. Zweitens blieb der dargestellte Tod in der Blickrichtung auf das Diesseits ständisch differenziert, auch wenn er zunehmend individualisiert wurde. Beide Befunde, die grob gesprochen den Zeitraum vom 12. bis zum 18. Jahrhundert umfassen, stehen nun keineswegs im Widerspruch zueinander. Der spätmittelalter24liche Totentanz hatte zunächst keine antiständische Pointe in einem revolutionären Sinn. Jeder Stand einzeln wird gemessen an seiner menschlichen Qualität, die vor dem Tod als dem Gleichmacher sichtbar wird. Die ständische Vielfalt wird vor der Gleichheit des Todes im Diesseits markiert, im Jenseits verschluckt.
Besonders deutlich wird das an den Doppelgrabmalen (Abb. 2, Marburg/Lahn, Grabmal des Landgrafen Wilhelm II. von Hessen, Elisabethkirche), die im 15. und 16. Jahrhundert eine gewisse Verbreitung in Frankreich, England und Deutschland gefunden hatten.[8] Das irdische, aber transpersonale Amt wird auf der oberen Ebene gezeigt, wo der Fürst mit den Insignien der Herrschaft versehen in seiner Amtstracht liegend dargestellt wird. Darunter verfällt sein Leichnam, um die individuelle Seele dem ewigen Gericht freizugeben. Der Fürst repräsentiert als Fürst sein nicht sterbliches Amt, aber auch als Mensch ist der Fürst repräsentativ – für den sterblichen Menschen, für jedermann.
Derartige Grabmäler, die Amt und Individuum getrennt vorführen oder auch ineinanderblenden, waren den Fürsten und Reichen vorbehalten. Soldaten erscheinen bis in das 18. Jahrhundert allenthalben auf Siegermalen, nicht aber auf Kriegermalen. Söldner oder staatlich rekrutierte Soldaten blieben ständisch auf der untersten, eines Monumentes nicht würdigen Stufe angesiedelt. 1727 wehrt sich ein deutsches Handbuch für den Kriegerstand dagegen, daß Soldaten wie Hexen oder Falschmünzer verbrannt würden.[9] Und der alte Fritz rechnete sie zur Hefe des Volkes. Noch bei Königgrätz, also zu einer Zeit, da die Soldaten bereits denkmalswürdig waren, wurden die Toten in Bergstollen abgelegt, und nach Sedan blieben sie dürftig 25zugeschüttet zunächst liegen.[10] Wo hingegen Erinnerungsmale oder Gedächtniskapellen für die Gefallenen errichtet wurden, wie sie uns etwa aus dem Dreißigjährigen Krieg erhalten sind, dort standen sie als Sühnezeichen für menschlichen Frevel. Die christliche Transzendenz des Todes und die ständische Abschichtung des empirischen Todes verwiesen also aufeinander. Der Tod war eine Gelenkstelle zwischen Diesseits und Jenseits, die den Tod sowohl in seinem irdischen wie in seinem außerweltlichen Zusammenhang zu bestimmen erlaubte. Dabei herrschte eine Spannung, in der die Großen monumental verklärt wurden, für die Menge der gefallenen Söldner dagegen Sühnezeichen errichtet werden konnten, ohne daß der Tod der einzelnen erinnert werden mußte.
Die Wende zur Neuzeit läßt sich ebenfalls auf zwei Formeln bringen. Erstens: Während die transzendente Sinnleistung des Todes verblaßt oder verlorengeht, wächst der innerweltliche Anspruch der Todesdarstellungen. Unbeschadet des Befundes, daß christlich eingebundene Totenbilder immer auch eine innerweltliche Funktion hatten – man denke nur an die Grabmäler der Mainzer Erzbischöfe –, ändert sich jetzt die Bestimmung der Gedenkstätten. Ihre innerweltliche Funktion wird zum Selbstzweck. Es entsteht der bürgerliche Denkmalskult[11] und innerhalb dieses Kultes die eigene Gattung der Kriegerdenkmäler. Seit der Französischen Revolution und den Befreiungskriegen nehmen die Totenmale für gefallene Krieger stetig zu. Sie stehen in Kirchen und auf Friedhöfen, aber sie wandern auch 26aus den Kirchen aus, auf die Plätze und in die Natur. Nun ist es nicht nur der Soldatentod selbst, der politischen Zwecken dient, sondern auch die Erinnerung daran wird in politischen Dienst genommen. Das Kriegerdenkmal soll diese Aufgabe erfüllen. Es rückt das Gedächtnis an den Soldatentod in einen innerweltlichen Funktionszusammenhang, der nur noch auf die Zukunft der Überlebenden zielt. Der Schwund christlicher Todesdeutung schafft so einen Freiraum für rein politische und soziale Sinnstiftungen.
Zweitens: Im Vollzug ihrer Ausbreitung werden die Kriegerdenkmale immer mehr der überkommenen ständischen Unterschiede entblößt. Die irdische Dauer, die bisher den Großen vorbehalten war, sollte im Namen aller jedermann erfassen. Der einzelne Gefallene wird denkmalsfähig. Zur Funktionalisierung tritt die Demokratisierung. Die ehedem nur auf das christliche Jenseits bezogene Gleichheit des Todes gewinnt damit einen egalitären Anspruch auch im Hinblick auf die politische Handlungseinheit, in deren Dienst der Tod gefunden wurde. Auf den Gefallenentafeln und -denkmälern werden die Namen aller Toten einzeln, zumindest deren Zahl verzeichnet, um für die Zukunft niemanden der Vergangenheit anheimfallen zu lassen. Diese Art der Demokratisierung erfaßt unbeschadet der besonderen Verfassungsform alle Staaten der europäischen Kultur- und Traditionsgemeinschaft.
Gewiß hat die allgemeine Wehrpflicht die generelle Denkmalsfähigkeit aller Gefallenen gefördert, aber zwingende Voraussetzung ist sie nicht. Das bezeugen die zahlreichen Heldendenkmäler, die in Großbritannien, in einem Lande also ohne Wehrpflicht, für die Kriege in Übersee und den Kolonien errichtet worden sind, kulminierend in den Denkmälern für den Burenkrieg, die den Typus der Weltkriegsmale präformiert haben.
Der Prozeß der Funktionalisierung und der Demokratisierung kennzeichnet also die geschichtliche Abfolge der Kriegerdenkmäler. Sie sollen die politische Sinnlichkeit der überlebenden Betrachter einstimmen auf dieselbe Sache, um derentwillen der Tod der Soldaten erinnert werden soll. Das Ganze ist freilich nur als langfristiger Vorgang zu beschreiben, der sich nach nationalen und konfessionel27len Landschaften verschieden ausfächert und der sich nur mit vielen christlichen Überhängen, Einkleidungen, Erneuerungen oder Relikten aufweisen läßt.
