Glaube, der nach Freiheit schmeckt - Andreas Knapp - E-Book

Glaube, der nach Freiheit schmeckt E-Book

Andreas Knapp

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Beschreibung

Warum sind Menschen heute noch so verrückt, an Gott zu glauben? Weil der Glaube uns Freiheit, Selbstvertrauen und Gelassenheit schenkt – davon sind Melanie Wolfers und Andreas Knapp überzeugt. Unterhaltsam, frisch und undogmatisch beschreiben sie den Kern einer zeitgemäßen Religiosität und weichen auch kritischen Anfragen an das Christentum nicht aus. Was sie dabei vorantreibt, ist der leidenschaftliche Versuch, den Glauben an Gott und ein modernes Weltbild miteinander zu verbinden und so auch entsprechend zu leben. Sie denken nach über Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie, über Religion und Gewalt – aber auch über das Gottesbild von Juden, Christen und Muslimen, über Jesus und die Kirche. Das alles mündete in die entscheidende Frage: Wie kann der Jahrtausende alte Glaube an Gott heute so verstanden und gelebt werden, dass er dem Menschen Freiheit schenkt und Verantwortung für sich und andere ermöglicht?Wolfers und Knapp zeichnen das lebendige Bild eines zeitgemäßen Christentums und sind sicher: Wer glaubt, verfügt über einen zuverlässigen Kompass, der den Weg weist durch einen Alltag voller Zweifel und Herausforderungen. Die aktualisierte und erweiterte Neuauflage des Longsellers. »Durch dieses Buch weht ein Wind, der mich umgehauen hat. So spritzig und fröhlich kann der christliche Glaube sein! Am Ende jeder Seite hoffe ich, dass es so rasant weitergeht, und wirklich - die Autoren halten diesen Drive durch. « Werner Tiki Küstenmacher, Bestsellerautor

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Seitenzahl: 462

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Andreas Knapp / Melanie Wolfers

Glaube, der nach Freiheit schmeckt

Ein Einladung an Zweifler und Skeptiker

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Wie kann der christliche Glaube heute so verstanden und gelebt werden, dass er die Freiheit des Menschen fördert ­ und ihn befähigt, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen? Unterhaltsam, frisch und undogmatisch beschreiben Andreas Knapp und Melanie Wolfers den Kern einer zeitgemäßen Religiosität und weichen auch kritischen Anfragen an das Christentum nicht aus. Sie denken nach über Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie, über Religion und Gewalt – aber auch über das Gottesbild, über Jesus und die Kirche.

»Durch dieses Buch weht ein Wind, der mich umgehauen hat. So spritzig und fröhlich kann der christliche Glaube sein! Am Ende jeder Seite hoffe ich, dass es so rasant weitergeht, und wirklich – die Autoren halten diesen Drive durch.«

Werner Tiki Küstenmacher, Bestsellerautor

 

Die aktualisierte und erweiterte Neuauflage des Bestsellers.

Inhaltsübersicht

Einladung

Erster Tag: Gott taucht auf

Prolog im Urwald

Gottes Blitzgeburt

Religion als Trostpflaster

Religion als Sozialkitt

Religion als Fitnessfaktor

Keine Tricks!

Gene lassen Spielräume

Wer hat hier das Sagen?

Was steckt hinter Gedanken?

In Widersprüche verwickelt

Sind wir völlig fremdgesteuert?

Ich kann auch ganz anders!

Der Zweiäugige ist König

Was ist Leben?

Das Unerklärliche an Liebe und Religion

Es gilt: sowohl als auch!

Ein kurzer Blick in die Geschichte

Ich bin hin und weg

Wie die Liebe auf die Welt kam

Schönheit ist kein leerer Schein

Wenn man tiefer schaut: die spirituelle Dimension

Wer’s glaubt, wird selig

Was man alles glauben kann

Was die Bibel unter »Glauben« versteht

Im Wettstreit der Interpretationen

Tollkirschen und Schlangengift

Ein Fehlgriff und seine Folgen

Der Mensch zwischen Gut und Böse

Rückblick auf den ersten Tag

Zweiter Tag: Gott gibt Sinn

Die Entgrenzung des Menschen

Wonach hungern wir wirklich?

Die entfesselte Gewalt

Die Suche nach einem Sündenbock

Opferkult und Religion

Wer zähmt den Menschen?

Die Evolution des Gottesbildes

Fördert Monotheismus die Gewalt?

Falls es keinen Gott gibt …

Wenn Gott tot ist, was dann?

Was spricht für »Gott«?

Ich bin gelernter Atheist

Den spirituellen Sensus kultivieren

Rückblick auf den zweiten Tag

Dritter Tag: Gott wird groß

Ein liberaler Gott

Freiheit: ein göttliches Geschenk

Der lange Weg zur Freiheit

Was lernt Israel in der Leere der Wüste?

Freiheit braucht Schutz

Passbild und Tempo-Taschentuch

Gott bleibt undefinierbar

Gottes Inkognito

Die Schöpfung der Evolution und die Evolution der Schöpfung

Eine Erzählung vom Ursprung der Welt

Die Welt ist ein Gedicht

Welt und Mensch verdanken sich einem göttlichen Willen

Der freie Wille Gottes will Freiheit

Der gute Wille Gottes meint es gut mit seiner Schöpfung

Wie der Mensch zur Vernunft kam

Die Entzauberung der Welt

Ist Glauben vernunftfeindlich?

Die Vernunft braucht den Glauben

Der Glaube braucht Gründe

Die Ausbildung zum Menschen

Was meint »Gottes Ebenbild«?

Individuum und Verantwortung

Ein personales Gottesbild

Eine Gleichung mit Unbekannten

Gott und Welt in den Naturreligionen

Die Deutung der Welt im Buddhismus

Die Deutung der Welt in den monotheistischen Religionen

Rückblick auf den dritten Tag

Vierter Tag: Gott geht aufs Ganze

Der Geistesblitz am Jordan

Jesus lernt von Johannes

Jesus überflügelt Johannes

Die drei großen Versuchungen

Steig vom Baum herab!

Jesus als Lehrer

Neu denken und handeln

Ein wunderbarer Mensch

War Jesus ein Wunderdoktor?

Heilende Beziehungen

Im Wunderbaren das Göttliche erahnen

Jesus provoziert

Von Jesus lernen

Freundschaftsfähig

Das Empfangene weitergeben

Raus aus der Falle!

Ein neuer Lebensstil

Gewaltfrei bis zuletzt

Der Triumph der Gewalt

Wer hat das letzte Wort?

Jesus: lebendiger denn je

Der Anfang der Kirche

Rückblick auf den vierten Tag

Fünfter Tag: Gott outet sich

Ein Mythos wird entlarvt

Kritisch nachgefragt

Vom Kreuz zur Krippe

Jesus war nicht ganz normal

Anmaßend oder berechtigt?

Verteidigung des Windelkultes

Mensch Gott!

Die große Kult-Revolution

Das Göttliche in aller Welt

Ein neues Bild vom Menschen

Gott lässt die Hüllen fallen

Gott zeigt sich ganz anders

Die Durchkreuzung der Gewalt

Eine neue Art von Leben

Rückblick auf den fünften Tag

Sechster Tag: Gott begeistert

Gottes höhere Mathematik: 1 = 3

Ein neuer Blick auf Gott

Von der Dynamik der Liebe

Geistes-Gegenwart

Was mein Leben inspiriert

Eine geisterfüllte Kirche?

Unterwegs zu einem neuen Frauenbild

Ins Gebet genommen

Mit allen Kräften beten

Beten drängt zur Tat

Beten und Bitten

Ich habe mir ein Neues Testament gekauft – und das Alte weggeworfen …

Wenn die Bibel verkehrt wird

Zur bleibenden Bedeutung des Alten Testamentes

Die christliche Revolution

Gleichheit

Freiheit

Geschwisterlichkeit

Rückblick auf den sechsten Tag

Siebter Tag: Gott kommt ans Ziel

Schrei zum Himmel

Warum müssen wir leiden?

Das Leid bleibt unbegreiflich

Die Frohbotschaft vom Gericht

Wird Gott der Welt gerecht?

Durch Liebe geläutert

Ewig währt am längsten

Von der Qual eines endlosen Lebens

Was meint »Ewigkeit«?

Wie (sich) die Bibel das ewige Leben ausmalt

Allumfassend

Tod und Teufel

Vom Teufelskreis des Bösen

Am Abend des Lebens wirst du nur nach der Liebe gefragt (Johannes vom Kreuz)

Epilog in der Hölle

Rückblick auf den siebten Tag

Zehn Thesen zur Freiheit

Am Morgen des achten Tages

Zum Weiterlesen

Einladung

Glauben Sie wirklich, dass Sie an Gott glauben? Oder glauben Sie nicht an Gott, aber zweifeln bisweilen an Ihren Zweifeln? Interessiert es Sie, warum heute noch Menschen so verrückt sind, an Gott zu glauben? Dann sind Sie eingeladen, mit uns ins Gespräch zu kommen.

