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Barbara Wood

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Beschreibung

Hoshi'tiwa gehört zum Clan der Schildkröte, der friedlich in den roten Felsencanyons lebt. Da wird die junge Frau von den Kriegern des Großen Herrschers entführt. Sie soll die magischen Tonkrüge fertigen, die den Regen bringen. Versagt sie, ist ihr Leben verwirkt. Jahrhunderte später forscht der Arzt Faraday Hightower nach der versunkenen Indianerkultur. Er will das Geheimnis des Tonkruges lösen…

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Barbara Wood

Gesang der Erde

Roman

Roman

Aus dem Amerikanischen von Karin König

Fischer e-books

Für meinen Mann George in Liebe

HOSHI’TIWA

Im Jahre 1150

1

Der Läufer rannte die gepflasterte Straße hinab, während sein Herz angstvoll pochte. Obwohl seine Füße bluteten, wagte er es nicht, stehen zu bleiben. Er schaute zurück. Seine Augen waren vor Angst geweitet. Er stolperte, verlor beinahe das Gleichgewicht und lief dann wie getrieben weiter. Er musste den Klan warnen.

Ein Dunkler Herrscher kam.

 

Hoshi’tiwa saß am Fuß der Klippe in der Sonne und spann Baumwolle für ihr Brautkleid. Sie saß im Schneidersitz, während sie eine hölzerne Spindel an ihrem Oberschenkel auf und ab rollte, geschickt saubere Fasern aus einem mit gekämmter Baumwolle gefüllten Korb zupfte und sie dem zunehmend dicker werdenden Faden hinzufügte, der gefärbt und zu einem Band für ihr Haar verwoben werden sollte.

Rund um sie herum ging ihr Klan seinen täglichen Verrichtungen nach: Die Bauern pflanzten Mais, die Frauen kümmerten sich um die Herdfeuer und beaufsichtigten die Kinder, und die Töpfer gestalteten Regenkrüge, für die ihr Klan berühmt war. Allerdings waren einige der Töpfer von ihrer Arbeit abberufen worden, um bei der diesjährigen Pflanzung zu helfen, denn im Vorjahr, als sie ihre jährliche Maisabgabe zum Ort der Mitte brachten, wurde dem Sonnenvolk gesagt, sie müssten in diesem Jahr die doppelte Menge abliefern. Das belastete den Klan, aber da alle zusammenarbeiteten, waren sie sich sicher, dass sie die Forderung erfüllen könnten.

Während Hoshi’tiwa die Baumwolle spann, wusste sie nicht, dass ein fremdartiges Menschengeschlecht auf der anderen Seite der Erde diesen Sonnenzyklus das Jahr 1150 Anno Domini nannte. Sie konnte nicht ahnen, dass diese Menschen auf den Rücken von Tieren ritten, etwas, was ihr eigenes Volk nicht tat, und zum Transport von Waren ein Gerät benutzten, das Rad genannt wurde. Hoshi’tiwa wusste nichts von Kathedralen und Schießpulver, Kaffee und Uhren, noch wusste sie, dass diese fremdartigen Menschen ihren Felsschluchten, Flüssen und Hügeln Namen gaben.

Hoshi’tiwas Ansiedlung hatte keinen Namen. Und auch nicht der nahe gelegene Fluss und die Berge, die über sie wachten. Viele Jahre später würde eine andere Menschenrasse an diesen Ort kommen und allem, was sie sahen und worauf sie einherschritten, Namen geben. Zweihundert Meilen südöstlich des Ortes, an dem Hoshi’tiwa die warme Sonne auf ihren Armen spürte, würde eine Stadt errichtet und Albuquerque genannt werden. Das sie umgebende, 120000 Quadratmeilen große Gebiet würde als New Mexico bekannt. Die junge Braut wusste auch nicht, dass Jahrhunderte später Fremde das Land nördlich ihrer Ansiedlung durchstreifen und es Colorado nennen würden.

Sie kannte nur einen Ort namentlich, den Ort der Mitte, so genannt, weil er für ihr Volk der Mittelpunkt des Handels und des Gedankenaustauschs sowie ein wichtiges religiöses Zentrum war. Jahrhunderte später jedoch sollte der Ort Chaco Canyon genannt werden, und Männer und Frauen, die als Anthropologen bezeichnet werden, würden in den Ruinen von Chaco Canyon stehen und über das spekulieren, argumentieren, debattieren und theoretisieren, was sie die »Preisgabe« nannten.

Sie würden sich fragen, jene Menschen in der fernen Zukunft, warum Hoshi’tiwa und ihr Volk, welche die Anthropologen unrichtig »Anasazi« nennen würden, so plötzlich und spurlos verschwunden waren.

Hoshi’tiwa ahnte nicht, dass sie eines Tages Teil eines uralten Mysteriums sein würde. Hätte sie es gewusst, hätte sie gesagt, an ihrem Leben sei nichts Geheimnisvolles. Ihr Klan lebte seit Generationen am Fuße dieses Steilabbruchs an der Biegung des kleinen Flusses, und in all diesen Jahrhunderten hatte sich nur wenig verändert. Ihre Häuser waren vielleicht größer und ein wenig aufwendiger geworden, und die Töpferwaren trugen kunstvollere Muster. Aber abgesehen davon glich jede Generation der vorhergehenden.

Hoshi’tiwa war die Tochter eines einfachen Händlers, die die ihr widerfahrenen Segnungen an den Fingern einer Hand abzählen konnte und sicher in dem Wissen ruhte, dass morgen alles genauso sein wird wie heute.

 

Der Läufer stürzte und schlug sich das rechte Knie schmerzhaft auf. Während er sich wieder aufrappelte, spürte er in den Pflastersteinen der breiten Hauptstraße die mächtigen Schritte des herannahenden Heers. Er schluckte angstvoll.

Die Kannibalen kamen.

 

Hoshi’tiwa blickte zur stattlichen Gestalt Ahotés an der Gedächtniswand hinüber. Sein sehniger Körper glänzte in der Sonne, da er nur einen Lendenschurz trug. Unter der Anleitung seines Vaters rezitierte er die Geschichte des Klans, wobei er die auf die Mauer gemalten bildlichen Darstellungen als Anhaltspunkte nutzte. Jedes Symbol stellte ein großes Ereignis in der Vergangenheit des Klans dar. Ahotés Vater deutete auf die Kokopilau, also »Flötenspieler« genannte Gestalt, dessen Rücken sich unter dem Gewicht eines schweren Sackes beugte, in dem er Geschenke und Segnungen mit sich trug. Die Kokopilau waren eine geheime Bruderschaft von Menschen, die für ihre wunderliche Art und ihre mildtätigen Taten bekannt waren. Niemand kannte die Herkunft der Bruderschaft oder wusste, welche Eide ihre Mitglieder geschworen hatten oder welchen Göttern sie dienten, aber die Kokopilau durchstreiften das Land und waren an jedem Herdfeuer willkommen. Jeder Besuch eines Kokopilau bedeutete eine Zeit der Feierlichkeiten, denn er brachte Glück und förderte die Fruchtbarkeit. Der Besuch, an den auf der Gedächtniswand erinnert wurde, als ein Kokopilau sieben Tage beim Klan verbrachte, hatte eine bessere Maisernte und Schwangerschaften bei den Ehefrauen zur Folge gehabt.

An der Gedächtniswand waren viele weitere Symbole zu sehen – Spiralen, Tiere, Menschen, Lichtblitze –, zu viele, als dass sich der ganze Klan an alle Ereignisse erinnern könnte, sodass dies die Aufgabe eines einzelnen Mannes war, Er-der-die-Menschen-verbindet, und zwar seine einzige. Er brauchte nicht einmal bei der Ernte zu helfen, obwohl alle anderen, einschließlich der Kinder, daran mitarbeiteten, weil Er-der-die-Menschen-verbindet jeden Tag die Wand besuchen und die dort festgehaltene, umfangreiche Geschichte für sich rezitieren musste.

Hoshi’tiwas Herz ging auf vor Liebe und Hoffnung. Das Leben war schön. Überall blühten Frühlingsblumen. Der nahe gelegene Fluss führte kühles, frisches Wasser mit sich und wimmelte von Fischen. Der Klan war gesund und gedieh. Und Hoshi’tiwa, sechzehn Jahre alt, freute sich auf ihren Hochzeitstag.

Sie wusste, dass sie Glück hatte, einen Jungen ihres eigenen Klans heiraten zu dürfen. Es bedeutete, dass sie nicht in ein anderes Dorf ziehen und von ihrer Familie getrennt sein musste. Die Verlobung unterlag komplexen Regeln, und Tabus wurden streng beachtet. Nur durch die Besonderheit seiner Abstammung durfte Ahoté, den sie schon liebte, seit sie Kinder waren, innerhalb des Klans heiraten. Er brauchte sich keine Gefährtin in den entlegenen Ansiedlungen zu suchen.

Vor einer Verlobung wurden die Blutlinien strengstens geprüft. Die Ältesten des Klans studierten das komplizierte Netzwerk der Onkel, Tanten und Cousins mütterlicherseits, der Onkel, Tanten und Cousins väterlicherseits, die alle in einer besonderen Beziehung zur zukünftigen Braut oder dem Bräutigam standen. Sie verbrachten Tage damit, zu debattieren, Erinnerungen hervorzuholen und sich am Kopf zu kratzen, um diesen Linien nachzuspüren, da es Unglück über einen Klan brachte, wenn unbeabsichtigt eine tabuisierte Verbindung zustande käme.

