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»Vom Sinn und Unsinn der Geschichte« versammelt Aufsätze und Vorträge Reinhart Kosellecks aus vier Jahrzehnten und macht die Entwicklung und die Reichweite seiner Historik eindrucksvoll sichtbar. Neben verstreut publizierten Arbeiten wie der längst in den Rang eines modernen Klassikers aufgestiegenen Studie »Wozu noch Historie?« versammelt der Band unveröffentlichte Texte aus dem Nachlass. Sie erweitern das Bild von Kosellecks Theoriearbeit um wichtige Facetten, zeigen den denkenden Historiker aber auch als Meister empirisch gesättigter Analysen und Darstellungen.
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Seitenzahl: 569
Vom Sinn und Unsinn der Geschichte versammelt Aufsätze und Vorträge Reinhart Kosellecks aus vier Jahrzehnten und macht die Entwicklung und die Reichweite seiner Historik eindrucksvoll sichtbar. Neben verstreut publizierten Arbeiten wie der längst in den Rang eines modernen Klassikers aufgestiegenen Studie »Wozu noch Historie?« versammelt der Band unveröffentlichte Texte aus dem Nachlaß. Sie erweitern das Bild von Kosellecks Theoriearbeit um wichtige Facetten, zeigen den denkenden Historiker aber auch als Meister empirisch gesättigter Analysen und Darstellungen.
Reinhart Koselleck (1923-2006) war Professor in Bochum, Heidelberg und Bielefeld. Zuletzt erschienen: Begriffsgeschichten (stw 1926).
Reinhart Koselleck Vom Sinn und Unsinn der Geschichte
Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Carsten Dutt
Suhrkamp Verlag
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der folgende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2090.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2010
© Erbengemeinschaft Reinhart Koselleck 2010
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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
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eISBN 978-3-518-73597-8
www.suhrkamp.de
Inhalt
Theorieskizzen
Vom Sinn und Unsinn der Geschichte
9
Wozu noch Historie?
32
Interdisziplinäre Forschung und Geschichtswissenschaft
52
Archivalien – Quellen – Geschichten
68
Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit
80
Wiederholungsstrukturen in Sprache und Geschichte
96
Zeitbilder
Über den Stellenwert der Aufklärung in der deutschen Geschichte
117
Das 19. Jahrhundert – eine Übergangszeit
131
Lernen aus der Geschichte Preußens?
151
Zur Rezeption der preußischen Reformen in der Historiographie. Droysen – Treitschke – Mehring
175
Liberales Geschichtsdenken
198
Hinter der tödlichen Linie. Das Zeitalter des Totalen
228
Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses
241
Der 8. Mai zwischen Erinnerung und Geschichte
254
Porträts und Erinnerungen
Johann Martin Chladenius
269
Adam Weishaupt und die Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie in Deutschland
273
Goethes unzeitgemäße Geschichte
286
Jaspers, die Geschichte und das Überpolitische
306
Werner Conze – Tradition und Innovation
319
Laudatio auf François Furet
336
Laudatio auf Shulamit Volkov
342
Er konnte sich verschenken. Gedenkrede auf Hans-Georg Gadamer
349
Carsten Dutt: Nachwort
365
Editorische Notiz
373
Begriffs- und Sachregister
374
Namenregister
382
Nachweise
386
7Theorieskizzen
89Vom Sinn und Unsinn der Geschichte
Dieter Groh zum 65. Geburtstag
Wer der Geschichte einen Sinn zumutet, muß sich der Frage aussetzen, was eigentlich der Gegenbegriff sei: der Unsinn oder die Sinnlosigkeit? Mit dieser Alternative wird vorentschieden, was als »Sinn« begriffen werden soll. Denn »Sinnlosigkeit« ist ein neutraler Ausdruck, der die Sinnfrage umgeht, und ich neige dazu, diese Position für die Geschichte stark zu machen. »Unsinn« bleibt als Negation von »Sinn« auf Sinnhaftigkeit bezogen. »Sinnlosigkeit« öffnet dagegen eine andere Dimension, als sie eine Geschichtswissenschaft zu bewältigen hat, die sich herausgefordert sieht, Sinn und damit eo ipso auch Unsinn in der Geschichte zu suchen. Im folgenden wird nicht nach dem Sinn jener Wissenschaft gefragt, die sich mit der »Geschichte« beschäftigt. Also Sinn oder Unsinn der Historie als Wissenschaft steht hier nicht zur Debatte, obwohl sie sich gerne anmaßt, der sogenannten Geschichte Sinn abzuluchsen und ihn mit verschiedenen Zensuren zu dosieren.
