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Fühlen wir uns nicht auch manchmal wie eine der Figuren aus den wunderbaren Geschichten Jorge Bucays? Wir mühen und regen uns, tun alles, um im besten Licht zu stehen, und am Schluss stolpern wir doch wieder über die eigenen Füße, scheitern an unserer Angst oder den simpelsten Denkfehlern. Nach dem großen Erfolg von ›Komm, ich erzähl dir eine Geschichte‹ nimmt uns Jorge Bucay mit auf eine Reise zu Menschen, die auf verblüffende Weise die großen und kleinen Wahrheiten des Lebens erblicken. Vom Friedhof der Glücklichen, durch die Stadt der eitlen Brunnen bis zum Brief eines geständigen Mörders. Jorge Bucays poetische Phantasie kennt keine Grenzen. Sie entdeckt Länder, so neu und unerhört wie unsere Träume, und doch so nah und vertraut wie die unzähligen Geschichten unseres Lebens. Wer Jorge Bucay liest, wird ein bisschen wissender und sieht sich selbst mit anderen Augen.
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Seitenzahl: 100
Jorge Bucay
Geschichten zum Nachdenken
FISCHER E-Books
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© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Für meine Frau Perlain Liebe und Dankbarkeit
Einleitung
Wir alle, die wir uns ein Leben lang mit der Suche nach der Wahrheit beschäftigen, haben uns auf unserem Weg immer wieder von Ideen verführen und verleiten lassen, die starken Einfluß auf unser Glaubens- und Wertesystem hatten.
Mit der Zeit haben wir so manche dieser Wahrheiten ad acta gelegt, weil sie unseren Hinterfragungen nicht haben standhalten können oder weil ihnen eine »neue Wahrheit«, mit der sie nicht vereinbar waren, den Platz streitig gemacht hat. Oder ganz einfach, weil diese Wahrheiten irgendwann für uns nicht mehr wahr waren.
Wie auch immer, diese Ideen, auf die wir uns eine Zeitlang gestützt haben, verloren irgendwann ihre Gültigkeit, und auf einmal drifteten wir ab. Wir hatten das Ruder noch immer in der Hand und waren im Vollbesitz unserer Möglichkeiten, aber nicht in der Lage, einen verläßlichen Kurs einzuschlagen.
Während ich dies schreibe, fällt mir Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry ein:
Auf seinen Reisen zu den kleinen Planeten seiner Galaxie traf er einen Geographen, der in einem großen Buch die Berge, Ströme und Sterne festhielt.
Der kleine Prinz wollte seine Blume registrieren lassen (die Blume, die er auf seinem Planeten zurückgelassen hatte), aber der Geograph sagte:
»Wir schreiben die Blumen nicht auf, weil Blumen vergänglich sind.«
Und der Geograph erklärte dem kleinen Prinzen, daß Vergänglichkeit bedeute, von baldigem Verschwinden bedroht zu sein.
Als der kleine Prinz dies hörte, wurde er sehr traurig. Denn er verstand, daß seine Rose vergänglich war …
Und jetzt frage ich mich: Gibt es eigentlich Wahrheiten, die so felsenfest und unumstößlich sind wie geographische Gegebenheiten? Oder ist die Wahrheit an sich vielleicht nur ein Konzept, das genauso vergänglich und zerbrechlich ist wie eine Blume? Und wenn man die Dinge dann einmal in einen größeren Zusammenhang stellt:
Sind nicht auch Berge, Flüsse und Sterne von einem baldigen Verschwinden bedroht?
Und wie verhält sich dieses »baldig« gegenüber »für immer«?
Sind aus diesem Blickwinkel betrachtet nicht auch die Gebirge vergänglich?
Hier und heute möchte ich über einige solcher Gedankengebirge, Gedankenflüsse, Gedankensterne schreiben, die mir auf meinem Weg begegnet sind.
Ein paar jener Wahrheiten, die für andere sicher umstritten sind, werden es möglicherweise auch irgendwann für mich werden. Aber zum jetzigen Zeitpunkt, so scheint mir, sind sie so sicher und verläßlich, wie sie nach gesundem Menschenverstand nur sein können.
1. Der erste dieser verläßlichen Gedanken ist eine der wesentlichen Grundlagen der Gestalttherapie und beruht auf der Feststellung, was ist, das ist.
(Ich schreibe dies und stelle mir die Enttäuschung meiner Leser vor: »Was ist, das ist …! Und das soll schon die ganze Wahrheit sein?«)
Das Konzept, das gleichermaßen bekannt wie unverstanden ist, enthält in meinen Augen drei bemerkenswerte Implikationen: Um zu wissen, daß »das was ist, ist«, muß man zunächst einmal akzeptiert haben, daß die Geschehnisse, die Dinge, die Situationen eben so sind, wie sie sind.