Es stellte sich heraus, dass Ahotés Vater, Er-der-die-Menschen-verbindet, nicht mit Hoshi’tiwas Eltern blutsverwandt war, nicht einmal als entfernter Cousin. Ahotés Großvater hatte sich dem Klan angeschlossen, als er die Tochter eines Geisttänzers heiratete, und er wäre selbst ein Geisttänzer geworden, wenn Er-derdie-Menschen-verbindet seinen einzigen Sohn nicht durch eine mysteriöse Bluterkrankheit verloren hätte. Dies hatte den Klan in Panik versetzt. Wenn niemand die Gedächtniswand lesen könnte, würden sie ihre Vergangenheit und ihre einzige Verbindung zu den Vorfahren verlieren. Die Ältesten hatten sich nach einem Ersatz umgesehen und festgestellt, dass der Schwiegersohn des Geisttänzers einen klaren Verstand besaß und sich darin auszeichnete, alle Dinge im Gedächtnis zu behalten. Daher durfte Ahoté nun zwei Generationen später Hoshi’tiwa heiraten.

 

Ahoté schaute zu der wunderschönen Hoshi’tiwa hinüber, die im Sonnenschein saß, ihre mohnblumenrote Tunika ein helles, warmes Leuchten. Sein Körper regte sich vor männlichem Verlangen, und er dachte an seine kommenden Nächte als Ehemann. Erst als ihn sein Vater fest in den Arm kniff, wandte er seine Gedanken wieder dem Unterricht zu. Er rezitierte: »Und dann erlebte das Volk den Frühling der Jagd im Überfluss, als der Elch von der Mesa herabkam, um sich ihnen als Nahrung darzubieten.« Das auf die Mauer gemalte Symbol zeigte einen Elch mit Pfeilen im Körper.

Das letzte Symbol auf der Mauer war ein Kreis mit sechs dahinter verlaufenden Linien, welches die Sichtung eines Himmelskörpers vermerkte, der im vorigen Sommer über den Horizont gestreift war. Seitdem hatte man keine neuen Symbole hinzugefügt, weil nichts Bedeutendes geschehen war. Während Ahoté vor seinem Vater rezitierte, fragte er sich, welches neue Symbol als Nächstes hinzugefügt und die lange Geschichte des Klans fortführen würde.

 

Der Läufer stürzte erneut und hinterließ eine Blutspur auf der Sandsteinoberfläche der Straße. Seine Knie waren aufgeschürft, seine Knochen protestierten schmerzhaft. Er könnte sich retten, das wusste er, wenn er nach links liefe, von der Hauptstraße fort und eine kleine Felsschlucht hinab, die ihn vor dem herannahenden Heer verbergen würde. Aber die Menschen in der Ansiedlung waren seine Verwandten. Sie verließen sich auf ihn als den Wächter, der sie in Zeiten der Gefahr warnte.

 

Hoshi’tiwas Mutter hielt in ihrer Arbeit am Mahlstein inne, mit dem sie Mais zu Mehl mahlte, und schaute blinzelnd in den Himmel. Die Welt sah richtig aus, aber sie fühlte sich nicht richtig an. Sie blickte sich auf dem kleinen Platz um. Da war die junge Maya, die im Schatten ihres Adobehauses saß und ihren Urgroßvater stillte. Obwohl ihr Baby in seinem Korb auf ihrem Rücken schrie, würde es warten müssen, bis der Ältere gefüttert war. Der alte Mann hatte seine Zähne schon lange verloren und konnte keinen Haferschleim mehr schlucken. Daher nährte ihn – dem uralten Brauch gemäß, die verehrten Älteren am Leben zu erhalten, da sie allein die Erinnerungen daran bewahrten, was früher war – seine Urenkelin mit ihrer eigenen Milch.

Aus dem geöffneten Eingang des Adobehauses nebenan drangen Schreie. Hoshi’tiwas Mutter konnte ihre Freundin Lakshi in der Dunkelheit sehen, auf Knien, die Arme über dem Kopf, die Handgelenke an ein von der Decke hängendes Seil gebunden. Vor und hinter Lakshi knieten zwei Hebammen und halfen dem Baby auf die Welt zu kommen.

Alles normal, nichts Außergewöhnliches. Und doch stimmte etwas nicht. Die Luft war zu still, die Geräusche zu gedämpft, das Sonnenlicht zu golden. War dies der Tag, fragte sich Sihu’mana, der Tag, von dem sie vor langer Zeit in unruhigen Nächten geträumt hatte? War er nun doch angebrochen? Oder plagte sie einfach die Gereiztheit einer Mutter vor einer Hochzeit?

Keine Mutter schlief nachts gut, wenn sich ihre Tochter in diesem gefahrvollen Moment des Übergangs zwischen Jugend und Ehestand befand. Stünde Hoshi’tiwa erst unter dem Schutz eines Ehemannes, würde Sihu’mana, wie alle Mütter seit Anbeginn der Zeit, leichter atmen.

Zwei Dinge brachten Eheleute mit in die Verbindung: der Mann seinen Mut und die Frau ihre Ehre. Die Jungfräulichkeit ihrer Tochter zu bewahren war nicht leicht gewesen, weil Hoshi’tiwa mit Schönheit gesegnet war – oder geschlagen, je nachdem, wie man es betrachtete. Wann immer Besucher in das Dorf kamen, behielt Sihu’mana ihre Tochter genau im Auge. Alle erinnerten sich noch gut an das arme Mädchen Kowka – auch wenn niemand jemals darüber sprach –, die unmittelbar vor der Hochzeit mit ihren Schwestern Erdfinkeneier sammeln ging, sich stromaufwärts verirrte und, allein und ungeschützt wie sie war, auf eine Bande Plünderer aus dem Norden traf. Sie hatte den Angriff überlebt, aber aufgrund der komplexen Regeln und Tabus des Klans bezüglich des Geschlechtslebens wollte sie danach kein Mann mehr heiraten. Allen war es verboten, mit einem Mitglied eines anderen Stammes zu verkehren. Ehepartner durften nur aus dem Sonnenvolk kommen, dessen Klans zahlreich genug waren, um viele Wahlmöglichkeiten zu bieten. Eine Frau durfte nicht mit ihrem Bruder, mit Onkeln oder Cousins schlafen. Und eine Jungfrau durfte sich vor der Hochzeit mit niemandem einlassen. Da Kowkas Vergewaltiger aus einem nördlichen Stamm kamen, die andere Götter verehrten und an anderen Traditionen festhielten, und da sie vorher noch Jungfrau gewesen war, verfügten die Ältesten, dass sie makai-yó sei – unrein. Obwohl ihre Mutter immer wieder um Gnade für ihre Tochter flehte, wurde Kowka aus dem Dorf vertrieben, und man hörte nie wieder von ihr.

Es erschreckte Sihu’mana, dass ihr ausgerechnet jetzt Kowkas Schicksal einfiel. Hastig flüsterte sie ein paar Glück bringende Worte und vollführte ein Schutzzeichen in der Luft. Sie hatte seit Jahren nicht mehr an das unglückliche Mädchen gedacht. War das ein Omen?

Sihu’manas Ängste kehrten mit aller Macht zurück. Der prophetische Traum …

Sechzehn Jahre lang hatte sie das Geheimnis in ihrem Herzen verschlossen, von wem der Traum handelte, hatte es nicht einmal ihrer Tochter, Hoshi’tiwa, erzählt. Sihu’mana hatte sechzehn Jahre lang zu den Göttern gebetet und ihnen zusätzlichen Mais geopfert in der Hoffnung, sie sanft davon zu überzeugen, dass es nicht gerecht war, einer Mutter die einzige Tochter zu nehmen. Acht Babys waren Sihu’manas fruchtbarem Leib entsprungen. Zwei waren tot geboren, zwei überlebten das erste Jahr nicht, zwei starben, bevor sie fünf Jahre alt waren, und der Sohn, der Hoshi’tiwas älterer Bruder gewesen wäre, starb, als er mündig wurde. Er war auf seine Visionssuche gegangen und mit nur einem Speer bewaffnet in die Berge gezogen. Es war ihm gelungen, einen Berglöwen zu töten, aber erst nachdem das Tier seine scharfen Krallen über den Bauch des Jungen gerissen und ihn aufgeschlitzt hatte. Er war den ganzen Weg nach Hause gelaufen, hatte seine Eingeweide zurückgedrängt, bevor er seiner Mutter tot vor die Füße fiel.

Danach bekam Sihu’mana keine weiteren Kinder mehr, da ihr Mondfluss aufhörte, und so hatte sie Hoshi’tiwa sechzehn Sommer lang geliebt und beschützt, hatte ihr das Laufen und Sprechen beigebracht, hatte sie gelehrt, freundlich und geduldig, höflich und bescheiden zu sein, und hatte sie in die Traditionen und vielen Tabus des Klans eingewiesen, um sicherzustellen, dass das Mädchen nicht unabsichtlich gegen ein Gesetz verstieß oder der Familie Unglück brachte. Aber vor allem hatte Sihu’mana ihre Tochter gelehrt, durch ihre geschickten Finger mit dem Töpferton zu »sprechen« und so die wunderschönsten Regengefäße zu fertigen, die der Stamm seit Generationen gesehen hatte. Und Sihu’mana hatte ihre Angst sechzehn Jahre lang zusammen mit den Tortillas hinuntergeschluckt und gehofft, dass die Träume nur die Folge von zu viel Gewürzen, zu viel Chili, oder der Streich eines sie heimsuchenden Geistes waren und nicht mehr.

Aber nun sagten ihr Blut und ihre Knochen etwas anderes. Sogar die Welt mit ihren Bäumen und Felsen und Vögeln wusste es. Während sie beobachtete, wie die greise Wuki mit einem Korb Zwiebeln vorbeiging, die sie gerade im Garten ausgegraben hatte, wusste Sihu’mana es. Der gefürchtete Tag war nun doch gekommen.

Aber warum? Was genau sagten ihr Blut und ihre Knochen? Was nützte eine Vorahnung, die Einzelheiten verbarg? Sihu’mana schaute erneut blinzelnd in den Himmel, behielt das klare, tiefe Blau im Blick, rief sich die unheilvollen Umstände in Erinnerung, die Hoshi’tiwas Geburt begleitet hatten, und fragte sich, ob die Vorahnung etwas mit dem Regen zu tun hatte.