I
Es gibt eine Briefsammlung von Soldaten aus Stalingrad, die nicht heimgekehrt sind, aber deren Nachrichten – gleichsam Nachrufe auf sich selbst – mit den letzten Postsäcken nach Deutschland verbracht worden sind.1 Goebbels hielt diese Post zurück, in der Hoffnung, eine Auswahl heroischer Briefe edieren zu können, die vom Heldentum derer zeugen sollten, die vermißt werden. Diese vier oder fünf Postsäcke, die ein paar tausend Briefe enthielten, ohne je ihre Adressaten zu erreichen, haben nun eine Fülle von Deutungen hinterlassen, die der Katastrophe vergeblich Sinn abzugewinnen suchten. Die Variantenskala reicht von der absoluten Verzweiflung über sarkastische Kommentare und ironische Bemerkungen hin zu zynischen Bonmots der dort demnächst Sterbenden und weiter über lethargische und zurückhaltende Nach10richten bis zu Zeichen der Demut oder tiefer Frömmigkeit. Verlassenheit und Hilflosigkeit dominieren, und es finden sich nur wenige Bekenntnisse zum NS-System, dessen Durchhalteparolen die offizielle Öffentlichkeit beherrscht hatten. Wir stehen also vor einem breit gestreuten Wahrnehmungsspektrum jenes wendeträchtigen Ereignisses, über das wir inzwischen aus Tausenden von Büchern, Filmen oder Videostreifen belehrt werden. Was wir heute geneigt sind, als Sinnlosigkeit oder allenthalben als Unsinn zu deuten, das wurde schon damals von den Zeitzeugen vor ihrem Tode vergeblich mit Sinnstiftungen versehen – die Wirklichkeit der Schlacht ließ dieses nicht zu. Das Ärgerliche an dieser aufregenden Quellensammlung ist nur, daß sie eine Fälschung ist. Es war ein Propagandamann im Dienst von Goebbels gewesen, der zwar Kenntnis von diesen letzten Briefen hatte – aber die, die er veröffentlicht hatte, sind offenbar aus seiner eigenen Feder geflossen. Seine Edition erreichte zwei Auflagen, seine Herausgeberschaft verblieb im Anonymen, und auch meine Versuche, dem Fälscher auf die Schliche zu kommen, blieben ergebnislos, weil der Herausgeber seit langem tot ist. Die Indizien, die die Fälschung als solche entlarven, brauchen hier nicht im einzelnen aufgeführt zu werden. Das Spannende ist nämlich, daß die Fälschung selber so großen Anklang fand. Die geschickte Fiktion der Briefe reichte hin, um bei den Lesern Zustimmung zu finden dafür, daß in Stalingrad »Sinnlosigkeit« obwaltete und von den Betroffenen auch so erfahren wurde. Der Leserkreis teilte rückwirkend offenbar denselben Erfahrungshorizont, den der Fälscher, stilistisch versiert, ausgezogen hatte. Alle ideologischen Deutungen der seinerzeitigen Propagandasprache schmolzen dahin.
