Glut und Asche - James Lee Burke - E-Book
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Glut und Asche E-Book

James Lee Burke

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Beschreibung

Episch, gewaltig, atemberaubend

»Vielleicht würde er eines Tages die Angst vergessen, die in jenen fünfzehn Minuten einen anderen Menschen aus ihm gemacht hatte.« Danny Boy Lorca ist das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als er sich ins Büro von Sheriff Hackberry Holland schleppt. In der Wüste nahe der texanisch-mexikanischen Grenze wurde er Zeuge eines brutalen Mordes. Von einem zweiten Gefangenen fehlt jede Spur. Hackberry Holland hat erneut alle Hände voll zu tun, um für Gerechtigkeit zu sorgen.

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Seitenzahl: 910

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James Lee Burke

Glut und Asche

Thriller

Aus dem Amerikanischen

von Daniel Müller

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Danny Boy Lorca ist das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als er sich an einem Mittag ins Büro von Sheriff Hackberry Holland schleppt. Der ehemalige Preisboxer wurde in der Wüste nahe der texanisch-mexikanischen Grenze Zeuge eines brutalen Mordes. Handelte es sich bei dem Opfer um den verschwundenen Bundesbeamten, der angeblich in Mexiko von Drogenbanden verschleppt wurde? Und was hat das mit La Magdalena zu tun, einer mysteriösen Chinesin, die sich für illegale Einwanderer einsetzt? Außerdem hatten die Killer einen zweiten Mann in ihrer Gewalt, von dem jede Spur fehlt. Für Hackberry Holland wird der Fall zum Albtraum, als auch noch der für tot geglaubte Preacher Jack Collins auf der Bildfläche erscheint, ein Psychopath, um den man besser einen weiten Bogen macht.

Glut und Asche ist die Fortsetzung von Regengötter, der 2015 mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet wurde.

Der Autor

James Lee Burke, 1936 in Louisiana geboren, wurde bereits Ende der Sechzigerjahre von der Literaturkritik als neue Stimme aus dem Süden gefeiert. Doch nach drei erfolgreichen Romanen wandte er sich Mitte der Achtzigerjahre dem Kriminalroman zu, in dem er die unvergleichliche Atmosphäre von New Orleans mit packenden Storys verband. Burke, der als einer der wenigen Autoren sogar zweimal mit dem Edgar-Allan-Poe-Preis für den besten Kriminalroman des Jahres ausgezeichnet wurde, lebt abwechselnd in Missoula/Montana, und New Orleans. Sein Roman Regengötter wurde 2015 in Deutschland mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

www.jamesleeburke.com

Lieferbare Titel

Regengötter

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel FEASTDAYOFFOOLS bei Simon & Schuster, New York
Unter www.heyne-hardcore.de finden Sie das komplette Hardcore-Programm, den monatlichen Newsletter sowie unser halbjährlich erscheinendes CORE-Magazin mit Themen rund um das Hardcore-Universum.
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Copyright © 2011 by James Lee Burke Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Katja Bendels Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel, punchdesign, München, unter Verwendung von Motiven von shutterstock Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-15264-2V003
www.heyne-hardcore.de

Für Dora, Mike, und Alicia Liu

Das Wild des Feldes preist mich, die Schakale und Strauße; denn ich will in der Wüste Wasser und in der Einöde Ströme geben, zu tränken mein Volk, meine Auserwählten.

Jesaja 43, 20

Kapitel 1

Manch einer war der Meinung, die Visionen von Danny Boy Lorca stammten vom Meskal, der seine Hirnzellen aufgeweicht hatte. Oder von den Peitschenhieben gegen seinen Kopf während seiner Haftzeit auf der Sugar Land Farm. Andere wiederum machten seine bescheidene Karriere als Mittelgewichtler dafür verantwortlich, und die endlosen Touren durch staubige Dreckslöcher, in denen er gegen ortsansässige Boxer hatte antreten müssen, für die er allerdings nur eine sogenannte Tomatendose gewesen war – ein Kämpfer, der nach jedem Treffer blutete. Oder in seinem Fall ein trunksüchtiger Indianer, der seinen Schmerz hinunterschluckte und niemals zuckte, wenn sie ihre Fäuste an seinem Gesicht wund schlugen.

Danny Boy hatte schwarzes Haar, das wie ein Helm auf seinem Kopf saß. Seine Schultern waren so breit wie eine Tür, seine Kleidung roch ständig nach dem Rauch der Feuerstellen, auf denen er sich sein Essen zubereitete, und seine Haut war durch Sonne und Wind so dunkel und rau geworden wie die eines Schrumpfkopfs. Im Sommer trug er langärmelige Baumwollhemden, die er an Hals und Handgelenken zuknöpfte, damit die Hitze nicht hineindrang. Im Winter zog er eine Canvasjacke über und setzte einen australischen Buschhut auf, den er mit einem Schal auf seinem Kopf festband. Wenn er einen Kater hatte, ging er in die Schwitzhütte. Ansonsten badete er in Eiswasser, bestellte seinen Garten im Rhythmus der Mondphasen, trieb die Dämonen aus seinem Körper in Sandbilder, die er anschließend gen Himmel warf, betete inmitten von Gewitterstürmen nur mit einem Lendenschurz bekleidet auf einem der Mesas, der Tafelberge, die so typisch waren für diese Gegend, und erlebte von Zeit zu Zeit Anfälle oder tranceähnliche Zustände, wobei er sich einer Sprache bediente, die weder Apache noch Navajo war, auch wenn er behauptete, sie sei beides.

Manchmal übernachtete er im County-Gefängnis oder hinter dem Saloon. Normalerweise aber schlief er in seinem schlicht verputzten Haus am Rand einer weiten, längst ausgetrockneten Schwemmlandebene, die im Süden von einer Kette lilafarbener Berge begrenzt wurde, welche in der flimmernden Hitze des späten Nachmittags wie das gezackte Gebiss eines Hais wirkten.

Der Sheriff, der Danny Boy im Bezirksgefängnis nächtigen ließ, war ein alter, eins fünfundneunzig großer Witwer namens Hackberry Holland. Ein schmerzender Rücken, ein kantiges Profil, ein Stetson, ein Thumb-Buster Kaliber .45 und eine Vergangenheit als Trinker und Hurenbock bildeten die Eckpfeiler seines Leumunds, wenn nicht sogar die seines Lebens.

Die meisten Bewohner der Gegend empfanden entweder Mitleid mit Danny Boy oder machten sich über ihn lustig und verachteten ihn. In seinem ichbezogenen Verhalten und seinen wirren Tiraden sahen sie die eindeutigen Merkmale eines vom Alkohol vergifteten Gehirns. Sheriff Holland allerdings, der drei Jahre als Kriegsgefangener im Tal ohne Namen, dem No Name Valley in Nordkorea, verbracht hatte, war sich in dieser Hinsicht nicht so sicher. Er hatte ein Alter erreicht, in dem er weder über die Glaubwürdigkeit der Visionen von Verrückten noch über die Schwächen des menschlichen Verhaltens im Allgemeinen grübelte. Was Hackberry Holland hingegen Sorgen bereitete, war die Neigung seiner Mitmenschen, sich zusammenzuschließen und im Gleichschritt für Gott und Vaterland zu marschieren. Menschen rotteten sich nicht zu Mobs zusammen und zogen durch die Straßen, um Gutes zu tun, und seiner Ansicht nach gab es für ein soziales oder politisches Anliegen keinen verachtenswerteren Makel als allgemeine Zustimmung. Seiner Ansicht nach stellten Danny Boy Lorcas Schübe alkoholbedingten Wahnsinns in gewisser Weise eine Art Verschnaufpause von weitaus schlimmeren Formen des Irrsinns dar.

Es war an einem späten Mittwochabend im April, als sich Danny Boy, mit einem leeren Seesack und einem Armeeklappspaten bewaffnet, auf den Weg in die Wüste machte. Der Himmel war pechschwarz, und am Horizont im Süden pulsierten Blitze, die wie Golddrähte aussahen. Der weiche Boden unter seinen Cowboystiefeln zerbröckelte so leicht, dass er das Gefühl hatte, über die ausgedörrte Oberfläche einer weit ausgedehnten Uferlandschaft zu laufen, die zuvor mit den Werkzeugen eines Bildhauers geschichtet, abgeschrägt und glatt gestrichen worden war. Am Fuße eines Tafelbergs klappte er den Spaten halb auf, sodass sie ihm als eine Art Spitzhacke diente, kniete sich auf den Boden und begann zu graben. Stück für Stück arbeitete er sich durch die versteinerten Überreste von Pflanzen, Fischen und Vögeln, die, wie andere sagten, bereits mehrere Millionen Jahre alt waren. In der Ferne zuckte ein greller Blitz geräuschlos durch die Wolken und erhellte mit seinem intensiven gelben Licht den Wüstenboden, die Kakteen, die Mesquitesträucher und die Pflanzen entlang eines Flussbetts, das nur während der Regenzeit Wasser führte. Kurz bevor das Licht des Blitzes wieder verschwand, sah Danny Boy sechs Männer auf der Ebene vor ihm. Sie wirkten wie Figuren auf einem Foto, das gerade erst ins Entwicklerbad gelegt worden war, trugen Gewehre über den Schultern und kamen in seine Richtung.

