Graceland – Die Geschichte eines Sommers - Kristen Mei Chase - E-Book

Graceland – Die Geschichte eines Sommers E-Book

Kristen Mei Chase

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Beschreibung

Eine temporeiche Mutter-Tochter-Geschichte voll Humor und Lebensfreude Tausend Meilen sind es bis Graceland. Und es ist Loralynns großer Traum, einmal im Leben das Elvis-Anwesen zu besuchen. Deshalb hat Grace sich überreden lassen, ihrer Mutter Loralynn den Wunsch zu erfüllen. Der Zeitpunkt ist günstig, sie kann Ablenkung gerade gut gebrauchen. Auf dem Weg von El Paso nach Memphis ziehen sie eine Spur aus Pailletten, falschen Wimpern und schwierigen Erinnerungen. Doch zwischen spontanen Zwischenstopps bei Hellsehern, bei alten Freunden, in Karaokebars, zwischen Perückenpannen und vertrauten passiv-aggressiven Sprüchen beginnen beide Frauen, einander besser zu verstehen. Als sich neue Chancen für sie auftun, scheint der King auf mysteriöse Weise auf sie beide zu wirken. Nach all den Jahren ist es für Grace und ihre Mutter möglich, die Verletzungen der Vergangenheit zu heilen und mit Humor im Jetzt zu sein.

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Seitenzahl: 361

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Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel A Thousand Miles to Graceland bei Forever, an imprint of Grand Central Publishing, New York.

© 2023 by Kristen Mei Chase

Deutsche Erstausgabe

© 2024 by HarperCollins

in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Published by arrangement with Grand Central Publishing, New York, New York, USA

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Covergestaltung von zero-media.net, München

Coverabbildung von stocksy / Shaun Robinson

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749906772

www.harpercollins.de

Widmung

Für meine Mom Audrey. Du weißt es vielleicht nicht, aber du bist immer in meinen Gedanken.

Kapitel eins

»Wie schaffst du es, dass dein Eyeliner so gut hält?« Jane Choi, unsere Sommerpraktikantin aus Syracuse, spähte zur Tür herein, von der ich dachte, ich hätte sie richtig geschlossen. Sie deutete auf ihre Augenlider. »Meiner sieht immer scheiße aus.« Sie flüsterte »scheiße«, als wäre ich ihre Mutter, und das war sicher Absicht: Ich sollte mich alt fühlen. »Dieser Teil, der hier drinnen. Wie machst du …« Sie zeigte auf den inneren Augenwinkel.

»Der Epikanthus«, fiel ich ihr ins Wort und tippte weiter. Jane fragte dauernd, welchen Conditioner ich benutzte oder wo ich den Pulli gekauft hatte, und immer ging es schnell über in ein Tratschen über Soundso, der oder die das und das machte. Meine neue Taktik war, mich beschäftigt zu geben.

»Oh mein Gott, das hat einen offiziellen Namen? Du weißt aber auch alles, Grace!« Sie grinste breit, zuckte mit den Schultern und huschte zurück zu ihrer Arbeitsnische.

Ich saß an meinem Laptop und studierte die Quartalszahlen eines Mandanten, umgeben von gerahmten Abschlussurkunden und einem Foto von mir mit Mama bei meinem Highschool-Abschluss vor fünfundzwanzig Jahren, dessen Anblick mich seltsam verlegen machte. Es war mein einziges Bild von ihr, auf dem sie halbwegs normal aussah; keine billige Perücke, keine strassbestickte Schlaghose zu Plateauschuhen – ein Aufzug, mit dem sie auf allen anderen Fotos wie ein Vegas-Showgirl rüberkam. Ich hatte sie angefleht, sich wie die anderen Moms anzuziehen, also hatte sie sich für einen »Priscilla Presley in Trauer«-Look entschieden und kleidete sich von Kopf bis Fuß in Schwarz. Sie sah aus, als würde sie einer Beerdigung beiwohnen statt meiner Zeugnisverleihung, aber das war mir egal, es war das schickste Outfit, in dem ich sie je gesehen hatte. Das Bild hätte gut in eine Sammlung mit dem Titel »Peinliche Familienfotos« gepasst, so steif, wie wir posierten, und mit der Wand voller Elvis-Keramikfiguren hinter uns. Sie weiß genau, wann sie welche der Figuren bekommen hat, und hat sie chronologisch nach Elvis’ Karriere angeordnet. Und jedes Mal, wenn jemand den Fehler begeht, nach einem der Dinger zu fragen, erzählt sie die ganze Geschichte dazu: Wo sie gewesen war, wer es ihr verkauft und wie viel sie dafür bezahlt hatte.

Es war lange her, dass ich das Foto etwas genauer betrachtet hatte, so lange, dass ich mich kaum noch an unsere Gesichter erinnern konnte. Ich grinste etwas verkrampft, als hielte mir jemand eine Waffe an die Schläfe und würde mir befehlen zu lächeln. Und Mamas Gesichtsausdruck war der einer Frau, die sich gleich von ihrer besten Freundin verabschieden muss.