Dabei ist es methodisch besonders schwer, die christlichen und nationalen Elemente auseinanderzuhalten. Der Rückgriff auf das antike und ägyptische Formenarsenal, das seit der Renaissance gebräuchlich wird, später die Verwendung naturaler und geometrischer Zeichensprache gewinnen seit der Spätaufklärung einen Ausschließlichkeitsanspruch, der die christlichen Todesdeutungen bildlich außer Kraft setzt. Wenn im 19. Jahrhundert wieder zahlreiche christliche Zeichen auftauchen, so kann dieser ikonographische Befund dennoch auf einen ikonologisch anders zu lesenden Kontext verweisen. Der Sinnzusammenhang antiker Bildelemente im Zeitalter des Barock pflegt rein christlich zu sein, der Sinnzusammenhang christlicher Bildelemente im 19. Jahrhundert kann in eine andere Richtung weisen, vorzüglich auf die Identitätssicherung für eine nationale Zukunft. Anders gewendet, der ikonographisch sichtbare Befund läßt keinen unmittelbaren Schluß auf seine ikonologische Deutung zu. In jedem Fall sind die Kriegerdenkmäler selber schon ein optisches Zeichen der Neuzeit.
Als Signal der Wende darf das großartige Grabmal des Moritz von Sachsen von Pigalle (Abb. 3, Straßburg, Grabmal des Marschalls Moritz von Sachsen, Thomaskirche) angesprochen werden.[12] Das irdische Ende wird ohne Verweis auf jenseitige Vollendung hingenommen. Der in die Gruft schreitende Marschall hinterläßt als Zeichen ewiger Tugend – die Pyramide, als Zeichen seines Ruhmes – die Trophäen, und er hinterläßt die Überlebenden – als Trauernde. Sie sind vom Tod ihres Führers betroffen, den sie beklagen, ohne daraus Hoffnung schöpfen zu können.
Es gehört zur optischen Signatur des neuen Zeitalters, daß zunehmend die Trauer auf Grabmälern thematisiert wird, unübertroffen etwa von Canova in Wien oder Rom. Seitdem wird der Sinn des To28des auf die Überlebenden zurückbezogen, seitdem treten nichtchristliche Symbole in Konkurrenz zu christlichen, um sie streckenweise völlig zurückzudrängen. Die Darstellung subjektiver Trauer ist nur die private Ausdrucksweise für eine Umdeutung des Todes, die in der politischen Bildwelt den Tod vollends in den Dienst der jeweiligen Handlungseinheiten zu nehmen erlaubte.
Selbstverständlich hat jeder im Krieg oder Bürgerkrieg von Menschenhand herbeigeführte Tod von jeher eine politische Funktion gehabt. Aber im Horizont der christlichen Zweiweltenlehre blieb dem Tod seine innerweltliche Endlichkeit genommen. Erst als die jenseitige Sinnleistung des Todes entschwand, konnte die politische Funktionsbestimmung einen Monopolanspruch gewinnen. Die Kriegerdenkmäler verweisen auf eine zeitliche Fluchtlinie in die Zukunft, in der die Identität derjenigen Handlungsgemeinschaft gesichert werden sollte, in deren Macht es stand, den Tod monumental zu erinnern. Das gilt vorzüglich für jene Ruhmeshallen, Ehrentempel und Supermale, deren Unkosten die Finanzkraft einer Gemeinde oder eines soldatischen Traditionsverbandes überstiegen.
Die lange Reihe der Großdenkmäler des 19. und 20. Jahrhunderts hat nun im Jahre 1808 eine theoretische Begründung gefunden. Sie stammt von William Wood, der eine Riesenpyramide bei London zu erbauen vorschlug, um den Heldenmut der merkantilen Engländer zu stimulieren.[13] Nur die außerordentlichen Maße einer Pyramide könnten die Sinne des englischen Volkes in die richtige Bahn lenken, sich nämlich für ihr Vaterland einzusetzen. Woods Ausgangsdiagnose lautete: »the ordinary feelings of men are not adequate to the pre29sent crisis«. Um die Bevölkerung aus Lethargie und Egoismus zu reißen, komme es darauf an, die Toten des Krieges in eine irdische Unsterblichkeit zu überführen, ihnen »unceasing fame, long duration« zu sichern. Das einzige Mittel sei das Riesendenkmal, »to delight, astonish, elevate, or sway the minds of others through the medium of their senses«. Die dabei entstehenden Unkosten seien gemessen an dem zu erwartenden Gewinn gering: Nur drei Tage Kriegsausgaben seien erforderlich, um durch das Denkmal eine dauerhafte Motivation für den heldischen Tod zu sichern.
Freilich ist die psychologische Steuerungsaufgabe eines Kriegerdenkmals selten so offen formuliert worden, daß sich jede ideologiekritische Aufschlüsselung erübrigt. Erst nach dem Krieg fand der Plan Woods seine erste Erfüllung, in Waterloo, wo von Lütticher Bürgern jene Pyramide mit britischem Löwen errichtet wurde, die heute noch Ausflugsziel von Abertausenden Besuchern ist. Das damalige Identifikationsgebot, den Toten nachzueifern, ist längst entschwunden, der Napoleonkult hat sich mittlerweile in der ikonographischen Landschaft von Belle Alliance mit ihren zahlreichen Denkmälern und Zusatzdenkmälern eingenistet, und alles zusammen wird kommerziell ausgeschlachtet. Anders gewendet, der politische Erfahrungsraum der antinapoleonischen Kriege ist bereits verlassen, der ursprüngliche Funktionszusammenhang der Denkmäler gesprengt worden.
In gleicher Zeitlage wie des William Wood hat August Böckh für Friedrich Wilhelm III. eine Formel geprägt, die von den preußischen Untertanen immer wieder gelesen werden sollte. Sie erscheint zunächst auf den Erinnerungsmalen für die Freiheitskriege, dann sehr viel häufiger und in leichten Variationen auf den Denkmälern der Einigungskriege: »Den Gefallenen zum Gedächtnis, den Lebenden zur Anerkennung, den künftigen Geschlechtern zur Nacheiferung«.[14] 30Die Obelisken, Sockel, Säulen, Kugeln, Kuben (Abb. 4, Schlesien, Denkmal für Gefallene des Befreiungskrieges 1813) oder die der Gotik nachempfundenen Sakramentshäuschen (Abb. 5, Waterloo, Preußisches Heldendenkmal), denen solche Mahnungen eingeschrieben wurden, entziehen sich auch vom Text her – wie die Pyramide – jeder Todestranszendenz in das christliche Jenseits. Text und nachchristliche Formensprache zielen auf die irdische Zukunft des jeweiligen Staates oder Volkes, die kraft derartiger Monumente auf Dauer gestellt werden sollte.
Das änderte sich auch nicht, als das klassizistische und romantische Formenarsenal im letzten Jahrhundertdrittel wilhelminisch oder viktorianisch überwuchert wurde. Immer zahlreicher steigen seit rund 1880 Figuren, Heroinen und Helden auf die Denkmale, die in Deutschland an die Einigungskriege, in Großbritannien an die zahlreichen Kolonialkriege erinnern sollten, um die Zukunft des Reichs bzw. des Empires abzusichern.