Er begann schneller zu graben und formte eine runde Kuhle um zwei Objekte, die wie zwei kleine, sich nach oben verjüngende Felsbrocken mit abgerundeten Spitzen aus der Erde hervortraten. Als er mit seinem Klappspaten auf den Bau eines Gürteltiers stieß, drehte er den Spaten um, steckte den Stiel in das Loch und drückte ihn nach oben, bis die Decke des Baus nachgab und die Erde aufbrach. Er schob den Arm ellbogentief in den Bau hinein und ertastete mit der Hand ein paar zusammenhängende harte Gebilde in der Form von Tiereutern.

Die Nachtluft war schwer und von einem undefinierbaren Geruch erfüllt, der an die Exkremente eines Pumas erinnerte. Möglicherweise auch an von der Sonne ausgedörrte Tierkadaver, verbranntes Fell oder stehendes Wasser in einem Graben, in dessen sandigem Boden sich die Kriechspuren von Reptilien abzeichneten. Der Wind wehte aus Richtung der Berge im Süden, und Danny Boy konnte die kühle Luft und den Regendunst auf seinem Gesicht spüren, den die Böen mit sich brachten. Er sah die Blätter der Mesquitesträucher, die sich wie grüne Spitzenstickereien im Wind wiegten, zudem die Mesas und die Hügel, die im Licht der Blitze weiß vor den Wolken schimmerten und kurz darauf wieder in der Dunkelheit verschwanden. Er konnte die Pinyon-Kiefern und den Wacholder riechen, und den Duft der zarten Blumen, die nur nachts aufgingen und deren Blüten bei Sonnenaufgang wie Fetzen farbigen Reispapiers an den Felsen klebten. Von den sechs Männern mit den Gewehren fehlte jede Spur. Er wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und machte sich wieder an die Arbeit. Nach und nach hob er ein tiefes Loch aus und legte die steinartigen, fest zusammenhängenden Gebilde frei.

Der erste Schuss war leise und nicht viel mehr als das ploppende Geräusch eines feucht gewordenen Feuerwerkskörpers. Danny Boy starrte in den feinen Dunst, der durch die Hügel in seine Richtung zog. Dann erhellte ein Blitz die Nacht, und er konnte die Umrisse der bewaffneten Männer vor dem Horizont sehen, ebenso wie die Silhouetten von zwei weiteren Figuren, die ihr Versteck verlassen hatten und nun nach Norden rannten. Sie steuerten direkt auf ihn zu, liefen in Richtung des Ortes, der eigentlich Sicherheit vor der Welle der Gewalt und der Verbrechen bieten sollte, die aus Mexiko in sein Leben zu schwappen schien.

Er hob das Nest mit den eiförmigen Steinen aus dem Erdloch, ließ es in den Seesack gleiten und zog die Kordel in den Messingösen am oberen Rand zu. Dann machte er sich auf den Weg zurück zu seinem Haus, wobei er sich so nah wie möglich am Fuß des Tafelbergs hielt, ohne allerdings seinen Spuren vom Hinweg zu folgen, um die bewaffneten Männer, sollten sie seine Fußabdrücke entdecken, auf eine falsche Fährte zu locken. Plötzlich schlug ein Blitz auf der Gipfelebene des Berges ein und ließ die Überschwemmungsebene und die Weiden entlang des ausgetrockneten Flussbetts taghell erstrahlen, sodass auch die Arroyos und die Spalten und Höhlen in den Bergen nun deutlich erkennbar waren.

Danny Boy sprang eine Böschung hinunter, den Seesack und den Klappspaten fest in den Händen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als er unten angekommen war, kauerte er sich hinter einen Felsen und presste seinen Körper gegen den Stein, das Gesicht auf den Boden gerichtet, damit es das Licht nicht reflektierte. Er hörte, wie jemand in der Dunkelheit an ihm vorbeilief, jemand, dessen Atemzüge nicht nur schwer klangen, sondern verzweifelt und verbraucht, jemand, dessen Lungen aus purer Angst so heftig pumpten, und nicht etwa, weil er Sauerstoff brauchte.

Gerade als Danny Boy glaubte, das Warten hätte ein Ende und die Verfolger des fliehenden Mannes wären unverrichteter Dinge wieder abgezogen, sodass er seinen Schatz aus dem Wüstenboden endlich in Sicherheit bringen konnte, hörte er ein Geräusch, das ihm nur allzu bekannt vorkam. Es war das flehende Lamento eines Menschen ohne Hoffnung – Laute wie von einem Tier, das sich in einem Tellereisen verfangen hatte. Oder das Gewinsel eines Frischlings auf der Sugar Land Farm, der in seiner ersten Nacht hinter Gittern von vier oder fünf Langzeitknackis im Duschraum erwartet wird.

Die Verfolger zerrten den zweiten der fliehenden Männer hinter einem Gewirr aus Totholz, Gestrüpp und Steppenläufern hervor, die ein altes, halb eingefallenes Mustang-Gehege überwucherten. Der Flüchtige war barfuß, blutüberströmt und zu Tode verängstigt. Sein Hemd hing in Fetzen über den Rippen seines abgemagerten Oberkörpers, und an seinem Handgelenk baumelte ein Eisenring, an dem ein kurzes Stück Kabel befestigt war.

»¿Dónde está?«, sagte eine Stimme.

»No sé.«

»Was meinst du damit, du weißt es nicht? Tú sabes.«

»No, hombre. No sé nada.«

»¿Para dónde se fue?«

»Er hat mir nicht gesagt, wohin er wollte.«

»¿Es la verdád?«

»Claro que sí.«

»Ist das nicht verrückt? Du hast dich schon an so viele Leute verkauft, dass du nicht mal mehr weißt, welche Sprache du sprechen sollst. Böser, böser Bulle.«

»No, señor.«

»Estás mintiendo, chico. Pobrecito.«

»Tengo familia, señor. Por favor. Soy un obrador, como usted. Ich bin doch genau wie Sie: ein einfacher Arbeiter, der für seine Familie sorgen muss. Glauben Sie mir, Señor, ich kenne Leute, die Sie reich machen können.«

In den folgenden fünfzehn Minuten setzte Danny Boy Lorca alles daran, die Geräusche auszublenden, die aus dem Mund des Mannes mit dem Eisenring am Handgelenk kamen. Er versuchte, in sich zusammenzuschrumpfen, sich in seinem eigenen Körper zu verkriechen und seine Wahrnehmung abzuschotten, sodass kein Licht, kein Ton, kein Sinneseindruck, kein Detail der Außenwelt zu ihm vordringen konnten. Am liebsten hätte er sich in einen schwarzen Punkt verwandelt, der vom Wind davongetragen wird, um sich später an einem anderen Ort in einen Schatten zu verwandeln und letztendlich wieder zu einer Gestalt aus Fleisch und Blut zu werden. Vielleicht würde er eines Tages die Angst vergessen, die in jenen fünfzehn Minuten einen anderen Menschen aus ihm gemacht hatte. Vielleicht würde er dann den Mann treffen, dem er nicht geholfen hatte, und vielleicht würde dieser ihm vergeben, auf dass auch er sich selbst vergeben könnte. Vielleicht würde er dann sogar vergessen, zu welchen Gräueltaten seine Mitmenschen fähig waren.

Als die Schreie des gefolterten Mannes allmählich leiser wurden und schließlich, vom Wind verschluckt, gänzlich verklangen, hob Danny Boy den Kopf und lugte über den Felsbrocken zu der Stelle, wo das Gewirr aus Steppenläufern und Totholz die von den bewaffneten Männern angerichtete Bluttat verdeckte. Der Wind war nun von grobem Staub und Regen durchsetzt, sodass es aussah, als flögen Glassplitter durch die Luft. Als wieder ein Blitz durch den Himmel zuckte, konnte Danny Boy einen genaueren Blick auf die bewaffneten Männer werfen.

Fünf von ihnen sahen aus, als wären sie gerade frisch aus einem Gefängnis hinter der Grenze entlassen worden. Beim Anblick ihres Anführers allerdings schnürte sich Danny Boys Herz zusammen, als hätte sich eine eiskalte Hand darumgelegt. Der Mann war größer als die anderen und stach auch sonst aus der Gruppe heraus, was seine ohnehin schon düstere Aura noch dunkler erscheinen ließ. Sein Körper war weder von Narben oder den typischen Tätowierungen – Schriftzügen mit Frakturlettern, Hakenkreuzen oder Totenköpfen – übersäht, noch hatte er den Schädel kahlrasiert oder sein Barthaar in Form eines sorgsam getrimmten Ziegenbarts gestutzt. Er trug auch keine Stiefel aus Eidechsenleder, die an Spitzen und Hacken mit glänzenden Metallbeschlägen verziert waren, sondern neue Laufschuhe und eine blaue Jogginghose mit roten Seitenstreifen, die an die Uniformen mexikanischer Kavallerieoffiziere aus dem 19. Jahrhundert erinnerten. Seine Haut war rein, seine Brust flach, seine Brustwarzen nicht viel größer als Zehn-Cent-Stücke. Seine Schultern waren zwar breit, seine Arme aber eher dünn, und oberhalb des weißen Bands seiner Jogginghose konnte man den Ansatz seines Schamhaars sehen. Über seinen nackten Oberkörper verlief der Gurt eines M16-Sturmgewehrs, das er auf dem Rücken trug, und an seinem Militärgürtel baumelten eine Wasserflasche, ein Beil und ein langes Messer mit dünner Klinge, wie man es zum Ausnehmen von Tieren bei der Jagd benutzt. Der Mann beugte sich nach vorn, spießte etwas mit seinem Messer auf und hielt es in die Höhe, um es im Licht der Blitze begutachten zu können. Dann befestigte er es mit einer Schnur an seinem Gürtel und ließ es an seinem Bein herunterhängen.