Ende September ist in einer Steuerberaterkanzlei genau wie April, nur dass eine besondere Dringlichkeit in der Luft liegt, weil sich die Fristverlängerungen nun endgültig nicht weiter ausdehnen lassen. Die meisten Mitarbeiter bei Whit, Warner, and Hodges, PC, drängelten sich Ende April vor dem Ausgang, um fluchtartig das Gebäude zu verlassen und bis zum Herbst nicht wieder aufzutauchen. Sie ließen Stapel von Steuerformularen auf ihren Schreibtischen oder den Fußböden zurück, als stünde die Firma unter Beschuss. Alle mit Ausnahme von mir und ein paar anderen Idioten, die wir die Außenwelt mieden, indem wir den Sommer über unter dem Vorwand arbeiteten, wir wollten »vorankommen«.

Ich hatte mich seinerzeit für »Accounting«, also Buchhaltung, entschieden, einzig und allein weil es ganz oben auf der Liste der angebotenen College-Abschlüsse gestanden hatte, und fand es furchtbar peinlich, wenn Mama damit angab, dass ihre Tochter Wirtschaftsprüferin wurde; schließlich wusste sie genau, wie es zu dieser Wahl gekommen war. Für mich war die Hauptsache gewesen, von zu Hause wegzukommen.

Am Anfang dachte ich angesichts der vielen Zahlen noch, ich hätte die Liste vielleicht doch weiter durchsehen sollen, Anthropologie oder Archäologie wählen, irgendwas, bei dem Matheprobleme nicht den Mittelpunkt meines Universums bildeten. Doch ich lernte, das Berechenbare zu lieben, und im dritten Collegejahr konnte ich mir schon nicht mehr vorstellen, etwas anderes zu machen.

Mama beschreibt Steuerprüfung wie einen exotischen Job, der anderen gänzlich unbekannt ist. »Und sie nimmt diese Formulare und diese ganzen Kalkulationen und TADA!« Das TADA singt sie, als stünde sie bei der jährlichen Fort Bliss Talent Show auf der Bühne.

»Mama, so aufregend ist das wirklich nicht«, unterbreche ich sie dann. Und sie winkt jedes Mal lächelnd ab und verdreht die Augen in Richtung desjenigen, der lange genug ausgeharrt hat, um ihre Darbietung zu ertragen.

Was ich nie jemandem verraten habe, ist, dass man in meinem Beruf kein Mathegenie sein muss. Man sollte allerdings Stabilität und Einsamkeit mögen.

Irgendwann jedoch wurde das Alltägliche banal. Oder vielleicht fiel es mir nur stärker auf. Der Sonntagshorror packte mich – dieses Gefühl von Verdammnis, weil das Wochenende bald vorbei ist und man wieder ins Büro muss. Und schließlich stellte er sich jeden Abend ein, vor dem Schlafengehen, verlässlich wie ein Uhrwerk. Normalerweise konnte ich mich mit der Aussicht auf einen Starbucks-Latte auf dem Weg zur Arbeit motivieren. Und an extraschwierigen Tagen mit noch einem auf dem Heimweg.

Doch die Abwärtsspirale der Langeweile verlangte mittlerweile nach mehr als nur schickem Kaffee. Ich ertappte mich dabei, wie ich die Beträge aus dem aufregenden Leben meiner Mandanten nachrechnete – Flugtickets, Hotels, »Büromöbel« – was ein Code für »Ich habe mir eben eine Supercouch für die Veranda meines neuen Strandhauses gekauft« war –, während mein Lebensziel einzig darin bestand, bei E-Mails auf »Senden« zu klicken. Der Kontrast zwischen ihrem und meinem Dasein war krass, und ich überlegte immer häufiger, was ich denn eigentlich falsch gemacht hatte – das Patentrezept für Depressionen, vor allem in einem Job wie meinem.

Mein Handy summte. »Bis nachher bei der Therapie!!! – Jeff.« Er unterschrieb seine Textnachrichten stets mit Namen, als käme ich sonst nie darauf, wer sich dreiausrufezeichenstark auf die Paartherapie freute.

Ich machte zwar schon seit Jahren allein eine Therapie, dieses ganze Paarding war mir allerdings völlig neu und so gar nichts für mich. Aber die Distanz zwischen uns war zu groß geworden, sogar für Jeff mit seinem blöden Optimismus, sodass er eine Beratung vorgeschlagen hatte. Und ich hatte zugestimmt, obwohl ich ahnte, dass sich nichts reparieren ließ, was immer schon ein bisschen kaputt gewesen war.

Als ich Jeff kennenlernte, arbeitete er in dem Chili’s in der Nähe meines Büros. Meine Freundin und ich wollten nach einem langen Tag mit eiligen Steuererklärungen etwas trinken – und das möglichst verschont von den abgedroschenen Aufreißsprüchen irgendwelcher Anzugträger, die zu diesem Anlass ihre Krawatte gelockert und den obersten Hemdknopf geöffnet hatten. An jenem Abend brachte uns die Kellnerin immer wieder Drinks, die wir nicht bestellt hatten, und als wir sie schließlich darauf ansprachen, verriet sie uns, sie kämen vom Manager. Sie zeigte zu einem süßen Typen, ungefähr Ende zwanzig, der mit stark nach hinten gegeltem schwarzem Haar und einem sehr ausgeprägten Bartschatten bei der Empfangsdame stand. Er trug eine gebügelte Baumwollhose und ein Polohemd, das ein bisschen zu eng um den Bauch war und aus dem oben Brusthaar herauslugte, was nicht nach Absicht aussah. Und ich erinnere mich noch, dass ich dachte, wenn seine Brust so behaart ist, wie mag der Rest von ihm erst sein? Aber sein strahlendes Lächeln lenkte mich genauso ab wie der riesige Eisbecher, den er zu unserem Tisch brachte und vor mich stellte.

