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Jorge Bucay

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Beschreibung

Zum 75. Geburtstag des Erfolgsautors: Ein berührendes Geschenk an seine Leser Jorge Bucay feiert seinen Geburtstag – und beschenkt seine Leser:innen mit dem Buch, das am Anfang seiner Karriere stand. Als Psychotherapeut und Freund, als Arzt und Mensch erzählt er darin von Liebe und Selbstliebe, Erwartungen, Enttäuschungen und der Kraft persönlicher Entwicklung. Aus eindringlichen, bisher unveröffentlichten Geschichten, eingerahmt von sehr persönlichen Briefen, entsteht ein bewegendes Buch, ein Begleiter für den Alltag und eine praktische, anekdotenreiche und inspirierende Erinnerung an die Schönheit des Lebens.

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Jorge Bucay

Ich schreibe Dir diesen Brief ...

Erzählungen

 

Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen

 

Über dieses Buch

 

 

Jorge Bucay feiert seinen Geburtstag – und beschenkt seine Leser*innen mit dem Buch, das am Anfang seiner Karriere stand. Als Psychotherapeut und Freund, als Arzt und Mensch erzählt er darin von Liebe und Selbstliebe, Erwartungen, Enttäuschungen und der Kraft persönlicher Entwicklung. Aus eindringlichen, bisher unveröffentlichten Geschichten, eingerahmt von sehr persönlichen Briefen, entsteht ein bewegendes Buch, ein Begleiter für den Alltag und eine praktische, anekdotenreiche und inspirierende Erinnerung an die Schönheit des Lebens.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Jorge Bucay, 1949 in Buenos Aires geboren, ist einer der einflussreichsten Gestalttherapeuten Argentiniens. Mit »Komm, ich erzähl dir eine Geschichte« gelang ihm der internationale Durchbruch als Autor. Bucays Bücher wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt und haben sich weltweit über zehn Millionen Mal verkauft.

Lisa Grüneisen, 1967 geboren, arbeitet seit ihrem Studium der Romanistik, Germanistik und Geschichte als Übersetzerin. Sie übersetzte unter anderem Bücher von Carlos Ruiz Zafón, Carlos Fuentes, Miguel Delibes, Alberto Manguel und Frida Kahlo.

Inhalt

Widmung

Motto

Vorwort des Autors

Einleitung

Brief 1

Brief 2

Brief 3

Brief 4

Brief 5

Brief 6

Brief 7

Brief 8

Brief 9

Brief 10

Brief 11

Brief 12

Brief 13

Brief 14

Brief 15

Brief 16

Brief 17

Brief 18

Brief 19

Brief 20

Brief 21

Brief 22

Brief 23

Brief 24

Brief 25

Brief 26

Brief 27

Brief 28

Brief 29

Brief 30

Brief 31

Brief 32

Brief 33

Brief 34

Brief 35

Brief 36

Brief 37

Brief 38

Brief 39

Brief 40

Brief 41

Brief 42

Brief 43

Brief 44

Brief 45

Brief 46

Brief 47

Brief 48

Brief 49

Brief 50

Brief 51

Brief 52

Brief 53

Brief 54

Brief 55

Epilog

Nachwort von Dr. Zulema Leonor Saslavsky

Danksagung

Für meinen Sohn Demián

Ich bin ich, und du bist du.

Ich bin nicht in dieser Welt, um deine Erwartungen zu erfüllen, und du bist nicht in dieser Welt, um meine zu erfüllen.

Du bist du, und ich bin ich.

Wenn wir uns zufällig begegnen, ist das wunderbar.

Wenn nicht, kann man nichts machen.

FRITZ PERLS

Vorwort des Autors

Die Veröffentlichung von Ich schreibe Dir diesen Brief … in Deutschland ist ein sehr wichtiges und bewegendes Ereignis in meiner Geschichte als Autor, vergleichbar nur mit dem, was ich vor fast vierzig Jahren empfand, als mein allererstes Buch in Argentinien erschien. Dieses Buch.