31Freilich sind Sprüche wie die von Wood oder Friedrich Wilhelms III. nach den Millionenverlusten des Ersten Weltkrieges nicht mehr vorbehaltlos zitierfähig geblieben: … den Kommenden zur Nacheiferung. Gleichwohl bleibt auch den Denkmalen nach 1918 ihre politische Funktion erhalten: Auch sie verkünden ein Identifikationsgebot. Die Toten verkörpern eine vorbildliche Haltung, sie starben für eine Aufgabe, mit der sich die Überlebenden im Einklang befinden sollen, um die Gefallenen nicht umsonst[15] gefallen sein zu lassen. Das gilt für alle Lager, und deshalb ist es nicht verwunderlich, daß sich das Formenarsenal, von bezeichnenden diachronen Verschiebungen zwischen den Feindstaaten abgesehen, durch alle Länder hindurch hält. Wenn man von den besonderen Identitätssignalen der Uniformen und Helme absieht, bleibt der Motivschatz der Denkmäler erstaunlich gleichförmig.
Das läßt sich nun – streckenweise – auch für die getrennten Lager der Sieger und der Besiegten zeigen. Wenn die Sieger eo ipso Ruhm und Ehre für sich beanspruchen dürfen, weil der Erfolg sie abschirmt, so nicht minder die Verlierer. In Sedan steht ein Denkmal – eines der relativ wenigen in Frankreich für 1870/71 –, das stilistisch den deutschen Sieges-Kriegermalen für 1871 zur Gänze gleicht (Abb. 6, Sedan, Ehrenmal für die französischen Gefallenen 1870, errichtet 1897 durch Nationalsubskription). Ein Genius bekränzt den tapferen Soldaten, und auf dem Sockel steht die Versicherung: »Impavidus numero victus« (Abb. 7, Sedan, Inschrift zum Ehrenmal). Theodor Mommsen kann die Inschrift noch nicht gekannt haben, als er 1874 den romanischen Völkern bescheinigte, »in Ermangelung von Siegen die Anniversarien der Niederlagen und die glorreichen Besiegten mit solchem Rausche zu feiern«.[16] Wir Deutschen hätten da32zu kein Talent. Mommsen hat vermutlich die politische Funktion verkannt, die dem damaligen Denkmalsrausch innewohnte. Jedenfalls half das Denkmal von Sedan, die Niederlage moralisch zu verarbeiten, und so konnte es kraft einer Inversionslogik auch aus der Niederlage zur Identifikation mit dem Vaterland herausfordern, für das der Tod erbracht worden war. Die deutschen Denkmalsschöpfer sind nach 1918 auf dieser Bahn gefolgt. Wenn schon kein Siegesengel mehr aufgestellt wurde, so blieben doch die nackten Jünglinge des ver sacer und die liegenden oder trauernden Soldaten in Uniform gelegentlich unter das bekannte Motto gestellt: »Im Felde unbesiegt«, wie es in Oerlinghausen umschrieben wurde.[17] Dies freilich ist ein Spruch, der auf den Friedhöfen der ehemaligen Feindstaaten nicht 33angebracht werden konnte. So herrscht eine bezeichnende Dichotomie zwischen den Heldenmälern nach 1918 zu Hause und den Denkmalsthemen und den Friedhofsinschriften, die im ehemaligen Feindesland angebracht werden durften: »Hier ruhen deutsche Soldaten«. Derselbe Tod wurde auf verschiedene Weise identifiziert, der gemeinsame Erinnerungsraum war zerbrochen – je nachdem, welches Denkmal wo stand und wie sprach. Schließlich wird deutlich, was nach 1945 offenkundig geworden ist, daß die Niederlage eher den Tod als solchen zu erinnern geneigt macht, als ihn mit weiteren Sinnleistungen zu befrachten. Auch daran läßt sich das Ende einer langen nationalen Identifikationskette ablesen. Heute wird aus politisch-moralischen, aber auch aus Kostengründen auf jedes figürliche Denkmal für Kriegerfriedhöfe im Ausland verzichtet.
Wenn eben die Rede davon war, daß der Motivschatz der Kriegerdenkmäler, unbeschadet der Anlässe und Gegnerschaften, seit der Französischen Revolution erstaunlich gleichförmig blieb, so läßt sich daran eine gemeinsame optische Signatur der Neuzeit ablesen. Sie reicht durch die meisten der europäischen Länder, deren Denkmale unter dem Vorgebot der Nationalstaatsbildung oder -erhaltung entstanden sind. Oft ist die figurale Gestaltung der Denkmäler einander so ähnlich, daß erst die Inschrift allein eine Deutung zuläßt. So gleichen zahlreiche Schweizer Denkmäler für die während der Weltkriege verstorbenen Soldaten zur Gänze den gleichzeitigen deutschen, teils weil kein Sieg zu feiern, teils weil der Schweizer Stahlhelm dem deutschen ähnlich war.[18] Nur die Inschrift vermag bei identischer Stillage den speziellen Sinn zu stiften.
Andererseits finden sich formale Ähnlichkeiten, die sich über die Zeit hinweg halten, aber von Land zu Land springen. Die Denkmalsgeschichte verläuft dann in diachronen Phasenverschiebungen. Je nachdem der Sieg weiterwanderte, entstanden Kriegerdenkmäler als Siegermale, deren Formenschatz – unbeschadet der Entstehungsdaten – verblüffend gleich bleibt (Abb. 8, Hamburg-Eppendorf, Krie34gerdenkmal des Inf. Reg. Nr. 76 für 1870/71; Abb. 9, Béziers, Siegesmal für den Krieg 1914/18; Abb. 10, Wörth, Regimentsdenkmal für 1870; Abb. 11, Hinderwell, England, Gemeindedenkmal für 1914/18; Abb. 12, Torgau, Sowjetisches Ehrenmal für 1945). Auch stilistisch scheint hier die Zeit fast stillzustehen. Es gibt eine diachrone Reihe analoger, fast identischer Kriegermale, die von Deutschland 1871 über England 1902/1918 und über Frankreich 1918 nach Rußland 1945 reicht. Immer wieder tauchen dieselben Genien, Heroinen, Adler bzw. Hähne bzw. Löwen auf, Palmen, Fackeln, Helme und Trophäen jeder Art, die nicht nur den Sieg erinnern und die Opfer, die er gekostet, sondern in eins damit ein Anschauungsmuster politischer Schulung setzen sollen.
Offensichtlich ist das Repertoire europäischer Siegessymbole endlich begrenzt, verleitet von Land zu Land zu ähnlichen Geschmacksbildungen, die unabhängig von sonstigen Entwicklungen der bildenden Künste abrufbar bleiben. Jedenfalls muß eine politisch-sinnliche Empfangsbereitschaft vorausgesetzt werden, die in den verflossenen hundertfünfzig Jahren vergleichsweise homogen blieb, wenn die diachrone Reihe der Siegermale wirken sollte.
Im ganzen erleichtern freilich Siegermale die Identifikation, die von ihnen ausgestrahlt wird. Der Gegner wird nicht gedacht, es sei denn als Besiegte, deren Niederlage aber meistens hinter allegorischen Attributen oder verbalen Allgemeinformeln versteckt wird. Selbst der Tod der eigenen Angehörigen wird dann verschluckt: »Death is swallowed up by Victory«, wie es mit 1. Kor. 15,55 nach 1918 auf Siegesmalen britischer Gemeinden heißt,[19] wobei die nationale und die paulinische Lesart eine unlösliche Verbindung eingegangen sind.