Wir sind zwei Ordensleute, gehören also zur selten gewordenen Gattung »Nonne« und »Mönch«. Doch anders, als Sie vielleicht vermuten, leben wir nicht im Kloster, sondern in einem ganz normalen Umfeld. Bei unserer Arbeit – im Kontakt mit jungen Erwachsenen oder in der Flüchtlingsarbeit, als Seelsorgerin, Schriftstellerin und Podcasterin – stoßen wir auf Neugier und Unverständnis: »Warum lebst du so? Wie kannst du an Gott glauben, wo du doch sonst ganz vernünftig wirkst? Wen oder was meinst du mit ›Gott‹?« Oder spöttisch: »Grüß Gott – wenn du ihn triffst!«

Solche Begegnungen mit Zweiflern und Skeptikern wie auch mit Christinnen und Christen, die ihren Glauben tiefer verstehen wollen, haben uns herausgefordert. Denn uns beide verbindet der leidenschaftliche Versuch, wie wir den christlichen Glauben in einem modernen Weltbild denken und leben können. Sieben Tage lang haben wir heftig miteinander diskutiert. Dabei stellten wir uns Fragen, die in der Öffentlichkeit sehr umstritten sind, aber auch Fragen, die sich eher in stillen und nachdenklichen Stunden zu Wort melden. Aus diesen Dialogen entstand das vorliegende Buch.

In unseren Gesprächen geben wir einen Einblick in unseren Alltag und unseren Glauben. Und aus diesen Dialogen erwachsen zugleich die zentralen Fragen dieses Buches: Kann der Mensch auf Religion verzichten? Fördert Religion Gewalt? Lassen sich Evolutionstheorie und Schöpfungsgedanke miteinander vereinbaren? Wer war Jesus von Nazareth, und warum fasziniert er bis heute so viele Menschen? Und schließlich: Welche Orientierung kann der Glaube in einer pluralen und unübersichtlichen Welt geben?

 

Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist: Der Mensch ist der »erste Freigelassene der Evolution«. Darin gründen seine Größe und Würde, aber auch seine Not und Gefährdung. Der Ruf nach Freiheit kann ganze Völker mobilisieren. Doch im Namen der Freiheit werden auch fürchterliche Verbrechen begangen. Ausgehend von dieser Ambivalenz, entfalten wir ein Gottesbild, das aus jüdisch-christlichen Quellen schöpft und den Weg zu einer modern verstandenen christlichen Freiheit weist. Wenn Sie einer solchen Freiheit auf den Geschmack kommen wollen: Lesen Sie weiter!

Vielleicht reizt es Ihre Neugier noch mehr, wenn Sie erfahren: Dieses Buch ist vor 15 Jahren erschienen und hat seither zahlreiche interessierte Leserinnen und Leser gefunden. Diesem Erfolg verdankt sich die Anregung von Stefan Wiesner, dem Leiter des bene! Verlags, unser Gemeinschaftswerk zu überarbeiten und neu auflegen zu lassen.

 

Melanie Wolfers, Wien

Andreas Knapp, Leipzig

an Pfingsten 2023

Erster Tag: Gott taucht auf

Melanie: Darauf habe ich mich schon lange gefreut: Mit dir mal wieder über Gott und die Welt zu diskutieren! Es ist allerdings schade, dass wir nur eine Woche Zeit haben …

Andreas: Ach, sieben Tage sind doch ein bewährter Zeitraum, um schöpferisch tätig zu sein! Und das Bildungshaus St. Michael in Tirol bietet uns einen herrlichen Rahmen für unsere religiösen Gipfelgespräche. Der Blick auf die Berglandschaft ist faszinierend. Ich komme direkt aus Leipzig, und dort ist die Landschaft ziemlich platt …

Melanie: Apropos »platt«: Seit 18 Jahren lebst du jetzt schon als Ordensmann – oder soll ich sagen: als Mönch? – in einem Plattenbau am Stadtrand von Leipzig. Die DDR hatte noch geplant, dass in den Beton-Siedlungen der neue sozialistische Mensch heranwächst. Wenn Honecker & Co erfahren würden, dass dort jetzt so eine Art Kloster entstanden ist, wären sie wohl auch ziemlich platt …

Andreas: Wobei Honecker sicher stolz darauf wäre, dass Leipzig nach wie vor als »Hauptstadt des deutschen Atheismus« gilt. In unserem Wohnviertel sind Christen eine Rarität und Mönche absolut exotisch. Ich vermute, dass wir bald unter das Artenschutzgesetz fallen, weil wir vom Aussterben bedroht sind.

Melanie: Ich lebe zwar als Ordensfrau im katholischen Österreich, aber auch das ist schon lange kein »Klösterreich« mehr. Es gibt noch ökologische Nischen, in denen Mönche und Nonnen überleben, aber sie wirken häufig wie lebende Fossilien aus einer anderen Zeit oder gar von einem anderen Stern. Was sagen denn eure Nachbarn, wenn sie am Klingelschild »Kleine Brüder vom Evangelium« lesen?

Andreas: Die Leute wundern sich über eine »Männer-WG« zu viert, über unsere vielen Besuche und sicher auch darüber, dass wir einer ganz normalen Arbeit nachgehen. Aber »Mönch-Sein« ist vor allem etwas Inneres. Den Glauben an Gott liest man einem ja nicht an der Nasenspitze ab.

Melanie: Auch wir leben einen ganz normalen Alltag. Wenn andere erfahren, dass ich Mitglied einer Ordensgemeinschaft bin, dann kommt es zu den unterschiedlichsten Reaktionen. Die einen wissen gar nicht, was das ist, und fragen mich, wie viele Kinder ich habe. Andere staunen über den Mut, dass ich auf eine Hochschulkarriere verzichtet habe und mein Leben ganz auf Gott setzen will.

Andreas: Können denn die Leute, denen du begegnest, mit dem Begriff »Gott« noch etwas anfangen?

Melanie: Sowohl in meiner früheren Arbeit an der Uni als auch heute in meiner Vortragstätigkeit habe ich viel mit Menschen zu tun, für die Gott ein Fremdwort ist. Für Bekannte, die naturwissenschaftlich geprägt sind, ist Religion oft ein Ladenhüter, der vielleicht bald verschwinden wird.

Andreas: Ist es nicht komisch für dich, dass du an Gott glaubst, während viele deiner Freunde für Religion nur ein müdes Lächeln übrig haben?

Melanie: Weißt du, ich bin in Flensburg geboren und aufgewachsen, wo es recht wenige Christinnen und Christen gab. Von daher habe ich schon früh meinen religiösen Standpunkt selbst finden müssen. Und ich bekam zunehmend Lust, mit anderen über den Glauben zu diskutieren.

Andreas: Auch für mich ist es eine Herausforderung der ganz besonderen Art, mitten unter Nichtchristen zu leben. Für viele Arbeitskollegen oder Nachbarn ist die Frage nach Gott völlig uninteressant.

Melanie: In Österreich ist der christliche Glaube noch mehr verbreitet. Aber zugleich haben viele Frauen und Männer, mit denen ich in Kontakt stehe, keinen Bezug zu Kirche und Glaube. Wenn es jedoch um Berufsentscheidung oder Partnerschaft geht, um Trennung oder den Verlust eines geliebten Menschen, um den Umgang mit Krankheit und Leid, dann stellt sich oft auch die Frage nach Gott. Ein anderer Bereich sind die gesellschaftlichen und globalen Herausforderungen: In welcher Welt wollen wir leben? Wie gestalten wir unsere Zukunft auf unserem einzigartigen und zugleich so bedrohten Planeten? Auch hier kommen spirituelle Fragen ins Spiel.

Andreas: Es gibt aber auch Menschen, die Gott ablehnen und den religiösen Glauben bekämpfen, weil er angeblich die Gewalt fördert und das Denken beschränkt.

Melanie: Ja, auf den Bestsellerlisten tauchen regelmäßig Bücher auf, die der Religion den Krieg erklären. Richard Dawkins hat in seinem Buch »Der Gotteswahn« den religiösen Glauben als eine biologische Fehlentwicklung des Menschen gebrandmarkt. In den letzten Jahren blies Yuval Noah Harari in das gleiche Horn.1

Andreas: Diese Autoren versuchen, soziale Phänomene mithilfe der Evolutionstheorie zu erklären. Ich habe mich schon vor 35 Jahren während meines Studiums mit der Soziobiologie beschäftigt. Dieser Erklärungsansatz hat mich derart fasziniert, dass ich sogar eine Doktorarbeit darüber geschrieben habe. Es gab damals eine längere Phase, in der ich die Kritik am Gottesglauben überzeugend fand. Ich war damals so etwas wie ein »theoretischer Atheist« …

Melanie: …und trotzdem bist du Priester und Ordensmann geworden?

Andreas: Ja. Intuitiv habe ich gespürt, dass die Soziobiologie nicht alles erklären und vor allem Religion, Kunst oder Liebe nicht einfach weg‑erklären kann. Das Studium der Wissenschaftstheorie hat mir dann die Augen dafür geöffnet, dass naturwissenschaftliche Erklärungen eine begrenzte Reichweite haben. Wenn das vergessen wird, dann werden solche Theorien totalitär.

Melanie: Wie kamst du eigentlich zur Soziobiologie?