Gründe dafür gibt es viele, aber es genügt zu sagen, dass dieser Text buchstäblich den Weg für die zweiunddreißig weiteren Bücher ebnete, die seitdem erschienen sind. Und auch dazu gibt es eine Geschichte.

Wie alle meine Kolleginnen und Kollegen in Argentinien habe ich als Arzt für Psychiatrie und mentale Gesundheit eine Ausbildung zum Therapeuten in der Tradition der psychoanalytischen Schule absolviert (damals die einzige Möglichkeit der Weiterbildung im Bereich der Psychologie und Verhaltenstherapie). Nach meinem damaligen Verständnis setzte die psychoanalytische Methodik voraus, dass der Therapeut nicht allzu sehr in die Sitzung eingriff. Ich muss gestehen, dass es mir schwerfiel, angesichts der manchmal mühsamen Bekenntnisse meiner Patienten still zu bleiben. Mir fiel so vieles ein, was ich hätte sagen können!

 

Ich schäme mich, es öffentlich zuzugeben, aber ich glaube, mein damaliger Analytiker hatte recht, als er sagte, dass ich gerne im Vordergrund stünde und darum nicht akzeptieren könne, in der klassischen Psychoanalyse sozusagen in die zweite Reihe verbannt zu werden. Tatsächlich schrieb ich oft unbeobachtet von meinem Patienten, während dieser über den nächsten Satz nachdachte, das auf, was ich ihm gerne gesagt hätte, aber niemals sagen würde. Ich erklärte ihm in meinen Worten, was meiner Meinung nach mit ihm los war, trug ihm in Gedanken ein Gedicht vor oder hielt meine eigenen Erfahrungen mit seiner Problematik fest.

Ich weiß nicht, warum ich eines Tages beschloss, einem Patienten die Notizen zu geben, die ich in der vorangegangenen Sitzung gemacht hatte, aber das Ergebnis überraschte mich. Er las den Brief nicht nur an Ort und Stelle (obwohl ich ihn bat, ihn bis später aufzubewahren, wenn er meine Praxis verließ), sondern er arbeitete während der gesamten Sitzung viel intensiver als sonst am Prozess seiner Bewusstwerdung.

 

Diese Episode bestärkte mich in dem Gedanken, dass meine schriftlichen (buchstäblich hinter dem Rücken meiner Patienten verfassten) Kommentare jenen helfen könnten, denen es schwerfiel, in den Sitzungen aus sich herauszukommen, auch wenn es aus orthodoxer psychotherapeutischer Sicht nicht sehr akzeptabel war. Ich beschloss, dass es keine schlechte Idee war, ihnen hin und wieder ein paar schriftliche Worte aus der Feder ihres Therapeuten mitzugeben.

Zwei Jahre lang entwickelte ich mein eigenes, persönliches Therapiemodell, das die Briefe an meine Patienten miteinbezog. Auf Wunsch konnten auch ältere Briefe mitgebracht werden, um noch einmal darüber zu sprechen.

 

Die Magie des Zufalls wollte es, dass ein Jahr später eine Patientin beschloss, einen solchen Brief, den ich ihr ein paar Jahre zuvor geschrieben hatte, mit einem ihrer Mitpatienten aus der Therapiegruppe zu teilen. Im Gegenzug für diese großzügige Offenheit brachte er ihr die Kopie einer Geschichte mit, die ich ihm einige Wochen zuvor gegeben hatte. Um es kurz zu machen: Die Mitglieder der Therapiegruppe, die die Wirkung der Briefe erkannt hatten, begannen die Texte untereinander auszutauschen, die sie in den Einzelsitzungen von mir erhalten hatten. Ich war strikt dagegen, aber zu diesem Zeitpunkt hatten meine Patienten bereits gelernt, dass sie erwachsen waren und niemand sie an etwas hindern konnte, es sei denn, es wäre illegal oder unmoralisch. Also hörten sie nicht auf mich.