Unbeschadet der weitreichenden formalen Gemeinsamkeiten aller Kriegerdenkmäler gibt es natürlich eine Reihe von nationalen Besonderheiten, deren spezielle Identität ja die meisten der Denkmäler hervorrufen sollen. So gering die Unterscheidungskriterien in der Formensprache der Denkmäler sein mögen, so wirksam werden sie 35durch ihren besonderen Einsatz und ihre statistische Häufung. Es ist auffällig, daß in Frankreich nicht nur die Jeanne d'Arc als männlich-weibliches Symbol häufig auftaucht, was in den voluminösen Germanien oder Bavarien kaum eine Entsprechung findet. Frankreich geht nach dem Ersten Weltkrieg noch weiter: Hier wird das Familienschicksal (Abb. 13, St. Mihiel, Gemeindedenkmal für 1914/18), die verlassene Frau (Abb. 14, Péronne, Gemeindedenkmal für 1914/18), werden die Witwen und Waisen, die Zurückgebliebenen und die Eltern der Gefallenen gern in Stein gehauen oder Erz gegossen und auf den Sockel erhoben. Ähnliche Darstellungen, die die Wirkungen des Krieges bis in das Haus hinein verfolgen, finden sich in Deutschland (Abb. 15, Schapbach im Schwarzwald, Gemeindedenkmal für 1914/18), soweit mir bisher das Urteil möglich ist, weniger oft[20] und weniger repräsentativ, etwa auf erzählenden Reliefplatten, angebracht.
Selbstverständlich bedienen sich – und das gilt für alle Länder – verschiedene soziale und politische Gruppen der Denkmäler, um sich ihrer je eigenen Tradition zu vergewissern, indem sie den Sinn des vergangenen Todes für sich beanspruchen. So ist das graue Ossuarium beim Fort Douaumont, eine Mischung von Krypta und Bunker, eingelassen in die Hagiographie der katholischen Kirche, die den gefallenen Soldaten den Aufstieg in den Himmel bildlich zusichert. Demgegenüber dient das historisierende und festungsartige Großmonument in der Stadt Verdun der republikanischen Tradition, noch einmal im Unterschied zum Denkmal der Stadtgemeinde, die ihre Soldaten zu einer undurchdringlichen Mauer zusammengeschlossen darstellen ließ.
Vollends gespalten sind die Identifikationsangebote, die von den Großdenkmälern in Belgien ausgehen. Das wallonische Ensemble von Kirche, Turm und Aufmarschstätte in Lüttich – zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg errichtet – ist von Gras und Moos überzogen und wird offenbar nicht mehr staatskultisch verwendet (Abb. 16, Lüttich, Mémorial interallié für die Verteidiger von 1914 er36richtet 1937). Anders das Denkmal in Dixmuiden, das – von Wallonen nach dem Zweiten Weltkrieg gesprengt – 1965 größer und höher wiedererrichtet wurde (Abb. 17, Dixmuiden, Yserturm). In zäher Ausdauer haben die Flamen durchgesetzt, daß ihr Mahnmal nicht nur ihre völkische Identität einklagt, sondern daß es als Unterpfand des Pazifismus zugleich alle Minderheiten der Welt zu erinnern und zu vereinen dient. Hier liegt ein Identifikationsangebot vor, das die nationalstaatlichen Grenzen sprengt und eine kultische Fortentwicklung über den Anlaß des Ersten Weltkrieges hinaus ermöglicht.[21]
Umgekehrt haben sich die russischen Sieger von 1945 in Ostdeutschland als Befreier dargestellt, demzufolge der deutschen gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkrieges nur per negationem gedacht wird. Hier wird eine doppelte Funktion der Kriegerdenkmale deutlich, nämlich die Geschichte der Sieger so fortzuschreiben, daß sie zu Beschützern der Besiegten werden und deren ehemaligen Status der Vergessenheit überantworten. Das reicht so weit, daß selbst das zentral gelegene Mahnmal für die Opfer des Konzentrationslagers Buchenwald – von Cremer (Abb. 18, Buchenwald, Mahn- und Gedenkstätte für das KZ-Lager) – das Überleben thematisiert, nicht aber den Massentod.[22] Unter den Überlebenden herrschen die Mitglieder der KP vor, während die anderen, numerisch weit zahlreicheren Häftlinge in die Ecke rücken. So herrscht im Denkmal die Ungleichheit der Überlebenden über die Gleichheit der Toten, von der die Gesamtanlage zeugt. Der vergangene Tod wird vollends zur Funktion des Sieges, der mittels einer historischen Sichtblende auf Dauer gestellt werden soll. Deshalb geht es um bewußten Ausschluß 37der anderen, um Verdunkeln oder Verschweigen – ein Verfahren, das mehr oder minder von allen Sieges-Kriegerdenkmalen eingehalten wird.
Die US-amerikanischen Erinnerungsmale zeichnen sich zunächst durch glanzvollen Schliff und teure Materialien aus, darin, im Unterschied zu anderen Staaten, den britischen Denkmälern nach 1918 am ähnlichsten.[23] Inhaltlich zeigen sie in den Krypten und Gedenkhallen (Abb. 19, Neuville-en-Condroz, Ardennen, US-Soldatenfriedhof, Zweiter Weltkrieg) auf marmornen Tafeln, daß der vergangene Kampf, ganz manichäisch, ein Kampf nur von Gut und Böse gewesen ist. Es sind Siegermale ohne sichtbaren Feind, der Feind wird in das Nichts der schwarzen Farbe getaucht, das vom Gold der Sieger verdrängt und überstrahlt wird.
Genug der Beispiele für nationale Sonderungen, die trotz des beschränkten Formenarsenals, das allen gemeinsam ist, eine hinreichende Identifikation der jeweiligen Völker ermöglichen.
Nur kann freilich, quer durch alle nationalen Unterschiede und entgegen einer Aufspaltung in sieghafte und sieglose Kriegerdenkmäler, nicht geleugnet werden, daß kein Monument in seiner politischen Funktionsbestimmung aufgeht. Mag noch so sehr das Sterben für etwas thematisiert werden, aus dem die jeweilige Gruppenidentität ableitbar ist, immer wird auch das Sterben selber mit gemeint.
Aufs Ganze gesehen fällt allerdings auf, daß der Vorgang des Sterbens auf den Denkmälern gerne ausgespart wird. Dabei mag man sich auf die Einwände berufen, die sich gegen eine plastische Wiedergabe des Transitorischen richten, aber für zahlreiche Denkmäler darf die Vermutung geäußert werden, daß die Erinnerung des Sterbens für …, des Sterbenmüssens zu stilistischen Selbstbeschränkungen herausfordert. Es liegt immer eine übergreifende, den Tod des einzelnen übersteigende Legitimation des Soldatentodes vor, wenn schon 38das Sterben selber selten oder gar nicht auf den Denkmälern festgehalten wird. Zum überwiegenden Teil wird der Tod verklärt, aber nicht als Tod der einzelnen, sondern ihr Tod in großer Zahl, die in den politischen Funktionszusammenhang eingerückt wird. Soundso viel zogen aus und soundso viel kehrten nicht mehr heim, wie in Deutschland nach 1918 die Inschrift gern stilisiert wurde, besonders auf Regimentsdenkmälern, die eine zusätzliche soldatische Identität zu erhalten dienen sollten.