Andreas: Mein Opa war Imker. Ich habe mich von Kindheit an für die Staaten bildenden Insekten interessiert. Von meinen Klassenkameraden wurde ich manchmal sogar »Ameisenprofessor« genannt. Für die Evolutionstheorie stellte die soziale Organisation der Ameisen und Bienen lange eine große Herausforderung dar: Wie kam es dazu, dass im Bienenstaat sterile Arbeiterinnen auf eigenen Nachwuchs verzichten und sich für die Brut der Königin bzw. den »Insektenstaat« selbstlos aufopfern? Die Soziobiologie versucht, für ein solches Verhalten Erklärungsmodelle zu entwickeln. Doch können diese auch schon erhellen, warum buddhistische Mönche und katholische Nonnen auf Sex und Nachwuchs verzichten? Der Blick vom Ameisenhügel aus scheint mir für solche komplexen menschlichen Verhaltensweisen dann doch etwas zu kurzsichtig.

Melanie: Unsere Spezies scheint auch für Hirnforscher ein lohnendes Objekt zu sein. Immer wieder lese ich davon, dass meditierende Mönche und Nonnen mit modernster Technologie beobachtet werden. Beim Gebet werden ganz bestimmte Areale im Gehirn aktiviert und biochemische Substanzen freigesetzt. Ich finde das hochinteressant! Aber was es bedeutet, an Gott zu glauben, lässt sich so nicht erfassen. Ich kann ja auch messen, welche Gehirnregionen bei einem Physiker aktiviert sind, wenn er über die Relativitätstheorie nachdenkt. Aber daraus lässt sich über die Inhalte dieser Theorie nichts ableiten, und es relativiert sie in keinster Weise.

Andreas: Man könnte auch die Gehirnzustände eines Biologen messen, wenn er gerade seine Ameisen untersucht oder von einer Biene gestochen wird. Diese Erregungszustände würden über den Inhalt oder gar die wissenschaftliche Wahrheit der Soziobiologie nichts aussagen.

Melanie: Wenn du deinen Nachbarn im Plattenbau erklären willst, was Religion ist, was würdest du dann sagen?

Andreas: Ich würde bei Adam und Eva anfangen. Das Menschsein beginnt mit der Religion. Und zwar von Anfang an.

Prolog im Urwald

Die Schwüle war unerträglich. Modergeruch und der süßliche Duft überreifer Früchte erfüllten die stickige Luft. Gegen Abend ballten sich über dem Blätterdach des Regenwaldes dunkle Wolken zusammen. Von fern war bereits ein grummelndes Grollen zu vernehmen. Dann herrschte wieder bedrückende Stille. Die Stimmen der Vögel waren verstummt, und Spannung lag in der Luft. Endlich zerriss ein zuckender Blitz die Schwärze der Nacht und schlug unter ohrenbetäubendem Donner in einen Baumriesen ein, dessen Wipfel in tausend Scheite und Späne zersplitterte. Auf den dumpfen Schlag folgte ein Höllenlärm. Tukane pfiffen in höchsten Tönen, Papageien kreischten, und zwei Paradiesvögel flatterten mit lautem Flügelschlag davon. Ein Kapuzineraffe, der sich in der Baumkrone verkrochen hatte, ließ sich schreiend in die Tiefe fallen und fing sich erst im unteren Astwerk wieder. Dort blieb er hängen, wimmernd und am ganzen Körper zitternd.

Unter diesem Baum am Rande des Urwalds hatte ein Exemplar der Spezies »Homo prae-sapiens« Zuflucht vor dem nahenden Gewitter gesucht und kauerte am Boden. Die Augen des Vor-Menschen waren zufällig auf eine Lücke im Geäst gerichtet, sodass er den Blitzstrahl in den Wipfel einschlagen sah. Vom Donner gerührt, zitterte auch er am ganzen Körper und war doch zugleich gebannt von diesem Schauspiel. Seine Nackenhaare sträubten sich, und ein eigentümlicher Schauder lief ihm über den Rücken. Schrecken und Faszination erfassten ihn im selben Augenblick. Durch sein Gehirn fuhr ein Geistesblitz und weckte ihn aus traumwandlerischer Stumpfheit. Staunend über sich selbst formte er einen ersten Gedanken: Welche Macht hatte ihn soeben tödlich bedroht und dann doch verschont?

Der erste Mensch, nennen wir ihn aus purer Gewohnheit »Adam«, war aus der dumpfen Natur erwacht. Als er um sich blickte, lagen rauchende und glimmende Späne auf dem Boden verstreut. Das trockene Gras in der Nähe des Baumstamms fing Feuer, und Adam stand staunend vor der prasselnden Erscheinung, die sich immer weiterfraß. Er hatte die Urgewalt des Feuers schon öfter beobachtet. Jetzt aber gingen ihm die Augen auf: Die Macht, die Blitze schleudert, meinte es gut mit ihm.

Adam nahm seinen ganzen Mut zusammen und ergriff ein brennendes Scheit, um es zu seiner Sippe zu bringen, die draußen in der Savanne lagerte. Dabei formte sich ein weiterer Gedanke in seinem großen Gehirn: Es gibt Götter, die über den Wolken wohnen und Macht haben über Leben und Tod. Dem Menschen aber haben sie das Feuer geschenkt, damit auch er mächtig werde. Zum Dank für das Feuer vom Himmel würde der Mensch den Göttern Brandopfer darbringen. So hoffte er, dass sie ihm auch künftig gnädig sein werden, ihm Fruchtbarkeit schenken und ihn vielleicht sogar in die ewigen Jagdgründe aufnehmen.

Während der Affe bald wieder seinem Bananen-Trieb folgend weiterzog, hatte sich unweit bei einem nahen Verwandten die größte biologische Revolution ereignet. In einem Gedankenblitz war eine Ahnung von »Gott« aufgetaucht – und das war zugleich die Geburtsstunde des Menschen. Der Affe blieb, was er war, und dachte nicht daran, einem Gott zu opfern oder seine Toten zu begraben. Der Mensch aber war über sich selbst hinausgewachsen.

Gottes Blitzgeburt

Wir wissen nicht genau, von welchem Stammbaum der erste Mensch heruntergestiegen ist, um den aufrechten Gang zu lernen. Wir wissen aber ziemlich sicher, dass Religion etwas Urmenschliches ist und sich schon bei frühen Menschenformen wie Neandertaler und Homo erectus findet. Unsere These lautet: Das Menschsein beginnt mit der Befähigung zur Religion.

Unter Religion versteht man im Allgemeinen die »Rück-Bindung« an etwas Göttliches (lat. religare = anbinden, zurückbinden). Der Mensch hat eine natürliche Tendenz zum Übernatürlichen. Zwar fürchtet sich auch ein Affe, wenn sich dunkle Wolken über ihm zusammenbrauen. Aber erst der Mensch hat das Abstraktionsvermögen, sich einen über den Wolken thronenden Gott vorzustellen, der als Wotan, Jahwe oder Zeus Blitze wie Pfeile um sich schleudert. Auch ein Kapuzineraffe erschrickt, wenn ein Blitz über ihm den Himmel zerreißt, aber es wird ihm nie einfallen, ein Mönch zu werden. Luther hingegen tritt nach seiner Blitzbekehrung in ein Augustinerkloster ein. Und es mag durchaus sein, dass ein Affe etwas hilflos und vielleicht traurig neben einem toten Artgenossen kauert. Er wird aber nicht auf die Idee kommen, ihm eine Pyramide oder ein Mausoleum zu bauen, selbst wenn er im Zoo gelernt hat, mit Legosteinen zu spielen.

 

Nur der Mensch kann sich ein Leben nach dem Tod paradiesisch bunt ausmalen und dem verunglückten Artgenossen Waffen für die Jagd im Jenseits, Reiseproviant und gegebenenfalls noch einen Schuss Schnaps mit ins Grab geben. Auch Schimpansen können Farben erkennen und haben sichtlich Freude daran, mit ihnen herumzuklecksen, vor allem, wenn ihnen als Belohnung eine Packung Studentenfutter winkt. Aber erst der Mensch malt Bilder und Symbole an Höhlenwände, um Tiergeister zu bannen und Götter zu verehren.

Der entscheidende Schritt zur Menschwerdung (»Hominisation«) setzt mit dem aufrechten Gang und der Vergrößerung des Gehirns ein. Das aufrechte Gehen erweitert das Gesichtsfeld des Menschen und ermöglicht ihm, seine Hände frei zu gebrauchen. Er greift nach den Dingen, und durch das Begreifen erweitern sich die Kapazitäten seines Gehirns. Der Mensch emanzipiert sich zunehmend von den Vorgaben seiner biologischen Natur und gewinnt neue Handlungsspielräume. Er erwacht aus der naturhaften Ohnmacht und kommt zu sich. Aufgrund dieser neuen Bewusstseinsstufe ist er nicht mehr im Hier und Jetzt gefangen. Das engstirnige Leben im jeweiligen Augenblick weitet sich in Übersicht und Vorausschau. Der Mensch kann reflektieren, d.h. nachdenken. Der Urmensch interessiert sich nicht mehr bloß für die Banane in seiner Hand, sondern auch für die Taube am Himmel und die Ursache des Blitzes. Das Naheliegende ist ihm nicht mehr gut genug, und er schweift in die Ferne: Er staunt über die Sterne, träumt von der Zukunft und erinnert sich an die Toten. Im Weitblick kann der Mensch von sich und seinem unmittelbaren Interesse Abstand nehmen. Tiere dagegen können nicht von sich absehen und sind distanzlos. Deshalb haben sie auch nichts zu lachen. Der Mensch hingegen hat Humor. Er kann den tierischen Ernst überschreiten und sogar über sich selbst lachen. »Der Mensch ist das Wesen, das sich selbst zurücknehmen, sich relativieren kann.«2