 

Zum Abschluss des Therapiejahrs schenkte mir die Gruppe ein selbstgemachtes Heftchen, dessen Seiten mit Metallklammern zusammengetackert waren. Es waren die Briefe, die ich den Mitgliedern der Gruppe in ihren Einzelsitzungen übergeben hatte. Zu meiner Überraschung hatten alle sie aufbewahrt und miteinander geteilt.

»Jorge«, sagten sie mir, »wir finden, dass du sie veröffentlichen solltest.«

Ich entgegnete: »Ihr wisst ja nicht, was ihr da redet. Diese Briefe wurden für eine bestimmte Person geschrieben und haben nur für sie einen Wert. Sie können nicht für jeden hilfreich sein. Niemand kann ein Interesse daran haben, sie zu lesen, es sei denn, aus Neugier. Schon gar nicht, wenn der- oder diejenige nicht Patient oder Patientin bei mir war.«

»Nun, diesmal liegst du falsch«, beharrten sie. »Wir haben Kopien davon an Freunde und Verwandte verteilt, und alle sagen, dass es ihnen geholfen hat. Veröffentliche sie, Jorge. Es steht so vieles drin, was anderen helfen kann.«

Ich dankte ihnen für ihre Mühe und versprach, darüber nachzudenken.

Als ich an diesem Abend nach Hause kam, las ich mit ehrlicher Begeisterung das Material, das meine Patienten gesammelt hatten. Es fiel mir nicht leicht, mich an die genauen Umstände zu erinnern, unter denen die Texte entstanden waren, wozu genau und für wen. In diesem Moment erinnerte ich mich an Georg Groddecks Das Buch vom Es, das ich mit Begeisterung gelesen hatte, und entdeckte den einen oder anderen Berührungspunkt zwischen meinen Texten und dem Buch von Sigmund Freuds Freund und Kollegen. Vielleicht, wenn ich die Briefe sammeln und an eine imaginäre Person richten würde … Vielleicht, wenn ich das Briefformat nutzte, um meine Gedanken zu Therapien, Gestalt und Therapeuten verständlich zu machen …

 

Zwei Wochen lang schob ich daraufhin alles andere beiseite und übergab schließlich das Manuskript dieses Buchprojekts, das Ich schreibe Dir diesen Brief … werden würde, ohne lange nachzudenken an die Sekretärin eines großen Verlags in Buenos Aires. Zu meiner Überraschung wurde ich fünf Tage später zu einem persönlichen Gespräch eingeladen. Ich war nervös und aufgeregt. Man ließ mich eine Dreiviertelstunde in einem kleinen Empfangsraum sitzen, dann erschien der Verleger. Ich werde seine Worte nie vergessen.

»Hör zu, mein Junge«, sagte er (ich war damals vierunddreißig Jahre alt). »Es gibt zwei Dinge, die sich in Argentinien nicht verkaufen. Bücher über Psychologie und Gedichte. Und dein Buch ist sowohl das eine wie das andere. Wenn du irgendwann ein Buch veröffentlichen willst, das sich verkauft, dann versuch es lieber mit einem Roman oder so etwas.« Dann lächelte er völlig ironiefrei und gab mir fast mitleidig meine unangerührten Blätter in einem Umschlag des Verlags zurück, der damals eindeutig mehr wert war als sein Inhalt.

Es wäre nur logisch gewesen, das Projekt fallenzulassen, und das hätte ich sicherlich auch getan, wäre da nicht die Unterstützung meiner Frau gewesen, die vor mir erkannte, wie sehr ich mich für die Idee begeisterte. Sie, die Mutter meiner Kinder, war es, die eine Möglichkeit fand, meinen ehrgeizigen Traum wahr werden zu lassen. Sie schlug vor, unsere Ersparnisse zu verwenden (die nicht besonders hoch waren), um zumindest einige Exemplare des Buchs zu veröffentlichen und die Investition vielleicht durch den Verkauf wieder hereinzuholen, auch wenn es eine Weile dauern würde.