Die Wirklichkeit ist nicht so, wie ich sie gern hätte.
Sie ist nicht so, wie sie sein sollte.
Sie ist nicht so, wie man mir gesagt hat, daß sie sei.
Sie ist nicht so, wie sie einmal war.
Noch ist sie so, wie sie morgen sein wird.
Die Wirklichkeit um mich herum ist, wie sie ist.
Patienten und Schüler, die mich von diesem Gedanken sprechen hören, sehen darin gern einen Hang zur Resignation, eine flapsige Haltung, eine Gleichgültigkeit.
Man muß wohl immer wieder in Erinnerung rufen, daß Veränderung nur stattfinden kann, wenn wir uns der gegenwärtigen Situation bewußt sind. Wie können wir unseren Reiseweg nach New York bestimmen, wenn wir noch nicht einmal wissen, von welchem Punkt des Universums wir starten sollen?
Meinen Weg kann ich nur von dort aus beginnen, wo ich gerade bin, und das bedeutet, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind.
Die zweite Ableitung, die direkt an die erste anknüpft, ist der Gedanke, daß ich bin, wer ich bin.
Und noch einmal:
Ich bin nicht der, der ich sein möchte.
Noch der, der ich sein sollte.
Ich bin nicht der, den meine Mutter gern in mir sähe.
Und auch nicht der, der ich einmal war.
Ich bin der, der ich bin.
Bisweilen kommt es mir vor, als ob all unsere psychischen Absonderlichkeiten aus der Negation dieses Satzes stammten.
All unsere Neurosen beginnen, wenn wir versuchen, jemand zu sein, der wir nicht sind.
In Komm, ich erzähl dir eine Geschichte schrieb ich über die Selbstablehnung:
Alles begann an jenem grauen Tag,an dem du aufhörtest, stolz»Ich bin!«zu sagen.Und beschämt und ängstlichsenktest du den Kopfund ändertest deine Worte und dein Handelngemäß dem Gedanken:»Ich sollte sein.«
Und wenn es schon schwierig ist, zu akzeptieren, daß ich bin, wer ich bin, wieviel schwieriger mag es dann manchmal sein, die dritte Ableitung des Gedankens »Was ist, das ist!« anzunehmen:
Du bist, wer du bist.
Das heißt:
Du bist nicht der, den ich in dir suche
Du bist nicht der, der du einmal warst.
Du bist nicht so, wie es mir paßt.
Du bist nicht so, wie ich dich will.
Du bist, wie du bist.
Dies zu akzeptieren bedeutet, dich zu respektieren und nicht von dir zu verlangen, daß du dich änderst.
Vor kurzem habe ich begonnen, die wahre Liebe folgendermaßen zu definieren: als die uneigennützige Aufgabe, Raum zu schaffen, damit der andere sein kann, wer er ist.
Diese erste »Wahrheit« ist der Anfang und das Prinzip (sowohl im Sinn von Ursprung wie auch von Grundlage) jeder erwachsenen Beziehung.
Sie tritt ein, wenn ich dich akzeptiere, wie du bist, und spüre, daß auch du mich akzeptierst, wie ich bin.
2. Die zweite Wahrheit, die ich für unabdingbar halte, ist eine alte Sufiweisheit: Das Gute gibt es nicht umsonst.
Hieraus entstehen für mich mindestens zwei weitere Gedanken.
Der erste: Wenn ich etwas will, das mir guttut, muß ich wissen, daß ich dafür einen Preis zu zahlen habe. Selbstverständlich handelt es sich hierbei nicht immer um Geld, das wäre zu einfach. Dieser Preis mag manchmal hoch und manchmal sehr niedrig sein, aber geben wird es ihn immer. Denn das Gute gibt es nicht umsonst.
Der zweite Gedanke: Wenn ich merke, daß mir etwas von außen entgegengebracht wird, wenn mir Gutes widerfährt, wenn ich angenehme und wohltuende Dinge erlebe, dann ist es, weil ich sie mir verdient habe. Ich habe dafür bezahlt, ich habe sie verdient. (Um die Pessimisten wachzurütteln und den Profiteuren den Wind aus den Segeln zu nehmen, möchte ich klarstellen, daß man immer im voraus bezahlt: Das Gute, das mir widerfährt, ist bereits bezahlt. Und Ratenzahlung gibt es nicht!)
Manchmal werde ich gefragt:
Und wie sieht es mit dem Schlechten aus?
Kann es sein, daß es auch das Schlechte nicht umsonst gibt?
Wenn mir etwas Schlechtes widerfährt, dann etwa auch, weil ich dazu beigetragen habe? Weil ich es in irgendeiner Weise verdient habe?
Vielleicht ist dem so. Ich spreche hier jedoch von den für mich unumstößlichen, ausnahmslos gültigen und universellen Wahrheiten. Und für mich ist die Behauptung, daß ich alles verdiene, was mir widerfährt, inklusive dem Schlechten, nicht von solch unabdingbarer Gewißheit.
Ich kenne ein paar Menschen, denen schlimme und schmerzhafte Dinge widerfahren sind, ohne daß sie sie auch nur im geringsten verdient hätten!
Das Gute gibt es niemals umsonst – diese Wahrheit zu verinnerlichen bedeutet, ein für allemal die kindliche Vorstellung fahrenzulassen, daß mir jemand etwas geben müsse, nur weil ich es will. Daß mich das Leben mit dem ausstatten muß, was ich mir wünsche, nur weil ich es mir wünsche, einfach so, wie von Zauberhand.
3. Den dritten Gedanken, den ich für einen wichtigen Ausgangspunkt halte, könnte man folgendermaßen formulieren:
Es steht fest, daß man niemals all das tun kann, was man will, aber genauso steht fest, daß man niemals etwas zu tun braucht, das man nicht will.
Ich wiederhole es für mich selbst: Niemals etwas tun, was ich nicht will.
Diesen Gedanken fest zu verinnerlichen und in Übereinstimmung mit ihm zu leben ist nicht einfach. Und vor allem ist es nicht umsonst. (Zum Glück ist ja alles Gute nicht umsonst.)
Ich will sagen, daß mich als erwachsenen Menschen niemand dazu zwingen kann, etwas zu tun, was ich nicht tun möchte. Das Schlimmste, was mir dabei passieren kann, ist, daß ich mit dem Leben dafür bezahle. (Nicht, daß ich diesen Preis herunterspielen will, aber ich denke, es ist ein Unterschied, ob ich glaube, daß ich etwas nicht tun kann, oder weiß, daß es zu tun mich das Leben kosten könnte.)
Im Alltag allerdings, in unserem alltäglichen Leben, sind die Kosten in der Regel wesentlich geringer. Normalerweise ist das einzige, was ich für meine Freiheit in Kauf nehmen muß, der Verzicht darauf, daß ein paar Menschen mir zustimmen, mir Beifall pflichten, mich mögen. Der Preis für das Wagnis, nein zu sagen, besteht darin, daß man beginnt, einige bislang unbekannte Züge an seinen Freunden zu entdecken: nämlich den Nacken, den Rücken und all die anderen Körperteile, die man nur dann sieht, wenn der andere sich abwendet.
Diese drei Wahrheiten sind für mich Gedankengebirge, Gedankenflüsse, Gedankensterne.
Wahrheiten, die über die Zeit und die Umstände hinaus ihre Gewißheit behalten.
Konzepte, die nicht an bestimmte Momente gebunden sind, sondern an jeden einzelnen dieser Momente, die wir, zusammengenommen, »unser Leben« nennen.
Wahrheitsgebirge, um unser Haus auf solidem Grund errichten zu können.
Wahrheitsflüsse, um unseren Durst an ihnen stillen und auf ihnen zu neuen Horizonten aufbrechen zu können.
Wahrheitssterne, die uns auch in unseren dunkelsten Nächten als Begleiter dienen.
Vor zwei Jahren, am Ende eines Vortrags vor einer Paartherapiegruppe, erzählte ich meinem Publikum, wie ich es auch sonst zu tun pflege, eine Geschichte, sozusagen als Abschiedsgeschenk. Zu meiner Überraschung bat einer der Teilnehmer aus der Gruppe um das Wort und schenkte mir seinerseits eine Geschichte. Diese Erzählung, die mir sehr viel bedeutet, schreibe ich heute auf, in Erinnerung an meinen Freund Jay Rabon.
Dies ist die Geschichte eines Mannes, den ich als Suchenden bezeichnen würde.
Ein Suchender ist jemand, der sucht, nicht unbedingt jemand, der findet.
Auch ist es nicht unbedingt jemand, der weiß, wonach er sucht. Es ist schlicht und einfach jemand, für den das Leben eine Suche ist.
Eines Tages spürte der Suchende den Drang, nach Kammir zu gehen. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mit solchen Eingebungen, die von irgendwoher aus seinem Inneren kamen, nicht lange zu fackeln und ihnen einfach zu folgen. Er ließ also alles stehen und liegen und machte sich auf den Weg.
Nach zwei Tagesmärschen über staubige Wege sah er in der Ferne Kammir liegen. Kurz vor dem Dorfeingang fiel ihm am rechten Wegesrand ein Hügel auf. Er war von einem wunderschönen Grün überzogen, und Bäume, Vögel und zauberhafte Blumen gab es dort in unendlicher Zahl. Rings um den Hügel zog sich ein niedriger polierter Holzzaun.
Ein Bronzetor lud ihn zum Eintreten ein.