Es gibt nur ein Motiv, das auch im Rückblick den »Sinn« von Stalingrad zweckrational einlösen könnte: dann handelt es sich um ein rein militärgeschichtliches Motiv. Denn durch den Untergang der 6. Armee war es möglich geworden, daß die Truppen, die sich im Kaukasus festgebissen hatten, noch rechtzeitig entkommen konnten, nämlich im Verlauf jener zwei Monate, in denen der Kessel von Stalingrad eingeschnürt und vernichtet wurde. Der Tod der Stalingrad-Soldaten sicherte in dieser Sichtweise das Überleben jener Truppen, die sich über den Don zurückretten konnten. Freilich wäre es anmaßend zu behaupten, in diesem 11sekundären Zweck des tödlichen Kampfes den primären Sinn der Stalingradschlacht zu erblicken.
Eingerückt in den gesamten Kontext des Kriegsverlaufes, wird die Schlacht von Stalingrad heute gern als Peripetie dargestellt, als der Beginn vom Ende des deutschen Weltkrieges. Freilich streiten sich die politischen und die Militärhistoriker darüber, ob denn die Peripetie nicht schon vor Moskau 1941 gelegen habe oder ob sie nicht schon längst zuvor im Entschluß zum Rußlandfeldzug selber gelegen haben muß, ohne damals schon sichtbar geworden zu sein. Die spannende Frage (besonders von Ernst Topitsch2), ob der Rußlandfeldzug auch rational begründbar war: als Präventivschlag gegen Stalins expansionistische Absichten – und das noch im Erfahrungshorizont des deutschen Sieges über Rußland im Jahre 1917 –, braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Denn langfristig gesehen kann die Peripetie des Kriegsverlaufs auch schon vor dem Kriegsausbruch 1939 angesiedelt werden, weil in Anbetracht der politischen Weltkonstellation der Untergang schon im Anfang enthalten gewesen sei. Dann wäre der gesamte Krieg nicht nur in sich selbst sinnlos, sondern auch im Hinblick auf rationale Kalkulationen und Zweckverschönungen von vornherein unsinnig gewesen. Dann wird Stalingrad zum Symptom jenes utopisch motivierten Aggressionskrieges, der in seinem Verlauf schließlich zum Zweiten Weltkrieg wurde und der, aus ideologischen Gründen entfesselt, sich einer politischen oder militärischen Rationalisierung überhaupt entziehe. Das Kriterium der Sinnlosigkeit liegt dann in der Ideologiekritik an den rassischen und raumausgreifenden Plänen Hitlers beschlossen, wie er sie schon in Mein Kampf offenausgesprochen hatte.
Daran gemessen lassen sich andere Deutungen als Sinnstiftung begreifen, wenn sie etwa theologisch begründet werden. Einmal auf den Boden theologischer Deutungen überführt, lassen sich alle Ereignisse mit Sinn befrachten, denn jedes Ereignis läßt sich dann mit Theodizee-Argumenten erklären. Wird ein Guter belohnt, ist es Gotteslohn; wird ein Guter bestraft, ist es eine Warnung. Wird der Böse belohnt, ist es ebenfalls eine Warnung, da in Gottes Ratschluß alles anders aufgehoben sein mag, als es zu sein scheint; wird schließlich der Böse bestraft, handelt es sich um ausgleichende Gerechtigkeit. Also theologisch läßt sich immer alles sinnvoll deuten, und es gibt dementsprechend eine Fülle ähnlicher Argumente, die alle Kriege begleiten. So sparten zum Beispiel katholische Blätter im Ersten Weltkrieg nicht mit der traditionellen Deutung, daß er als Strafe Gottes für menschlichen Übermut zu erleiden sei. Die Stimmigkeit solcher Interpretamente für Gläubige läßt sich nicht leugnen, auch wenn sie keine rationalistischen Argumente im Sinne wissenschaftlich kontrollierbarer Aussagen liefern können. Für einen Gläubigen bleiben sie unwiderlegbar; also, mit Popper zu sprechen, außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses.
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