 

Schließlich wurden siebenhundertfünfzig hektographierte Exemplare mit einem von mir selbst entworfenen Einband von zweifelhaftem Geschmack, zweifarbig (schwarz und blassrosa) auf dem billigsten Papier gedruckt, das wir auftreiben konnten. Die ersten zweihundertfünfzig Exemplare gingen als Geschenk an meine Patienten, die den Anstoß zu dem Projekt gegeben hatten, fünfzig weitere an Familie und Freunde, die sich die Mühe machen wollten, es zu lesen. Die übrigen fünfhundert brachte ich höchstpersönlich in Umlauf, indem ich mir Stapel von jeweils zehn Exemplaren unter den Arm klemmte und sie auf Kommission in jede Buchhandlung trug, die ich kannte.

 

Einige dieser fast handgemachten Exemplare gelangten in die Hände des Verlegers von Del Nuevo Extremo, eines kleinen Verlags in Buenos Aires, der mit viel Glück und Mund-zu-Mund-Propaganda dafür sorgte, dass die zweite Auflage ein unerwarteter Verkaufserfolg wurde. Dieser Erfolg weckte in ungeahntem Ausmaß das Interesse der Leser und des einen oder anderen Verlags, der meine Bücher auch in anderen spanischsprachigen Ländern veröffentlichen wollte.

 

Wahrscheinlich ahnst du, liebe Leserin, lieber Leser in Deutschland, wie die ganze Sache ausging. Nun kennst du meine Gründe und weißt um meinen Wunsch, dir mitzuteilen, was in diesen fast vierzig Jahren mit mir und meinen Büchern passiert ist.

Im Jahr 2005 veröffentlichte der Schweizer Ammann Verlag eine deutsche Ausgabe meines Buchs Komm, ich erzähl Dir eine Geschichte. Das Buch wurde vom deutschen Publikum sehr gut aufgenommen, und in der Folge traten meine Bücher ihren Weg durch die restliche Welt an. Nachdem meine Bücher inzwischen in fünfunddreißig Sprachen übersetzt wurden und in über fünfzig Ländern erscheinen, möchte ich dieses Vorwort nutzen, um dir und allen Leserinnen und Lesern zu danken, die mich zu dem gemacht haben, der ich heute bin.

 

Ich hoffe, es ist verständlich geworden, warum dieses Buch so besonders für mich ist, und erklärt auch, warum ich keine größeren inhaltlichen Änderungen vornehmen wollte, obwohl seit der ersten Veröffentlichung viel Zeit vergangen ist und es einige Punkte gibt, mit denen ich heute nicht mehr einverstanden bin.

 

Schließlich ist dieses Vorwort auch ein Weg, meinen damaligen Patienten Anerkennung zu zollen, meiner Frau Perla meine tiefe Dankbarkeit zu bezeugen und auch jenem Verlagschef zu danken, der das Original damals ablehnte. Ohne seine Absage wäre diese Geschichte eine andere, vielleicht genauso erfolgreich, aber ganz sicher nicht so magisch.

 

Danke.

 

Durango, Mexiko, im März 2024

Jorge M. Bucay

Einleitung

Im Jahr 1923 veröffentlichte Georg Groddeck Das Buch vom Es. Psychoanalytische Briefe an eine Freundin[1], noch bevor er engeren Kontakt mit der Theorie Sigmund Freuds hatte.

Es handelt sich um eine Sammlung von Briefen, die ein Psychotherapeut angeblich an eine Freundin sendet. Dieser imaginäre Therapeut heißt in Groddecks Buch Patrick Troll.

Ein halbes Jahrhundert später stieß ich zufällig auf Groddeck, Troll und Das Buch vom Es. Seither habe ich es Dutzende Male gelesen und finde immer wieder etwas Neues, das mich weiterbringt. Und es ist jedes Mal ein Vergnügen, es zu lesen.

Als ich mich vor einigen Jahren wieder einmal fasziniert in Das Buch vom Es vertiefte, ließ ich meinen Gedanken freien Lauf …

Wie würde Groddeck in den 1980er Jahren schreiben, wenn er ein neues Buchprojekt hätte? Wäre seine Position so psychoanalytisch wie damals?