»Danke, aber … ich bin allergisch gegen Milchprodukte«, sagte ich mit einem idiotischen Grinsen. Er war sichtlich enttäuscht.

»Mein aufrichtiges Beileid«, antwortete er, als kondolierte er bei einer Beerdigung, und ich musste kichern. Dann eilte er in die Küche und brachte mir jedes andere Dessert auf der Karte, in dem keine Milch war, bis er schließlich lange genug an unserem Tisch blieb, um freundlich und nicht schräg zu wirken. Er fragte mich, was ich beruflich machte und warum ich Gin Tonics in einem Chili’s trank. Zwischendurch begrüßte er Gäste und führte sie mit für eine Campus-Bistrokette übertrieben ausschweifenden Gesten zu ihren Tischen. Er führte sich auf wie der Chef eines Sternerestaurants und vermittelte so allen das Gefühl, sie würden in einem speisen, was ich ziemlich charmant fand.

Und als er mich um meine Nummer bat, dachte ich mir, warum nicht? Ebenso als er mich bat, mit ihm auszugehen.

Beim ersten Date lud er mich in dieses winzige italienische Restaurant mitten im Einkaufszentrum ein, und ich sorgte mich ein wenig um meinen armen, sehr empfindlichen Magen. Doch er versicherte mir, es gebe dort die beste Pasta in ganz Boston, und das war nicht gelogen. Sämtliche Mitarbeiter begrüßten erst ihn, dann mich mit Umarmungen und Wangenküssen, gefolgt von einem regelrechten Tsunami fantastischsten Essens und danach einem Sorbet, das eigens für mich zubereitet war. Ich fühlte mich auf eine bislang nicht gekannte Weise besonders, was nicht weiter verwunderlich war. Mit meinem letzten Freund hatte jede Verabredung in einer Bar mit seinen Kumpels geendet, wo alle vor einem der großen Fernseher standen und sich das Spiel des Abends anschauten.

Mein Herz endgültig gewonnen hatte Jeff, als wir zu seinem Wagen zurückkehrten und eine dicke Beule an der Stoßstange entdeckten. Er zuckte bloß mit den Schultern, tat sie mit einem »verfluchte Bostoner Autofahrer« ab. Kein Gebrüll. Nicht mal ein wütendes Gemurmel, was bewirkte, dass ich mich entspannt und wohl fühlte. Was ihm an Filmstaroptik fehlte, machte er mit seiner Aufmerksamkeit und seinem ausgeglichenen Wesen wett, die anfangs liebenswert und verlässlich auf mich wirkten.

Doch mit der Zeit wurde seine Aufmerksamkeit zu einer Pflichtübung, und seine permanent gute Laune ließ den Gedanken in mir reifen, mit mir stimme etwas nicht, einfach weil ich Gefühle hatte. Sprach ich zum Beispiel einen unangenehmen Teil meines Tages an, wie das superwichtige, aber furchtbar gelaufene Geschäftsessen, das ich persönlich arrangiert hatte, kam er mir mit: »Könnte schlimmer sein.« Und nichts kann mit »den hungernden Kindern« mithalten, die er tatsächlich auch noch anführte, als wäre er meine Mama, die mich dazu bringen wollte, eines der scheußlichen Machwerke zu essen, die sie als »Dinner« bezeichnete. Dabei wollte ich doch nichts weiter, als bloß ein paar Minuten über das halb rohe Hühnchen und das lange Haar im Salat meines Chefs schimpfen.

Die letzten Jahre lebten wir wie eine WG, nicht mehr als Paar oder wenigstens wie Freunde. Zwei Menschen, die einander nach Feierabend begegneten, er auf dem Weg ins Fitnesscenter, ich auf dem ins Schlafzimmer, wo ich Serien schaute, mir zwischendurch etwas zu essen holte und die Katze fütterte. Die Ideen für gemeinsame Abende mussten von mir kommen, seit ich mich einmal über seine Wahl beklagt hatte (Axtwerfen, im Ernst?), also lief es normalerweise auf Essen und Drinks hinaus. Jedenfalls war das die Routine gewesen, bis er sein Fitnessprogramm intensivierte und anfing, all sein Essen immer abzuwiegen. Von da an saßen wir nur noch auf der Couch vor irgendwelchen obskuren ausländischen oder Indie-Filmen, die ihm die jungen Bedienungen im Restaurant empfohlen hatten. Dabei streichelte er mechanisch mein Bein, wie ein Roboter, der darauf programmiert war. Wir schliefen zwar im selben Bett, doch es fühlte sich an, als trennten uns Meilen. Das nächtliche Streifen von Armen oder Beinen war kein romantischer Auftakt mehr, sondern eher eine Erinnerung daran, dass einer von uns in den Raum des anderen eindrang.

Ich fing an, ihm zurückzuschreiben, entschied mich dann aber für die am wenigsten enthusiastische Antwort – ein Daumen hoch –, bevor ich mein Handy ausschaltete, um ein bisschen echte Arbeit zu erledigen. Doch anstatt die Steuererklärungen auf den Weg zu bringen, konnte ich nur Mamas Gesicht auf dem Foto anstarren.

Kapitel zwei

»Grace? Grace. Wenn du da bist, nimm ab …« Es folgte Stille, die die Verkehrsgeräusche und das Brummen meines Wagenmotors noch verstärkten. Mama versteht bis heute nicht den Unterschied zwischen einem Anrufbeantworter und einer Mailbox.