Danny Boy sah, wie der Anführer plötzlich erstarrte, als hätte er eine verräterische Witterung aufgenommen. Er drehte sich in Richtung des Hangs und starrte zu Danny Boys Versteck hinüber. »¿Quién está en la oscuridad?«, rief er.

Danny Boy kauerte sich auf den Boden, sodass sich die Spitzen des steinigen Untergrunds in seine Knie und Handballen bohrten.

»Hast du da drüben etwas gesehen?«, fragte einer der anderen Männer, ohne allerdings eine Antwort von seinem Anführer zu erhalten. »Da draußen ist nichts. Nur der Wind, der uns Streiche spielt.«

»¿Ahora para dónde vamos?«, fragte ein anderer Mann aus der Gruppe.

Der Anführer wartete eine ganze Weile, bevor er schließlich reagierte. »¿Dónde vive La Magdalena?«, fragte er.

»Leg dich besser nicht mit dieser Frau an, Krill. Das bringt nur Unglück.«

Wieder gab der Mann namens Krill keine Antwort. Nach einem Moment, der sich für Danny Boy wie tausend Jahre anfühlte, hörte er, wie sich die sechs Männer auf den Weg machten; erst hinunter zum Flussbett und dann weiter in Richtung der weit entfernten Berge, aus denen sie gekommen waren. Unter ihren Sohlen knackte der trockene Boden, und ihre Spuren hinterließen lange, schlangenförmige Linien. Als sie außer Sichtweite waren, stand Danny Boy auf und betrachtete die blutigen Spuren ihrer Gräueltat. Einzelne Teile eines menschlichen Körpers lagen im Dreck verstreut und glänzten im Regen.

Pam Tibbs war Hackberrys Chief Deputy. Sie hatte mahagonifarbenes Haar mit weißen, von der Sonne gebleichten Spitzen, das sie an ihren Wangen so gleichgültig herunterhängen ließ wie ein Teenager. Sie trug Jeans, die ihrem Körperbau entsprechend oben etwas weiter geschnitten waren, Stulpenstiefel, einen glänzenden Pistolengürtel und ein khakifarbenes Hemd, auf dessen Ärmel das Sternenbanner prangte. Ihre Stimmung war so unbeständig wie Quecksilber, ihre Worte meist direkt und provokant. Das in ihr schlummernde Gewaltpotenzial wurde ihren Widersachern nicht selten erst dann bewusst, wenn etwas passierte, das eigentlich nicht passieren sollte. Wenn sie wütend war, sog sie ihre Wangen ein und presste ihre Lippen zusammen, sodass der Leberfleck an ihrem Mund hervortrat. Männer, die sie so sahen, glaubten oftmals, sie würde versuchen, besonders niedlich zu wirken, womit sie allerdings gehörig danebenlagen.

Es war gegen Mittag, und Pam Tibbs stand gerade mit einem Becher Kaffee am Fenster ihres Büros, als sie sah, wie sich Danny Boy Lorca Richtung Sheriffbüro schleppte. Sein Oberkörper war stark nach vorn gebeugt, und er sah aus, als würde er gegen unsichtbare Kräfte ankämpfen. Der Wind hatte eine lose Zeitungsseite gegen seine Brust geweht, riss sie aber kurz darauf wieder los und wirbelte sie in Richtung der Kreuzung davon. Plötzlich stolperte Danny Boy und landete mit den Knien auf dem Gehweg. Als er beim Aufstehen erneut hinfiel, stellte Pam ihre Kaffeetasse ab und ging hinaus auf die Straße, wo ihr der Wind durch die Haare fuhr. Als sie sich nach vorn beugte, um Danny Boy auf die Beine zu helfen, zeichneten sich ihre schweren Brüste gegen das Hemd ab.

»Ich hab mir in die Hose gemacht. Kann ich bei euch duschen?«, fragte er, nachdem sie ihn ins Gebäude geführt hatte.

»Klar. Du weißt ja, wo es langgeht«, sagte sie.

»Die Typen haben den Mann ermordet.«

Sie schien nicht zu hören, was er sagte, und schaute auf die gusseiserne Wendeltreppe, die zu den Zellen im ersten Stock führte.

»Schaffst du es allein da hoch?«

»Ich bin nicht betrunken. Heute Morgen schon, aber jetzt nicht mehr. Der Anführer war … Ich hab mir den Namen gemerkt.« Danny Boy schloss die Augen und öffnete sie wieder. »Ich glaub zumindest, dass ich ihn mir gemerkt hab.«

»Ich komme gleich hoch und schließe dir die Zelle auf, okay?«

»Ich hab mich versteckt, bis sie fertig waren.«

»Wovon redest du denn da?«

»Ich hab mich hinter einem großen Felsen versteckt. Vielleicht fünfzehn Minuten lang. Der Mann hat die ganze Zeit über geschrien wie am Spieß.«

Pam nickte unbeeindruckt. Danny Boys Augen waren vom Kater gezeichnet, sein Mund an den Ecken weiß von getrocknetem Speichel, sein Atem schwer und süßlich wie eine Ladung gärender Früchte, die man in einen Brunnen gekippt hatte. Er schien auf etwas zu warten, aber sie wusste nicht, worauf. Absolution vielleicht? »Pass auf, dass du nicht auf der Treppe ausrutschst«, sagte sie.

Einen Moment später klopfte sie an Hackberrys Bürotür, wartete aber nicht auf seine Antwort, bevor sie eintrat. Der Sheriff telefonierte gerade und schaute ihr in die Augen, als sie hereinkam. »Danke für die Warnung, Ethan. Wir melden uns, falls wir etwas erfahren.« Er legte auf und wandte sich Pam zu. Sein Blick allerdings schien sie nicht wirklich zu erfassen, seine Gedanken kreisten offenbar noch um das Telefongespräch. »Was gibt’s?«, fragte er.

»Danny Boy Lorca ist gerade reingekommen. Betrunken. Er meint, einen Mord gesehen zu haben.«

»Wo?«

»Das hat er noch nicht erzählt. Er ist gerade unter der Dusche.«

Hackberry kratzte sich am Hals. Draußen an der Fahnenstange flatterte das Sternenbanner vor einem grauen Himmel. Der Stoff war so verwaschen und dünn, dass das Licht der Sonne hindurchschimmerte. »Das am Telefon war Ethan Riser vom FBI. Die Feds suchen einen Bundesbeamten, der möglicherweise von mexikanischen Drogenmulis verschleppt und auf der anderen Seite der Grenze festgehalten wurde. Informanten zufolge konnte der Mann wohl fliehen und ist auf dem Weg zurück über die Grenze.«

»Danny Boys Grundstück liegt doch ganz in der Nähe der Grenze, oder? Ich habe gehört, dass er dort nach Dinosaurier-Eiern gräbt.«

»Ich wusste gar nicht, dass es in dieser Gegend welche gibt«, sagte Hackberry.

»Wenn es welche gibt, dann ist Danny Boy derjenige, der sie findet.«

»Wie meinst du das?«, fragte er, obwohl er ihr eigentlich gar nicht richtig zuhörte.

»Wie ich das meine? Nun, wir sprechen hier von einem Mann, der glaubt, er kann die Weltachse von seinem Küchenfenster aus sehen, der behauptet, dass sämtliche Energie aus einem Loch in der Erde stammt. Und dass es in diesem Loch ein anderes Universum gibt, in dem die Regen- und Maisgötter leben. Bei so einer Weltanschauung ist die Suche nach Dinosaurier-Eiern doch kalter Kaffee.«

»Interessant.«

Sie wartete, schien seine Reaktion zu analysieren. »Es kommt noch besser: Danny Boy behauptet, die Ermordung des Mannes hätte fünfzehn Minuten gedauert, und er hätte alles mit angehört. Meinst du, der Tote könnte der Mann sein, den die Feds gerade suchen?«

Hackberry pochte mit seinen Fingerknöcheln leicht auf die Schreibtischunterlage. Dann stand er auf. Seine massige Silhouette zeichnete sich gegen das Fenster ab. Er drückte seinen Rücken durch und konnte nur mit Mühe den Schmerz verbergen, der ihn bei dieser Bewegung durchzuckte.

»Hol das Aufnahmegerät und bring bitte eine Kanne Kaffee mit, okay?«, sagte er.

Danny Boys Aussage zu dem Mord, den er mit angesehen hatte, war nicht von der besonders glaubwürdigen Sorte.

»Du hast also getrunken, bevor du dich auf die Suche nach Dinosaurier-Eiern gemacht hast?«, fragte Hackberry.

»Nein, Sir, ich hatte seit zwei Tagen nichts getrunken.«

»Du warst zwei Tage lang trocken?«

»Ja, Sir, zwei ganze Tage. Die haben mich aus der Bar geschmissen. Aber ich hatte sowieso kein Geld mehr.«

»Nun, dann wird es wohl stimmen, was du erzählst«, sagte Hackberry. »Wie wär’s mit einem kleinen Ausflug?«

Danny Boy antwortete nicht, sondern saß mit hängenden Schultern und gesenktem Blick auf dem eisernen Doppelstockbett in seiner Zelle. Er trug Schnürschuhe ohne Socken, eine saubere Gefängnishose und ein Jeanshemd. Sein Haar war noch nass von der Dusche, seine Haut so dunkel wie schmutziger Rauch. Die Hände hatte er im Schoß gefaltet.

»Was ist los?«, fragte Hackberry.