Meine Antwort lautete nein.

Ich phantasierte weiter …

Groddeck war tot, und mit ihm starb auch Patrick Troll.

Wie sähen die Briefe aus, die ein Nachkomme dieses imaginären Patrick Troll heute schreiben würde?

Meine Lust, mich mit diesem Buchprojekt zu beschäftigen, wuchs rasch.

Eines Abends im November 1982 setzte ich mich hin, nahm mir ein Heft und schrieb, ohne lange nachzudenken – denn darin bin ich nicht sehr gut –, den ersten Brief.

Ich könnte noch heute meine Gedankengänge von damals wiedergeben: »Ich stelle mir vor, ich wäre ein Nachfolger Georg Groddecks (Vielleicht bin ich das ja, irgendwie?). Oder vielmehr ein Nachkomme von Patrick Troll, dem wunderbaren Therapeuten aus Das Buch vom Es … Ich stelle mir vor, dass ich einer ehemaligen Patientin schreibe, die inzwischen eine gute Freundin geworden ist … Sie ist weggezogen und lebt weit weg. Trotzdem erinnere ich mich lebhaft an sie … Sie heißt Claudia, wie meine Tochter … Vielleicht geht es noch weiter … Vielleicht ist diese Claudia in Wirklichkeit die Claudia, die meine Tochter in ein paar Jahren sein wird … ›Claudia, wenn ich die Augen schließe, sehe ich dich vor mir …‹«

Nachdem ich den ersten Brief fertiggeschrieben hatte, zündete ich mir eine Zigarette an und las ihn noch einmal durch, wobei ich zu vergessen versuchte, dass er von mir war. Heute frage ich mich, ob er das tatsächlich war.

Brief 1

Liebe Claudia,

wenn ich die Augen schließe, sehe ich dich vor mir. Deinen forschenden Blick, dein verschmitztes Lächeln, dein kluges, schönes Gesicht.

Wie schön, deinen Brief zu erhalten! Wie lange bist du jetzt schon im Ausland? Zwei Jahre? Drei? Manchmal kommt es mir wie eine Ewigkeit vor, dann wieder habe ich das Gefühl, es sei erst gestern gewesen, dass ich dich auf dem Weg zu einer neuen Etappe deines Lebens ins Flugzeug steigen sah …

Erinnerst du dich? An jenem Tag schenkte ich dir zum Abschied Das Buch vom Es. Auf die erste Seite schrieb ich: »Gesundheit besteht darin, zu akzeptieren, dass es ist, wie es ist.«

 

Und ja, es stimmt. Patrick Troll, der Verfasser der Briefe aus dem Buch, war mein Urgroßvater väterlicherseits. Wie üblich funktionieren dein Assoziationsvermögen und deine Intuition ganz wunderbar. Ich fand schon immer, dass diese »Kenntnis« der Dinge eine deiner faszinierendsten Fähigkeiten ist.

Während ich dies schreibe, entsteht vor meinem inneren Auge das Bild meines Urgroßvaters. Ich beneide ihn um sein Talent, seine Brillanz, seine Originalität und vor allem um seine Kreativität.

Es ist wunderbar, seine Briefe zu lesen und sich bewusst zu machen, dass sie praktisch ohne Kenntnis der Freud’schen Theorien über die Persönlichkeitsstruktur, das Unbewusste oder die Psychoanalyse als solche geschrieben wurden.

Mein Urgroßvater war ein Pionier seiner Zeit, ein change agent. Seine Ansichten, die zweifellos psychoanalytischer Natur waren, auch wenn er selbst es nicht wusste oder in Abrede stellte, waren eines von vielen Zeichen, die auf den Übergang vom viktorianischen zum industriellen Zeitalter hindeuteten.