»Na, okay. Ich wollte nur etwas mit dir besprechen. Ich weiß, dass du immer viel zu tun hast …« Plötzlich fühlte ich mich mies, weil ich das ständig zu ihr sagte. Doch es war noch die netteste Art, sie abzuwimmeln, ohne in Schuldgefühlen zu ertrinken.

»Aber kannst du mich bitte zurückrufen. Das wäre super. Danke.« Wieder machte sie eine Pause, ehe sie in einem anderen, weniger freundlichen Ton ergänzte: »Oh, hier ist deine Mama.« Sie betonte die Ms, womit sie immer ihre Enttäuschung darüber ausdrückt, dass wir länger nicht miteinander gesprochen haben. Wenigstens glaubte ich das herauszuhören. Ich hatte sie schon mal darauf angesprochen, doch sie meinte bloß, ich würde mir das einbilden. »Du bist schon immer so sensibel gewesen, Grace!«, sagte sie, als wäre das etwas Schlechtes. Der Grund für unsere strikte Ein-Telefonat-pro-Monat-Regel lag schlicht darin, dass ich die vollen neunundzwanzig Tage dazwischen brauchte, um mich zu wappnen.

Ich hatte versucht, ihr zu erklären, sie würde häufiger von mir hören, wenn sie mir einfach Textnachrichten schickte, aber sie weigert sich, ihr Klapphandy aufzugeben, auf dem das Verfassen von Texten schwieriger ist, als eine quadratische Gleichung zu lösen.

»Wenn du mich besuchen kommst, kannst du mit mir in den Laden gehen und mir ein neues Handy besorgen, mit dem ich dir schreiben kann. Alle meine Freundinnen haben diese kleinen Smileys. Die will ich auch.«

»Emojis, Mama. Die heißen Emojis.« Dass sie einen Namen hatten, verblüffte sie. Und danach kam sie sich jedes Mal klasse vor, wenn sie sich an das Wort erinnerte.

Ich hielt an einer roten Ampel. »Siri, ruf Mama an.« Es kam selten vor, dass sie mich außerhalb unserer monatlichen Gesprächstermine anrief, deshalb befürchtete ich, es zu bereuen, sollte ich die zwanzig Minuten Fahrt nicht nutzen, um mit ihr zu reden.

»Hallo?!« Sie hob ihre quäkende Stimme auf der zweiten Silbe, als überraschte sie mein Anruf. Ich zog es vor zu glauben, dass sie immer noch unsicher im Umgang mit Handys war und misstrauisch, wer wohl am anderen Ende sein könnte, wenn sie abnahm.

»Mama, ich bin’s, Grace. Ich habe deine Nachricht gehört. Dir ist klar, dass dich keiner sonst hören kann, oder? Es ist eine Mailbox.«

»Du weißt doch, dass ich mit diesen Dingern nicht gut zurechtkomme.« Mamas Akzent ließ mich immer noch zusammenzucken, und das, obwohl ich sie gar nicht anders kannte. Nach Jahren im Norden fühlte sich der Klang wie einer dieser kleinen Stromschläge an, die man bekommt, wenn man in Schuhen über einen Teppich geht und dann eine Metalltürklinke anfasst.

Während meiner gesamten Collegezeit hatte ich daran gearbeitet, meinen Südstaatenakzent loszuwerden, hatte mir Hilfe gesucht bei einem Stimmcoach, dem ich im Tausch gegen die Stunden die Steuererklärungen machte. Als Mama zu meinem Abschluss nach Boston kam, schauten die Leute, sobald sie den Mund aufmachte, erst sie, dann mich, danach wieder sie und noch einmal mich an, als würden sie ein Tennisspiel verfolgen. Vermutlich hört man nicht so oft eine Chinesin mit diesem Akzent, geschweige denn eine, die aussieht, als sei sie eben von der Bühne des Grand Ole Opry gezerrt worden.

»Okay, ich mein ja nur, weil ich es dir immer wieder sage. Aber egal. Was gibt’s? Ist alles in Ordnung?«

»Oh, bestens, Liebes, aber ich habe ja bald Geburtstag, und ich möchte ihn dieses Jahr ordentlich feiern. Immerhin ist es die große Sieben-Null!«

Ich ahnte, was nun kommen würde, und versuchte, gleich zu relativieren, damit es weniger schmerzlich würde. »Mama, ich weiß, dass ich versprochen habe zu kommen, aber die Fristverlängerungen in diesem Jahr …« Ich beendete den Satz nicht, weil er kompletter Blödsinn war. Bis Mitte Oktober hatte ich noch reichlich Zeit, alle Erklärungen fertig zu bekommen.

»Ach was, ich will keinen Besuch. Ich werden SIEB-ZIG. Da will ich was Größeres, Grace.«

Mir wollte nichts einfallen, das größer war als ein Besuch von mir; nicht etwa, weil ich mich für so besonders oder wichtig hielt, sondern weil es mit Mama seit Jahren immer dasselbe war. Man bekam sie auch mit noch so viel Xanax in keinen Flieger, und der graue Star in ihrem linken Auge machte viele Unternehmungen anstrengender für sie, wenn es nicht gerade taghell war.

»Ich fahre weg … nach Graceland!« Dieser Ansage folgte ein gekünsteltes »Woohoo!« Dann Stille, als läse sie von einem Drehbuch ab und gäbe mir Zeit für meinen Einsatz.