Aber was verschlugen derartige Kontinuitätsstiftungen, deren Wirkung auf die Nachgeborenen nicht unterschätzt werden kann, gegen die spontane Trauer um das Kind, um den Sohn, um den Mann, deren Erinnerungen von den Angehörigen wachgehalten werden wollten? Der Tod blieb immer noch auch der Tod des einzelnen, um den die Überlebenden trauern. Deshalb konnten Mahnmale entstehen wie das der Käthe Kollwitz (Abb. 20, Vladslo, Soldatenfriedhof 1914/18, Plastik »Trauernde Eltern« von Käthe Kollwitz), die ihren Sohn in Langemark verloren hatte und die seitdem zu den Verlierern gehörte, gleich wie der Krieg ausgehen mochte. In fast zwanzigjähriger Meditation und Arbeit schuf sie ein Denkmal,[24] dessen Aussage seinen Anlaß zu überdauern vermag, weil es das Überleben im Hinblick auf den Tod selber, nicht auf das Sterben für etwas thematisiert.
Als zu Beginn der Neuzeit – im Sinne der Erfahrung einer neuen Zeit – der Wunsch nach Kriegermalen auftauchte, die an die Vorkämpfer der Zukunft erinnern sollten, da hatte Goethe die »Anforderung an den modernen Bildhauer« formuliert.[25] Er zeigte auf, wie einsichtig frühere Denkmale hatten wirken können, solange die Kampffronten und die Positionen der Kontrahenten zu einer eindeutigen Parteinahme herausforderten. Einen Christen etwa über Türken siegen zu sehen verstärke nur den berechtigten Haß gegen Sklavenhalter. Schwierig werde es aber in der Moderne, im heutigen Europa, wo die Entzweiung aus Gewerbe- und Handelsinteressen herrühre, die Gleichheit in Religion und Sitte aber kaum zu leugnen sei. Wo gar, wie bei Franzosen und Deutschen, die Gegner in der Uniform fast nicht zu unterscheiden seien, dort sei der Darstellung der kämpfenden Gegner kein eindeutiger Sinn mehr zuzumuten. Bar aller Kleidung schließlich – ein gutes Recht der Bildhauer, ihre Kämpfenden so darzustellen –, werden beide Teile »völlig gleich: es sind hübsche Leute, die sich einander ermorden, und die fatale Schicksalsgruppe von Eteokles und Polynices müßte immer wiederholt werden, welche bloß durch die Gegenwart der Furien bedeutend werden kann«.
Goethe verweist in politischer Distanzierung auf die sittliche Übereinstimmung der Gegner und auf die Gemeinsamkeit ihrer ökonomischen Konfliktlagen, eine Deutung, die von den feiernden Siegern und von den betroffenen Verlierern nach 1815 schwerlich akzeptiert wurde. Es war nicht diese geschichtlich-strukturelle Gemeinsamkeit, in der die Erinyen walten, die von den Denkmalstiftern intendiert wurde. Sie zielten auf eine Gleichheit im Innern, auf eine nationale Homogenität unter Ausschluß der anderen. Wie sehr sie 40freilich über die Grenzen hinweg einer gemeinsamen Signatur folgten, davon zeugen die zahlreichen Analogien im Formenschatz der Denkmäler.
Die Gleichheit der gefallenen Gegner im Tode war ein Motiv, das immer weniger Anklang fand. Während der Einigungskriege kam es – so 1866 in Kissingen – noch zu Denkmalen, die beider Gegner zu erinnern aufforderte, im süddeutschen Raum also, der zwischen Berlin und Wien zerspalten war. Auch gemeinsame Gräber von Deutschen und Franzosen finden sich noch zahlreich auf den Schlachtfeldern von 1870/71. Die Umbettung französischer Gefallener im Raum Metz erfolgte später unter Beteiligung französischer und deutscher Truppen. 1916 ließ Wilhelm II. bei St. Quentin ein Ehrenmal errichten, vor dem zwei Jünglinge in Bronze die feindlichen Lager repräsentieren. Es schloß einen Friedhof ab, auf dem Gefallene beider Seiten gemeinsam beerdigt wurden. Nach 1918 wurden die französischen Leichen gegen deutsche ausgetauscht, die seitdem unter französischen Namen ruhen. Gemeinsame Bestattung kam nur noch sporadisch vor. Nach 1945 blieb die Trennung der Toten im allgemeinen üblich – bis hin zur Exhumierung aller amerikanischen Gefallenen aus dem deutschen Boden.
Es ist also eine Tendenz zu registrieren, die zunehmend die Abgrenzung der gefallenen Feinde fordert. Die Feindschaft soll über den Tod hinausreichen, um nicht der Identität der eigenen Sache verlustig zu gehen. Die Gleichheit im Tode wird zurückgenommen zugunsten einer Gleichheit, die die nationale Homogenität wahrt: Es ist die Homogenität der Lebenden und der Überlebenden, und zwar in ihrer jeweiligen politischen Gruppierung. Die Erstellung von Denkmalen geschieht durch politische Handlungseinheiten, die sich im gleichen Akt von anderen absetzen. Deshalb tendiert schon die Funktionalisierung der Kriegermale auf eine religion civile im Sinne von Rousseau und hilft, eine demokratische Legitimität zu stiften. Sie schafft im Denkmal eine Gleichheit der Toten für das Vaterland nach innen, nicht aber nach außen. Durch diese nationalstaatliche Fundierung wird auf den Kriegerdenkmalen die Stellung der Individuen – gemessen an der ständischen Vergangenheit – verändert.