Die psychoanalytische Methode war so revolutionär, dass ihre frühen Grundlagen für viele meiner Kollegen bis heute absolute Gültigkeit haben und sie diese archaischen Therapiekonzepte für unantastbar halten.

Welche Anmaßung! Es fühlt sich wie ein Frevel an, wenn ich mir mit meinen dreiunddreißig Jahren herausnehme, meine »geistigen Väter« zu kritisieren …

Nun ja, aber warum nicht? Hätten Freud, Groddeck oder Troll genauso gedacht und sich davon aufhalten lassen, hätten wir keinen Zugang zu ihrem Wissen gehabt.

Also, los geht’s! Auch wenn fraglich ist, ob das, was ich zu sagen habe, überhaupt stimmt, ist es unwahrscheinlich, dass ich mit meiner Meinung hinterm Berg halten werde, nur um keine »Ketzerei« zu begehen …

Tatsache ist, dass mir zunehmend klar geworden ist, wie antiquiert die Umsetzung der psychoanalytischen Lehre ist. Sie kommt mir vor wie der Motor eines Ford T, der in einer hochmodernen Karosserie daherkommt. Ja, es ist ein hervorragender Motor, und mit kleinen Veränderungen könnte er das Auto zum Laufen bringen. Aber er ist mit Sicherheit nicht unbedingt die beste, wohl kaum die effektivste und keinesfalls die schnellste Lösung.

Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass dieser Motor die Grundlage für die Entwicklung aller weiteren war. Ich betone: aller weiteren.

Wie immer hilft ein absoluter Standpunkt nicht weiter, um dir zu vermitteln, was ich sagen will.

Ich möchte nicht, dass du glaubst, ich sei ein Drahtseilakrobat, also jemand, der auf Ausgleich bedacht ist. Nein! Ausgleich bedeutet Stillstand, Gleichmacherei, Tod. Kein Mensch ist, naturwissenschaftlich gesehen, mehr im Einklang mit seiner Umgebung als ein Toter.

Ich bin vielmehr ein Freund der Harmonie, ein Gegner des Absoluten und ein Verfechter der Theorie, dass A und Anti-A unabhängig voneinander existieren können. Erinnerst du dich an das Symbol von Yin und Yang?

Der Kreis stellt das Ganze, das Vollständige, das Gesamte dar. Aus statischer Sicht ist dieses Ganze weder schwarz noch weiß. Es braucht den Gegensatz, um ein Ganzes zu bilden. Und was am interessantesten ist: Beim Betrachten dieses uralten Symbols stellen wir fest, dass Weiß nicht vollkommen weiß ist (es enthält einen schwarzen Punkt) und Schwarz nicht vollkommen schwarz (es enthält einen weißen Punkt).

Fügen wir diesem statischen Blick nun Bewegung hinzu und betrachten das Symbol dynamisch, können wir uns vorstellen, wie der weiße Punkt im Schwarzen und der schwarze Punkt im Weißen größer werden und immer mehr Raum der entgegengesetzten Farbe einnehmen. Irgendwann wird alles, was zuvor weiß war, schwarz sein und umgekehrt. Aber nur für einen kurzen Augenblick, denn im nächsten Moment entsteht erneut ein schwarzer Punkt im Weiß und ein weißer Punkt im Schwarz.

Nichts ist absolut … Nichts ist beständig … (Nicht einmal dieser Satz.)

Ohne Dunkelheit kein Licht. Ohne Angst kein Mut. Ohne Distanz keine Nähe. Nichts existiert ohne sein Gegenteil.

Ich fühle mich wie damals, als wir uns in der Praxis begegneten. Lasse meinen Gedanken freien Lauf, bin einfach da. Ohne den Anspruch zu haben, logisch, verständlich oder was auch immer zu sein. Ich bin einfach da.

 

Manchmal, wenn es mir gelingt, einfach zu sein, verbinde ich mich mit einem Gefühl der Fülle, des Friedens und der Liebe, das mein Bewusstsein erweitert, bis es die Grenzen meines Ichs überschreitet.