Auf einmal wünschte ich, ich hätte mit dem Rückruf gewartet, bis ich mit einem Glas Wein in der Hand auf meiner Couch saß.

»War eine Fahrt nach Graceland nicht genug?« Hatte sie nicht erst vor wenigen Jahren mit den Freunden aus ihrem Rentnerdorf eine Bustour dorthin gemacht? Schon damals hatte mich erstaunt, dass sie so lange damit gewartet hatte. Doch ihre Furcht vor allem, was Flügel besaß – Vögel und Flugzeuge – zwang sie, einen Bus oder den Wagen zu nehmen, und Mama konnte an bewölkten Tagen kaum zum Supermarkt fahren. Tausend Meilen nach Memphis standen nicht zur Debatte.

»Hatte ich dir nicht erzählt, dass aus der Bustour nichts geworden ist? Sally Rogers ist direkt vorher gestorben, und da habe ich es nicht mehr übers Herz gebracht mitzufahren.«

Stimmt. »Schlechter Juju«, erinnerte ich mich, ein bisschen erleichtert, dass ich nicht völlig irre war.

»Sehr schlechter Juju.«

Wahrscheinlich hatte Mama so viel über die Reise geredet, dass es sich anfühlte, als wäre sie mit gewesen. Und dass ich bei Telefonaten mit ihr immer an all die Dinge dachte, die ich zu tun hatte, bis ihre Worte zu einem Hintergrundrauschen wurden, war auch nicht hilfreich. Plötzlich stellte ich alles Mögliche infrage, von dem ich dachte, sie hätte es gemacht. Oder nicht gemacht. Aber da die Therapeutenpraxis gleich um die Ecke war, stoppte ich solche Gedanken lieber, bevor ich mich noch kopfüber in eine Senkgrube von Erinnerungen und Schuld stürzte.

»Trotzdem ist es keine Option, dass du den weiten Weg allein fährst, Mama. Hör zu, ich bin gleich bei meinem Meeting …« Lügnerin. Sie unterbrach mich.

»Ich fahre nicht alleine …«

Rasch ging ich im Geiste die Bekannten von ihr durch, die sie fahren könnten, aber zu den Namen, die mir in den Sinn kamen, fiel mir nur tot oder senil ein.

»… ich möchte, dass du mich fährst! Überleg mal, wie spaßig das wird. Nur wir zwei Damen, das Haar weht im Wind, und die Sonne scheint uns ins Gesicht.«

Es klang, als würde sie einen Film beschreiben.

»… wie Thelma und Louise.«

Und da war er. »Mama, Thelma und Louise wurden kriminell und haben sich das Leben genommen.«

»Oh Gott, du bist so dramatisch, Grace. Das habe ich doch gar nicht gemeint.«

Mama warf mir immer vor, dramatisch zu sein, sobald meine Fakten mit ihrer Fantasiewelt kollidierten. So wie damals, als sie überzeugt war, sie käme irgendwie an eine Einladung zu Lisa Maries und Michael Jacksons Hochzeit.

»Und wie genau soll das gehen? Mama, ich würde ja gern, wenn ich könnte.« Lügnerin! »Aber dieser blöde Job. Und Jeff. Und …«

»Gracie! Ich habe alles schon durchgeplant. Du musst nichts weiter tun als fahren. Und einige Tage Urlaub nehmen. Sicher wird Jeff das verstehen.«

Wahrscheinlich wäre er froh, ein bisschen Luft zu haben. Aber das behielt ich natürlich für mich.

Ich bog in eine Parklücke direkt vor der Praxis. Anscheinend war es mein Glücksabend. »Einige? Okay, jetzt muss ich wirklich Schluss machen. Ich denke drüber nach, versprochen.«

Was nicht gelogen war. Ich würde wirklich darüber nachdenken, wie auch über all die Male, die wir mehr als ein paar Stunden im selben Raum verbracht hatten. Dann würde ich mir endlose Tage gemeinsam im Auto eingepfercht ausmalen und einen Vorwand erfinden, um aus der Nummer rauszukommen. Unsere Zusammentreffen waren ein verlässlicher Fortgeschrittenenkurs in Schuldzuweisungen, und sie war die Gastdozentin. Es kam mir jedes Mal so vor, als müsste ich ihr all meine Entscheidungen im Leben plausibel erklären, einer Person, die eher nicht dafür bekannt war, selbst gute zu treffen. Der Fairness halber muss ich allerdings zugeben, dass ich nie geglaubt habe, sie würde mir absichtlich das Gefühl vermitteln, eine Versagerin zu sein. Doch das spielt eigentlich keine Rolle, wenn die eigene Mutter über einen urteilt.

Also hatte ich längst Vermeidung als Strategie erster Wahl verinnerlicht. Und auch wenn ich dem großen, vermutlich grell neonfarbenen Elefanten im Raum nicht ewig aus dem Weg gehen konnte, war dies ganz gewiss nicht der geeignete Zeitpunkt, mich mit ihm zu befassen.

»Tja, überleg es dir, Grace. Es wird fantaaastisch.«

Ich legte auf, schaltete den Motor aus und fiel gegen die Rückenlehne, als hätte mich jemand gestoßen. Bis zur Sitzung waren es noch einige Minuten. Ich merkte, wie meine schwach pochenden Kopfschmerzen stärker wurden, deshalb schloss ich die Augen in der Hoffnung, sie so abwehren zu können, bevor ich zu Ibuprofen greifen musste.