41Noch in hierarchischer Tradition steht die lange Reihe von Denkmalen siegreicher Generale, ohne daß ihr Tod durch den Feind – wie bei Scharnhorst – Voraussetzung eines Mahnmals sein müßte. Auch überlebende Generale bleiben denkmalfähig, wie in preußisch-militärischer Tradition – Blücher oder Moltke, oder in hagiographischer Tradition – Maistre bei Loretto (Abb. 21, Loretto, Ehrenmal für General Maistre und das 21. Armeekorps), oder im republikanischen Pathos – Kellermann, oder monumental als Führer herausgestellt – wie General Patton. Die egalitäre Tendenz schließt bekanntlich den Führerkult nicht aus, der in der Reihung der individuellen Heldendenkmäler aus der militärischen Tradition hervorgeht.[26]
Wirklich neu ist der langfristige Trend, der die ständischen Abstufungen aufhebt, um die Gleichheit des Soldatentodes unbeschadet des Ranges herauszustellen. Der ostpreußische Oberpräsident von Schön mokierte sich über ein Denkmal, das dem General von Bülow errichtet wurde. Besser sei es, den Landsturmmann zu verewigen, der dem General sein »Leck er p. p.« zugerufen hatte, als dieser zum Rückzug blasen ließ.[27]
42Schön opponiert im Namen der allgemeinen Landwehr gegen jedes Feldherrndenkmal. Er zehrte von jenem republikanischen Pathos, das in den Befreiungskriegen auf revolutionäre Vorbilder zurückgriff. So wurde schon 1798 ein antimonarchisches Denkmal konzipiert, das dem deutschen Kaiser und dem preußischen König gewidmet werden und dessen Inschrift mit dem Satz enden sollte: »Des trauernden Vaterlandes kummervoller Dank! allen denen, deren Namen auf dieser Säule nicht stehen«.[28]
In diesem satirischen Zeugnis wird erstmals die Denkmalfähigkeit aller bisher Ungenannten angemeldet. Und zweifellos knüpft auch der politische Denkmalskult für die Kriegstoten an eine monarchisch-ständische Tradition an, die aufgegriffen, aber umbesetzt wird. Dabei erfolgt die Gleichstellung aller Kriegstoten sowohl über deren Grabanlagen wie über ihre Denkmäler. Beide verweisen aufeinander, wenn auch die Denkmalsfähigkeit der Gefallenen ihrem Recht auf eine eigene Ruhestätte vorausging.[29] Im folgenden sei beides nebeneinander behandelt.
Der Überschritt vom monarchischen zum Volksdenkmal, deren Mischformen Nipperdey deutlich herausgearbeitet hat,[30] findet seine Entsprechung in der Zunahme politisch motivierter Grabanlagen. Aufs Ganze gesehen wird das repräsentative Fürstengrab vom repräsentativen Kriegergrab zunächst ergänzt, dann – zeitlich gesprochen – überholt. An der geweihten Grabstätte sollte die Identität der politischen Handlungsträger, zunächst der Dynastien, dann der 43zu schaffenden Nation, ihren sinnfälligen Ausdruck finden. Nicht nur die Lebenden stehen für die Toten ein – wie vor dem Denkmal –, sondern auch die Toten sollen für das Leben einstehen. Welches Leben politisch gemeint ist, wird von der Grablage, vom Denkmal und dem zugeordneten Kult eingegrenzt.
Wie sehr nun beide, die Kriegergrabstätten und die Denkmalfähigkeit der Soldaten, einem revolutionären Impuls ihre Herkunft verdanken, der sich zunächst gegen die ständisch-monarchische Tradition richtete, das läßt sich literarisch zeigen.
Eine erste Kritik richtet sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf die Fürstengruften, mit denen als Identifikationsstätten die späteren Soldatenfriedhöfe und Kriegerhaine konkurrieren sollten, um sie schließlich als Symbol nationaler Repräsentation zu verdrängen. Für Klopstock, einen der Inauguratoren des bürgerlichen Denkmalskultes, zählt nicht mehr die Geburt, nur das Verdienst: »Geburtsrecht zu der Unsterblichkeit / Ist Unrecht bei der Nachwelt. So bald einst die Geschichte, / Was ihr obliegt, tut: so begräbt sie durch Schweigen, und stellt / Die Könige dann selbst nicht mehr als Mumien auf. / Sie sind nach dem Tode, was wir sind. / Bleibt ihr Name; so rettet ihn nur Verdienst, / Nicht die Krone: denn sie / Sank mit dem Haupte der Sterbenden«.[31] Verbittert und mit christlich-revolutionärem Pathos richtet Schubart[32] – »Da liegen sie, die stolzen Fürstentrümmer, / Ehmals die Götzen dieser Welt!« – seinen Haß und Hohn gegen die Fürstengruft, gegen jene Stätten, die dann in St. Denis während der Revolution ausgeräumt wurden.
Aber die politische Funktion der Fürstengruften sollte übernommen und demokratisch genutzt werden. Die Grabstätten und Erinnerungsmale für die später gefallenen Bürgerkriegskämpfer dienten den neuen Legitimitätsansprüchen. 1830 forderte Béranger eine Weihestätte für die gefallenen Barrikadenkämpfer: »Bekränzt die Gräber 44unsrer Julitage, / Vollbringt, schuldlose Kinder, heil'gen Brauch: / Hier Blumen, Palmen diesem Sarkophage, / Wie Kön'ge hat das Volk nun Mäler auch«.[33] – In Brüssel fand auf dem »Place des Martyrs« der Appell seine Erfüllung, während in Berlin der »Aufruf des Central-Ausschusses des Bestattungs-Komitees« für die Märzgefallenen mit dem Scheitern der 48er Revolution verhallte.[34] Stattdessen erhielten die gefallenen Regierungstruppen – wie auch in Rastatt – ihr eigenes Denkmal.
Der politische Totenkult, soweit er sich an die errichteten Kriegerdenkmäler anschließt, bleibt in der Verfügungsgewalt der jeweiligen Sieger, solange sie ihre Macht auszuüben imstande sind. Aber ungeachtet der politischen Wechsellagen hat sich seit der Revolution der Gleichheitsanspruch für alle Kriegerdenkmale durchgesetzt. Die gleiche optische Signatur zieht sich durch alle Verfassungsformen hindurch. Die Grabmale für den »unbekannten Soldaten« – einer für alle – sind die letzte Station dieser Demokratisierung des Todes. Einige der bildlichen Dokumente, die diesen Weg bezeugen, seien nachgezeichnet.
Von 1815 bis 1918 wird zunehmend die Gleichheit aller Gefallenen erinnert, unbeschadet der militärischen Ränge und Funktionen, die zum Tod geführt hatten. Bei Waterloo hatten die Hannoverschen Offiziere noch ein Denkmal gestiftet, das nur ihresgleichen, nicht aber der Unteroffiziere und Soldaten gedachte, die gefallen waren. Aber das bleibt eine Ausnahme. Im ganzen wird es üblich, besonders nach den Einigungskriegen, auf den Regiments- und Gemeindedenkmalen Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften zwar getrennt aufzuführen, aber auf demselben Sockel. Ein Stilmittel, um die Gleichheit zu betonen, ist die Repräsentation des gemeinen Soldaten durch den Offizier. In Posen wurden nach 1866 vier Soldaten mit den Porträts von vier Generalen versehen (Abb. 22, Posen, Denkmal des 5. Armeekorps für die Schlacht bei Nachod 1866), oder bei Navarin werden 45General Gouraud und der Neffe Roosevelts, der als Leutnant gefallen war, als stürmende Soldaten gezeigt (Abb. 23, Navarin-Ferme bei Reims, Alliiertes Denkmal und Ossuarium 1914/18). So partizipieren die oberen Ränge am Ruhm aller, den sie zugleich vorbildlich repräsentieren.
Auf den Kriegerfriedhöfen selber wird freilich eine absolute Gleichheit eingeführt. Die Regel, Offiziere einzeln zu bestatten, wird verallgemeinert. Daß jedem Soldaten ein eigenes Grab und ein eigener Grabstein gebühre, haben erstmals im amerikanischen Bürgerkrieg die Nordstaaten gesetzlich festgesetzt, wenn auch die Angehörigen der Südstaaten von den Gedenkfeiern zunächst ausgeschlossen blieben.[35] Diese demokratische Norm wurde dann im Ersten Weltkrieg von den Westmächten und von den Mittelmächten allgemein eingeführt und befolgt. Das individuelle »Ruherecht« ist inzwischen eine völkerrechtliche Norm geworden,[36] ohne daß Rußland sich ihr angeschlossen hätte, aus Gründen, deren ideologische oder realistische Komponente schwer unterschieden werden kann.