 

Wenn der Mensch von sich selbst Abstand nimmt, macht er einen Schritt über sein Ich hinaus. Man könnte auch sagen: Er überschreitet (lat. = transzendiert) sich. Vielleicht spiegelt sich im Übergang vom Urwald in die Weite der Savanne diese Bewusstseinserweiterung des Menschen. Während der Affe vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht, vermag der Mensch über das Unmittelbare hinauszudenken. Es drängt ihn zu fragen, was »hinter« und »über« der Welt steht (Transzendenz). So lässt sich der Übergang vom Tierreich zum Menschen bei unseren Vorfahren dort ansiedeln, wo sie zum ersten Mal Ehrfurcht und Furcht vor einem höheren Wesen empfinden, das sie zu verehren beginnen. Der Rubikon zwischen Tier und Mensch wird in dem Moment überschritten, in dem ein Wesen erstmals, und wenn auch nur andeutungsweise, den Gedanken »Gott« zu bilden vermag (Joseph Ratzinger). Der Mensch als religiöses Lebewesen (animal religiosum) kann Gott danken und denken. Erst die Befähigung zur Religion macht den Menschen zum Menschen.

In der Debatte um die Gottesfrage wird heute freilich oft auf die evolutionsgeschichtliche Entwicklung der Religion hingewiesen, um Gott als eine Illusion des Menschen zu enttarnen:

Religion als Trostpflaster

Die Ursprungsgeschichte des Gottesglaubens wird von Religionskritikern gern aufgegriffen, um zu zeigen: Religion verdankt sich irrationalen Ängsten und ist daher selbst irrational. Ein klassisches Argument lautet: Die Angst vor Blitz und Donner, vor Krankheit und Naturgewalten lässt den Menschen die trostvolle Geschichte vom »lieben Gott« erfinden. Eine noch undurchschaubare Natur überfordert die naive Fantasie der ersten Menschen, die sich dann vor lauter Schreck die tollsten Götter ausmalen. Mit dem Bewusstsein von sich selbst erkennt der Mensch, dass er sterben wird. Dieses todsichere Wissen lässt den Menschen die Religion erfinden, um seine Todesangst zu bewältigen. Demnach sind Angst vor dem Tod und der Wunsch nach einem Jenseits die Schöpfer aller Mythen und Religionen. Zudem kann der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod beispielsweise Unglück und Ungerechtigkeit erträglicher machen. Denn ein »himmlischer Rechnungshof« wird darüber wachen, dass am Ende alle quitt sind. Auf den Punkt gebracht: Die menschlichen Sehnsüchte und Wünsche schaffen sich in Gott ein Gebilde, das hilft, in diesem elenden Jammertal zu leben. Religion ist evolutionsgeschichtlich also nichts weiter als ein falsches Bewusstsein, das der Mensch entwickelt, um mit dem Leben besser zurechtzukommen. Gott ist eine Schöpfung des Menschen!

Diese Überlegungen sind allerdings nicht sehr tiefschürfend. Denn erstens sind zwar Bestattungen ohne Zweifel paläontologisch ein wichtiger Hinweis für das Auftreten des Homo sapiens und geben Inhalte früher religiöser Vorstellungen zu erkennen. So wurden beispielsweise die Toten des Neandertalers mit bis zu sieben Blumenarten und ihre Augen mit Muschelschmuck bedeckt. Auch deuten gespaltene und verkohlte Tierknochen über den Gräbern auf ein Totenmahl hin, sodass der Leichenschmaus als eine Erfindung des Neandertalers gelten kann (Ulrich Lüke). Wenn jedoch der tröstliche Gedanke an ein Jenseits der Entstehungsgrund für Religion sein soll, so muss man fragen: Warum kennen dann viele Religionen keine Aufnahme ins Paradies? Für die alten Griechen winkte nach dem Tod kein Platz an der Sonne, sondern ein düsterer Ort namens Hades – eine alles in allem ziemlich traurige Veranstaltung für die sich allmählich auflösenden Schatten. Eine derart trübe Aussicht nimmt den Menschen nicht gerade die Furcht vor dem Tod, sondern vergrößert sie eher noch. Andere Religionen trösten den Menschen nicht mit paradiesischen Zuständen, sondern machen ihm mit Jenseits-Drohungen die Hölle heiß. Die Aussicht, von Dämonen geröstet und in einem ewigen Feuer gegrillt zu werden, ist – weiß der Teufel – keine appetitliche Perspektive. Wie soll da der Gedanke an den Tod erträglicher werden? Auch das Konzept der Wiedergeburt bietet keinen Trost, denn die Vorstellung von einem Kreislauf, in dem man als Zweibeiner, Tausendfüßler und dann als Fußpilz endlose Runden dreht, wird als fürchterlicher Fluch empfunden. In wieder anderen Religionen, wie etwa im Judentum, entwickelte sich der Glaube an ein Leben nach dem Tod nicht am Beginn, sondern erst in einer sehr späten Phase. Was das frühe Judentum interessierte, war nicht ein Leben nach dem Tod. Der Segen Gottes war vielmehr ein pralles Leben mit Korn und Wein in Fülle, mit reichem Kindersegen und einem hohen Alter, um das Zeitliche zu segnen und Gott zu loben. Ähnlich geht es auch in vielen anderen Religionen nicht primär um ein Jenseits, sondern um ein Leben mit Gott oder den Göttern im Hier und Heute. Die Religion prägt und durchformt den Alltag, in dem sich Himmel und Erde berühren.

Zweitens behauptet die Religionskritik, dass Religion auf eine zwar verständliche, aber falsche Wunschvorstellung von einem Leben nach dem Tod rückführbar sei. Wir haben gesehen, dass diese These geschichtlich nicht haltbar ist. Doch selbst wenn Todesangst bei der Entstehung des Gottesglaubens eine gewisse Geburtshilfe geleistet haben sollte: Was sagt das über die Richtigkeit dieser Idee? Wäre die Relativitätstheorie ungültig, wenn Einstein sie aus purem Ehrgeiz aufgestellt hätte? Ist nicht auch die Naturwissenschaft aus Angst vor einer übermächtigen und unbeherrschbaren Natur entstanden? Die psychischen Beweggründe, die jemanden auf einen bestimmten Gedanken bringen, sagen über den Realitätsgehalt des Gedachten nichts aus. Auch wenn Angst den Menschen beflügelt haben sollte, über die Welt nachzudenken, kann der gefundene Inhalt genauso richtig sein wie das Ergebnis einer Mathematikaufgabe, die eine Schülerin aus purer Angst vor der Strafe ihres Vaters löst.

Religion als Sozialkitt

Ein weiterer beliebter Versuch, Religion zu erklären, ist die Behauptung: Der religiöse Glaube hat sich in der Evolution um eines sozialen Vorteiles willen herausgebildet. Die »Soziobiologie« geht von den darwinistischen Gesetzen aus: Die Eigenschaften und Verhaltensweisen von Lebewesen werden von Genen programmiert. Dabei haben jene Gene eine größere Chance, an die nächste Generation vererbt zu werden, die ihren Träger überlebenstüchtiger machen (natürliche Auslese, »Selektion«). Eine Veränderung im Genmaterial (»Mutation«) kann beispielsweise eine Maus so programmieren, dass sie beim Anblick einer Katze davonläuft. Die dafür verantwortlichen Gene werden sich gegenüber anderen Genen durchsetzen, welche die Maus in der Gefahr einfach sitzen lassen. Einige Soziobiologen wenden die Gesetze von Mutation und Selektion auch auf soziale und kulturelle Phänomene des Menschen an: Eine Gemeinschaft, die an Götter glaubt, ist überlebenstüchtiger, denn der gemeinsame Glaube fördert das Sozialverhalten der Höhlenmenschen. Der Regentanz ist zwar nach heutiger Kenntnis meteorologisch ineffektiv, kann aber soziale Spannungen abbauen und damit häusliche Gewitter vermeiden helfen – was die Tanzenden allerdings nicht durchschauen. Religion kann eine Gruppe abgrenzen und ihren Mitgliedern Identität und Zusammenhalt vermitteln. Sie wirkt als Sozialkitt und moralische Ressource einer Gesellschaft.

Nach Meinung verschiedener Autoren hat eine Belohnung im Jenseits schon den Homo erectus dazu angestachelt, auf die ungläubigen und darum verzagteren Konkurrenten umso waghalsiger dreinzuschlagen – was sich im Kampf ums Dasein als vorteilhaft erweist. Die Idee eines Gottes, der als unsichtbarer Polizist alles kontrolliert, kann sich auf das konkrete Verhalten von Menschen regulierend auswirken. Ja, wer an eine himmlische Lohntüte glaubt, verzichtet leichter zugunsten von Stammesgenossen. Und schließlich können religiöse Rituale den Menschen zu heldenhaftem Einsatz und sogar zum Selbstopfer bewegen: Der Gläubige ist bereit, Nächstenliebe zu üben und am Ende für Gott und Vaterland zu sterben.