Die Götter hatten Sihu’manas Ansiedlung stets wohlwollend betrachtet. Im Winter lag Schnee schwer auf den Zedern- und Kiefernzweigen. Im Sommer segnete Regen die reifen Maisfelder. Ihr Volk hatte sich stets einer reichen Herbsternte erfreuen können. Während ein großer Teil des Maises zum Ort der Mitte geschickt wurde, wie von den Dunklen Herrschern gefordert, solange der Stamm sich erinnern konnte, blieb jedoch stets genug für die Bauern und ihre Familien übrig. Und auch wenn die Herrscher dieses Jahr mehr forderten, weil die Wolken im Land südlich des Ortes der Mitte, wie Gerüchte besagten, ihren Segen spendenden Regen zurückgehalten hatten und die Maisfelder dort zunehmend verdorrten, sorgte sich Sihu’manas Klan nicht. Sie würden immer Regen haben, weil ihre Töpfer die besten Regenkrüge der Welt fertigten.

Alle wussten, dass kein Regen fiel, wenn er nirgendwo hineinfallen konnte. Und je erlesener der Krug, desto mehr Regen wurde davon angezogen. Daher schmückten Hunderte von Gefäßen die Landschaft am Fuß der steilen Klippe, standen vor Eingängen, rund um den Kiva, den Zeremonialbau, entlang den Mauern und auf Fensterbänken, die sich mit dem kostbaren Wasser füllten, das die Feldfrüchte, Bohnen und Kürbisse und die Trinkkürbisflaschen des Volkes nährte. Die Regenkrüge des Stammes waren auch in weit entfernten Dörfern und Bauernhöfen so begehrt, dass Händler und Reisende häufig Halt machten, um Himmelsstein und Fleisch und Federdecken für die erlesenen Töpferwaren einzutauschen.

Sihu’mana konnte sich in ihrer Unruhe nicht auf das Mahlen des Maises konzentrieren. Ihr Blick schweifte ständig über den Platz, die Adobehäuser, die Felder und den Bach, bis er schließlich bei ihrer Baumwolle spinnenden Tochter zur Ruhe kam. Dort lag der Ursprung ihres Unbehagens. Hoshi’tiwa war ein wunderschönes Mädchen, still und bescheiden. Und doch … Sihu’mana fragte sich manchmal, ob unter diesem scheuen Lächeln ein Körnchen Stolz lauerte. Und Stolz, das wusste jeder, war der Anfang des Untergangs.

 

Er wollte dort auf den warmen Pflastersteinen liegen bleiben. Der Läufer war so erschöpft, dass er glaubte, er könne sich nicht mehr erheben, um die letzte Strecke zur Siedlung zu bewältigen.

Aber dort war seine Familie. Seine Großmutter Wuki und seine Schwester Lakshi. Er durfte nicht zulassen, dass die Kannibalen sie gefangen nähmen.

Und so zwang sich der Läufer mit einer letzten Anstrengung und einem verzweifelten, stillen Flehen an die Götter auf seine blutenden Füße und stürmte auf die Klippen zu, wo der vertraute Bach seiner Heimat lockte.

 

Hoshi’tiwa bemühte sich, nicht zu stolz zu sein, aber sie bemerkte doch, dass ihre Regenkrüge sowie diejenigen, die ihre Mutter gestaltete, von den Händlern als Erste ausgewählt wurden. Ihre Mutter hatte sie oft ermahnt: »Prahle nicht mit deiner Gabe, Tochter. Denk daran, dass die Götter jemand anderem die Gabe verweigert haben, damit du sie haben konntest. Daher rückt es die Götter in ein schlechtes Licht, wenn du damit prahlst.« Dennoch erklärten alle, Hoshi’tiwa besäße eine heilige Gabe. Wie konnte sie also umhin, ein wenig Stolz zu empfinden, noch dazu, wo sie doch nun mit Ahoté verlobt war, der zu einem der bedeutendsten Männer im Stamm ausgebildet wurde?

Sie fügte dem Faden mehr gekämmte Baumwolle zu, achtete aber darauf, dass er dünn und gleichmäßig genug blieb. Hoshi’tiwa war im Spinnen nicht so geschickt wie einige der anderen Mädchen, weil ihr Können in der Töpferei lag. Aber sie hatte das Recht, ihr eigenes Brautkleid zu gestalten, und daher war Hoshi’tiwa bis nach der Hochzeit von ihren Töpferpflichten entbunden.

Eine Wolke zog über die Sonne und tauchte das Dorf und die Maisfelder kurzzeitig in schattiges Dunkel. Hoshi’tiwa beunruhigte das nicht, denn es war Frühling und der Himmel unvorhersehbar. Sie war sich nicht bewusst, dass es ein Omen war, ein Zeichen dafür, dass ein anderes Dunkel nahte.

Hoshi’tiwa wünschte, sie könnte ihr Brautgewand gänzlich aus Baumwolle fertigen, aber Baumwolle war eine kostbare Handelsware, ihr Stamm pflanzte sie nicht an und musste sie daher eintauschen. Daher hatte sie nur genug, um Haarbänder zu fertigen. Ihre Brauttunika und der Umhang wurden aus Agavenfasern gewoben, wie auch der Rock und die Tunika, die sie jetzt trug. Obwohl diese Kleidung in einem anderen Dorf gewoben und gegen Regenkrüge eingetauscht worden war, färbte Hoshi’tiwas Volk seine Stoffe selbst, sodass sie häufig ihre Lieblingsfarbe Rot trug. Und die Bänder in ihrem Haar, welche die kunstvoll geflochtenen Zöpfe zusammenhielten, die ihren unverheirateten Status kennzeichneten, waren aus Yuccafasern gewoben und ebenfalls rot gefärbt worden, damit sie zu ihrer Kleidung passten.

Aber eigentlich, dachte sie, während sie im Schneidersitz vor dem geöffneten Eingang ihres Adobehauses saß, war für ihr Hochzeitsgewand eine andere Farbe angemessen. Vielleicht ein helles Blau …

»Hilfe!«

Sie hob jäh den Kopf. Ein Mann, erschöpft und schweißglänzend, erschien an der Biegung des Baches. »Gefahr!«, schrie er und wedelte mit den Armen, als er die Siedlung erreichte, wo er auf die Knie fiel und aufwärts zeigte. »Zur Klippe hinauf! Ein Dunkler Herrscher kommt!«

Hoshi’tiwa ließ ihre Spindel fallen und sprang auf. Die Menschen auf den Feldern, die Mütter und Kinder an den Herdfeuern, die Töpfer an ihren Brennöfen – alle ließen ihre Arbeit im Stich und liefen zum Fuß der Klippe, wo Leitern ständig bereitstanden, damit sie rasch zu der Festung hoch über ihnen hinaufgelangen konnten. Diejenigen, die zuerst oben ankamen, ließen Seile herab, damit noch mehr Menschen eilig die steile Felswand hinauf in Sicherheit klettern konnten.

»Beeilt euch!«, rief der Läufer. Er war von einem Wachturm gekommen, von dem aus er das Heer in der Ferne erblickt hatte. Zwei Männer halfen ihm hoch und auf eine Leiter.

Eine jammernde Lakshi wurde von den Hebammen getragen, das neugeborene Baby auf ihrem Bauch, noch immer durch die Nabelschnur mit ihr verbunden. Ahoté und sein Vater liefen von der Gedächtniswand herbei und richteten weitere Leitern auf, die am Fuß der Klippe aufbewahrt wurden. Die Menschen kletterten blindlings aufwärts, halfen einander, riefen ihren Verwandten zu, sich zu beeilen, während ihnen nackte Furcht in den Gesichtern stand.

Ein Dunkler Herrscher kam.

Hoshi’tiwa und ihre Familie empfanden panische Angst vor den Herrschern des Ortes der Mitte. Sie hatten Geschichten von Folterungen und Menschenopfern gehört. Vor Jahren hatte ihr Großvater am Herdfeuer leise von verbotenen Bräuchen gesprochen. »Die Herrscher stammen nicht aus unserem Volk, sondern sind Fremde aus dem Süden, die gekommen sind, um das Sonnenvolk zu versklaven. Sie haben uns durch ihre Schreckensherrschaft unterjocht. Unsere Vorfahren wurden gezwungen, ihnen ihre Häuser am Ort der Mitte zu erbauen und ihre breiten Wege anzulegen. Wenn wir uns wehrten, kamen sie und schlachteten uns ab, ließen uns qual- und schmerzvoll sterben, kochten uns dann und aßen unser Fleisch.«

Hoshi’tiwa hatte immer angenommen, diese Geschichten seien erfunden, um Kindern Angst einzujagen, damit sie folgsam wären. Aber als sie nun hoch oben auf der Klippe stand und sich an Ahoté klammerte, beobachtete sie entsetzt das von Osten herannahende Heer. Die Tritte der Jaguar-Kämpfer dröhnten auf den Pflastersteinen, während die Krieger das Tal mit dem Lärm ihrer gegen die Schilde geschlagenen Knüppel erfüllten. Inmitten dieses wilden Menschenmeeres saß der Dunkle Herrscher hoch oben auf seinem Thron, der auf den Rücken von vierzig Sklaven getragen wurde. Oben in der Festung auf der Klippe stimmten alte Frauen Klagerufe an, Kinder schrien, und Männer stritten miteinander.

Warum kam das Heer des Dunklen Herrschers? Was wollten sie?

»Sie werden uns essen!«

»Wir müssen ihnen entkommen!«

»In den Tunnel!«

»Sie werden uns finden!«

»Sie werden unsere Knochen kochen und unser Fleisch verspeisen!«

Die erschreckende Masse der Männer in gefleckten Tierfellen, die Furcht erregende Knüppel und Speere und Schilde mit sich trugen, hielt am Fuß der Klippe an. Und die oben kauernden Menschen verfielen in Schweigen.

Niemand in Hoshi’tiwas Klan hatte schon einmal einen Dunklen Herrscher gesehen, aber der Bruder ihres Vaters, ein Händler, der Töpferwaren zu entlegenen Ansiedlungen brachte, um sie gegen Sandalen und Decken einzutauschen, hatte der Familie erzählt, dass ihre nicht die einzige Klippenbehausung war. Er hatte von anderen schützenden Festungen wie ihren erzählt, von hoch oben in die Klippe gehauenen Steinräumen und Treppen und Terrassen, deren einziger Zugang Leitern und Seile waren.

In einer Ansiedlung hatte er die Menschen abgeschlachtet vorgefunden. Die Männer und Frauen und Kinder lagen noch da, wo sie umgekommen waren, weil niemand überlebt hatte, der sie begraben konnte. Sie lagen da, die Streitäxte noch immer in den Schädeln und die Messer in den Brüsten. Aber ihre Arme und Beine waren abgehackt worden, und Hoshi’tiwas Onkel sagte, er hätte jene Knochen glänzend gekocht und sauber abgenagt vorgefunden wie Antilopenknochen nach einem Festmahl. Daher wussten sie, dass die Dunklen Herrscher dort gewesen waren und sich im Namen ihrer gewalttätigen Götter an den Einwohnern gütlich getan hatten.

Ahoté und die übrigen Männer hatten alle Leitern und Seile hochgezogen. Es gab keinen Zugang mehr zu dem Raum in der Klippe. Sie waren sicher. Sie blickten auf die Furcht erregenden Krieger hinab, die Jaguare genannt wurden. Niemand im Klan hatte jemals einen Jaguar gesehen, aber sie wussten durch eine Legende, dass der Jaguar eine gefleckte Katze war, die in einem Land weit im Süden lebte. Die Krieger des Dunklen Herrschers kleideten sich in die Felle dieser gefleckten Katze und trugen den Kopf der Katze auf ihrem Scheitel. Sie trugen schreckliche, schwere Speere und Knüppel und mit kühnen Symbolen bemalte, hölzerne Schilde bei sich. Inmitten dieser beängstigenden Armee thronte der Dunkle Herrscher auf seinem prächtigen Tragestuhl, aber die Menschen auf dem Felsen konnten den Herrscher selbst nicht sehen, da er von einem bunten Baldachin vor der Sonne geschützt wurde.

Der Wind pfiff durch die verlassene Siedlung, während die Menschen oben in angstvollem Schweigen abwarteten, Frauen sich an ihre Männer klammerten und Mütter ihre Kinder festhielten.

Ein Gruppe von Jaguar-Kriegern löste sich aus der Hauptmasse und begann die kleinen Adobebehausungen zu durchsuchen, die sich auf der Ebene hinduckten. Während sie alle Innenräume inspizierten, Truthähne beiseite stießen und über schlafende Hunde hinwegstiegen, trat ein höchst bemerkenswert aussehender Mann vor. Hoshi’tiwas Augen weiteten sich bei seinem Anblick, denn sie hatte noch niemals zuvor einen so prächtig gekleideten Mann gesehen. Er trug einen am Hals befestigten scharlachroten Umhang und eine flammend orangefarbene Tunika, die gewiss aus Baumwolle gewebt war, sowie einen eindrucksvollen Federschmuck auf dem Kopf, und in seiner rechten Hand hielt er einen großen Holzstab, dessen Knauf durch einen mit Himmelsstein und Jade dekorierten menschlichen Schädel geschmückt wurde.

Er wurde von zwei ebenso bemerkenswerten Männern flankiert, deren Körper vollkommen blau bemalt waren, von ihren rasierten Köpfen bis zu ihren blauen Sandalen. In blaue Gewänder gehüllt, spielten sie auf aus menschlichen Schienbeinknochen gestalteten Flöten, während derjenige mit dem Federkopfschmuck den Leuten oben etwas zurief. Er benutzte ihre eigene Sprache, und seine Stimme stieg hinauf zu dem Versteck in der hohen Klippe: »Ich bin Moquihix, vom Ort der Schilfrohre, Träger des Blutkelches, offizieller Sprecher des Tlatoani! Habt keine Angst! Wir wollen nur einen von euch! Nur einen! Die Übrigen können zu ihrer Feldarbeit zurückkehren, wie die Götter es befohlen haben!«

Hoshi’tiwas Leute sahen einander an, während sich ihre Angst mit Verwirrung mischte. Sie wollen nur einen von uns? Warum wollen sie einen von uns? Und wen?

Moquihix’ Stimme erschallte über die Ebene, über den Bach und die steile Klippenwand hinauf. »Schickt das Mädchen namens Hoshi’tiwa herab!«

Alle keuchten. Sie zitterten und klammerten sich aneinander und flüsterten voller Angst. Wie konnte das sein? Sie wollen Hoshi’tiwa?

»Nein!«, schrie Ahoté und zog sie fest an sich.

Die tiefe, volltönende Stimme rief: »Der Geist des Tlatoani vom Ort der Mitte, Fürst Jakál vom Ort der Schilfrohre, Hüter der Heiligen Feder, Wächter des Himmels, ist von eintausend Traurigkeiten erfüllt. Die Sonne scheint nicht im Herzen eures Herrschers. Schickt das Mädchen Hoshi’tiwa hinab, die erwählt wurde, das Herz ihres Herrschers zu erfreuen, und wir werden gehen!«

Blanke Angst stand Hoshi’tiwa ins Gesicht geschrieben. »Mutter, was meint er?«

Das Gesicht ihrer Mutter wurde bleich. Entsetzen erfüllte ihre Augen. Und dann Kummer. »Tochter«, sagte sie mit angespannter Stimme. »Der Dunkle Herrscher hat dich für sich selbst erwählt.«

»Der Tunnel«, flüsterten alle und meinten damit den Fluchtweg, der zur anderen Seite der flachen Mesa führte. »Ahoté, bring sie fort. Die Jaguare werden euch niemals finden.«

Aber dann sahen sie, wie die Jaguare einen alten Mann aus einem der Häuser zerrten. Die Familie schrie auf, als ein Jaguar ihn an den Haaren packte, ihn auf die Knie zwang und eine Axt an seine Kehle hielt.

»Wer von euch hat vergessen, Alten Onkel in das Versteck hinaufzubringen?«, zischte Sihu’mana zornig.

»Schickt das Mädchen hinunter«, rief Moquihix, während die hohen Federn auf seinem großartigen Kopfschmuck im Winde zitterten, »sonst werden wir den Alten hier töten.«

Die Frauen begannen zu wehklagen, denn er war ihr Onkel, ein Geisttänzer, und ohne Onkels Wintersonnenwende-Tanz würde die Sonne stillstehen und ihre Reise zurück zum Sommer nicht wieder aufnehmen.

»Geh nicht, Hoshi’tiwa«, flehte Ahoté. »Komm mit mir zum Fluchttunnel. Bis die Jaguare einen Weg hier herauf finden, werden wir schon lange fort sein, und sie werden dich niemals finden.«

»Aber warum wollen sie mich? Es muss am Ort der Mitte Tausende junger Mädchen geben. Ich bin ein Niemand!« Ihre Augen weiteten sich vor Angst, als sie weit unten ihren Onkel auf den Knien sah, unter der Axt zitternd. Sie schaute zu dem unter dem Sonnenschutz verborgenen Dunklen Herrscher hinüber. Sein Stuhl stand auf einem Teppich aus verwobenen Federn von der Farbe des tiefsten Himmels, der wiederum eine große Holzplattform auf den Rücken der Sklaven bedeckte. Unter dem Rand des Baldachins erblickte sie einen bronzefarbenen Unterarm, mit Armreifen aus einem Metall geschmückt, das sie nur ein Mal zuvor gesehen hatte und das Gold genannt wurde. Aber den Herrscher selbst konnte sie nicht sehen.

Sihu’mana sprach mit trockenem Mund. »Weil du von den Göttern begünstigt bist, Tochter, und der Dunkle Herrscher es irgendwie herausgefunden hat.«

Und dann sah Sihu’mana den entsetzten Ausdruck auf dem Gesicht ihres Mannes. »Es tut mir Leid«, platzte er heraus. »Ich war stolz. Ich habe geprahlt.«

Sihu’manas Atem stockte. Sie fand kaum genug Atem zu sagen: »Mein Mann …« Sie konnte nicht weitersprechen, wohl wissend, was als Nächstes käme, welch schreckliches Geständnis er zu machen hätte.

Die Worte sprudelten aus seinem Mund – wie er sich im Vorjahr gegenüber den Leuten einer Ansiedlung flussabwärts seiner Tochter gerühmt hatte, als er Regenkrüge dorthin brachte, um sie gegen Salz einzutauschen. Sie erzählten ihm von Gerüchten über eine Trockenheit im Süden, wo der Regen aufgehört habe zu fallen, und doch regne es, wie sie sagten, in seiner Gegend reichlich. »Was ist das Geheimnis eurer Regengefäße?«, fragten sie. Und er konnte dem Drang nicht widerstehen, mit seiner Tochter zu prahlen, die in der Nacht ihrer Geburt Regen gebracht hatte – und seitdem waren ihre Regenkrüge stets gefüllt.

Alle in dem Versteck in der Klippe wechselten besorgte Blicke. Die Kunde von Sihu’manas Tochter war offensichtlich auf dem ausgedehnten Netzwerk der Handelsrouten weitergetragen worden, bis sie den Ort der Mitte erreicht hatte, wo seit mehreren Jahren kein Regen mehr gefallen war. Aber was hatte dies mit dem Herrscher zu tun?

Sihu’mana, deren Seele voller Furcht und deren Blut eiskalt war, wusste es bereits. Dennoch flüsterte sie: »Wessen hast du dich noch gerühmt, Mann?«

Er ließ den Kopf hängen. »Ich konnte nicht widerstehen. Ich erzählte ihnen, dass meine Tochter schöner ist als die Sonne.«

Sihu’mana schluckte schmerzlich und erkannte augenblicklich, welch neue Wendung ihr Leben nehmen würde. Es gäbe keine Enkel, keine gehorsame Tochter, die sich im Alter um sie kümmerte. Hoshi’tiwa musste gehen, und nichts wäre wie vorher.