Das, was mir diese Tür öffnet, ist die Nicht-Konditionierung, das Nicht-Denken, das Nicht-Vorausschauen …

Und jetzt wird mir klar, dass es das Nichts ist, die fruchtbare Leere. Der einzige Ort, wo ich alles empfangen kann, weil Raum für alles ist.

Krishnamurti schreibt: »Eine Tasse ist nur dann hilfreich, wenn sie leer ist.« Ich weiß noch, wie verwirrt ich war, als ich diesen Satz zum ersten Mal las. Ich verstand nicht, was er bedeutete. Wie oft bin ich auf der Suche nach dem Sinn auf Abwege geraten, weil ich versuchte, ihn durch den Verstand zu finden, den computergesteuerten Teil meines Ichs:

Boing! Bing! Was für ein Horror!

 

Nun, die Lösung war – wie so oft –, mich als Tasse zu fühlen. Mir vorzustellen, ich sei eine Tasse. Eine volle Tasse … Voller Milch, dachte ich. Milch ist etwas Wertvolles, sie ist nahrhaft, wichtig, nützlich. Mit was sonst hätte ich in meiner Allmacht gefüllt sein sollen?

Ich stellte mir nun vor, wie ich meinen Inhalt dorthin brachte, wo er größeren Nutzen hatte. Aber, Überraschung! Ich konnte nichts geben, ohne mich zu leeren, und wenn ich das tat, war die Tasse nicht länger voll … Und ich fühlte mich noch schlechter, weil ich doch nur dazu da war, diese warme oder kalte, frisch eingegossene oder saure Milch aufzunehmen …

Nein! Das war nicht das, was ich für mich wollte.

Es ist nicht das, was ich jetzt für mich will.

Ich will leer sein …

Um mich füllen zu können …

Um niemals gefüllt zu sein …

Um ganz ich selbst zu sein …

Um zu leben …

 

Hoffentlich kannst du meinen wirren Gedanken folgen … Aber vielleicht ist das gar nicht so wichtig. Vielleicht spreche ich weniger zu dir, als vielmehr zu mir selbst, und du bist nur ein Vorwand, ein wunderbarer Vorwand, mich hier, mit dir, in diesem Moment sein zu lassen.

Brief 2

Offensichtlich denkst du immer noch, dass die Frage nach dem Warum zu irgendetwas nutze ist!

Nun ja, im Grunde ist sie das auch …

Sie hilft dabei, Erklärungen zu geben …

Mich zu rechtfertigen …

Nicht die Verantwortung für mein Handeln zu übernehmen …

Mich hinter meinen Worten zu verstecken …

Entschuldigungen zu suchen …

Meinen Gefühlen auszuweichen …

Vergangenheit und Gegenwart zu relativieren …

Nicht im Hier und Jetzt zu leben.

 

Was für ein Unterschied zu konstruktiveren Fragen: Wie? Was? Wann? Wozu?!

Manchmal denke ich, dass die Frage nach dem Warum das große Manko der Psychoanalyse ist. Mit ihrem rückwärtsgerichteten Blick ähnelt sie der Archäologie: eine einzige große Konstruktion, basierend auf Vermutungen und »Funden«, die diese Vermutungen stützen.

»Wieso ›Vermutungen‹? Die Geschichte ist doch eine Tatsache!«

»Okay. Dann beweise mir, dass es 1492 wirklich gegeben hat.«

»Ich kann dir Bücher zeigen, die aus dieser Zeit stammen.«

»Ist das ein eindeutiger Beweis?«

»Nun ja … Eigentlich nicht.«

»Gehen wir in die jüngere Zeit. Was könntest du tun, um mir zu beweisen, dass die Welt vor hundert Jahren existierte?«

»Ich könnte dir Fotos zeigen, Zeitungsausschnitte, Kleidung …«

»Gilt das auch für dein Leben?«

»Ja. Und es gibt meine Erinnerungen.«

»Gut. Versuche, die Welt zu denken, wie du sie kennst, die Welt mit allem, was sie enthält, Ruinen, Fotografien, Büchern und deinen eigenen Erinnerungen … Diese Welt, die alles das umfasst, ist reell, sie ist hier und jetzt. Könntest du mir mit Gewissheit, ohne den geringsten Zweifel, beweisen, dass sie nicht vor fünf Minuten geschaffen wurde?«