Nun ist es allerdings trivial zu sagen, dass Religion vielerlei soziale Funktionen ausübt und sich wie alles Kulturelle auch soziobiologisch vorteilhaft auswirken kann. Doch Religion hat nicht nur biologischen Nutzen mit sich gebracht. Im Gegenteil: Religion hat auch ganze Völker in den Untergang geführt. Es gab und gibt Religionskriege, deren evolutiver Nutzen überhaupt nicht sichtbar wird. Den Verfechtern religiöser Ideen geht es um die Wahrheit ihres Glaubens und nicht um einen Überlebensvorteil. Es gibt Menschen, die sich bewusst – oft sogar unter Lebensgefahr – gegen die Religion der Gemeinschaft stellen, in der sie aufgewachsen sind. Und dies nur aus einem Grund: weil sie eine andere Religion als plausibler und überzeugender empfinden. Solche Bekehrungen sind mit »soziobiologischem Nutzen« kaum zu erklären. Es würde völlig ausreichen, in eine beliebige Weltanschauung eingebettet zu sein, die Harmonie und Sicherheit vermittelt. Darüber hinaus stellt sich die Frage, warum bestimmte Religionssysteme ausgestorben sind, während die Völker überlebten: Griechen, Ägypter und Schwaben existieren auch ohne Zeus, Osiris und Wotan munter weiter. Um all diese Fakten zu erklären, greifen rein soziobiologische Erklärungsmuster einfach zu kurz.3

Religion als Fitnessfaktor

Auch wenn der Gottesglaube bisweilen soziale Nachteile mit sich bringt, so kann er doch einen ausgleichenden und stärkenden Effekt haben. Einige Vertreter der modernen Psychologie werden nicht müde, den »Gesundheitsfaktor Glauben« zu betonen. Der zum Bewusstsein erwachte Mensch wird mit seiner Ohnmacht, mit Misserfolg und Leiden konfrontiert. Religion kann diese Situation des Menschen psychisch erträglicher machen. So hat zum Beispiel der US-amerikanische Psychologe David Larson den Zusammenhang zwischen Glauben und psychischer Gesundheit ausgewertet und kommt zum Fazit: Religiosität wirkt sich in 84 % der Fälle positiv auf die Gesundheit aus, in 13 % neutral, und nur in 3 % ist sie der Gesundheit abträglich. Bei Menschen mit geringer Religiosität ist die Wahrscheinlichkeit für Alkoholabhängigkeit viermal höher als bei regelmäßigen Kirchenbesuchern. Religion scheint auch gegen Opiumsucht resistenter zu machen, sodass Religion als Substitution bei Opiumabhängigkeit des Volkes eingesetzt werden könnte. Harold Koenig vom Duke University Medical Center, der Hunderte von Studien über den Einfluss der Religion auf die Gesundheit kritisch analysiert hat, behauptet sogar: »Ein Mangel an religiösem Engagement wirkt sich auf die Sterblichkeit genauso aus, wie wenn man vierzig Jahre lang täglich eine Schachtel Zigaretten raucht.«4Religiosität würde folglich vor Bluthochdruck und Depression schützen und sogar eine höhere Lebenserwartung garantieren.

Wenn man diesen Zusammenhang näher untersucht, lässt sich feststellen, dass religiöse Menschen weniger rauchen und seltener Drogen nehmen. Glaube befähigt – im Zusammenhang mit anderen Faktoren – offenbar auch, emotionale Belastungen besser zu bewältigen, die eigenen Nöte ins Gebet zu nehmen und Stress abzubauen und somit das Immunsystem weniger zu beanspruchen. Auf diesem Hintergrund wäre zu prüfen, ob Ärzte nicht auch religiöse Übungen verschreiben sollten. Vielleicht wäre eine Taufe oder eine Zen-Meditation wirksamer als die Verschreibung von synthetischen Pillen – und darüber hinaus der Gesundung des angeschlagenen Krankenkassen-Systems zuträglich.5Es gibt freilich auch die Gegenanzeige: Religion kann negative Konsequenzen für die Gesundheit haben. Die Luft in Kirchen ist einer Untersuchung zufolge schlechter als an Straßen mit einem Verkehrsaufkommen von mehr als 45 000 Autos täglich. Besonders wegen der rußenden Kerzen übersteigt der Schadstoffgehalt der Kirchenluft die europäischen Luftverschmutzungsstandards um mehr als das Zwanzigfache.6

Was sagen nun all diese Untersuchungen? Zum Ersten könnte man versucht sein, aus positiven Nebeneffekten von Religion den Schluss zu ziehen: Religion beruht auf einer Kosten-Nutzen-Rechnung, der es um einen bestimmten Gewinn geht. In der Tat finden sich in der Volksreligiosität viele Versuche, mit Gott ein Geschäft zu machen. Man bietet Gott Gebete und Opfer an, um im Gegenzug etwas von ihm zu erhalten. Doch Religion kennt Dimensionen, die über eine solche Mentalität eines Krämerladens weit hinausgehen.

Ein Beispiel soll das verdeutlichen: Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass verliebte Menschen mehr Abwehrkräfte gegen bestimmte Krankheiten haben, weil ihr Immunsystem besser funktioniert. Aber wird sich ein Mensch deshalb verlieben? Ganz abgesehen davon, dass man sich auf Kommando ja sowieso nicht verlieben kann: Es wäre höchst absurd, wenn im Herbst statt der Grippe-Impfung alle Welt anfangen würde, Frühlingsgefühle zu entwickeln und sich Hals über Kopf zu verlieben, um Halskrankheiten vorzubeugen. Niemand verliebt sich, um gesünder zu bleiben. Auch wird niemand an Gott glauben, um eine stabilere Ehe führen zu können. Solche nützlichen Wirkungen sind Nebeneffekte, mehr oder weniger bekannt und oft nicht einmal gewollt. Denn bei der Religion geht es ähnlich wie bei der Liebe im Letzten nicht um ein Kalkül oder darum, ob ich etwas davon habe.

Eine zweite Folgerung, die aus positiven Funktionen von Religion abgeleitet wird, findet sich bei Religionskritikern. Aus ihrem Nutzen drehen diese nämlich der Religion einen Strick. Ihre These lautet: Religion ist nur eine Art Psychopharmakon, das sich die Menschheit selbst verschrieben hat. »Gott« ist ein Placebo: Es hat zwar keinen Inhalt, wirkt aber dennoch, weil man an seine Wirkung glaubt.

In ähnlicher Weise setzte schon die klassische Religionskritik an und wollte Religion als Betäubungsmittel entlarven. Nach Ludwig Feuerbach und Karl Marx legt sich die unterdrückte Volksmasse zu Vertröstung und Seelenmassage eine Religion zu, die ihr hilft, ihr Elend besser zu ertragen. Denn nach diesem Leben im grauen Jammertal der Erde wartet ja ein bunter Himmel, in dem man dann zum Ausgleich Glück findet – etwa bei himmlischen Orchestermessen. Nach Marx schafft sich das Proletariat selbst eine solche Vertröstungsdroge (»Opium des Volkes«), nach Lenin träufeln die Mächtigen dieses Rauschgift dem Volk ein, um es ruhigzustellen (»Opium für das Volk«). Dadurch wird ein kritisches Erwachen der Menschen und die daraus folgende marxistische Revolution verhindert.

Die Projektionstheorie geht also davon aus, dass der Mensch ein Wunschbild an eine Leinwand projiziert und für die Wirklichkeit hält. Nun ist diese Theorie ein Ladenhüter aus dem 19. Jahrhundert, dessen Qualität sich nicht dadurch verbessert, dass man ihn ständig neu ins Schaufenster legt. Dass Religion soziale Funktionen hat und Momente der Projektion enthält, ist nämlich eine Binsenweisheit. Doch ob Religion nun gesund oder krank, aufgeweckt oder schläfrig macht – oder welche sonstigen Funktionen Religion für eine Gesellschaft haben kann: All dies sagt nichts darüber aus, ob das, was sie lehrt, wahr ist oder nicht!

Ein Beispiel:Man kann einem Kind abends eine Geschichte vorlesen, damit es besser einschläft. Wenn dem Kind dann bald sorglos die Augen zufallen und es wunderbar tief schläft, lässt sich daraus nicht schließen, ob die Geschichte wahr oder erfunden ist. Es gibt kluge Philosophen, die sagen: Die Gutenachtgeschichte ist Opium für das Kind und schläfert es ein. Aus dieser Funktion folgern sie, dass die erzählte Geschichte gar nicht wahr ist. Nun kann aber die Geschichte von dem Mann mit dem langen Bart sowohl von König Drosselbart als auch vom Kaiser Rotbart (Barbarossa) gehandelt haben. Die einschläfernde Wirkung einer Geschichte sagt also null und nichts darüber aus, ob sie von einem real existierenden Bartträger oder einem märchenhaften Weihnachtsmann handelt.

Das gilt auch für die Geschichte vom »lieben Gott«.1 Weil der Gedanke an Gott schon so alt ist, hängt man diesem – wie einem alten Witz – einen Bart an. Nun zeigt aber unsere Analyse rasiermesserscharf, dass der lange, weiße Bart auch bei Erweis von dessen pharmakologischer Wirkung – mal als Sedativum auf Opiumbasis, mal als Aufputschmittel – noch lange nicht ab ist. Dass Religion den Menschen u.U. wie Opium zu betäuben vermag, kann nicht zur Beweisführung über das Sein oder Nichtsein Gottes herangezogen werden. Umgekehrt ist auch die Funktion des Angst-Machens ungeeignet, etwas über die Wahrheit der Religion zu erfahren. Wenn das Kind nach dem Hören der Geschichte vor lauter Angst nicht mehr einschlafen kann, ist daraus nicht ableitbar, ob es sich bei dem Erzählten um ein Märchen oder um einen Polizeibericht gehandelt hat. Wenn Religion Menschen in Ängste stürzt und sie vielleicht sogar krank macht oder wenn sie bei anderen gesundheitsfördernd wirkt, so folgt aus diesen Tatsachen für die Frage nach der Existenz von Gott oder von Göttern einfach – nichts!

 

Sowohl die klassische Religionskritik als auch ihre unverbesserte Neuauflage im Gewand soziobiologischer Thesen eines Richard Dawkins oder von Yuval Noah Harari7 erliegen einem denkerischen Kurzschluss, wenn sie von der Funktion einer Idee auf deren Inhalt oder Realitätsgehalt schließen. Sie beweisen daher nicht das, was zu beweisen sie angetreten sind: die Nichtexistenz Gottes. Vielmehr glauben sie an die Hypothese, dass es Gott in Wirklichkeit nicht gibt. Von dieser Annahme ausgehend, versuchen sie dann, psychologisch oder soziobiologisch zu erklären, wie es zu dem dennoch vorhandenen Gottesglauben kommen konnte.

Man könnte den reizvollen Versuch unternehmen, die Religionskritik und den »neuen Atheismus« mit den gleichen Mitteln, nur unter umgekehrten Vorzeichen zu befragen. Mal angenommen, es gibt Gott: Was könnte Religions-allergische Menschen veranlassen, seine Existenz zu leugnen? Vielleicht haben sie eine unglückliche Vaterbeziehung erlebt, sodass sie sich mit der »Tötung Gottes« endlich vom Über-Ich ihres tyrannischen Vaters emanzipieren wollen. Oder sie sind Opfer frühkindlicher Allmachtsfantasien, die sie dazu verleiten, sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen. Womöglich wollen sie gar selbst zu Religionsgründern werden. Vielleicht will der neue Atheismus aber auch eine Gesellschaftsform vorantreiben, in der manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler endlich freie Hand bekommen, um das menschliche Erbgut nach Belieben zu manipulieren? Bislang ist dieser Neo-Genesis durch Genetiker vor allem mit religiösen Argumenten Widerstand geleistet worden (»Das Leben ist heilig«; »Die Würde des Menschen ist unantastbar«). Christopher Hitchens, Autor des Bestsellers »Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet«8hasst den Glauben, weil er der »Feind« einer »ungehinderten wissenschaftlichen Forschung« sei. Verbergen sich also hinter dem atheistischen Pulverdampf letztlich politische, wirtschaftliche oder soziale Interessen?

Wir wollen diese Fragen offenlassen, um keinen kurzschlüssigen Antworten zu erliegen. Für die atheistische Position gilt nämlich dasselbe wie für die religiöse: Es mag funktionale Gründe geben, welche die Existenz Gottes oder die Nichtexistenz Gottes als wünschenswert nahelegen. Doch diese sagen über die entscheidende Frage, ob Gott existiert oder nicht, rein gar nichts aus. Schließlich spricht ja auch die psychologische Funktion der Evolutionstheorie, dem unsicheren und besorgten Menschen endlich eine beruhigende Antwort auf die Frage nach seiner Herkunft zu geben, nicht gegen ihre Wahrheit.

Keine Tricks!

Eine weitere Erklärungsvariante für die Entstehung von Religion bietet der Soziobiologe Richard Dawkins in seinem »Gotteswahn«. Er behauptet: Religion ist kein direkt angezieltes Ergebnis der natürlichen Auslese unter den ersten Menschen. Sie ist vielmehr eine Art Schadensfall der Evolution. Denn Religion ist nicht aufgrund eines direkten Überlebensvorteils entstanden, sondern stellt eine Fehlfunktion eines eigentlich nützlichen Mechanismus dar. Religiöses Verhalten ist ein »unglückseliges Nebenprodukt einer grundlegenden psychologischen Neigung«.9

 

Dawkins geht als Soziobiologe von den Mechanismen der Evolution aus: »Wie erfolgreiche Chicago-Gangster haben unsere Gene in einer Welt intensivsten Existenzkampfes überlebt.«10Fitte Gene sind daher nach Dawkins von einem skrupellosen Egoismus geprägt: Sie tendieren dazu, in der nächsten Generation vermehrt präsent zu sein, um sich so im Lauf der Evolution immer mehr durchzusetzen.

Für die Fortpflanzung des Menschen – und damit für die Weitergabe der entsprechenden Gene – ist für Dawkins die Fähigkeit, sich zu verlieben, von Vorteil. Menschen, die von ihren Genen dazu vorprogrammiert sind, sich in einen Partner des anderen Geschlechtes zu verlieben, setzen sich aufgrund erfolgreicher Fortpflanzung gegenüber solchen Konkurrenten durch, denen die entsprechenden Gene fehlen. Das Schweben auf Wolke sieben geht nun mit ganz bestimmten Gehirnzuständen einher, bei denen chemische Substanzen ausgeschüttet werden. Diese wirken als natürliche Drogen auf das Gehirn ein. Sie verursachen das »Verliebtsein«, welches Dawkins als irrational kennzeichnet. Verliebt sein könnte als biologischer Mechanismus dafür sorgen, dem anderen Elternteil so lange treu zu bleiben, bis das gemeinsame Kind großgezogen ist.

Das Verliebtsein ist nach Dawkins nichts anderes als ein Trick der »egoistischen Gene«. Diese wollen immer nur das eine: ihr eigenes Fortbestehen auch in der nächsten Generation sicherstellen. Um ihrer eigenen Karriere willen haben die Gene den schönen Schein der Liebe erfunden. Die aufzuklärende Leserschaft müsse sich leider darauf einstellen: Die Liebe ist zu schön, um wahr zu sein. Ihr kommt keine Wirklichkeit zu. Sie ist lediglich eine überlebensdienliche Illusion, hinter der ein knallhartes genetisches Kalkül steht. Der Mensch fühlt sich selbstlos, sozial und liebevoll. In Wirklichkeit aber sind diese Gefühle nur das Resultat einer verborgenen Strategie. Die Mafia im genetischen Untergrund trickst den Menschen aus, um dann im Zeugungsakt das eigene Überleben zu sichern.

Dawkins kombiniert: Die Evolution hat im Gehirn einen »Irrationalitäts-Mechanismus« eingebaut, der es dem Menschen ermöglicht, sich zu verlieben. Der religiöse Glaube stellt ein ähnlich irrationales Phänomen dar wie die Liebe. Folglich ist Religion vielleicht als Nebenwirkung des Verliebtseins entstanden. Dawkins deutet also mit einem sexten Sinn Religion als Fortpflanzungsstrategie. Mystische Erfahrungen sind dann nichts weiter als evolutive »Trittbrettfahrer des Sex«.11Letztlich verdanken sich religiöser Glaube und Liebe einzig und allein einer Taktik von »egoistischen Genen«.

Gene lassen Spielräume

Betrachten wir diese kecken Thesen genauer. Dawkins redet von Genen, als ob diese bis ins Detail Eigenschaften und Verhalten eines Menschen bestimmen würden. Doch das Genom (die Gesamtheit der Erbanlagen) legt nicht statisch fest, was für ein Mensch aus ihm wächst. Die Entwicklung eines Menschen ist ein offener Prozess, der auch auf die Gene zurückwirkt. Daher ist das Erbgut eines jeden in ständigem Umbau begriffen.12

Weiterhin stellt sich die Frage, warum die Gene einen derartigen Aufwand betreiben, wo doch in der gesamten Pflanzen- und Tierwelt die Sexualität auch ohne das Gefühl der Liebe ausgezeichnet funktioniert. Die moderne Gehirnforschung betont, dass die Evolution mit dem menschlichen Gehirn eine Struktur hervorgebracht hat, die über ungezählte Möglichkeiten an Verzweigungen und Kapazitäten verfügt. Liebe und Religion sind hochkomplexe Phänomene, die sich weniger einem Überlebenstrick der Gene verdanken als vielmehr diesem denkwürdigen Gehirn.13

Das Größenwachstum des Gehirns ist ohne Zweifel ein Ergebnis der natürlichen Selektion. Das dadurch entstandene Gehirn kann nun aber wesentlich mehr Funktionen erfüllen als nur jene, die für die natürliche Auslese entscheidend waren. Den »egoistischen Genen« ist ihr Experiment mit den grauen Zellen längst davongelaufen. Denn vorteilhafter als Gene, die ein bestimmtes Verhalten bis ins Detail vorherbestimmen (determinieren), sind Erbanlagen, die den Menschen mit Köpfchen, d.h. mit Flexibilität, Lernvermögen und Intelligenz ausstatten. Der Gehirnforscher Manfred Spitzer bringt es auf den Punkt: Wir besitzen nicht trotz, sondern durch unsere Gene die Flexibilität, »die es uns erlaubt, mit der Umwelt auf immer neue Weise kreativ zurechtzukommen. Unsere Anlagen bestimmen uns damit vor allem zu einem, nämlich uns selbst zu bestimmen.« Und: »Genetik und Gehirnforschung zeigen … zweifelsfrei und sehr klar, dass wir uns selbst bestimmen.«14Innerhalb einer deterministischen Natur, in der alles festgelegt ist, hat die Evolution eine ökologische Nische ermöglicht, in der sich Freiheit entwickeln konnte. Die darwinistische Evolution hebt sich also teilweise selbst auf, indem sie ein hochgradig lernfähiges Gehirn hervorbringt.