Sie wandte sich zu dem Mädchen um und sagte mit vor Angst und Kummer rauer Stimme: »Dann ist dies der Grund, warum sie dich holen kommen, meine Tochter. Der Herrscher will dich zu seinem Vergnügen haben.«

Entsetztes Murmeln durchlief den sich zusammendrängenden Klan, und Angst und Abscheu stand allen ins Gesicht geschrieben, während sie langsam vor dem Mädchen zurückwichen, das nun verflucht war.

Sihu’mana fuhr fort, zu gut wissend, dass der Name ihrer Tochter in Zukunft nie mehr ausgesprochen werden würde. »Er wird seinen Körper mit deinem vereinen, der mit der Gunst der Götter gesegnet wurde, damit er auch an diesem Segen teilhaben kann.« Sihu’mana schloss die Augen. Der frühere Traum über ihre neugeborene Tochter als erwachsene Frau, die an einem unbekannten Platz vor einer großen Menschenmenge stand – bis auf blutige Striemen zwischen ihren Brüsten nackt. Jetzt begriff Sihu’mana die Bedeutung dieses Traums.

Hoshi’tiwa konnte sich nicht rühren. Sie schaute zu dem Jaguar, der eine Axt an Onkels Hals hielt. Onkel wurde gebraucht, um die Sonne von ihrer Winterreise zurückzuholen. Ohne die Sommersonne würde der Mais nicht wachsen. Aber dann dachte sie an den unter dem bunten Baldachin verborgenen Dunklen Herrscher, und der Gedanke an das, was sie mit ihm tun müsste, ließ ihr das Herz in die Kehle steigen. Sie sank auf die Knie und schlang die Arme um die Beine ihrer Mutter. »Mutter, bitte lass mich mit Ahoté fortgehen! Erlaube uns, diesen Ort zu verlassen!«

»Ja«, sagte Ahoté, das Gesicht rot vor Zorn. Wie konnte ein anderer Mann es wagen, ihm seine Verlobte zu rauben? Dunkler Herrscher oder nicht, niemand durfte zulassen, dass der Prinz in dem Tragestuhl Hoshi’tiwa berührte. »Lass mich sie fortbringen. Sie werden uns niemals finden.«

Unten rief der Sprecher namens Moquihix: »Du brauchst zu lange! Dein Herrscher hat dir befohlen, herabzukommen!«

Der Jaguar hob vor ihren entsetzten Augen die Axt und durchtrennte damit Onkels Hals, trennte den Kopf vom Körper.

Eine furchtbare Stille senkte sich auf die oben versammelte Familie. Hoshi’tiwas Mutter sah sie an und flüsterte: »Tochter, was hast du getan?«

»Mutter, es ist nicht meine Schuld!«

»Seht!«, rief Ahoté und streckte die Hand aus. Sie sahen, wie mehrere Jaguare aus der Masse heraustraten und zum tief unten liegenden Fuß der Klippe liefen.

»Sie werden einen Weg finden, heraufzuklettern«, sagten alle, »sie werden uns erreichen und uns alle niedermetzeln!«

Hoshi’tiwa sagte: »Dann müssen wir jetzt fliehen. Wir alle!«

Aber ihre Mutter zog das Mädchen hoch und sah sie traurig an. »Du musst gehen. Wir müssen den Herrschern alle Hochachtung bezeigen, ob in Mais oder in Töchtern.«

Als Hoshi’tiwa nun heftiger und bitterlicher schluchzte, drängte Sihu’mana ihre eigenen Tränen zurück und sagte in Erinnerung an den prophetischen Traum, der sie vor langer Zeit heimgesucht hatte: »Hör mir zu, Tochter. Ich muss dir etwas sagen. Du wurdest zu einem bestimmten Zweck geboren. Ich weiß nicht, was dieser Zweck ist, nur dass du dich nicht davor verschließen darfst. Du kannst tapfer sein. Das weiß ich.«

Der Beweis für Hoshi’tiwas Tapferkeit lag in drei senkrechten, blauen Linien, welche die Mitte ihrer Stirn zierten. Hoshi’tiwa hatte sie während ihrer Initiationsriten erhalten, während deren Mädchen mit dem ihren Klan kennzeichnenden Zeichen tätowiert wurden. Das Ritual war auch ein Beweis der Tapferkeit, da die Prozedur schmerzhaft war und jedes Mädchen, das dabei aufschrie, seiner Familie Schande machte. Ein scharfer Knochen ritzte die zarte Haut ein, und dann wurde mit blauem Ton vermischte Holzkohle in die Wunde eingerieben. Anschließend wurde ein Breiumschlag aus Espenblättern aufgelegt, in Nequhtli, einem starken Alkohol, getränkt, um eine Infektion zu vermeiden. Hoshi’tiwa war weder zusammengezuckt, noch hatte sie einen Laut von sich gegeben.

»Tochter, du musst gehen.«

»Mutter, wie kannst du mich dazu zwingen?«, jammerte sie.

Ihre Mutter legte die Hände um Hoshi’tiwas Gesicht und sagte: »Dein Leben hier ist vorüber, Tochter. Es liegt jetzt in den Händen der Götter. Ich bete dafür, dass wir dich wiedersehen werden.« Aber Sihu’mana wusste, dass dies völlig unmöglich war. Vor vielen Jahren hatte die Schwester ihrer Mutter auf einer Pilgerreise zu den heiligen Schreinen am Ort der Mitte die Aufmerksamkeit eines der Pipiltin, der regierenden Adligen, auf sich gezogen. Sie wurde ergriffen und mitgenommen, und man hörte nie wieder etwas von ihr.

»Nein!«, stöhnte das Mädchen auf. Der Dunkle Herrscher unter dem bunten Baldachin – eher würde sie sterben. Und dann bemerkte sie, wie die anderen sie ansahen, sie mit Blicken anflehten, sie vor den Jaguaren zu bewahren – aber da war auch noch etwas anderes, der Blick, den sie der armen Kowka zugeworfen hatten, als diese sich von ihren Verletzungen erholte. Hoshi’tiwa war nun makaiyó, was viele Bedeutungen hatte. Ritualistisch gesehen bedeutete es unrein, tabu. Tage im Sternenkalender, die als Unglück bringend angesehen wurden, nannte man makai-yó. Gewisse verbotene Nahrungsmittel, wie das Fleisch der Wüstenschildkröte – der Totemgeist des Klans –, waren makai-yó. Eine unverheiratete Jungfrau, deren Reinheit beschmutzt wurde, war ebenfalls makai-yó. Es bedeutete, dass sie keine Mutter und keinen Vater, keine Brüder und Schwestern, keine Verwandten irgendeiner Art und keine Freunde mehr hatte, noch jemand war, mit dem man sich anfreunden, den man ernähren, dem man helfen durfte.

Als ein Rauchpriester die Worte von Tabu und Reinigung anstimmte und sein Ruf in dem gewaltigen steinernen, in die Klippe gehauenen Raum widerhallte, schrie Hoshi’tiwa: »Aber es ist noch nicht geschehen!« Nichtsdestotrotz sah sie auf den Gesichtern jener, die vor ihr zurückwichen, dass die Verunreinigung bereits begonnen hatte, weil die Tat verfügt wurde.

Mit vor Angst verengter Kehle, trockenem Mund und pochendem Herzen umarmte Hoshi’tiwa ihre Mutter und ihren Vater und küsste ihren geliebten Ahoté. Aber als sie ihre Tanten und Onkel küssen wollte, schraken sie vor ihr zurück.

Elend vor Angst und Scham, ließ Hoshi’tiwa ein Seil herab und kletterte hinunter. Am Fuß der Klippe hielt sie inne, um zu den Gesichtern hinaufzublicken, die zu ihr herunterstarrten, und dann wurde sie von einer rauen Hand gepackt und, nachdem man ihr die Handgelenke gefesselt hatte, zu Moquihix gezerrt und zu Boden gestoßen. Sie kniete zitternd da, während der Sprecher über ihr aufragte.

»Du bist das Mädchen namens Hoshi’tiwa?«

Sie nickte stumm.

»Obwohl du ein Mistkäfer unter den Fußsohlen meines Herrn bist, ein Stäubchen in den Sonnenstrahlen bist, die das Auge meines Herrn erfreuen, wurdest du von den Göttern dazu auserwählt, das Herz meines Herrn, des Tlatoani vom Ort der Mitte, Jakál vom Ort der Schilfrohre, Hüter der Heiligen Feder, Wächter des Himmels, zu erfreuen.«

Moquihix’ Stimme erhob sich, sodass auch diejenigen in dem Versteck in der Klippe ihn hören konnten. »Mädchen, das du Staub unter den Füßen von Sklaven bist, du wirst meinem Herrn Jakál Freude bringen, oder du und dein Klan werden bei der nächsten Sonnenwende auf dem Blutaltar den Göttern geopfert.«

2

Benommen vor Angst, stapfte Hoshi’tiwa mühsam mit dem Heer des Dunklen Herrschers mit und hinkte, weil ihre bloßen Füße nicht an die harten Pflastersteine der Straße gewöhnt waren. Allmählich entschwand die kleine Ebene, auf der ihr Dorf stand, ihren Blicken, und sie hörte die Schreie und das Klagen ihrer Familie in dem Versteck auf der Klippe nicht mehr. Vor ihr lag die breite, gepflasterte Hauptstraße, welche die Dunklen Herrscher gebaut hatten und die pfeilgerade durch Täler und zwischen Mesas an Siedlungen, Klippenbehausungen und Bauernhöfen vorbeizog, eine Straße, die zum Ort der Mitte und in Hoshi’tiwas ungewisse Zukunft führte.

Der Dunkle Herrscher ritt der Prozession auf dem prächtigen Thron voran, der auf den Rücken von vierzig selbst mit großartigem Putz ausgestatteten Sklaven getragen wurde. Hoshi’tiwa konnte nur die Rückseite des Thrones sehen, auf dem der Herrscher saß, und darüber aufragend die langen, grünen Federn seines Kopfschmucks. Der erhabene Sprecher, Moquihix, wurde ebenfalls auf einem Tragestuhl befördert, aber auf einem kleineren, den nur sechs Sklaven trugen. Ihm folgten die Jaguare – stolze und starke Männer, die in gefleckte Tierfelle gekleidet waren und die große Schilde und Speere mit Feuersteinspitzen trugen. Am Ende der Prozession liefen die Sklaven, die Nahrung und Vorräte schleppten, ihre Last in Säcken auf dem Rücken, die mit Bändern um ihre Stirn befestigt waren. Die schwereren Gegenstände hingen an Stangen, die von jeweils zwei Männern getragen wurden.

Während die imposante Prozession an Bauernhöfen und Ansiedlungen vorüberzog, ließen Männer und Frauen ihre Arbeit ruhen, warfen sich zu Boden und bedeckten angstvoll ihre Köpfe. Die einzige Ausnahme war ein Kokopilau, der am Straßenrand dahinschlenderte, den Rücken unter einem schweren Sack gebeugt. Seine Flöte erfüllte die Luft mit einer fröhlichen Melodie. Das Glück und der Segen des Kokopilau waren so wichtig, dass er der einzige Mensch war, der sich nicht vor dem großen Herrscher verbeugen musste.

Hoshi’tiwa sah nichts von alledem, denn ihre Augen waren vom Anblick von Ahotés Tränen, vom enthaupteten Körper ihres Onkels und dem Schmerz in den Augen ihrer Mutter erfüllt, als sich Hoshi’tiwa zunächst geweigert hatte, die Klippe hinabzusteigen. Und in ihrem Herzen rangen ungewohnte Empfindungen: Verwirrung, Bestürzung, Angst und Traurigkeit. Wie hatte ihre Mutter sie nur zwingen können, dies zu tun?

Sollte die entsetzliche Tat schon heute Nacht stattfinden? Sie fühlte sich elend vor Angst. Ich werde einfach nur daliegen, schwor sie sich. Sollte er seinen Willen bekommen.

Aber das würde ihm kein Vergnügen bereiten.

Wie stellte man sicher, dass ein Herrscher Vergnügen empfand? Was erwartete man von ihr? Obwohl Hoshi’tiwa noch Jungfrau war, wusste sie, was es bedeutete, wenn Männer und Frauen in Liebe und Verlangen zusammenkamen. Aber waren die Herrscher nicht anders? Fühlten sie überhaupt wie normale Menschen? Sie hatte Gerüchte darüber gehört, dass sie zum Teil wilde Tiere seien. Welcher Teil von ihnen? Eiskalter Schweiß brach auf ihrem Körper aus, und sie zitterte vor Angst und Elend.

Bei Einbruch der Dunkelheit hielt das Heer an, und Hoshi’tiwa war bestürzt, als sie am Rande der Hauptstraße ein großes Lager mit Menschen allen Alters erblickte, die aneinander gefesselt waren, weinten oder sich wehrten, Gefangene wie sie selbst. Die Jaguare zogen sich zur anderen Seite des Lagers zurück, und der Dunkle Herrscher wurde zu einer Art Schutzhütte getragen, wie Hoshi’tiwa sie noch nie zuvor gesehen hatte: bunt gefärbtes Tuch auf Stangen, die in den Boden eingerammt waren, mit einem in den Stoff geschnittenen Eingang. In diesem prächtigen Zelt verschwand der Dunkle Herrscher, und Hoshi’tiwa erstarrte in Erwartung des Kommenden.

Der hohe Beamte, Moquihix, bedeutete einem Aufseher, Hoshi’tiwa herbeizubringen. Aber anstatt zum Zelt des Herrschers geführt zu werden, brachte man sie zu einem Lagerfeuer, wo andere Gefangene aneinander gefesselt waren, Flüche ausstießen und flehten, freigelassen zu werden. Der hohe Beamte fuhr einen Sklaven an, der das Feuer schürte.

»Sorg dafür, dass diese nicht entkommt.«

»Ich gehorche«, sagte der Sklave, und Moquihix schritt davon.

Nachdem der hohe Beamte gegangen war, richtete sich der Sklave auf, ein Mann mit einem Schmerbauch, der einen fleckigen, weißen Lendenschurz und einen schmutzigen weißen Umhang trug, vollführte ein grobes Zeichen in Moquihix’ Richtung und richtete dann ein trübes Auge auf den Neuankömmling. Hoshi’tiwa starrte den Mann unwillkürlich an. Sie hatte noch nie zuvor jemanden ohne Nase gesehen.

Er bemerkte den Ausdruck auf ihrem Gesicht. Er hatte ihn schon viele Male zuvor sehen müssen. »Wurde mir vor Jahren abgeschnitten, weil ich in Gegenwart eines Herrschers geniest habe.«

Er zog ein Seil aus Yuccafasern hervor, band es ihr um einen Knöchel, befestigte es an einem hölzernen Pfahl im Boden und ließ das Seil lang genug, dass Hoshi’tiwa einige Schritte gehen konnte.

»Ist dies …«, begann sie und sah sich mit bangen Augen um. Im Westen ging die Sonne unter und warf lange Schatten über die Ebenen und Täler. »Ist dies der Ort der Mitte?«

Der nasenlose Sklave sah sie erstaunt an und wandte sich dann wieder dem Feuer zu.

Ein Aufseher brachte Maistortillas, die er auf den Boden warf, woraufhin sich die Gefangenen sofort darauf stürzten. Bis Hoshi’- tiwa zu der Stelle gelangte, waren keine Tortillas mehr übrig. Er hatte auch eine Kürbisflasche mit Wasser mitgebracht, die herumgereicht wurde, doch als Hoshi’tiwa sie nahm, war sie leer.

»Du musst schnell sein, wenn du den Ort der Mitte lebend erreichen willst«, sagte der Nasenlose, der, da er ein Aufseher war – wenn auch von niedrigem Rang –, an seinem eigenen Maiskuchen kaute und aus seinem eigenen Wasserschlauch trank, ohne dem Mädchen etwas anzubieten.

Hoshi’tiwa drängte die Tränen zurück und wollte aufbegehren: »Ich will den Ort der Mitte nicht erreichen, also kümmert es mich nicht, ob ich Nahrung bekomme oder nicht.« Aber dann schwieg sie und zog sich in sich selbst zurück, um über ihr schreckliches Schicksal nachzudenken.

Die Dunkelheit sank herab, Sterne gingen auf, und die Ebene flackerte im glühenden Schein der Lagerfeuer. Das Stöhnen der Gefangenen stieg in den Himmel auf und vermischte sich mit dem Gesang der Jaguare, die ein riesiges Feuer errichtet hatten, dessen Funken wie Glühwürmchen aufstoben in die Nacht. Hoshi’tiwa hatte noch nie so viel Lärm gehört.

Als ihre Mitgefangenen um einen Platz am Feuer rangen – die meisten trugen nur Lendenschurze, und eine kalte Frühlingsnacht stand bevor –, konnte Hoshi’tiwa die Tränen nicht mehr zurückhalten. Nasenloser, wie er genannt wurde, fuhr sie an, sie solle still sein. Er trank Nequhtli, dieses schaumige, dickflüssige, berauschende Getränk, das aus dem gegorenen Saft der Agave gemacht wurde. Er trank geräuschvoll, wischte sich mit der Hand über den Mund und erklärte dem Mädchen, sie solle sich geehrt fühlen. »Die Herrscher, denen wir dienen, sind nicht das demütige Sonnenvolk. Sie sind Toltecatl, weil ihre Heimat weit im Süden eine Stadt namens Tola ist. Dein neuer Herrscher ist ein Toltekah und dir daher auf jegliche Art überlegen.«

Während er sprach, zupfte Hoshi’tiwa heimlich an dem Seil um ihren Knöchel. Sobald alle schliefen, würde sie fliehen.

Nasenloser kratzte sich den Bauch und prahlte: »Ich habe selbst Toltekah-Blut in meinen Adern, da ich von einer langen Reihe von Pochtecas abstamme, achtbare und schlaue Händler, die über weite Entfernungen Handel trieben. Mein Urgroßvater besaß sein eigenes Land, so angesehen waren wir. Und er war ein Spion für den Tlatoani von Tola und kannte Regierungsgeheimnisse.« Nasenloser seufzte, füllte seinen Becher nach und trank noch etwas. »Mein Vorfahre kam auf der Suche nach Himmelsstein zum Ort der Mitte. Was er vorfand, war ein einfaches Volk, das Mais züchtete, in einfachen Häusern lebte und eifrig dienen wollte. Er glaubte, das Paradies gefunden zu haben. Die Nachricht verbreitete sich in seinem Heimatland im Süden, in Tola und Aztlan und sogar bis weit in den Süden nach Chichen: Kommt nach Norden, wo die Menschen fügsame Schafe sind. Sie werden euren Mais anbauen und euch Himmelsstein geben, und ihr werdet wie Könige leben.«

Ein blutrünstiges Heulen erklang plötzlich von den Jaguaren auf der anderen Seite des Lagers. Nasenloser schaute rasch in deren Richtung und dann wieder fort und trank aus seinem Becher. Hoshi’tiwa glaubte, Angst in seinen Augen zu sehen.

»Ich trage auch das Blut deines Volkes in mir«, sagte er grämlich, »weshalb ich Sklavenaufseher bin, weil ich deine Sprache spreche und deine Art verstehe.« Seine Stimme stieg zu falscher Tapferkeit an. »Aber ich bin mehr Toltekah, weil Toltekah-Blut stark ist!« Er schlug sich auf die bloße Brust. »Während das Sonnenvolk Gruben in der Erde aushob, bauten meine Vorfahren Pyramiden himmelwärts!«

Er füllte seinen Becher von neuem und schaute wieder in Richtung der lärmenden Jaguare. »Da mein Urgroßvater und andere tapfere Pochtecas wie er so erfolgreich waren, schickte der König einen Tlatoani, um uns zu regieren. Seitdem leben hier Tlatoani.« Sein Blick aus roten Augen glitt zu dem bunten Zelt, das nun von innen beleuchtet war.

Hoshi’tiwa konnte sich nicht vorstellen, was der Dunkle Herrscher in seinem prächtigen Zelt tat, aber alle wussten, dass Dunkle Herrscher menschliches Fleisch zerschnitten und es mit Mais aßen. Sie aßen diesen Menschenmais, wie sie ihn nannten, um ihre grausamen Götter zu beschwichtigen. Hoshi’tiwa war entschlossen zu fliehen, bevor der Herrscher kommen und sie essen konnte.

Schließlich schlief Nasenloser ein, und die übrigen Gefangenen und sogar die Jaguare wurden still, während die Nachtkälte herabsank. Hoshi’tiwa gab es auf, das Seil lösen zu wollen, rollte sich zusammen und weinte sich in den Schlaf, um von zu Hause und ihrem geliebten Ahoté zu träumen.

Sie wurde von einer groben Hand auf dem Mund geweckt, die sie niederdrückte, sodass sie nicht atmen konnte. Weitere grobe Hände zogen an ihren Oberschenkeln, drückten ihre Beine auseinander. Tat der Dunkle Herrscher es auf diese Art?

Und dann sah sie das hässliche Gesicht des Scheusals, das sie niederdrückte. Es war einer der Aufseher. Das Murren der anderen beiden klang gedämpft, während sie sie festzuhalten versuchten. Sie spürte kalte Luft an ihren Beinen, als ihr Rock grob hochgezerrt wurde. Nein! Der Gedanke war wie ein Schrei des Entsetzens. Dies war schlimmer als der Dunkle Herrscher.

Sie rang nach Atem, versuchte, ihre Arme aus dem harten Griff zu befreien, öffnete den Mund und biss fest in die grobe Hand, biss in die ledrige Handfläche, bis sie Blut schmeckte. Der Wächter heulte auf und fluchte, und in diesem kurzen Moment gab er ihren Mund frei. Hoshi’tiwa schrie, so laut es ihre Lungen zuließen.

»Sei still!«, zischte ihr Angreifer, aber sie spürte, wie die Hände ihre Beine losließen, und hörte, wie schwere Schritte sich entfernten. Und dann setzte sich der verbliebene Kerl plötzlich auf, einen überraschten Ausdruck auf dem Gesicht, und fiel seitwärts, der Pfeil eines Jaguars blutig aus seiner Brust ragend.

Hoshi’tiwa kroch davon, so weit es das Seil erlaubte, zerrte hektisch ihren Rock herunter und zog die Knie an die Brust. Durch Tränen hindurch sah sie Moquihix durch das Lager schreiten und zwei Wächtern einen Befehl zubrüllen, die herbeieilten und den Leichnam fortzogen. Anschließend führte er eine kurze, heftige Diskussion mit Nasenlosem, der in ihre Richtung blickte und dann verlegen sagte: »Ja, großer Herr.«

Bevor Nasenloser zu seinem Platz am Feuer zurückkehrte, baute er sich vor ihr auf und sagte verbittert: »Es sieht so aus, dass meine Aufgabe nun noch schwerer ist, da ich, zusätzlich zu all meinen anderen Bürden, auch die kostbare Blume zwischen deinen Beinen beschützen muss.«

Darin stimmten sie und der widerwärtige Sklave überein. Aber Hoshi’tiwa hatte eigene Gründe, ihre Jungfräulichkeit zu schützen. Wäre sie erst vom Dunklen Herrscher geschändet worden, würde kein Mann sie mehr berühren wollen, nicht einmal Ahoté. Niemals zu heiraten bedeutete, keine Kinder zu bekommen, was Hoshi’tiwa die Verachtung und das Mitleid aller um sie herum einbringen würde. Nicht nur musste sie sich gegen jeden widerlichen Kerl schützen, der mit diesem Heer mitlief, sondern sie musste auch eine Möglichkeit ersinnen, wie sie der lüsternen Umarmung des Prinzen entgehen könnte. Sich vielleicht auf irgendeine Art reizlos machen.

Oder würde das die Götter verärgern?

Wessen Götter? Dessen war sich Hoshi’tiwa unsicher. Sie wusste, dass das Sonnenvolk, bevor die Herrscher kamen, von unsichtbaren, wohlwollenden Wesen beschützt wurde, die Regen brachten, den Mais wachsen ließen und der Welt Ausgewogenheit brachten. Hoshi’tiwas Volk verehrte diese Geister weniger, als dass es sie zu kränken vermied. Wenn die Natur aus dem Gleichgewicht geriet, was zu katastrophalen Überflutungen und Missernten führte oder zu Krankheiten, die einen Klan auslöschen konnten, dann lag dies darin begründet, dass die Geister des Gleichgewichts unglücklich waren und besänftigt werden mussten.

Aber seit der Ankunft der Herrscher, lange bevor Hoshi’tiwa geboren wurde, hatten sich neue Götter in die Welt des Unsichtbaren eingeschlichen, von den Eindringlingen aus dem Süden mitgebracht, Götter, die menschliche Gestalt annahmen und Namen besaßen, wie Tlaloc, der Gott des Regens. Und sie hatten Launen und Gelüste. Einige dieser überlegenen Wesen hatten sogar Familien. Spät in der Nacht flüsterten sich die Männer ihres Klans zu, dass die Geister des Sonnenvolkes von den stärkeren Himmelswesen – diejenigen mit Namen und Gestalten und Waffen – vertrieben wurden und dass die Welt eines Tages aus dem Gleichgewicht geriete und für immer unausgewogen bliebe.

Welche Götter musste sie also besänftigen, indem sie sich dem Dunklen Herrscher überließ? Welche unsichtbaren Geister beschützten die Jungfrau Hoshi’tiwa und stellten eine solche Forderung an sie? Da sie so weit von ihrem Dorf und den Weisheitssprüchen der Ältesten entfernt war, konnte sich Hoshi’tiwa an niemanden wenden, nirgendwo anders nach Antworten suchen als in ihrem eigenen jungen, unerfahrenen Herzen.

Und dann dachte sie an ihre Familie und an die Schande, die sie über sie bringen würde, wenn sie vor einer Prüfung des Mutes und der Tapferkeit davonliefe. Sie wusste, was von ihr erwartet wurde: sich für die Ehre des Klans zu opfern.

Nachdem der Herrscher mit ihr fertig wäre, musste Hoshi’tiwa ihre Pflicht tun und sich selbst töten.

Diese trostlosen Gedanken kreisten in ihrem Kopf wie ein armes, angepflocktes Tier, und sie kam zu keinem Schluss.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, durchschnitt Nasenloser gerade die Fesseln von drei Gefangenen, die während der Nacht gestorben waren.

Aufseher schritten durch das gewaltige Lager, warfen Gefangenen Maiskuchen zu und teilten Kürbisflaschen mit Wasser aus. Hoshi’- tiwa erlangte wieder nichts zu essen oder zu trinken. Gut, dachte sie elend. Vielleicht wollte der Herrscher mit einem Mädchen schlafen, das nur Haut und Knochen war.

Nasenloser war schlechter Stimmung und beklagte sich, dass die Dämonen in seinem Kopf schrien. Während er seine Schützlinge aufreihte und für den Tagesmarsch wieder an den Knöcheln zusammenband, bemerkte Hoshi’tiwa, dass er häufig zu den Jaguaren blickte, die sich mit ihren Speeren und Schilden versammelten. Sie glaubte erneut, Angst in seinen Augen zu sehen.

Der hohe Beamte, Moquihix, kletterte auf einen Felsen und verlangte Ruhe, während sein scharlachroter Umhang und die tiefblaue Tunika in der Sonne glänzten und die Federn seines Kopfschmucks im Wind tanzten. Die versammelte Menschenmenge verfiel in Schweigen. Als Moquihix den Dunklen Herrscher ankündigte, sanken alle auf die Knie, pressten ihre Gesichter auf den Boden und bedeckten die Köpfe mit den Armen. Die Dunklen Herrscher wurden so genannt, weil die Menschen nicht wussten, wie sie aussahen, da es verboten war, den Blick zu ihnen zu erheben. Nur Getötete hatten die Dunklen Herrscher gesehen. Und doch konnte Hoshi’tiwa, als sich die Gefangenen vor der Gestalt auf dem großen Tragestuhl niederwarfen, nicht widerstehen, den Kopf zu heben, um einen Blick auf den vorüberziehenden Dunklen Herrscher zu werfen, auf diesen Mann, der ihr Schicksal besiegeln würde.

Sie sah ihn. Er war überhaupt nicht dunkel, sondern so prunkvoll gekleidet, dass das Scharlachrot, Hellgelb und Blau in den Augen schmerzte. Sie konnte keinen Eindruck von dem Mann gewinnen, da er ganz Federn und Blumen und so strahlend wie ein Gott war.

Und dann spürte sie einen scharfen Schmerz am Hinterkopf, hörte ein lautes Krachen und sah helle Blitze, bevor sie Dunkelheit überwältigte.

Als sie wieder zu sich kam, stand die Sonne schon hoch am Himmel, und sie stolperte zwischen zwei Sklaven, die sie an den Armen festhielten, die Straße entlang. Ihr Kopf schmerzte, und sie erkannte, dass sie von einem Aufseher niedergeschlagen worden war, weil sie es gewagt hatte, den Dunklen Herrscher anzusehen. Sie spürte Hunger und Durst, und ihre bloßen Füße waren voller Blasen. Aber der Zug von Menschen hielt nicht an. Aufseher kamen mit Maiskuchen und Wasser durch die Reihen, und dieses Mal ergriff Hoshi’tiwa ihren Anteil.

Sie schluchzte, während sie voranstolperte, fühlte sich von ihrer Mutter verlassen, von ihrem Klan verraten. Sie hatte das Gefühl, das elendste Geschöpf auf Erden zu sein, bis die Prozession an einem Kontingent Sklaven vorüberkam, deren Ziel die Himmelsstein-Minen waren, und sie Menschen sah, denen es noch weit elender ging als ihr. Die armen Menschen wurden mit Peitschen erbarmungslos vorangetrieben, und nur wenige machten sich die Mühe, sich vor dem vorüberziehenden Herrscher zu verneigen, denn sie waren die hoffnungslosesten Menschen auf Erden, ihr Schicksal bereits so schlimm, wie es nicht schlimmer sein konnte, sodass sie keinen Menschen und kein Gesetz mehr fürchteten. Die Leute sagten, eine schnelle Hinrichtung sei einem Leben in den Himmelsstein-Minen vorzuziehen, weil niemand die Tortur der Minenarbeit ertragen konnte. Hoshi’tiwa vergaß ihr Unglück, und ihr Herz flog diesen armen Geschöpfen zu, denn gewiss konnte kein Verbrechen so schlimm sein, dass es ein solch entsetzliches Schicksal verdiente.

Während der Menschenstrom ostwärts zog, wichen die Bergketten langen Reihen von flachen Mesas, die durch rote und goldene Sandsteinklippen und Felsschluchten getrennt waren. Hier und da sah man einen kleinen Bergwald, der sich wie eine Insel erhob, aber die Waldstücke wurden weniger und lagen immer weiter auseinander, und Seen und Wasserläufe ließen sich zunehmend schwerer finden.

In der Abenddämmerung hielt die Prozession an, und die Jaguare verließen ihre Positionen, riefen und schlugen mit ihren Speeren auf die Schilde, erfüllten das Tal mit Lärm. Sie errichteten augenblicklich ihr nächtliches Lagerfeuer und begannen ihre Spiele und Tänze. Hoshi’tiwa konnte sie von ihrer Seite des gewaltigen Lagers aus nicht sehen, aber sie hörte die Gesänge, die sie um ihr Lagerfeuer anstimmten, und die Rufe, die ihre temperamentvollen Spiele bei Fackellicht begleiteten. Ihr freudiges Geheul ließ alle bis ins Mark erschauern.

Erneut erwartete sie, zum Zelt des Dunklen Herrschers geführt zu werden, wurde aber wieder nur am Boden angepflockt, während Wasser und Maiskuchen verteilt wurden. Sie konnte kaum etwas essen, da ihr die Vorahnung auf ihre Nacht mit dem Herrscher Übelkeit verursachte. Worauf wartete er?

Während Nasenloser sein starkes Gebräu trank und von besseren Zeiten erzählte, weinte und überlegte Hoshi’tiwa abwechselnd, ob sie entkommen könnte, bevor sie schließlich einschlief.

Sie erwachte während der Nacht von menschlichen Schmerzensschreien und presste die Hände an die Ohren, bis die Schreie unterbunden wurden. Am nächsten Tag sah sie, dass die Speere mit den Feuersteinspitzen vor Blut troffen.

In ihrer dritten Nacht im Lager, als die Schreie und das Trommeln der Krieger erneut zu den Sternen aufstiegen, fragte Hoshi’tiwa den Nasenlosen, was vor sich ging.

Er sah sie ausdruckslos an, als hätte sie nach etwas ganz Offensichtlichem gefragt. »Dies sind die Acht Tage.«

»Die Acht Tage?«

Er senkte die Augenbrauen und strich über die beiden Öffnungen, die als Nasenlöcher dienten. »Eine unsichere Zeit für den Dunklen Herrscher und die Jaguare. Eine Zeit, in der«, er schaute über die Schulter, »alles geschehen kann.«

Sein Tonfall ließ ihre Nackenhaare sich aufrichten. »Acht Tage – was geschieht am achten Tag?«

Als er nicht antwortete, sah sie sich zu den Hunderten von Männern, Frauen und Kindern um, die eng um die Lagerfeuer kauerten. »Warum wurden alle diese Menschen zusammengetrieben?«

Er zuckte die Achseln. »Um den Herrschern zu dienen.«

Aber eine schleichende Angst erweckte in Hoshi’tiwa den Verdacht, dass die Menschen aus einem anderen Grund versammelt wurden. Die Jaguare wurden mit jeder Nacht wilder, und während des Tages spürte Hoshi’tiwa in ihrer Gangart Unruhe, als hätten sie sich kaum noch unter Kontrolle. In der sechsten Nacht, als Moquihix durch die einzelnen Teile des Lagers ging, sah sie, dass sein Körper starr vor Anspannung und sein Blick wachsam war. Und Nasenloser trank, als hätte er Angst vor etwas, bis er schließlich von dem Nequhtli umfiel.

Hoshi’tiwa konnte überhaupt nicht schlafen, sondern lag zitternd unter den Sternen und fragte sich erneut: Was geschieht am achten Tag?

3

Sie kamen zu einer Stelle, an der die breite Hauptstraße auf eine weitere Straße traf und der Zug der Menschen sich nach Süden wandte. Von dort stieg die Straße von der flachen Ebene beständig an. Sie lagerten in dieser Nacht am Fuße einer kleinen Mesa.

Und Hoshi’tiwa erkannte sofort, dass irgendetwas auf fürchterliche Weise nicht stimmte.

Die Jaguare waren still.

Eine eigenartige Ruhe senkte sich auf das ausgedehnte Lager, trotz der vielen Menschen, trotz der brennenden Lagerfeuer. Keine Flöten erklangen, es war nichts von Glücksspielen, keine Unterhaltung und nicht einmal das allgegenwärtige Stöhnen und Flehen zu hören.

Hoshi’tiwa saß mit bis zur Brust hochgezogenen Knien da und wiegte sich angstvoll vor und zurück. Ihre Welt war zu einem Albtraum geworden. Sie war weit weg von zu Hause, weit entfernt von allem Vertrauten. Ihre rote Tunika war zerrissen, und die kompliziert geflochtenen Zöpfe, Zeichen ihrer Jungfräulichkeit, hingen unordentlich in Strähnen. Es war ihr gelungen, ihre verletzten Füße mit Pflanzenblättern zu umwickeln, aber die regelmäßig verteilten Maiskuchen und das Wasser konnten den hohlen Schmerz in ihrem Magen nicht lindern.

»Der Herrscher will seinen Körper mit deinem vereinen.«

Hoshi’tiwa sank mit tränennassen Wangen in den Schlaf, erwachte dann jäh aus einem Traum und sah eine schattenhafte Gestalt aus dem Zelt des Dunklen Herrschers schleichen und zwischen den Kiefern entlang der Straße verschwinden.

Sie blieb wach, und in der Dämmerung sah sie die in einen Umhang gehüllte Gestalt wieder ins Zelt schlüpfen. Die Prozession zog an jenem Tag nicht weiter, sondern blieb in dem Lager am Fuße der Mesa.

Hoshi’tiwas Vorahnung wurde stärker. Der Moment näherte sich unaufhaltsam. Ein Priester oder Jaguar, möglicherweise sogar Moquihix selbst, würde sich vor ihr aufbauen und sie auffordern, ihm zu folgen. Das große, bunte Zelt würde sie wie eine hungrige Bestie verschlingen, und Hoshi’tiwa existierte nicht mehr.

Als sie die mittäglichen Maiskuchen aßen, fragte Hoshi’tiwa den Nasenlosen, wen sie wohl aus dem Zelt des Herrschers hatte kommen und gehen sehen, und er antwortete scharf: »Wir dürfen über solche Dinge nicht sprechen.« Also wusste sie, dass es der Dunkle Herrscher selbst gewesen sein musste, denn es war verboten, über ihn zu sprechen.

Als der Sonnenuntergang nahte und schließlich die Nacht hereinbrach und der Mond aufging, nahm die allgemeine Anspannung noch zu. Die Jaguare errichteten kein Lagerfeuer. Sie aßen nicht und sangen nicht. Sie saßen da und beobachteten mit einem Schweigen die Sterne, das jedermann das Blut in den Adern gefrieren ließ. Niemand konnte in jener Nacht schlafen, nicht einmal die Gefangenen, die, wie Hoshi’tiwa, nicht wussten, was vor sich ging, aber das Unbehagen ihrer Aufseher spürten.

In der Stunde nach Mitternacht sah Hoshi’tiwa die dunkle Gestalt sich erneut aus dem Zelt des Herrschers schleichen und im Kiefernwald verschwinden.

Wohin ging er jede Nacht?

Während der nächste Tag mit besorgtem Warten verging, wurden die Aufseher zunehmend gereizter, die Nerven aller lagen blank, und Hoshi’tiwa begann sich zu fragen, ob sie und alle diese Menschen lange genug leben würden, um den Ort der Mitte überhaupt noch zu erreichen. Sie hatte als Kind während der abendlichen Geschichten um das Herdfeuer von Menschenopfern gehört, welche die Herrscher darbrachten. Eine weitere Geschichte, um Kinder zu erschrecken, hatte sie geglaubt. Aber nun zweifelte sie kaum noch. Sie fragte sich auch, ob sie unbemerkt entkommen könnte.

Als die Sonne unterging und die Sterne hervorkamen, trank Nasenloser mehr als üblich, und seine geräuschvollen Schlucke klangen in der angespannten Stille verzweifelt, als schlucke er seine Angst hinunter. Hoshi’tiwa fragte sich, ob dies die achte Nacht war.

Der Nequhtli löste die Zunge des alten Sklaven, sodass er bald rührselig wurde und erneut über vergangene Zeiten lamentierte. Er hob seinen Becher in Richtung des Zeltes des Dunklen Herrschers und sagte laut: »Fürst Jakál ist mehr als ein Tlatoani, er ist der edelste aller Tlatoani