(Verwirrung …)

»Beweisen … Ich glaube nicht. Aber ich habe meine Erinnerungen!«

»Deine Erinnerungen könnten falsche Erinnerungen sein. Sie könnten künstlich geschaffen worden sein.«

Nietzsche schreibt, dass die Erinnerung und der Stolz miteinander stritten: Die Erinnerung behauptete, so sei es gewesen, doch der Stolz widersprach: So könne es keinesfalls gewesen sein. Sie sahen sich an … Und die Erinnerung gab nach!

Letztendlich ist unsere Vergangenheit eine Mutmaßung, eine Phantasie, ein Erklärungsversuch, wie es zu dem gekommen ist, was heute ist.

Außerdem finden deine Erinnerungen hier und jetzt statt. Nicht dort und damals.

Das Erinnern ist nützlich, ja. Manchmal ist es nützlich.

Aber nicht, wenn ich mein Leben darauf stütze.

Wenn ich von ihm abhängig bin.

Wenn ich sage: »So hat man es mir beigebracht …«

»Das habe ich immer so gemacht …«

»Bei mir zu Hause ist das so …«

 

Ein Beispiel von Thomas Harris:

Erster Akt

(Im Haus eines Paars.)

(Die Frau hat zum ersten Mal einen wunderbaren gebackenen Schinken für ihren Mann zubereitet. Zum ersten Mal für sie, nicht für den Mann)

 

Er (probiert): »Köstlich. Warum hast du das Endstück abgeschnitten?«

Sie: »Das macht man so bei gebackenem Schinken.«

Er: »Das stimmt nicht. Ich habe schon öfter gebackenen Schinken gegessen, und der war ganz.«

Sie: »Mag sein, aber wenn man das Endstück abschneidet, lässt er sich besser zubereiten.«

Er: »Das ist doch Quatsch! Warum?«

Sie (zweifelnd): »Meine Mutter hat es mir so beigebracht …«

Er: »Fragen wir deine Mutter.«

Zweiter Akt

(Im Haus der Mutter.)

 

Sie: »Mama, wie macht man gebackenen Schinken?«

Mutter: »Man mariniert ihn, schneidet das Endstück ab und schiebt ihn in den Ofen.«

Sie (zu ihm): »Siehst du!«

Er: »Aber warum schneidet man das Endstück ab?«

Mutter (zweifelnd): »Na ja … Die Marinade, die Backzeit … Meine Mutter hat es mir so beigebracht!«

Er: »Fragen wir die Großmutter!«

Dritter Akt

(Im Haus der Großmutter)

 

Sie: »Oma, wie macht man gebackenen Schinken?«

Großmutter: »Ich mariniere ihn ordentlich, lasse ihn drei Stunden ruhen, dann schneide ich das Endstück ab und lass ihn bei langsamer Hitze garen.«

Mutter (zu ihm): »Siehst du!«

Sie (zu ihm): »Siehst du!«

Er (stur): »Aber warum schneidest du das Endstück ab?«

Großmutter: »Na ja, damit der Schinken in den Ofen passt! Mein Backofen ist so klein …«

 

(Vorhang)

Das ist für mich ein sehr anschauliches Beispiel.

Nun ist das Problem ein anderes: Wie unterscheide ich eine sinnvolle Erinnerung von einer unsinnigen? Wie trenne ich Erkenntnis und Erfahrung vom Vorurteil (etymologisch betrachtet, ein vorher gefasstes Urteil)?

Das ist womöglich eine der größten Herausforderungen, wenn wir versuchen, unser Leben in Verbindung mit dem Hier und Jetzt zu leben.

Mir ist klar, dass ich dir nur einige Hinweise geben kann: