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Eine Spur, die kalt wird, stellt jeden Ermittler auf eine harte Probe. Aber was, wenn die Spur von Anfang an kalt ist - sogar eiskalt?
Man nennt sie die Todeszone: die über dreitausend Meter hohe Gipfelregion des Mount Everest, aus der ein Bergsteiger in Schwiergikeiten nicht mehr gerettet werden kann. Mehr als 250 Menschen haben hier schon ihr Leben verloren. Die meisten mussten auf den Gletschern zurückgelassen werden.
Als nach einem Erdbeben eine Leiche geborgen werden kann, wird Dr. Temperance Brennan gebeten, die sterblichen Überreste zu identifizieren. Das Opfer ist Tochter eines wohlhabenden Paares aus Charlotte, das sich nie von ihrem Kind hat verabschieden können. Doch statt Trost und Abschluss für die Angehörigen ergeben Tempes Untersuchungen nur noch mehr Fragen. Was geschah mit der jungen Frau auf dem Mount Everest? Wurde ihr ein Unfall zum Verhängnis? Warum schweigen die anderen beteiligten Kletterer so eisern? Wie weit würden jene, die die Wahrheit verheimlichen, wirklich gehen, um sicher zu stellen, dass die Vergangenheit dort oben im ewigen Eis begraben bleibt?
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Seitenzahl: 151
Kathy Reichs
Gletscher des Todes
Aus dem amerikanischen Englischvon Klaus Berr
Blessing
Zum Buch
Man nennt sie die Todeszone: die über dreitausend Meter hohe Gipfelregion des Mount Everest, aus der ein Bergsteiger in Schwiergikeiten nicht mehr gerettet werden kann. Mehr als 250 Menschen haben hier schon ihr Leben verloren. Die meisten mussten auf den Gletschern zurückgelassen werden.
Als nach einem Erdbeben eine Leiche geborgen werden kann, wird Dr. Temperance Brennan gebeten, die sterblichen Überreste zu identifizieren. Das Opfer ist Tochter eines wohlhabenden Paares aus Charlotte, das sich nie von ihrem Kind hat verabschieden können. Doch statt Trost und Abschluss für die Angehörigen ergeben Tempes Untersuchungen nur noch mehr Fragen. Was geschah mit der jungen Frau auf dem Mount Everest? Wurde ihr ein Unfall zum Verhängnis? Warum schweigen die anderen beteiligten Kletterer so eisern? Wie weit würden jene, die die Wahrheit verheimlichen, wirklich gehen, um sicher zu stellen, dass die Vergangenheit dort oben im ewigen Eis begraben bleibt?
Zur Autorin
Kathy Reichs, geboren in Chicago, lebt in Charlotte und Montreal. Sie ist Professorin für Soziologie und Anthropologie und unter anderem als forensische Anthropologin für gerichtsmedizinische Institute in Quebec und North Carolina tätig. Ihre Romane erreichen regelmäßig Spitzenplätze auf internationalen und deutschen Bestsellerlisten und wurden in 30 Sprachen übersetzt. Tempe Brennan ermittelt auch in der von Reichs mitkreierten und -produzierten Fernsehserie Bones – Die Knochenjägerin.
Lieferbare Titel
Blut vergisst nicht
Knochen zu Asche
Der Tod kommt wie gerufen
Das Grab ist erst der Anfang
Fahr zur Hölle
Knochenjagd
Totengeld
Mit Haut und Haar
Hals über Kopf
Knochenarbeit
Lasst Knochen sprechen
Totgeglaubte leben länger
Fährte des Todes (1)
Knochen lügen nie
Wasser des Todes (2)
Die Sprache der Knochen
1
Der Transporter stieß rückwärts in die Entladebucht, in Dunkelheit und Stille. Das war so üblich. Leichenfahrzeuge brauchen keine blinkenden Lichter oder heulenden Sirenen. Eile ist unnötig. Die Logos an den Seitenwänden des Transporters verkündeten: INTERNATIONAL MORTUARY SHIPPING; eine Firma, die internationale Überführungsdienste anbietet. Meine Tochter Katy hätte das Ding eine Entführungsfalle auf vier Rädern genannt.
Die Türen gingen auf, zwei uniformierte Techniker sprangen heraus und kamen nach hinten. Der größere der beiden hatte einen kahlrasierten Schädel mit einigen üblen Schnitten. Der kleinere hatte einen Bürstenschnitt und beide Unterarme voller Tattoos, die unter seinen aufgekrempelten Ärmeln verschwanden.
Die Männer bewegten sich schnell und effizient, sie öffneten die Hecktüren, zogen eine Schachtel aus dem Transporter und wuchteten sie auf eine Rollbahre.
Ich streifte mir Latexhandschuhe über und trat an den Behälter. Er war oben mit drei grausigen Wörtern beschriftet: MENSCHLICHE ÜBERRESTE und an einem Ende KOPF. Letzteres erinnerte mich an die Beschriftung einer Weinkiste: DIESE SEITE NACH OBEN.
Kahlschädel gab mir ein Klemmbrett mit einem ganzen Stapel Papiere. Ich überflog einen Totenschein, Bestattungs- und Transportgenehmigung, ein internationales Transportdokument der amerikanischen Botschaft, eine Bescheinigung, wonach die Überreste nicht Träger ansteckender Krankheiten waren, sowie die Erklärung, dass auf eine Einbalsamierung verzichtet wurde.
Ich legte das Klemmbrett seitlich auf die Bahre, schnitt die Plastikbinder mit einem Schablonenmesser durch und zog die Kartonumhüllung herunter. Drinnen befand sich ein zinnbeschichteter Metallbehälter.
Ich drückte die Schließen nach oben, um den Deckel des Transportsargs zu lösen. Er ging mit einem Zischen und einem Schwall eisigen Dunstes auf. Ich zog ein großes, tiefgekühltes Gel-Pack weg, das den Inhalt bedeckte wie eine Kühldecke, und suchte nach den Kenndaten des Leichensacks. Die orangene Hülle war zusammengeknüllt, als wäre die Insassin während der langen Heimreise unruhig gewesen. Nach einigem Stöbern fand ich das Etikett, wischte Frost vom Plastik und kontrollierte, ob der Name und die Nummer denen auf den Dokumenten entsprachen.
»Nehmen Sie den Sarg wieder mit?« Ich richtete meine Frage an beide Techniker.
Tattoo hob eine Schulter. »Nur zur einmaligen Verwendung.«
»Scheint mir eine ziemliche Verschwendung zu sein.«
Noch ein tintiges Halbzucken. »Mein Opa hat so ein Ding beim Angeln verwendet, um seinen Fang darin aufzubewahren.«
Kahlschädel warf seinem Partner einen verärgerten Blick zu. An mich gerichtet: »Wenn das alles ist?« Er wollte los. Anscheinend wartete noch eine Leiche. Noch ein Fahrgast, der sich nicht beschwerte.
»Das ist alles. Vielen Dank.«
Während Kahlschädel den Motor anließ, schloss Tattoo die Hecktüren mit einem doppelten Knallen und kletterte auf den Beifahrersitz. Noch ein kurzes Winken, dann waren sie verschwunden und ließen mich mit meiner frostigen Fracht allein.
Als ich die Bahre durch die Torflügel bugsierte, sah ich erleichtert meinen Chef Tim Larabee, obersten Medical Examiner des Mecklenburg County, auf mich zulaufen. Er bewegte sich mit der drahtigen Eleganz eines Langstreckenläufers. Soll heißen, Marathonjunkies.
»Wohin soll ich heute?«, fragte ich ihn.
»Bringen Sie sie in den Fünfer.«
Das neue, topmoderne Institut des Medical Examiner im Mecklenburg County, kurz das MCME, 2008 fertiggestellt und vom Green Building Council als umweltgerecht und energiesparend eingestuft, rühmt sich einer zentralen Kühleinheit und vier normaler Autopsiesäle. Zwei zusätzliche Säle sind mit einer speziellen Lüftung und Entsorgungssystemen für die Obduktion von Verwesten und Leichen mit Kontaminationspotenzial ausgestattet. Nummer fünf ist ein »Stinker« und hat seinen eigenen Kühlraum.
»Können Sie mir noch mal sagen, warum ich diese Lotterie gewonnen habe?« Ich keuchte beinahe. Meine Fracht war schwer, und die Rollbahre hatte ein defektes Rad.
Larabee betrachtete mich verwirrt, aber ohne stehen zu bleiben.
»Forensische Anthropologie? Knochen? Mumien? Verweste?« Ich deutete mit dem Kinn auf die Last, die ich zu schieben hatte. »Fällt das da in eine dieser Kategorien?«
»Nicht unbedingt.« Larabee machte etwas mit seinen Lippen, das wohl ein Lächeln sein sollte. »Aber Tempe. Sie sind die Königin von Eis und Schnee.«
Ich verdrehte die Augen zu diesem uralten Witz. Der Spitzname, den ich meiner Zusatzbeschäftigung als forensische Anthropologin des Bureau du Coroner in der kanadischen Provinz Quebec zu verdanken hatte. Ja, ich arbeite abwechselnd in Charlotte, North Carolina, und in Montreal. Eine lange Geschichte.
Diese Aufteilung, muss ich hinzufügen, ist eine wirklich extreme. Zwischen den beiden Extremen gähnt eine Kluft. Andere Sprache, andere Stadt, anderes Justizwesen. Und vor allem: ein komplett anderes Klima. Wenn in Charlotte die Temperatur auf fünfzehn Grad sinkt, holen die Leute Jacken und Handschuhe aus dem Schrank. In Quebec dagegen Sandalen und Shorts.
Nördlich des achtundvierzigsten Breitengrads kommt der Tod auf Arten, die man in Dixie kaum kennt. Der Jäger, der in einem unerwarteten Blizzard feststeckt; der Betrunkene, der aus einer Bar nach Hause stolpert; die Fahrerin, die zu dünn bekleidet ihr liegengebliebenes Auto verlässt; das Kleinkind, das in Windeln in die Nacht hinauswandert. Arktische Winter bringen Unterkühlung und steifgefrorene Leichen.
Solche Fälle sind eigentlich nicht mein Fachgebiet. Kälte tötet, aber sie konserviert auch. Die Familie, die seit den Fünfzigern in einem eisigen See lag. Der Skifahrer, der ein Jahrzehnt lang mumifiziert war und dann von einer Lawine ans Tageslicht befördert wurde. Der Student, der in einen Luftschacht fiel und fünf Winter lang gefriergetrocknet wurde. Und hier nun der Auftritt der Eis- und Schneekönigin des milden North Carolina.
»Sie wissen ja, was man als Preis bekommt, wenn man das Kuchenwettessen gewinnt.«
Wieder starrte Larabee mich nur an.
»Noch mehr Kuchen.«
»Sie wurden namentlich verlangt.«
»Das haben Sie schon erwähnt.«
Ich stieß mit dem Hintern die Tür zu Autopsiesaal fünf auf. Während Larabee mir mit der Bahre half, dachte ich an unsere Unterhaltung vom gestrigen Abend. Er hatte mich angerufen, als ich mit meiner besten Freundin Anne Turnip im Peculiar Rabbit saß. Freitagabend. Angesagtes Restaurant. Während wir gerade eine Reise zu den Turks- und Caicoinseln planten. Und ich nicht an Ryan dachte. Nicht an Den Antrag dachte. Was ein Spaß. Larabees Anruf hatte mir den Abend nicht gerade versüßt.
»Wir haben einen ungewöhnlichen Fall.« Larabees Ton verriet mir, dass das keine gute Nachricht war.
»Ungewöhnlich?«, murmelte ich, bevor ich eine Muschel in Weinsud tauchte und mir in den Mund steckte.
»Gefroren.«
Was für die Frorensik also, hätte ich am liebsten geantwortet. Anne und ich waren gut drauf. Stattdessen fragte ich nach dem Fall einer seit einiger Zeit Vermissten. Die Polizei hatte den Ehemann in Verdacht, für das Verschwinden der Dame verantwortlich zu sein, aber bis jetzt hatte man noch keine Leiche gefunden. Vielleicht war die Frau in der Kühltruhe des Mannes aufgetaucht.
»Melissa McLaughlin?«
»Nein. Hier geht’s um einen Unfalltod am Mount Everest.«
Ich gab Anne zu verstehen, dass ich mal kurz rausgehen müsse. Das Restaurant war voll und so laut, dass einem die Ohren dröhnten. Offensichtlich hatte ich Larabee missverstanden.
»Sorry, könnten Sie das wiederholen?«
»Das Opfer ist ein Mädchen aus Charlotte, das bei einer Everest-Besteigung starb.«
Viele Fragen stürmten gleichzeitig auf mich ein. »Nepal liegt ein bisschen außerhalb unserer Zuständigkeit.« Oder war es Tibet?
Larabee antwortete indirekt. »Die Familie … hat gute Beziehungen. Die Mutter, Blythe Hallis, ist eine Freundin des Bürgermeisters. Und des Polizeichefs. Und des Gouverneurs. Und …«
»Schon verstanden.« Das hatte ich wirklich. Unzählige Wahrzeichen Charlottes tragen den Namen dieser Familie. Ein Boulevard, ein Park, eine Schule. Ein Stiftungslehrstuhl an der University of North Carolina in Charlotte. Viel Geld, viele Wohltäter, viel politischer Einfluss.
»Wie heißt das Opfer?«
»Brighton Hallis.«
»Wie ist sie gestorben?«
»Das ist nicht ganz klar. Es gab keine Zeugen, aber man geht von ein paar Faktoren aus – die Höhe, Sauerstoffmangel, Erschöpfung, vielleicht Desorientiertheit …« Larabee ließ den finsteren Gedanken in der Luft hängen.
Ein Bild blitzte auf. Eis. Schnee. Die leeren Augen Jack Nicholsons am Ende von Shining. Ich fröstelte trotz des warmen Abends.
Eine kurze Information. Die Königin von Eis und Schnee hasst kaltes Wetter. Und ist nicht wild auf große Höhen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum jemand auf einen Berg steigen will.
»PMI?« Ich fragte nach dem postmortalen Intervall. Der Leichenliegezeit.
»Drei Jahre.«
»Wurde das Mädchen nicht schon in Nepal identifiziert?«
»Doch.«
»Wo ist dann das Problem?«
»Die Mutter macht sich Sorgen wegen des Chaos, das dieses Erdbeben in Nepal anrichtet. Denkt, die sagen alles, nur um eine Leiche loszuwerden. Will die Identifikation zu Hause bestätigen lassen.«
»Warum engagiert sie nicht einen privaten …«
»Von uns.«
Auf der Straße fuhr ein Lkw vorbei, der Trucker malträtierte die Gänge wie ein Motocrossfahrer, der sich mit seiner Maschine einen Berg hochwühlt.
»Und das war sicher ein Unfall? Da geht’s nicht um krumme Sachen?« Ich spielte auf Zeit. Larabee hatte diese Frage bereits beantwortet.
»Nein. Es geht um Seelenfrieden. Sie würden nicht glauben, was alles nötig war, um die Leiche dieses Mädchens zurück nach Charlotte zu schaffen.« Larabee hielt kurz inne. An seinem leicht stockenden Atem merkte ich, dass jetzt etwas kam, das mir nicht gefallen würde. »Mrs. Hallis hat ausdrücklich und mit großer Bestimmtheit Sie verlangt.«
»Was? Warum?«
»Weil Sie die Beste sind.«
»Ich bitte Sie!«
»Sollte ein Kinderspiel sein.«
Hinter mir stritt sich laut ein Paar. Irgendwas über Bier und einen Kerl namens Weed. Oder vielleicht einen Kerl mit einem Bier und einer Tüte Weed. Meine bockige Seite wollte Freiheit. Die Freiheit, einen Sommerurlaub mit Anne zu planen. Einen neuen Badeanzug zu kaufen, vielleicht Schwimmflossen und Schnorchel. Außerdem musste ich nach Montreal. Zusätzliche Arbeit fehlte mir gerade noch. Vor allem inoffizielle Wir-tun-der-wohlhabenden-Freundin-des-Bürgermeisters-einen-Gefallen-Arbeit.
Eine Frau ging vorbei, mit etwas an der Leine, das ein Pudel sein mochte. Der Streit hinter mir wurde noch lauter. Die Frau war eindeutig stocksauer auf jemanden mit dem Namen Weed.
Wird schon nicht so schwierig sein, ermahnte mich meine hilfsbereite Seite. Zahnstatus. Vielleicht Fingerabdrücke. Übereinstimmung. Und das war’s.
Scheiße. Ich hasste meine hilfsbereite Seite.
»Wann kommt die Leiche an?«
»Morgen früh um sieben.«
Im Ernst?
»Denken Sie sich nichts«, meinte Larabee, weil ich nicht reagierte. »Ich werde auch im Morgengrauen aufstehen.«
Und da standen wir jetzt. Um Viertel nach acht an einem Samstagmorgen. In Autopsiesaal fünf.
»Ganzkörper-Scan?«, fragte Larabee.
»Später. Haben wir prämortale Gesichtsfotos?«
»Amateuraufnahmen. Zahnstatus.« Larabee gab mir zwei Umschläge, die ich in seiner Brusttasche hatte stecken sehen, einen kleinen braunen und einen weißen von der Größe eines Briefs.
»Ich hoffe auf eine Identifikation durch Augenschein. Wenn ich den Mund öffnen kann, werde ich die Röntgenbilder mit den Zähnen vergleichen. Wenn ich an die Fingerspitzen rankomme, werde ich die Abdrücke abnehmen. Ist sie im System?«
Larabee zuckte die Achseln. Wer weiß?
»Für die Voruntersuchung wird das hoffentlich nicht nötig sein.« Ich war optimistisch, was den visuellen Abgleich anging. Kältetote werden ab dem Zeitpunkt ihres Ablebens auf unheimliche Weise konserviert, sie laufen nur bläulich an. »Wenn die Leiche aufgetaut ist, werde ich eine komplette Untersuchung durchführen.«
»Ist das überhaupt nötig?«
»Ich mache diese Untersuchung richtig oder gar nicht.«
Das akzeptierte Larabee. Alles oder nichts – so funktioniere ich einfach. »Also ein bisschen was heute, ein bisschen was am Montag?«
Ein steifgefrorener Mensch ist kein Geflügel, das man in der Mikrowelle auftauen und dann zerlegen kann. Wenn man es überstürzt, erwärmt sich das Körperäußere schneller als die Eingeweide, was dazu führt, dass die äußere Hülle bereits zu verwesen beginnt, während die Organe noch steinhart sind. So können Indizien verlorengehen. Eine Leiche muss langsam auftauen, bei gleichbleibenden achtunddreißig Grad. Abhängig von Größe und Gewicht kann dieser Prozess bis zu sieben Tage dauern. Das wusste auch Larabee.
»Wollen wir hoffen, dass sie dünn ist.« Mehr brauchte ich nicht zu sagen.
»Genau. Wenn Sie noch mehr Informationen brauchen, wenden Sie sich direkt an Blythe Hallis.«
»Mach ich.« Wobei ich inständig hoffte, dass ein solcher Anruf nicht nötig sein würde.
»Dann überlasse ich das jetzt Ihnen.« Larabee ging davon, um einen anständigen Samstagvormittag zu genießen. Vielleicht um nach Cleveland und zurück zu laufen.
Nachdem ich die Rollbahre seitlich an den Autopsietisch geschoben hatte, stellte ich die Bremse fest, ging zur Arbeitsfläche und nahm den Umschlag mit Brighton Hallis’ Zahnaufnahmen zur Hand. Dann schüttete ich den Inhalt auf einen Lichtkasten, schaltete ihn ein und sortierte die kleinen Filme nach Quadranten: Oben und unten, vorne und hinten. Die Zähne stachen bleich und lichtundurchlässig aus dem Grau der Knochen und dem Schwarz des Hintergrunds.
Eine Krone auf einem ersten Mahlzahn im Oberkiefer und Füllungen in zwei Schneidezähnen im Unterkiefer leuchteten wie dichte weiße Wolken im sie umgebenden Zahnschmelz. An der Wurzel eines zweiten Mahlzahns im Unterkiefer fiel mir eine merkwürdige Krümmung auf. Ein leicht verdrehter oberer Eckzahn. Keine Weisheitszähne.
Was für ein Glück. Die Identifikation würde unkompliziert sein.
Ich ging wieder zu dem metallenen Transportbehälter. Zink. Gut für die Temperaturkontrolle, schlecht für Röntgenaufnahmen. Ich ging zum Wandtelefon und bestellte einen Techniker.
Während ich wartete, setzte ich mir eine Gesichtsmaske auf und öffnete den Sarg. Wie schon zuvor wehte kalte, feuchte Luft heraus. Schon jetzt brachte sie die Andeutung von etwas Vertrautem mit sich. Etwas süßlich Ekliges. Etwas Unausweichliches. Noch war es sehr schwach, streckte aber bereits die Fühler aus.
Oben auf dem orangenen Sack lag ein Dokument, auf dem drei Gel-Pack-Wechsel auf der langen Reise von Katmandu hierher verzeichnet waren, ein Verfahren, um sicherzustellen, dass die Leiche gefroren blieb. Die Leute von International Mortuary Shipping waren sehr gründlich.
Ich legte den Papierkram beiseite und zog die Gel-Packs heraus. Einen behielt ich, die anderen warf ich weg. Danach lag der Leichensack frei. Höcker und scharfe Winkel deuteten die Position einer Hüfte, eines Knies, vielleicht einer Schulter, eines Kopfs an. Ich fasste den Schieber des Reißverschlusses und zog daran. Er öffnete sich mit einem feuchten Ratsch.
Die meisten Erfrierungsopfer sterben sitzend oder liegend, vielleicht weil sie eine Pause eingelegt haben, um sich »ein wenig zu erholen«. Das könnte die Höcker erklären. Oder auch nicht. Abgesehen von den Gel-Packs hatte ich keine Ahnung, wie die Überreste bei der Bergung und dem Transport behandelt worden waren.
Die Leiche lag auf der Seite, steifgefroren und nach innen gekrümmt. Sie war vollständig bekleidet mit hochwertiger Bergmontur, die Füße steckten in leuchtend roten Stiefeln mit Gamaschen. Lange Haarsträhnen lugten unter einer steifen Mütze von North Face hervor. Jetzt messingfarben, doch früher wahrscheinlich blond.
Bei diesem Anblick überfiel mich unerwartet Melancholie. Die farbenfrohe, bauschige Sportkleidung beschwor Bilder von belebender Luft, geröteten Wangen, Jugend und Abenteuer herauf. Nicht von plötzlichem Tod. Sie gehörten nicht hierher.
Da so gut wie kein Fleisch zu sehen war, konnte ich nichts über den Erhaltungszustand der Leiche sagen. Ungeduldig schaute ich auf die Uhr. Kurz nach neun.
Ich schätzte ab. Das Opfer schien groß, aber schlank zu sein. In dem Behälter war nur wenig Platz, aber ein wenig bewegen konnte ich die Leiche doch.
Da ich hoffte, einen Blick aufs Gesicht werfen zu können, packte ich Schulter und Knie der Unterseite und zog. Nichts rührte sich. Ich packte fester zu, zog und zerrte, und die Leiche drehte sich mit einem leisen Knall und einem Rascheln.
Als ich dann das groteske Gesicht dicht vor mir hatte, sank meine Laune in den Keller.
2
Auf einem Foto, das vor dem Aufstieg aufgenommen worden war, stand Brighton Hallis lächelnd vor einem schneebedeckten Gipfel. Blond und athletisch, wie sie war, hätte sie gut in eine Werbekampagne für ein Nobel-Ski-Ressort gepasst. Braungebrannt, selbstbewusst und hübsch.
Das Gesicht vor mir war eingefallen und zu einem tiefen Mahagonibraun verfärbt, die verschrumpelten Lippen in einem starren Grinsen geöffnet. Die lidlosen Augäpfel starrten mich an, verstörend lebensecht, flehend. Wie konnte mir das passieren?
Eine Identifikation durch Augenschein war so nicht möglich. Und schlimmer noch, es war kein einziger Zahn mehr vorhanden. In einem ansonsten bestürzend intakten Gesicht war das Gebiss völlig zertrümmert. Bis auf die geringe Chance, dass die eine oder andere Wurzelkonfiguration noch vorhanden sein konnte, waren die prämortalen Zahnaufnahmen völlig nutzlos. Von Brighton Hallis’ charmant schiefem linken Eckzahn war nur noch ein zerklüfteter Splitter übrig.