Neue Bewusstseinsstufen ermöglichen dem Menschen, immer neue Lebensräume zu erobern und sich an die Umwelt anzupassen. Das zentrale Nervensystem mit seinen »offenen Programmen« befähigt ihn, verschiedenste Verhaltensmuster zu erlernen – und dann kulturell weiterzugeben. Mithilfe der Sprache wird eine neue, symbolische Welt geschaffen, die es u.a. erlaubt, einen ungeheuren technischen und wissenschaftlichen Fortschritt zu erzielen und bis zum Mond zu fliegen. Diese kulturelle Evolution ist jedoch keine Fortsetzung der natürlichen Evolution mit anderen Mitteln. Sie kennt auch Zwecke, die nicht auf die Weitergabe bestimmter Gene zielen. Daher ist die Fortpflanzung nicht mehr die einzige, wenngleich immer noch sehr wichtige Triebfeder des menschlichen Handelns. So zeichnet sich der moderne Mensch auch dadurch aus, dass er seinen Genen mit ihrem Reproduktions-Konzept durch Kontrazeption ein Schnippchen schlägt. Die blinden Kräfte der Evolution haben Kreaturen mit Augen hervorgebracht. Der sehende Mensch durchschaut die Gesetze, denen er seine eigene Herkunft verdankt. Der Mensch kann die bisherige Richtung der Evolution erkennen. Er kann seinen Blick aber auch auf andere Ziele richten. Ja, mithilfe der ungeheuren Leistungsfähigkeit seines Gehirns vermag der Mensch sogar, gegen seine »Schöpfer« (Evolution und Genetik) zu rebellieren.

Wer hat hier das Sagen?

Dawkins betont, dass Gehirnprozesse zu Rationalem und zu Irrationalem, zu Wahrem und zu Falschem führen können – und das ist offenkundig der Fall. Nun stellt sich aber die Frage: Welche Instanz kann zwischen beiden unterscheiden? Die Gehirnprozesse als solche vermögen es nicht, wohl aber Menschen mit Hirn, indem sie es gebrauchen. Fragen wir also nach den Kriterien, mit deren Hilfe man zwischen Rationalität und Irrationalität unterscheiden kann.

Die Evolutionäre Erkenntnistheorie gibt vor, über solche Kriterien zu verfügen. Ihr Grundgedanke lautet: Das größere Gehirn und verfeinerte Sinnesorgane haben die Fitness des Menschen im evolutiven Überlebenskampf gesteigert. In diesem Zusammenhang wird gern der alte Goethe zitiert: »Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken.« Das Auge als Fitness steigerndes Organ hat sich also in der Evolution durch »trial and error« den Gesetzen der Optik optimal angepasst. Folglich entspricht es in Struktur und Funktion den Gesetzmäßigkeiten des Lichtes. Aus dem gleichen Grund konnten sich auch die Kategorien, die das menschliche Denken strukturieren, ausbilden und durchsetzen: weil sie in gewisser Weise die Realität abbilden und daher einen Überlebensvorteil bieten. Das menschliche Gehirn hat beispielsweise ganz bestimmte Strukturen, die die Vorstellung eines dreidimensionalen Raumes oder von Festkörpern erlauben. Solche Vorstellungen sind Modelle der Wirklichkeit, die vom Gehirn konstruiert werden und dem Menschen eine rationale Erkenntnis der Welt und technischen Fortschritt ermöglichen. Das Kriterium für eine realistische Erkenntnis und ein rationales Denken ist also für die Evolutionäre Erkenntnistheorie die Tatsache, dass diese für das Überleben des Menschen nützlich sind und sich folglich durchgesetzt haben.

Wir denken dieses Argument nun folgerichtig weiter: Mit der gewachsenen Hirnkapazität bescherte die Evolution dem Menschen auch ein Gott-fähiges Gehirn. Nach dem Verfahren »trial and truth« könnte Adam in der Morgenröte der Menschheit zur Erfahrung Gottes und zu deren Reflexion gelangt sein. Der Gedanke »Gott« wäre dann ein »wahrheitsgetreuer Einfall« im Bewusstsein des Menschen, eine Art Ur-Intuition, die bei der Hominisation ins Bewusstsein hochgeladen wurde.

Doch gegen eine solche Annahme erheben Vertreter der Evolutionären Erkenntnistheorie und der Soziobiologie merkwürdigerweise Einspruch. Sie behaupten: Die scheinbare Transzendenz-Fähigkeit des Menschen ist nur ein Nebeneffekt eines überdimensionierten Gehirns, das Illusionen erzeugt und sich selbst etwas vorspielt. Die Existenz eines göttlichen Wesens verdankt sich lediglich einem hypertrophen Gehirn2, das Irrationalismen hervorbringen kann. »Gott« ist nur eine fiktive Figur auf der Schaubühne des menschlichen Gehirns und die Sehnsucht nach Gott lediglich eine Art von Phantomschmerz.

Nun erscheint uns diese Behauptung bemerkenswert inkonsequent – ähnlich wie das Zitieren von Goethes Xenie, deren zweiter Teil leider immer verschämt unterschlagen wird:

Wär nicht das Auge sonnenhaft,

die Sonne könnt es nie erblicken.

Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft,

wie könnt uns Göttliches entzücken?

Wenden wir unverschämterweise die Argumentationsfigur der Evolutionären Erkenntnistheorie auch auf das religiöse Denken und Empfinden an, anstatt einzelne Bereiche auszuklammern und als irrational zu diffamieren. Das würde bedeuten: Wenn der Mensch »Gott« denken kann, so muss sich die Evolution dabei etwas gedacht haben! Religiöses Empfinden und Denken kann sich in der Evolution ja nur dann entwickelt und durchgesetzt haben, wenn es eine Realität abbildet. Die Existenz der religiösen Erfahrung weist daher auf eine entsprechende Wirklichkeit hin. Ein Gottesbeweis ist das nicht. Und wir wollen diese Argumentationsfigur auch nicht so dogmatisch anwenden, wie das einige Vertreter der Evolutionären Erkenntnistheorie tun. Es gibt schließlich ja auch optische Täuschungen. Aber warum sollte der religiöse Sensus nicht auf die Existenz Gottes hinweisen wie das Auge auf die Existenz des Lichtes? Ja, man könnte zugespitzt sogar fragen: Wenn es Gott nicht gibt, warum fehlt er uns dann so?

Was steckt hinter Gedanken?

Der Mechanismus der biologischen Auslese reicht nicht aus, um die Entstehung und vor allem die Inhalte von Religion zu erklären. Dies gesteht auch Dawkins zu. Um jedoch sein Quasi-Dogma von der Schöpferallmacht der natürlichen Selektion zu retten, überträgt er deren Mechanismen auch auf die Welt der Gedanken: Ideen und Überlegungen sind wie Viren, die das menschliche Gehirn infizieren. In gegenseitigem Konkurrenzkampf versuchen diese geistigen Viren, sich im Haupt des Menschen zu behaupten. Diese von Dawkins so bezeichneten »Meme« sind Gedankensequenzen, kulturelle Überlieferungen etc., die sich – ähnlich wie das Überleben der Fittesten in der biologischen Umwelt – in Gehirnen durchsetzen und verbreiten. Auf diese Weise haben sich auch die Religionen in ihrer Unterschiedlichkeit entwickelt und ausgebreitet.

Hier lassen sich Dawkins und Harari von einer alten Idee infizieren, wie ein Blick in die Geschichte zeigt: Es gab immer wieder Denker, die an ihrem eigenen Verstand zweifelten. Bereits 1720 schrieb der englische Atheist John Toland, dass die Welt eine von den Naturgesetzen vollständig gesteuerte Mechanik sei und das Denken eine bloße Bewegung des Gehirns. Im 19. Jahrhundert sah der Materialist Karl Vogt Gedanken als eine bloße Notdurft des Gehirns an: So wie die Niere Urin produziere, so produziere das Gehirn Gedanken – woraufhin ein Zuhörer konterte: Wenn man Vogt so reden hört, glaubt man fast, es sei wirklich so!