Im gleichen Moment freilich, da die demokratische Regel aufgestellt wurde, jedes Soldaten individuell zu erinnern, konnte sie nicht mehr eingehalten werden. Denn die Toten, denen ein je eigenes Grab zugedacht war, wurden oft nicht mehr gefunden, oder sie konnten nicht mehr identifiziert werden. In der Sommeschlacht 1916 46blieben auf deutscher Seite von den Gefallenen 72 000 identifizierbar, 86 000 werden vermißt oder konnten – als Leiche – nicht wiedererkannt werden. Ähnlich sind die Relationen in Flandern oder bei Verdun, und zwar auf beiden Seiten der Front. Die technischen Vernichtungsmittel waren so sehr perfektioniert worden, daß den Toten zu finden oder beizusetzen, wie das Gesetz es vorschrieb, nicht mehr möglich war. Die Individuen wurden im Massentod verschluckt. Dieser Befund evozierte zwei Antworten, die sich in den Erinnerungsmalen ausdrücken.
Erstens wurden die Stätten des Todes schlicht in Gedenkstätten selber verwandelt, indem sie so belassen wurden, wie sie beim Waffenstillstand vorgefunden wurden. Die Höhe 60 bei Ypern ist als Schlachtfeld zum Friedhof erklärt worden, weil die rund 8000 Gegner auf wenigen Morgen Land physisch zernichtet und nicht mehr aufgefunden wurden. Damit ist in ironischer Umkehr ein Postulat von Giraud aus der Französischen Revolution erfüllt worden. Giraud plante für Paris einen Friedhofsbetrieb, der die kalzinierten Knochen der Verstorbenen in Medaillons oder in Säulen umzuprägen vorsah, so daß der Tote im Ergebnis mit seinem Erinnerungsmal identisch wurde.[37] Dieses rein innerweltliche, auf eine diesseitige Verewigung zielende Postulat, die Identität von Leichnam und Grabmal – im 18. Jahrhundert sicher noch magisch angereichert –, wurde im Ersten Weltkrieg verwirklicht. Im Fort Douaumont sind rund 700 deutsche Soldaten erstickt und eingemauert worden: die Mauer ist ihr Grabmal – ein Vorgang, der sich im Bombenkrieg 1939-1945, der jedermann unbeschadet von Alter und Geschlecht traf, wiederholen sollte.
Zweitens wurden gewaltige Monumente errichtet, wie in Ypern, Vimy (Abb. 24, Vimy, »Canadian National Memorial« für 1914/18), Thiepval oder Navarin, um nur einige zu nennen. In diese Monu47mente wurden die Namen aller Gefallenen eingetragen, die kein Grab mehr finden konnten, deren Name aber nie vergessen werden sollte. »Their name liveth for evermore«, wie der Spruch Kiplings lautet, der auf allen Altartischen aller britischen Friedhöfe irdische Unsterblichkeit verheißt.
Somit wurde der Typus des monumentalen Siegermals aus dem vorangegangenen Jahrhundert zum unmittelbaren Totenmal. Das Staatsvolk, das sich zuvor im Siegesmal seiner Identität versicherte, gedachte jetzt aller Toten einzeln, um – in Rousseaus Bild – aus der volonté de tous eine volonté générale erstehen zu lassen. Hinzu tritt die ehedem christliche Gerichtsmetapher, die keine Seele entkommen läßt, um jetzt schicksalhaft angereichert irdische Ewigkeit zu verbürgen.
Vielleicht darf das Urteil gewagt werden, daß sich fast alle Denkmäler des Ersten Weltkrieges dadurch auszeichnen, Hilflosigkeit durch Pathos zu kompensieren. Der Tod von Hunderttausenden auf wenigen Quadratkilometern Erde, die umkämpft wurden, hinterließ einen Begründungszwang, der mit überkommenen Bildern und Begriffen schwer einzulösen war. Der Wunsch, Kontinuitäten oder Identitäten zu retten, die allenthalben – durch den Tod – zerrissen waren, stieß allzuleicht ins Leere. In Großbritannien befinden sich einige Denkmale, die die alte Todessymbolik aufgenommen haben, eine Uhr – sei es eine Sonnenuhr oder eine elektrische Uhr –, um mit dem Tod der Soldaten an den Tod schlechthin zu erinnern. In dieser Zurücknahme wird gleichwohl versucht, eine neue Identität zu evozieren, wenn etwa der Spruch – wie in Hinderwell (Abb. 11, Hinderwell, England, Gemeindedenkmal für 1914/18) – hinzugefügt wird: »Pass not this stone in sorrow but in pride / And live your lives as nobly as they died«.
Der Zweite Weltkrieg brachte eine Veränderung in der ikonographischen Landschaft der Denkmäler mit sich, die auch die politische Sinnlichkeit umstimmte. Noch in frischer Tradition steht die schlichte Erweiterung der Denkmäler durch Hinzufügung von Totentafeln für die Jahre 1939-45, die allgemein üblich, in Frankreich staatlich geboten wurde, um den Neubeginn allein durch Widerstandsdenkmä48ler zu markieren. Aber auch die Stillage des heroischen Realismus, in der die meisten Denkmäler der Russen oder für die Résistence in Frankreich oder Belgien errichtet wurden, ist formal von der offiziellen Kunst der Nationalsozialisten oft kaum zu unterscheiden. Darüber hinaus aber sind Neuerungen zu erkennen, die auf einen sichtbaren Appell zur politischen oder sozialen Identifikation mit dem Sinn des vergangenen Sterbens verzichten.
Die Vernichtung nicht nur von Lebenden, sondern auch der Leichname durch den Luftkrieg, aber mehr noch in den deutschen Konzentrationslagern führte dahin, das alte Formenarsenal der Krieger- und Siegermale aufzugeben. Opfer, die zur Sinnlosigkeit verdammt wurden, erheischten, wenn überhaupt, eine Art negatives Mahnmal. So wird in einem bayrischen Dorf der Tote zwischen drei Basaltblöcken als Hohlform symbolisiert (Abb. 25, Zell, Niederbayern, Mahnmal für 1939/45). – In Rotterdam erscheint – von Zadkine – die Zerstörung des menschlichen Leibes als Verzweiflung und Anklage, auch wenn die hilfesuchende Gestik des Sterbenden – vielleicht – einen Schimmer von Hoffnung aufleuchten lassen mag. – Zahlreich ist schließlich die lange Reihe gegenstandsloser Mahnmale, die auch auf den menschlichen Körper verzichten (Abb. 26, Treblinka, Teil des Mahnmals für das KZ-Lager).[38] Deren politische Funktion reduziert sich, wenn überhaupt, auf die Frage nach ihrer Bedeutung, ohne eine bildhafte Antwort sinnlich nahelegen zu können. Freilich bleibt auch hier gerne die Formensprache der Auferstehung erhalten, wobei es sich in den Worten Max Imdahls nicht mehr um eine Metapher der Auferstehung handelt, sondern um eine Metapher dieser Metapher.