»Grace! Hi, Grace!«, rief Jeff, der vor meinem Wagen auf dem Gehweg stand, mit einer Begeisterung, als wären wir im Begriff, eine Massage zu bekommen oder unsere Lieblingsband spielen zu sehen. Er war ständig munter, lächelte immerzu, sogar in den unangenehmsten Situationen, was es superleicht machte, ihn um sich zu haben. So jemanden hatte ich noch nicht erlebt, bis ich ihn kennenlernte. Und es war praktisch, wie damals, als er mir meinen neuen Subaru Outback zu einem Freundschaftspreis verschaffen konnte. Bei einem Subaru bekommt sonst keiner jemals einen Deal.

»Bereit?!«, fragte er und zeigte zum Gebäude. Widerwillig nickte ich, öffnete die Fahrertür und stieg aus.

»Ich schätze, ja«, murmelte ich vor mich hin und knallte die Autotür zu.

»Alles okay?«

»Bestens.« Ich rang mir ein Lächeln ab und ergriff seine ausgestreckte Hand. Sie war kalt und klamm, aber ich dachte mir nichts dabei.

Die aktuelle Empfangsdame rief Jeffs Namen, und er schoss von seinem Sitz hoch, als hätte er eine Sprungfeder unterm Hintern. Ich folgte ihm durch die Tür und einen langen Flur entlang, an dessen Wänden lauter Diplome und Urkunden hingen, die ich bis zu diesem Moment nie beachtet hatte.

Ich setzte mich an das eine Couchende, und anstatt näher zu mir, in die Mitte des edlen Ledersofas zu kommen, das uns beim Hinsetzen quasi verschluckte, wählte Jeff das andere Ende. Dann begann er, Dr. Wakefields ziemlich durchschnittliche blaue Krawatte zu bewundern, was zu einer recht bizarren, aber wenig überraschenden Unterhaltung über Krawattenaufbewahrung führte. Ich fing an, die Fransen an einem Kissen zu flechten, als Dr. Wakefield abrupt Jeffs todlangweilige Geschichte über einen Restaurantgast unterbrach, der ihm die Krawatte abkaufen wollte, die er trug.

»Jeff, ich möchte Sie nicht abwürgen …«

Wobei seine Miene sagte: »Hören Sie bitte sofort auf, sonst brauche ich eine Therapie.«

»… aber wollten Sie heute Abend nicht etwas mit Grace besprechen?«

Natürlich lächelte Jeff und stotterte wie ein alter Motor, dem das Benzin ausging. »Ähm, ja, gut, also, ähm, jo …«

Ich sah ihn an und hoffte, er würde uns alle erlösen.

»Ich … ich … habe jemanden kennengelernt.« Die letzten Worte murmelte er. »Und wir haben uns verliebt«, fügte er hinzu. Zugestochen. Messer umgedreht.

»Wie bitte?!« Mir kamen sofort die Tränen, und es war, als würde ich den Raum durch ein Goldfischglas sehen. Ich streckte eine Hand zu Dr. Wakefield aus und schwenkte sie leicht, was das universelle Zeichen für »geben Sie mir die verfluchten Taschentücher« sein dürfte. Allerdings hätte ich auch Boxhandschuhe genommen, wären die im Angebot gewesen.

»Grace, ich verstehe, dass es Sie trifft. Jeff fand, dass er es Ihnen am besten in einem sicheren, neutralen Umfeld erzählt. Ihm war wichtig, Ihnen gegenüber respektvoll zu sein.« Er stolperte über das Wort »respektvoll«, und ich fragte mich, ob sogar er dachte, dass dies hier besser hinter unseren eigenen verschlossenen Türen hätte stattfinden sollen.

»Am besten?« Mein Hals brannte vor Wut, meine Stimme klang gepresst und schroff. »Es mir bei uns zu Hause zu sagen, wo ich meine eigenen verdammten Taschentücher habe, wäre am besten gewesen, Arschloch.« Ich wischte mir erst die Augen, putzte mir dann die Nase, die inzwischen beschämend dicht war, während Jeff nur dasaß, auf den Boden starrte und an seinen Fingernägeln kaute. Respektvoll, von wegen!

»Respektvoll sein heißt, zu bedenken, wie es der anderen Person gehen könnte, nicht zu tun, was man für richtig hält, weil man es bei Intervention oder irgendeiner anderen blöden Show gesehen hat. Hast du daran mal gedacht?« Ich wandte mich zu Dr. Wakefield, der sich offenbar so wohlfühlte wie jemand, dem mit einem Bohraufsatz eine Blutprobe entnommen wurde. »Sollen Sie nicht unser Therapeut sein?«

»Nun ja, offiziell gilt die Therapie Ihrer Ehe …«, antwortete er zögernd, als könnte das Ausweichen auf ein abstraktes, gesetzliches Konstrukt meinen Zorn dämpfen. Sein Bedauern war fast greifbar, deshalb schleuderte ich es ihm in der Hoffnung zurück, dass es wie Möwendreck direkt auf seinem Kopf landete.

»Mein Mann erzählt mir, dass er mich betrügt, und Sie wollen es offiziell sehen? Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie genau wissen, was ich meine.« Dr. Wakefield wischte sich die Stirn, und ich malte mir aus, die Schweißperlen wären stinkende Vogelscheiße.

Wütend sah ich zu Jeff. »Warte mal, die ganze Zeit, die wir genug für Eheberatung bezahlt haben, um seinem Kind das College zu finanzieren, machst du das hier schon mit deinem Schwanz komplett sinnlos?«

Ich wollte damit wenigstens irgendeine Reaktion provozieren, doch er saß da und starrte an Dr. Wakefield vorbei zur Wand.

»Ich wusste nicht, wie ich es dir sonst sagen soll, Grace.« Sein Blick blieb wandfixiert, sein Ton ruhig wie immer.

»Tja, du konntest mich ganz allein bitten, dich zu heiraten. Wie kannst du etwas wegwerfen, das du so dringend wolltest?«

Jeff rührte sich nicht, aber ihm liefen Tränen über die Wangen. Der Therapeut reichte ihm eine Taschentuchpackung, doch er wischte sich das Gesicht mit den Händen ab.

»Oder du wolltest es vielleicht nie.«

Jetzt wandte er sich mir so abrupt zu, dass ich für einen Moment befürchtete, ihm könnte der Kopf wegfliegen. Noch nie hatte ich erlebt, dass er tatsächlich negative Gefühle zeigte. In der ganzen Zeit nicht, die wir zusammen waren. Er neigte sich zu mir, und ich hörte, dass sein Atem schwer ging, als er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorstieß: »Diese Frage solltest du dir selbst stellen.«

Ganz unrecht hatte er nicht, doch darauf würde ich jetzt nicht einsteigen. Nicht so.

Er erhob sich und machte einen Schritt in Richtung Tür. Ich sprang auf.

»Du kannst bleiben. Ich gehe.« Ich schritt an ihm vorbei und packte den Türknauf.

»Grace, mir ist überhaupt nicht wohl dabei, Sie so gehen zu lassen«, mischte sich Dr. Wakefield ein.

Ich drehte mich um. »Was ist mit mir? Hat einer von euch mal darüber nachgedacht, wie ich mich fühle?«

Nur Dr. Wakefield antwortete, während Jeff sich wieder auf die Couch setzte und das Gesicht in den Händen vergrub. »Sie haben recht, Grace. Wie Sie sich fühlen ist wichtig.«

»Heißt das, dass du tatsächlich etwas fühlst, Grace? Das also ist nötig dafür?« Jeff sah aus, als wäre er selbst erschrocken über seinen Ausbruch.

»Diese Frage hättest du dir selbst stellen sollen, Jeff.« Ich hielt es für absolut berechtigt, mit seinen eigenen Worten zurückzuschießen, stürmte aus dem Raum und knallte die Tür hinter mir zu. Den dramatischen Abgang bereute ich sofort. Und, ja, zu meiner eigenen Überraschung empfand ich endlich etwas – Schock, weil er den Mumm hatte, so etwas abzuziehen, und Erleichterung, weil ich nicht mehr Teil der Scharade sein musste.

Kapitel drei

Jeff und ich stritten selten wegen irgendwas, und wenn doch, entschuldigte er sich meist innerhalb von Minuten. Daher wusste ich, dass es ernst war, als er an dem Abend nicht nach Hause kam. An dem danach auch nicht. So lange hatte noch nie Funkstille zwischen uns geherrscht, doch ich hatte nicht vor, den ersten Schritt zu tun.

Mir war, als hätte ich trauriger sein sollen, weil ich meinen Ehemann an eine andere verloren hatte, oder wütender, dass es auf diese Weise zu Ende ging. Doch hauptsächlich spielte ich in Gedanken die letzten zehn Jahre in Endlosschleife durch und versuchte zu verstehen, wo es mit uns schiefgegangen war.

Auch wenn Jeff nicht im Haus war, als ich heimkam, blieb seine Anwesenheit dennoch spürbar, angefangen mit den Resten der sorgfältig abgemessenen Portion Hähnchenbrust mit Brokkoli im Kühlschrank, die ich wegwerfen und vergessen konnte, bis hin zu den grellen Farben unserer Einrichtung, die er ausgesucht hatte und die sich nicht so leicht ausradieren ließen.

In der nach Farben geordneten Hemdenreihe in unserem Schrank fehlten einige. Seine Seite sah immer so makellos aus wie im Kaufhaus, meine, als hätte eine Bombe eingeschlagen. In den letzten Monaten hatte er seine identischen schwarzen Schuhe und gebügelten Baumwollhosen, von denen er schwor, sie würden wieder in Mode kommen, gegen trendige Sneaker und Jeans ausgewechselt. Tatsächlich hatte ich schon seit einer Weile das Gefühl gehabt, dass da irgendwas im Busch war. Angefangen mit den Spätschichten im Restaurant, die er eigentlich schon seit Jahren nicht mehr machen musste. Das Unendlichkeits-Tattoo an seinem Knöchel hatte mich auf eine falsche Fährte gelenkt, ich war davon ausgegangen, dass es sich um eine Midlife-Crisis handelte, nicht um eine Affäre. Anscheinend war es beides, doch nichts hatte irgendein Handeln meinerseits ausgelöst. Wer also war hier kaputt?

In den Haufen von Schuhen und Spendenklamotten, die sich wie Termitenhügel unten in meinem Schrankteil auftürmten, fand ich, wonach ich suchte: Meinen vernachlässigten schwarzen Koffer, an dem noch die Fluganhänger von unserer letzten Reise nach Texas klebten, weil ich zu faul gewesen war, sie abzureißen.