Dieser notdürftige Gedanke erfährt gegenwärtig bei manchen Hirnforschern eine unverbesserliche Neuauflage: Das Gehirn spielt sich selbst ein Theater vor. Gedanken und das Gefühl der Freiheit sind nur Trugbilder. In Wirklichkeit laufen im Gehirn komplexe Verschaltungen und neuronale Reaktionen nach streng determinierten Gesetzen ab. Der Mensch hat nur das wirrköpfige Gefühl, frei zu sein und selbst denken zu können. De facto aber ist er eine Marionette, an deren Fäden die geheimen Mechanismen der Gehirnregionen ziehen. »Wer hat das Muss gesprochen, wer? Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet? Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst«, stellt Georg Büchner fest. Das »Ich« ist folglich eine Scheinfirma, und das Gefühl, ein Subjekt zu sein, eine Vorspiegelung falscher Tatsachen. In Wirklichkeit gibt es nur »Avatare« (virtuelle Figuren) in einem Computerspiel, das von niemandem gespielt wird: Ein Gespenst geht um im Gehirn …

In Widersprüche verwickelt

Unterstellen wir für einen Augenblick die Richtigkeit dieser Theorien und spielen wir einige ihrer Konsequenzen durch: Den genannten Theorien zufolge dirigieren die neuronalen Prozesse des Gehirns vollständig die Welt der Gedanken. Das menschliche Ich und sein »Cogito ergo sum« (»Ich denke, also bin ich«) sind demnach pure Illusionen. Dann entpuppt sich allerdings auch die Theorie besagter Hirnforscher als eine nichtige Täuschung: »Ich« bin nicht – also denke ich nicht.

Wenn nur die biochemischen Strukturen im Gehirn »wirklich« sind, wird der denkende Mensch selbst zu einem computerähnlichen Schaltapparat. Physikalische Prozesse aber sind keine Gedanken und können weder wahr noch falsch sein. Und wenn es auf der Ebene des Denkens keine Freiheit gibt, ist das Ich auch nicht fähig, Argumente nach ihrer Logik abzuwägen und sich für die einsichtigere Variante zu entscheiden. Damit ist es um die Kraft des besseren Argumentes geschehen!

Wenn sich beispielsweise atheistische oder neurobiologische Thesen durchsetzen, dann geschieht dies nicht aus Einsicht, sondern aufgrund raffinierterer Manipulation. Folglich ist Dawkins’ und Hararis Angriff auf die Religion lediglich ein blinder Kampf um die Vorherrschaft, den geistige Viren im Gehirn der Menschen austragen.15 Ein Erfolg von Dawkins’ Theorie etwa würde sich einzig und allein der größeren Wirkkraft bestimmter chemischer Strukturen im Gehirn verdanken bzw. der Meme, die neuronal codiert sind. Damit fällt Dawkins mit seinem Versuch, Religion als pure Illusion zu enttarnen, am Ende selbst in das Grab, das er der Religion schaufeln wollte.

Wenn wir die Freiheit des Denkens nicht im Hinterkopf behalten, gibt es keine echte Diskussion mehr, sondern nur noch wechselseitige Manipulation. Damit ist es aber auch um die »Freiheit der Forschung« geschehen. Die gesamte Geistesgeschichte und Naturwissenschaft ist dann lediglich eine gigantische Maschinerie voller Widersprüche, der eine denkbar schlechte und widersprüchliche Determinierung der Gehirne zugrunde liegt. Die Denker des Nichtdenkens sind von ihren Hirnströmen dazu verurteilt, eine Theorie von determinierenden Gehirnströmen zu vertreten, während ihre Gegner fatalerweise von ihren neuronalen Prozessen dazu bestimmt sind, eine Nicht-Determination zu vertreten.16 Ebenso drückt auch unser Buch mit seinen Argumenten nichts anderes aus als das, was ein geheimes Computerprogramm in unseren Gehirnen diktiert. Dieses steuert uns beim Schreiben das illusionäre Gefühl bei, wir selbst würden denken, um uns bei Laune zu halten. Da aber das Subjekt und die Laune des Schreibens eine pure Illusion darstellen, ist auch das Verfassen wissenschaftlicher Bücher am Ende eine virtuelle Mega-Show, die keinerlei Wirklichkeit abbildet. Der Mensch demontiert sich selbst, indem er sein Ich dementiert. Er wird zum »Homo demens«.

Kurz und bündig: Werden die deterministischen Theorien kritisch und rational zu Ende gedacht, heben sie sich selbst auf. In ihrem Weltbild kämpft nicht mehr die Wahrheit gegen Illusionen, und Illusionen stehen nicht mehr gegen die Wahrheit. Vielmehr liegen verschiedene Illusionstheater miteinander im Wettstreit, wobei die Vorstellung von »Illusion« selbst schon wieder illusionär ist. Wer einen solchen »Salto mortale« der Logik vertritt, gleicht einem Menschen, der ausruft: »Es gibt keine Kannibalen mehr! Ich habe den letzten gegessen!«

Sind wir völlig fremdgesteuert?

Das Gedankengebäude des radikalen Determinismus ist aus fragilem Baustoff errichtet: aus Sideroxylon (hölzernes Eisen). Doch die Vertreter dieser bizarren Theorien verstricken sich nicht allein in theoretische Widersprüche. Mindestens ebenso merkwürdig ist, dass sie sich für ihre denkerischen Leistungen auch noch mit wissenschaftlichen Preisen auszeichnen lassen. Sie tun so, als seien ihre Gedanken auf ihrem eigenen Mist gewachsen. Sie müssten aber ehrlicherweise zugeben, dass sie zu diesen Theorien determiniert sind und der Nobelpreis eigentlich den kleinen grünen Männchen zusteht, die im Souterrain ihres Oberstübchens sitzen.

Hier zeigt sich das merkwürdige, weitverbreitete Phänomen einer »halbierten Freiheit«: Für Verdienste wird gern das eigene Ich vorgeschoben. Wo es jedoch um Schuld und Versagen geht, will man von einem verantwortlichen Ich nichts mehr wissen. Hier glaubt man lieber an geheime Drahtzieher. Jeder ist halt irgendwie programmiert: Straftäter und Richter stehen sich in virtuellem Geplänkel gegenüber, und Staatsanwälte wie auch Verteidiger führen Scheingefechte. Da aber niemand die Programmierung durchschaut, läuft der Schauprozess weiter wie ein hirnloses Computerspiel, in dem zwei Computer versuchen, einander wechselseitig ihre Programme aufzuzwingen (Reinhard Löw). Aber waren die Kriegspläne Hitlers nur das Resultat von Gehirnstrategien, denen der »Führer« ohnmächtig ausgeliefert war? Sind Erdogan und Assad in ihrer Feindschaft nur hilflose Opfer der geheimen Kommandozentralen ihrer Gehirne?

Im deterministischen Weltbild erklärt sich der Mensch selbst als nicht zurechnungsfähig: Es gibt weder Schuld noch Sühne, weder Denken noch Entscheiden. Hinter den Gedanken der Menschen lauern nicht einmal Hintergedanken. Und der freie Wille gleicht der Illusion von Kindern, die auf dem Jahrmarkt Karussell fahren. Sie sitzen stolz in kleinen Autos oder auf Mini-Motorrädern. Mit kindlichem Ernst lenken sie ihre Fahrzeuge und treten aufs Gaspedal. Doch das Karussell dreht sich nach anderen Gesetzen, und Bahn und Geschwindigkeit werden von einem geheimen Autopiloten diktiert. Das Steuerrad bewegt sich zwar, doch es bewirkt nichts. So ist der Mensch am Ende nur ein mentaler Geisterfahrer, der vergeblich gegen seine Hirnströme anzusteuern versucht.

Ich kann auch ganz anders!

Bevor uns von diesen Gedankenspielen schwindlig wird und wir uns nur noch sinnlos im Kreis drehen, wollen wir lieber festhalten: Mit der Überschreitung der kritischen Masse des Gehirns kommt es zu völlig neuen Systemeigenschaften in der Gehirnstruktur, die in der außermenschlichen Evolution völlig unbekannt sind. Einige Evolutionstheoretiker interpretieren das Auftauchen neuer Fähigkeiten als »Fulguration« (lat. fulguratio = Blitzstrahl). Mit diesem Gedankenblitz ist Folgendes gemeint: Das Bewusstsein, das auf einer neuronalen Grundlage aufbaut, kann zugleich als neuer Faktor auf das gesamte System steuernd einwirken.

Die komplexe Struktur unseres Gehirns erlaubt uns Menschen also eine gewisse Freiheit im Denken und die Fähigkeit, uns Ziele zu setzen und danach zu handeln. Natürlich bleiben uns auch weiterhin Angst, Neid oder Hass ins Stammbuch geschrieben. Zugleich aber können wir auch Entscheidungen treffen, sittliche Urteile fällen und nach Zwecken handeln, die unserer biologischen Antriebsstruktur zuwiderlaufen. Während der hungrige Hund den Knochen fressen muss, der vor ihm liegt, kann der Mensch aus politischen oder religiösen Gründen fasten. Umgekehrt kennt der Mensch das Komasaufen, welches selbst dem größten Kamel nach der längsten Durststrecke nicht in den Sinn kommen würde. Menschen können aus ideologischen Gründen ihr Leben für andere einsetzen oder als Selbstmordattentäter sich und andere in die Luft sprengen. Solche Handlungen bedürfen der Klaviatur eines komplexen Gehirns. Ebenso bedarf es aber auch eines Klavierspielers, der sich nach allen Regeln der Kunst frei und virtuos entfalten kann.

Der Zweiäugige ist König

Der Spielraum unseres Denkens und Handelns baut auf neuronalen Grundlagen auf. Entsprechend können Hirnforscher auch religiöse Erfahrungen mit spezifischen Erregungsmustern im Gehirn in Verbindung bringen. In einem Experiment rückten sie meditierenden buddhistischen Mönchen und betenden Franziskanerinnen mit