Schließlich hat Kienholz, während des Vietnamkrieges, das Antidenkmal geschaffen, eine Parodie zum Siegesmal von Arlington. Er 49baut eine Alltagsszenerie auf, in die ein tragbares Kriegerdenkmal hineingestellt ist. Daneben steht eine Tafel, auf der – je nach neuem Kriegsbeginn – die Toten mit Kreide nachgetragen werden sollen, mit Kreide, um die Vergessenheit des Todes nicht dem Denkmal anzulasten, sondern den Menschen, die sich seiner Erinnerung entziehen.[39] So hat sich in der westlichen Welt, wenn auch nicht überall und durchgängig, eine Tendenz verstärkt, den Tod in Krieg oder Bürgerkrieg nur noch als sinnfordernd, nicht mehr als sinnstiftend darzustellen. Es bleibt die Identität der Toten mit sich selbst, deren Denkmalsfähigkeit sich der Formensprache einer politischen Sinnlichkeit entzieht.
Die Geschichte der europäischen Kriegerdenkmäler zeugt von einer gemeinsamen optischen Signatur der Neuzeit. Aber ebenso bezeugt sie einen optischen Erfahrungswandel. Er verweist auf die soziale und politische Sinnlichkeit, die ihre eigene Geschichte hat und die produktiv wie rezeptiv auf die Sprache der Denkmäler eingewirkt hat.
Der Zusammenhang zwischen politisch-sozialem Sinngebot und seiner bildlichen Ausprägung wird über die Formensprache der Denkmäler hergestellt, die die Sinnlichkeit der Betrachter erreichen soll. Beide, Formen und Sinnlichkeit, unterliegen dem geschichtlichen Wandel, aber sie ändern sich offensichtlich in verschiedenen Zeitrhythmen. Daher zerrinnen die Identitäten, die ein Denkmal evozieren soll: teils, weil sich die sinnliche Empfangsbereitschaft der angebotenen Formensprache entzieht, teils, weil die einmal gestalteten Formen eine andere Sprache zu sprechen beginnen, als ihnen anfangs eingestiftet war. Denkmäler haben, wie alle Kunstwerke, ein Überschußpotential, das sich dem Stiftungszweck entzieht. Des50halb sind zahllose Monumente ohne Rekurs auf Inschriften oder empirisch einlösbare Verweisungssignale nicht mehr auf ihre erste Bedeutung hin erkennbar.
Es ist eine historische Erfahrung, die sich seit der Französischen Revolution abzeichnet, daß die Kriegerdenkmäler mit dem Aussterben der Stiftergenerationen ihre Emphase verlieren. Zahlreiche Denkmäler des vergangenen Jahrhunderts sind nicht nur äußerlich von Patina überzogen, sie sind in Vergessenheit geraten, und wenn sie gepflegt und besucht werden, dann selten nur, um den ursprünglichen politischen Sinn einzulösen. Selbst in den Siegerländern von 1918 finden die Waffenstillstandsfeiern zum 11. November immer weniger Zulauf. Der politische Kult vor den Kriegerdenkmälern versiegt,[40] sobald die ehemals Überlebenden aussterben. Man mag diesen Befund auf den natürlichen Wechsel der Generationen zurückführen, ohne die Schnellebigkeit der Moderne bemühen zu müssen. Politische Erfahrungen oder Botschaften sind nur schwer über den Tod einer jeweiligen Generation hinaus tradierbar. Dazu bedarf es gesellschaftlicher Institutionen. Das Denkmal jedenfalls, das die sinnliche Vermittlung über den Tod hinaus sicherstellen soll, scheint allein diese Leistung nicht vollbringen zu können. Immer ist die bewußte Übernahme der Botschaft erforderlich.
Deshalb gibt es Ausnahmen, besonders dort, wo es sich um Nationaldenkmäler handelt, deren Pflege in die Obhut der jeweiligen politischen Handlungsgemeinschaft genommen wird. Hier werden längere Fristen der zugeordneten Kulthandlungen möglich.
Wie lange die Inschriften und Signaturen der Kriegerdenkmäler die Nachgeborenen ansprechen, davon zeugen die Denkmalsstürze. Sie erfolgen zumeist, wenn die Stiftergeneration noch nicht ausgestorben ist, noch als direkter politischer Gegner angegangen werden kann. Die Franzosen konnten es sich 1918 leisten, nachdem ein halbes Jahrhundert verflossen war, die deutschen Kriegerdenkmäler für 1870/71 in Elsaß-Lothringen unberührt stehen zu lassen – als Todes51male der nunmehr Besiegten. Denkmäler werden gestürzt, wenn sie als Bedrohung empfunden werden, wo eine noch lebende Tradition abgeblockt werden soll. So geschah es, um nur einige Zeitfristen zwischen erinnertem Datum und Denkmalssturz zu nennen, in Celle für 1866 – schon 1869, in Düsseldorf für 1918 oder in Weimar für 1920 – im Jahre 1933, in Luxemburg oder Compiègne für 1918 – im Jahre 1940, und vielerorten in Deutschland für 1918 nach dem Zweiten Weltkrieg. Immer ging es darum, politische Identifikationsgebote zu brechen.
Denkmäler, die ihren ersten Anlaß lange überdauern, können in einer historischen Traditionsgemeinschaft aufgehoben bleiben, aber auch dann verändert sich schleichend ihre Aussagekraft. In ganz Europa gibt es die Diachronie der Siegesmale, deren formale Ähnlichkeit sich mit dem wandernden Sieg quer durch die Länder hindurchhält. Sie rücken strukturell zusammen. Dann ist es nur mehr Sieg als solcher, nicht mehr ein bestimmter Sieg, der sinnlich vergegenwärtigt wird. Die Formensprache speziell der Kriegerdenkmäler ist veraltet, ohne zu sprechen aufzuhören. Offenbar überdauert sie ihre einmaligen, politisch-sozial bedingten Anlässe, so daß die Signaturen zwar nicht mehr politisch begriffen werden, aber gleichwohl verständlich bleiben. In diese Differenz, in diese Lücke rückt gleichsam die Ästhetik ein, die die Formen auf ihre »Selbstaussage« hin befragt. Anders gewendet, die »ästhetischen«, auf die sinnliche Empfangsbereitschaft der Betrachter bezogenen Aussagemöglichkeiten überdauern die politischen Identifikationsgebote, die sie stiften sollten. Wenn man nun die Kriegerdenkmäler daraufhin befragt, welche »ästhetischen« Signale ihren Anlaß überdauert haben und welche Zeichen sich durch den Formenwandel hindurch gehalten haben, so wird man offenbar auf die Todessymbole zurückverwiesen, die – in Hoffnung oder Trauer gekleidet – länger währen als der Einzelfall. Denn der Einzelfall des erinnerten Todes mag vergangen sein: er steht gleichwohl jedem Betrachter noch bevor.