»Ich schäme mich für das, was ich getan habe.«

»Weil du diesem Mann nicht geholfen hast?«

»Ja, Sir, genau deswegen«, sagte Danny Boy und fügte dann hinzu: »Die Kerle haben sich über La Magdalena unterhalten.«

»Über wen?«

»La Magdalena, eine heilige Frau.«

»Lass dich von der Sache nicht so runterziehen. Die Typen hätten dich höchstwahrscheinlich auch umgelegt, und dann hättest du uns jetzt nicht bei der Aufklärung dieses Verbrechens helfen können«, sagte Hackberry. »Stimmt’s, oder hab ich recht?«

Danny Boys Blick war auf einen Punkt auf dem Fußboden vor ihm gerichtet. »Sie haben leicht reden. Sie mussten es nicht mit ansehen.«

»Nein, das musste ich nicht.« Hackberry wollte etwas über seine Erlebnisse als Kriegsgefangener im Tal ohne Namen sagen, entschied sich dann aber dagegen. »Komm schon, bringen wir es hinter uns, Partner.«

Kurze Zeit später saßen alle drei im Dienstfahrzeug des Sheriffbüros, einem Jeep Cherokee. Pam Tibbs steuerte den Wagen auf die Hauptstraße der Stadt und über eine Kreuzung, deren Ampel an ihrem Kabel im Wind baumelte. Die neueren Gebäude der Straße bestanden aus Hohlblocksteinen, bei den älteren hatte man einfache Feldsteine benutzt und die Wände später mit Mörtel oder Putz versehen, der im Laufe der Jahre aber abgebröckelt war und nun an eine ansteckende Hautkrankheit erinnerte. Als sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, folgte Pam dem kurvigen State Highway Richtung Süden. Die zweispurige Straße führte sie durch Berge, die wie riesige, braune Ameisenhaufen aussahen, hinein in eine Landschaft, die einer sepiafarbenen Fotografie der Marsoberfläche ähnelte. Als sie Danny Boys Grundstück erreichten, fuhren sie an seinem schlichten Wohnhaus vorbei, passierten die dazugehörige Scheune, deren Außenwände von oben bis unten mit alten Radkappen bedeckt waren, und steuerten dann in Richtung der tektonischen Verwerfung, die sich ins Gebiet des alten Mexiko ergoss. Vor ihnen erstreckte sich ein Terrain, in dem auf ewig das Echo von weit entfernten Signalhörnern widerzuhallen schien – ein Klang, der in Hackberrys Ohren allerdings wenig Glorreiches verhieß, sondern in ihm lediglich die Erinnerungen an die Schützengräben in Nordkorea wachrief.

Pam bremste und fuhr langsam an der Böschung des Flussbetts entlang, durch das Danny Boy in der vorherigen Nacht gegangen war. Der feste Schotter unter den Rädern ließ den Wagen vibrieren. »Dort«, sagte Danny und zeigte nach vorn.

»Wo die Geier kreisen?«, fragte Hackberry.

»Ja, Sir.«

»Wo sind die Dinosaurier-Eier?«

»In meinem Haus.«

»Und du bist dir sicher, dass das nicht nur ein paar Ackersteine sind?« Hackberry lächelte, sodass die Haut an seinen Augenwinkeln kleine Fältchen schlug. Der Versuch, Danny Boy ein wenig von seinem Kummer und seiner Angst zu nehmen, blieb allerdings erfolglos. Die Schuldgefühle, die ihn seit letzter Nacht quälten, würden ihn noch viele schlaflose Nächte kosten, und daran würden auch die Bierreserven sämtlicher Saloons in Texas nichts ändern. »Park bitte so, dass wir nicht im Wind stehen«, sagte Hackberry zu Pam.

Sie fuhr durch ein Schlammloch, das von roten Pfützen umgeben war. Unmengen schwarzer Schmetterlinge belagerten die kleinen Wasserlöcher, um die Feuchtigkeit aus dem Sand zu saugen, und schlugen dabei wie wild mit den Flügeln. Pam parkte den Wagen an einem Hang, an dessen Fuß sich ein zusammengefallenes Gatter befand. Ein einäugiger Mann hatte hier früher Mustangs eingefangen, um sie an Hundefutterhersteller zu verkaufen. Hackberry stieg aus, ließ den Blick über das Gewirr aus Steppenläufern, Reisig und Buschwerk schweifen und entdeckte die Leiche des Mannes, für den der Tod offenkundig eine Erlösung von unvorstellbaren Qualen gewesen war. »Hast du so was schon mal gesehen?«, fragte Pam, der fast die Worte im Hals stecken blieben.

»Nein, so etwas noch nicht. Etwas Ähnliches vielleicht, aber das hier ist noch mal eine ganze Nummer übler«, antwortete Hackberry.

»Wer zum Henker bringt so etwas fertig?«

»Ruf den Gerichtsmediziner an und sag Felix und R. C., dass sie herkommen sollen. Ich will Fotos von dem Ganzen, und zwar aus jeder erdenklichen Perspektive. Dann ziehst du so viel Absperrband um den Tatort, wie du auftreiben kannst, und achtest darauf, dass niemand über die Spuren latscht, die nach Süden führen.«

Pam ging zum Jeep, um die Anrufe zu erledigen, und kehrte mit einem Paar Plastikhandschuhe wieder zurück, die sie sich über die Hände zog. Danny Boy war mit gesenktem Kopf im Wagen sitzen geblieben. »Was hat er noch mal gesagt, wie der Anführer hieß?«, fragte Pam Hackberry. »Krill?«

»Ja, ich denke, das hat er gesagt.«

»Hab ich schon mal gehört. Ist das Spanisch?«

»Das sind diese kleinen Krebse, die die Wale fressen.«

»Komischer Name für einen Killer mit einer M16 auf dem Rücken.« Als er nicht antwortete, schaute sie ihn an. »Alles okay, Boss?«

Er nickte in Richtung der Böschung oberhalb des Tatorts.

»Oh mein Gott!«, sagte sie.

»Offenbar wurde er auch skalpiert.«

Der Wind drehte, und ein widerlicher Gestank schlug ihnen ins Gesicht. Es roch nach Fischrogen, der auf warmen Steinen getrocknet worden war, nach faulen Innereien und dem Inhalt der Abfalleimer, die man samstagnachts hinter den Bordellen auskippte. Pam presste sich das Handgelenk auf den Mund und musste ein paar Schritte den Hang hinaufgehen, um den ätzenden Schwall aus ihrem Magen zurückhalten zu können.

Hackberry trat einige Schritte vom Tatort zurück und stellte sich wieder auf die windabgewandte Seite. Das änderte allerdings wenig am grauenhaften Anblick oder an der Bedeutung dessen, was da vor ihm lag. Ähnlich wie ein Anthropologe fragte auch er sich gelegentlich, wie eigentlich das angestammte Habitat der menschlichen Spezies aussah. Diese immer gleichen Parzellen in den Vorstädten mit ihren automatisch bewässerten Rasenflächen und den eintönigen Einfamilienhäusern, in denen der Fernseher die Feuerstelle ersetzt hatte, konnten es jedenfalls nicht sein. Waren es vielleicht die weiten, sonnenverbrannten Ebenen mit ihren Mesas und ausgetrockneten Flussbetten, in denen die Primaten, die Schlammbeschmierten und die Gottlosen mit angespitzten Stöcken Jagd aufeinander machten – Orte, an denen Gnade nur als Folge von Übersättigung und Erschöpfung gewährt wurde?

Seiner Meinung nach stellte der Zwang zum Töten einen festen Bestandteil des menschlichen Genpools dar, und diejenigen, die diese Tatsache abstritten, waren für gewöhnlich auch die, die andere die Drecksarbeit erledigen ließen. Die Henker und Berufssoldaten dieser Welt wussten nur zu gut, dass es zu ihren wichtigsten Pflichten gehörte, ihre Vorgesetzten vor Detailwissen über sich selbst zu schützen. So oder so ähnlich sahen die Gedanken aus, die Hackberrys Ansichten zum Sozialverhalten der menschlichen Spezies bestimmten, auch wenn er sie mit niemandem teilte.

Er schaute nach Süden. Staub oder Regen hatten den Blick auf die Berge verhangen. Die Ebene schien sich unendlich in die Ferne auszudehnen, wie ein Schneefeld, das sich in den unteren Teil eines blauen Winterhimmels streckt und über den Horizont hinweg ins Nichts ragt. Hackberry musste schlucken und spürte, wie eine namenlose Angst seine Eingeweide zusammenschnürte.

Der Gerichtsmediziner Darl Wingate war ein alleinstehender Mann, der seinen Mitmenschen einige Rätsel aufgab. Als ehemaliger forensischer Pathologe bei der US Army und deren Militärstrafverfolgungsbehörde CID war er nach dem Ausscheiden aus dem Armeedienst an seinen Geburtsort zurückgekehrt. Er war ein lakonischer Kerl mit eingesunkenen Wangen und einem dünnen Schnurrbart und hatte nicht selten schon morgens eine Alkoholfahne. Außerdem hatte er einen Abschluss von der Johns Hopkins University und einen von Stanford. Niemand konnte sich so recht erklären, warum er sich entschieden hatte, seinen Lebensabend in einem trostlosen Ort am Rande der großen amerikanischen Wüste zu verbringen. Aus Mitgefühl für die Armen und Benachteiligten tat er es ganz gewiss nicht, was jedoch nicht bedeutete, dass er ein gefühlloser und hartherziger Mann war. Für Hackberry war Darl Wingate ganz einfach ein Pragmatiker; jemand, der keinen Unterschied zwischen den Menschen machte und sie nicht in Kategorien einteilte. Aus Darls Perspektive waren sie alle nur Teil einer langen Kette: Wesen, die aus der Dunkelheit des Mutterleibs kamen und kurz das Licht sahen, bevor ihre Münder mit Dreck gestopft und ihre Augen sechs Fuß unter der Erde für immer versiegelt wurden. Mit dieser Weltsicht ging allerdings einher, dass Darl immer nur Zeuge blieb und nie aktiv teilnahm.

Der Gerichtsmediziner legte sich ein Pfefferminzbonbon auf die Zunge und zog Plastikhandschuhe und Mundschutz über, bevor er sich den Überresten des toten Mannes näherte. Der Tag war wärmer geworden, und der Himmel so grau wie der Rauch brennender Kreosotbüsche. Schwärme von Mücken erhoben sich aus dem Sand.

»Was denkst du?«, fragte Hackberry.

»Worüber?«, erwiderte Darl.

»Na, über das hier.« Hackberry konnte nur mit Mühe seine Ungeduld unterdrücken.

»Die Finger, die da auf der Böschung lagen, hat man ihm einen nach dem anderen abgeschnitten. Danach ging’s mit den Zehen weiter. Ich schätze, dass er an dem Schock gestorben ist. Wahrscheinlich war er schon tot, als man ihn skalpiert und zerhackt hat, aber ’ne Wette würde ich nicht drauf abschließen wollen.«

»Ist dir so was schon mal untergekommen?«

»Ja, in ein paar finsteren Gassen in Bangkok. Der Killer war ein Missionar.«

»Die Menschheit ist also schon in ihrem Kern verdorben?«

»Wie bitte?«

»Im Moment bist du mir keine besonders große Hilfe.«

»Was genau willst du denn wissen?«

»Details, Anhaltspunkte, mit denen wir arbeiten können. Die menschliche Geschichte der Unmenschlichkeit kenne ich schon.«

»Das Erscheinungsbild des Opfers lässt vermuten, dass er für mindestens ein paar Wochen unter eher primitiven Bedingungen gefangen gehalten und möglicherweise auch misshandelt wurde. Dafür sprechen der abgemagerte Körper, die Infektionen an den Handgelenken von den Fesseln, der Schorf an seinen Knien und die Läuseeier im Rest seines Haupthaars. Die Narben im Gesicht und am Hals lassen auf Pocken schließen, was dafür spricht, dass er Mexikaner und nicht Amerikaner war. Was nicht ins Bild passt, ist der Zustand seiner Zähne.«

»Ich fürchte, ich kann dir nicht ganz folgen.«

»Seine Zähne sind makellos.«

»Und wie würdest du das erklären?«

»Ich denke, der Mann kam aus sehr einfachen Verhältnissen, hat dann aber den richtigen Weg eingeschlagen und etwas aus sich gemacht«, erklärte Darl.

»Erfolgreiche Schwerverbrecher gehen also nicht zum Zahnarzt, oder wie?«

»Nur wenn der Schmerz es unumgänglich macht. Ansonsten sind sie zu sehr damit beschäftigt, irgendwelche Bräute flachzulegen und sich Koks in die Nase zu ziehen. Ich denke, dass dieser Kerl sich gut um seinen Körper gekümmert hat. Bisher konnte ich keine Tattoos, Einstichstellen oder sonstigen Wunden entdecken. Ich könnte mir vorstellen, dass wir vor der Leiche eines Polizeibeamten stehen.«

»Nicht schlecht.«

»Was hier passiert ist, sagt uns allerdings mehr über den Killer als über das Opfer.«

»Was meinst du?«

»Was immer der Kerl für Informationen gehabt haben mag, er dürfte sie sehr schnell preisgegeben haben. Seine Peiniger haben trotzdem bis zum Ende weitergemacht. Irgendeine Idee, was sie gewollt haben könnten?«

»Hast du schon mal von jemandem namens La Magdalena gehört?«, fragte Hackberry.

Darl nickte. »Die Abergläubigen unter den Wetbacks nennen sie so.«

»Darl, spuck’s einfach aus, okay?«

Der Gerichtsmediziner drehte eine Zigarette in seine Zigarettenspitze und klemmte sie sich zwischen die Zähne. »Manchmal wird sie auch La China genannt. Ihr richtiger Name ist allerdings Anton Ling. Sie stammt aus Indochina oder Französisch-Indochina und sieht aus wie eine Schauspielerin aus einem Graham-Greene-Film. Weißt du jetzt, was ich meine?«

Hackberry zwinkerte ihm zu.

»Ja, ganz genau.« Darl zündete die Zigarette an und blies eine Rauchwolke in die Luft. »Ich erinnere mich noch an eine Sache, die du mal gesagt hast, Hack. ›Die großen und wichtigen Kriege werden seit jeher in unbedeutenden Landstrichen ausgefochten‹, oder so was in der Art.«

»Und?«

»Auf mich kannst du bei der Sache nicht zählen«, sagte Darl. »Der Fall stinkt schon jetzt zum Himmel. Ich garantiere dir, dass du im Handumdrehen durch ein Meer von Scheiße waten wirst.«

Kapitel 2

Sechs Stunden später fuhren Pam Tibbs und Hackberry Holland zwanzig Meilen südwestlich vom Verwaltungssitz ihres Countys über eine lange unbefestigte Zufahrt auf ein Haus zu, das im viktorianischen Stil gebaut worden war und schon lange keine Farbe mehr gesehen hatte. Dafür verfügte es über eine breite Galerie samt Schaukel und Blumentöpfe mit Petunien und Springkraut. Im Sonnenuntergang wirkte die Landschaft befremdlich und hätte gut und gerne in einem Film aus den Vierzigerjahren als Kulisse dienen können: Der Boden war fest und cremefarben, das Gelände hügelig, von ausgetrockneten Bachbetten durchzogen und in regelmäßigen Abständen von Zaunpfosten aus Zedernholz unterbrochen, zwischen denen allerdings kein Draht mehr gespannt war, während die über allem thronenden Gewitterwolken in Verbindung mit dem roten Himmel das Gelände marmorierten.

An beiden Enden des Hausdachs ragten Blitzableiter in die Höhe. Hinter dem Gebäude drehte sich ein Windrad und pumpte Wasser in einen Aluminiumtank, aus dem drei altersschwache Pferde tranken. In einem Abstand von etwa dreißig Metern um das Haus herum verlief eine weiß gestrichene Backsteinmauer, die mit Stacheldraht und Glasscherben bewehrt war und an den Schutzwall von Fort Alamo erinnerte. An drei Seiten dieser rechteckigen Grundstücksmauer hatte man die Holztore entfernt und ihre Planken als Umgrenzung für zwei mit Kompost aufgefüllte Hochbeete benutzt. Damit erinnerte die ganze Anlage in gewisser Weise an einen Außenposten römischer Legionäre mit einer völlig unbrauchbaren äußeren Verteidigungslinie.

»Was hat es mit diesem Ort auf sich?«, fragte Pam.

»Miss Anton hat das Haus einem Sezessionisten abgekauft, der vor zwanzig Jahren meinte, das Gerichtsgebäude der Stadt stürmen zu müssen. Nachdem sie eingezogen war, tat es den Rangern ganz sicher leid, den Vorbesitzer eingelocht zu haben.«

»Miss?« Pam sah ihn fragend an.

Hackberry saß auf dem Beifahrersitz, den Stetson tief in die Stirn gezogen. »Ich bin eben gut erzogen«, sagte er.

Sie parkten den Jeep vor der Mauer, stiegen aus und betrachteten den Horizont im Süden durch einen Feldstecher. »Sieh dir das mal an«, sagte Pam.

Hackberry rollte einen Hefter mit ein paar Fotos im 20 x 25-Zentimeter-Format zusammen und steckte ihn in die Seitentasche seiner Hose. Dann richtete er den Feldstecher auf einen von Mesquitebäumen, Buscheichen und Weiden umsäumten Ablaufkanal. Über den Hügeln wirkte der Himmel wie grünes Gas; die Luft flimmerte vor Hitze und Feuchtigkeit. In der ausgeblichenen Erde steckte halb vergraben ein altes Auto, dessen vom Wind polierte Karosserie wie Alufolie glänzte. Die jüngere Geschichte dieses Ortes konnte man allerdings nur erahnen, wenn man sich den Boden des Ablaufkanals anschaute, wo allerlei Unrat herumlag: verschimmelte Kleidungsstücke, Fetzen von Plastikplanen, Turnschuhe mit aufgeplatzten Nähten, Toilettenpapierreste, verdorbene Lebensmittel, leere Wasserflaschen, weggeworfene Binden und kotverschmierte Windeln. Hoch über den Hügeln dieser Szenerie kreisten Truthahngeier, deren Federn im Wind flatterten.

»Ich hab gehört, sie war Mitglied in einer Organisation zur Flüchtlingshilfe – so eine Art Underground Railroad oder so. Stimmt das?«, fragte Pam.

»Ja, oben in Kansas, glaube ich«, sagte Hackberry. »Aber eigentlich brauchst du nicht in der Vergangenheitsform zu sprechen.«

»Hast du die Feds schon benachrichtigt?«

»Nein. Bin noch nicht dazugekommen.«

Er spürte, wie sie ihn von der Seite anschaute.

»Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte …«, setzte sie an.

»Spar’s dir lieber«, sagte er.

»Du warst Anwalt für die ACLU und weißt genau, dass dieser Verein hier genauso beliebt ist wie ein Haufen Kojotenscheiße vor der Wohnungstür. Warum willst du dir unnötig zusätzlichen Ärger einhandeln?«

»Könntest du bitte derartige Ausdrücke während der Arbeit unterlassen? Du und Maydeen, ihr beide scheint eine Art unheilbaren Sprachfehler zu haben.«

Wieder war er in die Falle getappt und hatte Maydeen Stoltz, seine Disponentin in der Einsatzzentrale, mit Pam in einen Topf geworfen. Dabei wusste er ganz genau, dass er keine Chance hatte, wenn sich die beiden zusammentaten und Front gegen ihn machten. Manchmal schloss er sich in solchen Momenten sogar in sein Büro ein und tat so, als wäre er nicht da.

»Du scheinst einfach nicht in der Lage zu sein, auf dich selbst aufzupassen. Also müssen wir das für dich übernehmen und dir den Arsch retten. Wenn du mir nicht glaubst, dann frag doch mal die anderen im Department«, sagte Pam. »Deine Wähler mögen dir zwar erzählen, dass sie Jesus lieben und Gott fürchten, aber in Wirklichkeit wollen sie bloß, dass du die bösen Jungs über den Jordan schickst und sie nicht mit den Details nervst.«

»Ich kann nicht glauben, dass ich mir als Sheriff dieses Countys so etwas anhören muss. Und das jeden Tag!«

»Das ist ja das Problem: Egal wie oft wir es dir sagen, du lernst es nicht. Du hast einfach ein zu großes Herz. Frag Maydeen.« Pam nahm ihm den Feldstecher aus der Hand und steckte ihn in das lederne Etui zurück, das sie anschließend auf den Fahrersitz legte. »Habe ich was Falsches gesagt?«

»Ach was! Wie kommst du denn darauf?«, antwortete er.

Pam stützte die Hände in die Hüften und schien gedanklich schon woanders zu sein. »Und diese Frau ist so was wie die texanische Version der Heiligen Jungfrau von Lourdes und kann Wunder bewirken, oder wie?«

»Nein«, sagte Hackberry. »Ich meine, ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt kann ich im Moment weder dieser Unterhaltung folgen noch deine Gedanken nachvollziehen, Pam.«

»Du willst nur nicht wahrhaben, dass die Leute deine schwache Stelle kennen. Wenn du nicht aufpasst, tanzt dir diese chinesische Tussi gleich auch noch auf der Nase herum. Du solltest langsam mal die Augen öffnen und aufhören, zu den falschen Leuten nett zu sein.«

»Das sehe ich nicht so. Ganz und gar nicht.«

»Genau davon rede ich ja.«

Hackberry setzte seinen Stetson auf, weitete die Augen und ließ den Moment mit versteinerter Miene vorbeiziehen. »Wenn wir gleich mit dieser Frau sprechen, sollten wir nicht vergessen, wer wir sind. Wir behandeln die Menschen mit Respekt, insbesondere wenn sie schon so viel durchgemacht haben.«

»Jetzt hör aber auf. All diese ach so selbstlosen und engagierten Leute legen es doch nur darauf an, dass ihre Mitmenschen sich schuldig fühlen. Und jetzt sag mir nicht, ich würde Scheiße erzählen!«

Hackberry fühlte sich, als hätte ihm jemand einen kleinen Nagel zwischen die Augen gesetzt und diesen langsam mit einem Polsterhammer in seine Stirn geschlagen.

Es war schwer, das Alter der Asiatin einzuschätzen, die ihnen die Tür öffnete. Sie hatte eine kompakte Figur, trug eine dunkle Brille und ein weißes Kleid mit einem schwarzen Schnürband im Ausschnitt. Man hätte sie auf Anfang vierzig geschätzt, aber Darl Wingate hatte Hackberry erzählt, dass sie die japanischen Brandbombenangriffe und die Massaker an chinesischen Zivilisten miterlebt und möglicherweise für Claire Chennaults Fluggesellschaft Civil Air Transport gearbeitet hatte. Besonders über den letzten Punkt wollte Hackberry lieber nicht nachdenken.

Beim Eintreten setzte er den Hut ab und musste seinen Augen einen Moment Zeit geben, um sich an die schlechte Beleuchtung im Inneren des Hauses zu gewöhnen. Die Möbel sahen heruntergekommen aus: Couch und Stühle waren mit billigem Stoff abgedeckt, die Teppiche abgenutzt, und an der Wand stand eine alte Glasvitrine, vollgestopft mit Büchern, die irgendjemand auf Flohmärkten zusammengekauft hatte. »Wir suchen einen Mann, der möglicherweise ermordet werden sollte, Ms. Ling«, sagte er.

»Wieso glauben Sie, dass Sie ihn hier finden?«, fragte sie.

Durch das Fenster konnte Hackberry ein schlicht verputztes Gartenhaus sehen, daneben eine Scheune aus Brettern und ein längliches Gebäude mit Flachdach, das früher einmal als Schlafbaracke gedient haben könnte. »Vielleicht, weil Sie mitten auf einem inoffiziellen Highway leben, über den massenhaft Menschen auf mehr oder weniger legale Weise von Süden nach Norden reisen?«

»Wie heißt der Mann?«, fragte sie.

»Das wissen wir leider nicht. Das FBI hat jedoch nähere Informationen über ihn«, antwortete er.

»Verstehe. Aber ich glaube nicht, dass Sie diesen Mann hier finden werden.«

»Er trägt wahrscheinlich einen Eisenring an einem seiner Handgelenke und dürfte nach dem, was er erlebt hat, große Angst haben und ziemlich verzweifelt sein«, fuhr Hackberry fort. »Der Mann, mit dem er zusammengekettet war, ist nämlich von sechs bewaffneten Personen zu Tode gefoltert worden. Wir nehmen an, dass sie aus Mexiko kamen.«

»Wenn dieser Mann wirklich so verzweifelt ist, wie Sie sagen, warum wendet er sich dann nicht an Sie?«, fragte Anton Ling.

»Ich vermute, er traut der Polizei nicht über den Weg.«

»Aber mir vertraut er?«

»Keine Angst«, schaltete sich Pam ein. »Wir sind nicht von der Einwanderungsbehörde und auch nicht von der Border Patrol.«

»Ja, das hab ich schon an Ihren Uniformen erkannt.«

»Was ich eigentlich sagen will: Es interessiert uns nicht, ob Sie hier irgendwelchen Wetbacks Essen geben und Unterschlupf gewähren«, erklärte Pam. »Illegale gibt es schon seit Ewigkeiten in diesem Land.«

»Ja, so ist es, nicht wahr?«

Pam schien über die tiefere Bedeutung dieses Kommentars nachzudenken und sich zu fragen, ob sie sich den zynischen Unterton nur eingebildet hatte. »Ich bin ziemlich beeindruckt von Ihrem kleinen Nebenzimmer da drüben. Ist das eine Statue der Jungfrau Maria hinter den vielen brennenden Kerzen?«

»Ja, das ist die Jungfrau Maria.«

»Aber die weint kein Blut, oder?«, fragte Pam.

»Ms. Ling, wenn Sie das Gefühl haben, nicht offen mit uns sprechen zu können, dann wenden Sie sich doch bitte an das FBI. Der Mann, den wir suchen, ist nur knapp einem schrecklichen Schicksal entgangen«, sagte Hackberry.

»Ich lasse es mir durch den Kopf gehen«, antwortete sie mit regloser Miene.

Pam hatte die Arme vor der Brust verschränkt und atmete geräuschvoll ein und aus. Sie warf Hackberry einen Blick zu und wartete darauf, dass er etwas sagte, während sie die rechte Hand zur Faust ballte und wieder öffnete.

Hackberry zog einen braunen Hefter hervor, entnahm den Umschlag mit den Fotos und reichte ihn Anton Ling. »Diese Bilder wurden heute an einem Tatort in der Nähe gemacht, keine halbe Stunde von Ihrem Haus entfernt. Sie zeigen die Bluttat von Männern, die keine Grenzen kennen und vor nichts zurückschrecken. Laut der Aussage eines Augenzeugen hat das Opfer kurz vor seinem Tod den Namen ›La Magdalena‹ preisgegeben. Wir glauben, dass der Mann auf den Fotos von einem Kerl zu Tode gefoltert wurde, der Krill genannt wird. Und genau deswegen sind wir jetzt hier, Miss Anton. Wir möchten verhindern, dass diese Mörderbande Ihnen oder den Menschen, denen Sie Unterschlupf gewähren, etwas antut. Haben Sie schon einmal von einem Mann namens Krill gehört?«

Er schaute sie eindringlich an, aber sie hielt seinem Blick stand. Ihre dunklen Augen blinzelten nicht und schienen erfüllt von Erinnerungen, die sie nur selten mit anderen teilte. »Ja«, sagte sie schließlich. »Vor drei oder vier Jahren gab es einen Kojoten, einen Schlepper, mit diesem Namen. Er raubte die Leute aus, die er gegen Bezahlung über die Grenze bringen sollte. Manche behaupten, er hätte die Frauen vergewaltigt.«

»Wo ist er jetzt?«

»Er ist verschwunden.«

»Wissen Sie, wie er zu seinem Namen gekommen ist?«

»Er war Maschinengewehr-Schütze irgendwo in Mittelamerika. Seinen Spitznamen hat er von diesem Zeug, das die Wale fressen. Es hieß, er hätte große Mengen Krill beseitigt.«

Einen Moment lang war es still. Hackberry blickte durch die Tür ins Nebenzimmer, das als eine Art Kapelle zu dienen schien. Dort brannten in roten, blauen und lilafarbenen Gefäßen etwa dreißig bis vierzig Kerzen, deren flackerndes Licht den unteren Teil einer Statue der Jungfrau Maria beleuchtete. »Sind Sie Katholikin, Miss Anton?«, fragte er.

»Das kommt darauf an, mit wem Sie sprechen.«

»Erwarten Sie heute Nacht Gäste?« Als sie nicht antwortete, fügte Hackberry hinzu: »Dürfen wir uns mal hinter dem Haus umsehen?«

»Warum fragen Sie überhaupt? Sie machen es doch sowieso, ob es mir passt oder nicht.«

»Nein, das tun wir nicht. Wir haben nämlich keinen Durchsuchungsbefehl«, antwortete Pam. »Damit gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wir schauen uns mit Ihrer Erlaubnis um, oder wir holen uns einen Durchsuchungsbefehl und kommen noch mal wieder.«

»Tun Sie, was Sie wollen.«

»Jetzt hören Sie mal, Ma’am: Wenn wir Sie in Ruhe lassen sollen, dann sagen Sie es einfach, okay? Vielleicht würde Ihnen das ja besser gefallen? Dann können Sie allein zusehen, wie Sie mit Krill und seiner Bande fertig werden.«

»Wenn Sie nichts dagegen haben, schauen wir uns jetzt kurz hinter dem Haus um«, beendete Hackberry den Wortwechsel und legte seine Visitenkarte auf den Couchtisch. Dann lächelte er. »Stimmt es eigentlich, dass Sie für Civil Air Transport, die alte Fluglinie von Claire Chennault, gearbeitet haben?«

»Ja, das stimmt.«

»Dann ist es mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.«

Ein paar Minuten später standen Hackberry und Pam draußen im Wind. Pams Hals war rot angelaufen und ihr Rücken steif vor Wut. »Dann ist es mir eine Ehre, Sie kennenzulernen«, äffte sie ihn nach. »Was zum Teufel sollte das denn? Die ist doch unausstehlich.«

»Sieh’s mal von ihrem Standpunkt aus.«

»Sie hat keinen Standpunkt.«

»Sie setzt sich für Leute ein, die keine Rechte haben. Wenigstens das musst du ihr zugute halten.«

Pam ging zum Gartenhaus hinter dem Wohngebäude, um sich dort umzusehen. Als sie wieder herauskam, ließ sie die Fliegengittertür hinter sich zuknallen. »Halt dich fest, Hack: Da drin liegt eine blutverschmierte Matratze und jede Menge schmutziges Verbandsmaterial. Die Blutflecken sind noch frisch. Ich wette, der Typ hat da drinnen gehockt, während wir im Haus mit der Chinesin geschnattert haben«, sagte Pam. »Was sollte eigentlich das Gefasel über diese Fluglinie von Claire Chennault?«

»Das war ein getarntes CIA-Projekt, aus dem später dann Air America wurde. Die haben während des Vietnamkriegs den Widerstand in Laos versorgt und sind ins Goldene Dreieck geflogen.«

»Also haben sie Opium transportiert?«

Hackberry nahm seinen Hut ab, drückte eine Beule aus der Krone und setzte ihn wieder auf. Er fühlte sich alt. So wie jemand, der mehr über die Welt wusste, als ihm guttat. Im Süden färbte sich der Himmel im Sonnenuntergang langsam schwarz, und die Luft über den Hügeln füllte sich mit Staub. »Ich glaube, es kommt Wind auf«, sagte er.

Krill hockte am Rand eines Mesa-Plateaus und starrte über die Wüste in Richtung der sich abkühlenden roten Sonne am Horizont. Der Wind trieb den Regen aus dem Westen vor sich her und färbte den Himmel grün. Staubteufel tanzten in der Landschaft unter ihm, die Luft war von einem Geruch nach feuchten Blumen und Kreide erfüllt. Er hatte sich mit einem Lappen und Wasser aus einer Trinkflasche gewaschen, und in der leichten Brise und den Schichten warmer Luft, die vom Wüstenboden emporstiegen und im abendlichen Himmel zerbrachen, fühlte sich seine Haut nun angenehm kühl an. Seine blauen Augen waren trübe und milchig, seine Miene gefasst, seine dunkle Haut trocken, glatt und sauber unter dem sich im Wind bauschenden Hemd. Wie so oft in einsamen Momenten dachte Krill an ein Dorf in einem Land weit im Süden, vom Dschungel eingeschlossen und in unmittelbarer Nähe eines erloschenen Vulkans. Gegenüber von dem Haus, in dem er einst gelebt hatte, spielten drei Kinder vor einer von Ostdeutschen gebauten und später von der Armee niedergebrannten Klinik. Er stellte sich vor, wie die Kinder sich umdrehten, ihn erkannten und freudestrahlend ansahen. Dann verschwanden ihre Gesichter vor seinem inneren Auge, als wären sie von einem Moment auf den anderen aus seinem Leben gefegt worden.

»Was machen wir jetzt, jefe?«, fragte Negrito und hockte sich neben Krill. Er hatte seinen fettigen Lederhut weit nach hinten geschoben, und seine Haare quollen wie Flammen darunter hervor.

Weil Negrito ein Mischling war und ein korrumpiertes Englisch sprach, fühlte er sich Krill auf besondere Weise verbunden. Krill jedoch konnte Negrito nicht ausstehen und traute ihm nicht über den Weg. Das Gesicht seines Gefährten erschien ihm wie das eines orangefarbenen Pavians, der in einen Eimer Bleiche gefallen war.

Krill starrte weiter auf die Wüste hinaus und beobachtete, wie sich das Licht in den Wolken sammelte, obwohl die Sonne schon fast verschwunden war.

»Du glaubst doch nicht etwa die Märchen, die über La Magdalena erzählt werden, oder? Die Alte hat keine Macht, Mann«, sagte Negrito. »Weißt du nicht, was man über die putas von da drüben sagt? Die haben den Schlitz quer. Das ist der einzige Unterschied.«

Krill verzog keine Miene, als wären Negritos Worte nichts weiter als vom Wind verwehtes Konfetti. Aus dem Augenwinkel sah Krill, wie sich sein Gefährte gefährlich weit über den Abgrund lehnte und auf diese Weise versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erlangen.

»Warum ist der Typ eigentlich so wichtig?«, fragte Negrito. »Hat der etwa irgendwo einen Haufen Gras gebunkert, oder was?«

»Siehst du das da unten?«, sagte Krill. »Das ist die Höhle eines Kojoten. Und da, im Flussbett, das sind Spuren von einem Puma. Um nur eins seiner Jungen ernähren zu können, muss der Puma mindestens fünfzig Hirschkälber erlegen. Das Problem ist bloß, dass es hier keine fünfzig Hirschkälber gibt. Deshalb werden die Jungen des Kojoten dran glauben müssen.«

Negritos Blick wanderte zwischen der Höhle und den Spuren hin und her, aber er schien keinen rechten Sinn in Krills Bemerkung erkennen zu können. Im schwindenden Licht der untergehenden Sonne leuchtete sein Gesicht so rot wie das eines Trinkers. Seine hervorstehende Stirn hatte tiefe Furchen, und sein Mund war von abstehenden Barthaaren gesäumt. »Ich krieg es aus ihr raus«, sagte er. »Ein Wort von dir, jefe, und ich nehm sie mir vor. Die Alte wird sich Knieschoner wünschen.«

Krill starrte Negrito ins Gesicht. »Ich bin nicht dein jefe. Ich bin von niemandem der Boss, verstehst du? Du kannst mir folgen oder es bleiben lassen.«

Negrito wandte den Blick ab und rieb sich mit einer Hand über die andere, was sich aufgrund der Hornhaut an seinen Handinnenflächen so anhörte, als würde er zwei Lagen Schmirgelpapier übereinanderreiben. Er wippte auf seinen Absätzen vor und zurück, die Spitzen seiner Cowboystiefel nur wenige Zentimeter vor dem Abgrund. »Du brauchst eine Frau. So lange allein hier draußen, das ist nicht normal. Wir alle brauchen eine Frau. Vielleicht sollten wir für ’ne Weile nach Durango zurückgehen.«

Krill stand auf und sah die anderen Männer an. Sie hatten Hasen gejagt, die Beute gehäutet und auf Stöcken aufgespießt. Jetzt brieten sie das Fleisch über einer kreisförmigen, mit Steinen befestigten Feuerstelle. Er nahm sein Gewehr, legte es sich über die Schultern und hängte seine Arme über die beiden Enden, sodass seine Silhouette wie die eines Gekreuzigten aussah. »Morgen früh«, sagte er.

»Wir hauen hier ab? Morgen früh?«, fragte Negrito. »Nach Durango oder was?«

»Du hast mich verstanden, hombre.«

»Wo gehst du jetzt hin?«

»Du wirst einen Schuss hören. Der ist für den Puma. Wenn du mehr als einen Schuss hörst, heißt das, ich bin ein paar angepissten Gringos begegnet.«

»Du meinst, die sind noch sauer wegen dem, was wir mit diesem Bullen gemacht haben?«

»Er hat für die Drogenbehörde gearbeitet.«

»Oh Mann! Warum hast du uns das nicht gesagt?«

»Willst du dir immer noch La Magdalena vornehmen?«

Negritos Augen glichen ein paar Glasmurmeln, die ihm irgendjemand voller Gleichgültigkeit in den Schädel gedrückt hatte. Sie ließen keinerlei Emotionen erkennen. Mit leerem Blick starrte er in die Wüste hinaus. Als ein Schwarm Fledermäuse aus einer Höhle weiter unten in die Nacht hinausflog, zuckten seine Augenlider kurz. Dann rieb er sich die Stirn und schirmte seine Augen mit dem Handballen ab. Er schien über seine Optionen nachzugrübeln, wollte es sich aber nicht anmerken lassen.

»Du grübelst zu viel, Negrito«, sagte Krill. »Wenn ein Mann zu viel grübelt, ist er versucht, über seine Grenzen hinauszugehen.«

Negrito stand auf und nahm seinen Hut ab. »Schau mal!« Er warf den Hut in die Luft, duckte sich und fing ihn mit dem Kopf wieder auf. Ein affiges Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Als er bei seinem Kunststück ins Taumeln geriet, musste er die Arme ausstrecken, um das Gleichgewicht zu halten. »Chingado!«, rief er, während sich unter seinen Stiefeln ein paar kleine Felsbrocken lösten und über den Rand in den Abgrund stürzten. »Jetzt hab ich aber einen ganz schönen Schreck bekommen. Aber keine Sorge, jefe, ich steh immer hinter dir. So ein paar angepisste Gringos sind mir genauso schnuppe wie diese chinesische puta, die glaubt, dass ihre Scheiße nicht stinkt. Du bist mein jefe, ob’s dir passt oder nicht. Ich liebe dich, hermano.«

Das Alter, davon war Hackberry Holland mittlerweile überzeugt, war eine Welt, die man jungen Menschen nicht zu erklären brauchte. Zum einen hatten diese ihre eigenen Vorstellungen darüber, zum anderen glaubte er, dass die Lektionen, die einen das Leben lehrte, sehr persönlich und für andere Menschen nur von geringem Interesse waren. Wenn die Jahre etwas Gutes mit sich brachten, dann wusste er nicht, was das sein sollte. Er zumindest hatte weder Weisheit noch Ruhe im Alter gefunden. Auch sein Verlangen war unvermindert. Wie in seiner Jugend glühte die Lust noch immer jeden Morgen heiß in der Asche der vergangenen Nacht. Mit einer gewissen Zufriedenheit konnte er behaupten, dass er sich mittlerweile weder mit Idioten abgab noch Menschen in seinem Umfeld duldete, die seine Zeit verschwendeten. Davon abgesehen wurden seine Tage und Nächte immer noch von den Werten und Grundsätzen definiert, die er bei seiner Geburt mit auf den Weg bekommen hatte. Wenn das Alter ihn verändert hatte, dann nur dahingehend, dass er nun akzeptierte, dass Einsamkeit und ein beständiges Gefühl von Verlust für manche Menschen zeitlebens die einzigen Begleiter sein würden.

Die über allem thronende Erfahrung in Hackberrys Leben war seine Ehe mit Rie Velasquez gewesen, einer Gewerkschafterin der United Farm Workers of America. Nachdem sie an Gebärmutterkrebs gestorben war, hatte Hackberry seine Ranch am Guadalupe River verkauft und war runter an die Grenze gezogen. Damals ließ er nicht nur die Erinnerungen an die Idylle des gemeinsamen Lebens zurück, sondern auch all die Dinge, die seine Frau jemals berührt hatte, um der bodenlosen Einsamkeit nach Ries Tod zu entfliehen, die er nur allzu gern im Alkohol ertränkt hätte. An der Grenze im Süden hatte er sich der Trostlosigkeit dieses ausgedörrten Fleckchens Erde ergeben, war in den prähistorischen Landschaftsformationen und den gewaltigen Sonnenuntergängen versunken, so wie es ein Beduine tut, der in die Leere der Wüste marschiert, dort von ihr erfasst und auf ein bedeutungsloses Nichts reduziert wird. Stück für Stück hatte sich die am neuen Wohnort erworbene Pferdefarm in ein Hologramm verwandelt, einen Ort, an dem Gestern und Heute verschmolzen und sowohl seine Kindheits- und Jugendtage als auch sein Leben mit Rie und den Zwillingen in einer einzigen glänzenden und zeitlosen Vision wiederbelebt wurden. Es war ein Ort, an dem man seinen Anfang und sein Ende sehen konnte, eine von Vernunft, Verantwortung und dem Zyklus der Jahreszeiten beherrschte Insel. Ein Ort, an dem ein Mann den Tod nicht mehr zu fürchten brauchte.

Auf Hackberrys Grundstück gab es zwei Brunnen mit sauberem Wasser, eine Scheune mit vier Pferdeboxen und zwei eingezäunte Weiden, auf denen er seine Quarter Horses und seine reinrassigen Missouri Foxtrotter weidete. Außerdem war er der inoffizielle Besitzer von drei Hunden, einer einäugigen Katze und zwei Waschbären, die alle keinen Namen hatten, aber dennoch jeden Morgen und jeden Abend vor der Scheune gefüttert wurden.

Sein Haus war in einem Grau gestrichen, wie man es von Kriegsschiffen kennt, hatte vorne eine breite Galerie und hinten eine mit Fliegengitter abgeschirmte Veranda. Darüber hinaus gab es einen Steingarten und einen tiefgrünen Rasen, den er über Tropfschläuche bewässerte, sowie Blumenbeete voller Rosen, mit denen er jeden Sommer am Wettbewerb auf dem County-Jahrmarkt teilnahm. Im Hof wuchs ein chinesischer Holunder, und am Fuß des Hügels im hinteren Teil seines Gartens stand eine schlanke Palme. Neben der Scheune hatte er ein Hühnerhaus gebaut. Seine Hennen legten überall auf dem Gelände ihre Eier, sogar unter dem Traktor und in der Sattelkammer. An seinen Pferdetränken hatte er kleine Leitern aus Kaninchendraht angebracht, die über die Kante des Beckens ins Wasser ragten, damit kleinere Tiere, die in die Tränke gefallen waren, wieder aus eigener Kraft herausklettern konnten. Auf die eine oder andere Weise war jeder Tag, den er auf seiner Ranch verbrachte, Teil eines anhaltenden Segens.

In seinem Büro standen zwei Waffenkoffer mit einem Henry-Repetiergewehr, einer 1873 Winchester, einem .45–70 Springfield-Trapdoor-Hinterlader, wie ihn die Siebte Kavallerie bei der Schlacht am Little Big Horn eingesetzt hatte, einer Springfield M1903, einer deutschen Luger, einer Neun-Millimeter-Beretta, einem Ruger Buntline .22 Magnum und dem modifizierten Navy Colt Kaliber .44, den sein Großvater, Old Hack, an dem Morgen getragen hatte, als er John Wesley Hardin aus dem Sattel fegte, ihn bewusstlos schlug und dann an einem Pferdewagen festkettete, um ihn ins Cuero-Gefängnis zu bringen.

Hackberry liebte den Ort, an dem er lebte. Und er liebte es, im weichen Morgenlicht aufzuwachen und, wie schon sein Großvater vor ihm, noch vor dem Frühstück die Tiere zu füttern. Er liebte den Duft der Rosen in der Kühle des Sonnenaufgangs und den Geruch des Wassers, das aus dem Brunnenrohr in die Pferdetränke schoss, wenn er die Kette am Windrad löste. Er liebte den warmen Geruch des Grases im Atem seiner Pferde, den leicht sauren Duft ihrer Decken und die pulverige grüne Staubwolke, die um ihn herum aufstieg, wenn er einen Heuballen öffnete und ihn auf dem Betonboden vor den Boxen verteilte.

All diese Dinge gehörten zu dem Texas, in dem er aufgewachsen war. Sie waren rein und unbefleckt von den politischen Scharlatanen, den gierigen Großkonzernen und den unter der Fahne Gottes geführten neokolonialen Kriegen.

Von den Signalhörnern, die er draußen in den Hügeln hörte, erzählte er allerdings niemandem. Nicht etwa aus Angst, die Leute könnten denken, er leide unter Halluzinationen. Sondern weil er der Überzeugung war, dass die Hörner echt waren, dass seit den Zeiten von Hernán Cortés ein kriegerischer und wilder Geist diesen Landstrich beherrschte und der Sonnenuntergang an einem schönen Ort wie diesem nicht aus Zufall wie das elektrisierte Blut Christi aussah.

Am Morgen nach dem Tag, an dem er zusammen mit Pam Tibbs die Frau besucht hatte, die unter den Mexikanern als La Magdalena bekannt war, sah Hackberry mit einem Blick aus dem Badezimmerfenster, dass er Besuch bekam. Es war Ethan Riser. Der FBI-Agent parkte seinen Dienstwagen am Eingangstor des Grundstücks und kam mit zwei Styroporbehältern in den Händen den Steinplattenweg zur Vordertür des Hauses hinaufgelaufen. An den Beeten hielt er kurz inne, um die Blumen zu bewundern. Hackberry wusch sich den Rasierschaum aus dem Gesicht und trat auf die Veranda hinaus. »Was auch immer Sie zu mir führt, kann doch ganz gewiss bis um acht Uhr warten, oder?«, sagte er.

»Schon möglich. Vielleicht sollte ich einfach an einem anderen Tag wiederkommen, wenn Sie nicht mit so wichtigen Dingen wie Rasieren beschäftigt sind«, erwiderte Riser.

»Ich muss jetzt erst mal meine Tiere füttern.«

»In Ordnung. Ich helfe Ihnen.«