Ich warf ihn aufs Bett, da brummte mein Handy. Unten fiel die Haustür ins Schloss, dann rief eine gedämpfte Stimme nach mir, aber ich verstand bloß meinen Namen. Vermutlich würde kein Mörder versuchen, meine Aufmerksamkeit zu erregen, ehe er mich umbrachte, also lief ich zur Treppe.

»Grace! Bist du da? Ich wollte dir keine Angst einjagen.«

»Zu spät.« Es war Asha, die einzige Collegefreundin, zu der ich Kontakt gehalten hatte, sogar als sie zur Supermom mutierte und gleich eine ganze Horde Kinder warf, während ich stramm im »Doppelverdiener ohne Kinder«-Camp blieb.

Asha kam die Treppe heraufgestampft. »Du kannst mir nicht texten, ich soll rüberkommen, und dann nicht an dein Telefon gehen!« Sie klang wütend, aber so hörte sie sich einfach an. Früher dachte ich immer, ich hätte etwas falsch gemacht, bis sie mich fragte, warum ich mich dauernd entschuldigte. »Perma-Bitch-Stimme« hatte sie mir im ersten Studienjahr in die Seminarnotizen geschrieben. Es war unser erster gemeinsamer Kurs gewesen und im Grunde nur eine Methode der College-Verwaltung, uns Babystudenten im Blick zu behalten, damit wir nicht durchrasselten und ihre gute Quote an erfolgreichen Abschlüssen versauten.

»Entschuldige, Dexters Schrank hat mich abgelenkt.«

Sie spähte hinein und lachte. »Dexterrr? Nach all den Jahren in Boston? Ich habe versagt.« Asha war das Kind indischer Eltern, in Boston geboren und hatte von Anfang an den Ehrgeiz gehabt, mich mit den Sitten in New England vertraut zu machen, indem sie sich beispielsweise darüber amüsierte, wie ich die Rs betonte.

Ich verdrehte die Augen so sehr, dass ich beinahe meine linke Kontaktlinse verlor.

Asha kicherte. »Ist wohl nicht mehr dein Problem.«

»Er muss das alles hier rausholen, bevor ich zurück bin, sonst spende ich die Sachen.«

»Beleidige die Wohlfahrt nicht mit diesem Mist.« Asha bewarf mich mit einem Schuh.

»Auch wieder wahr.«

»Ich verspreche, gut auf Puddles aufzupassen, also musst du dir deswegen schon mal keine Sorgen machen, solange du weg bist«, sagte Asha. »Obwohl Loralynn ihn vielleicht gerne als Reisebegleiter hätte. Bist du sicher, dass sie keine Perücke in Katzengröße hat?«

»Du kennst sie unheimlich gut«, antwortete ich. Obwohl Asha sie erst bei der Abschlussfeier persönlich kennengelernt hatte, war sie ziemlich vertraut mit Mamas Macken, wenn auch nicht genug, dass sie ihr so auf die Nerven gingen wie mir.

»Klar, aber auf eine Berühmte-Fernsehmutter-Art.« Asha stockte. »Hey, wenigstens hat sie nie versucht, dich mit dem Sohn eines Familienfreundes zu verheiraten.«

Ich wünschte, das wäre das einzig Nervige, was meine Mom tat. »Ist es wirklich okay für dich, ihn zu nehmen? Andererseits bekomme ich ihn wahrscheinlich nie wieder.«

»Ich könnte ihm auch einen neuen Namen geben, wenn ich schon mal dabei bin.«

Dem widersprach ich nicht. Puddles war womöglich der lahmste Name aller Zeiten. Und typisch Jeff, unser Haustier nach albernen Worten zu nennen, die wir gern benutzten.

»Und wer behält ihn, wenn ihr, du weißt schon …«

»Schon okay, du darfst es aussprechen. Wenn wir uns scheiden lassen?« Doch selbst ich hatte Mühe, es laut zu sagen. Da wir keine Kinder hatten und gleich viel verdienten, könnten wir ziemlich leicht alles aufteilen. Aber bei dem Kater wären wir nicht salomonisch. Im Grunde war ich nie ein Katzenmensch gewesen. Auch kein Hundemensch.

Ich hob Puddles hoch, kraulte ihm den Kopf, und er schnurrte in meinen Armen. Der arme Kater ahnte nicht, was ihm blühte, aber bedachte man, wie viel ich außer Haus war, würde er sich vermutlich freuen, mehr Leute um sich zu haben. Die Tage und Nächte hier waren ziemlich einsam für ihn, nur mit »Animal Planet« im Fernsehen, dem Futterautomaten, dem Wasserspender und dem Katzenklo. Jetzt gab ich ihn weg, und er musste mit einer Horde Kinder leben lernen.

»Danke, dass du gekommen bist. Und dass du den alten Kater nimmst.« Als er neun war, hatte ich aufgehört, Puddles’ Lebensjahre mitzuzählen.

»Und hast du deiner Mama schon von deiner großen Geste erzählt, oder kreuzt du einfach vor ihrer Tür auf, mit einem Koffer voll …?« Sie wies zu dem Kleiderhaufen, den ich durchsah.

»Nein, noch nicht. Ich warte, bis ich die Entscheidung richtig verdaut habe.«

»Und du redest es dir nicht gerade aus, indem du es mir erzählst?«

»So in der Art.«

»Tja, falls ich sonst noch etwas tun kann, sag Bescheid. Ich bin hier, wenn du wiederkommst.«

Ich kraulte Puddles weiter, dann warf ich einige Paar Schuhe in den offenen Koffer neben mir.

»Und wie ist der Plan?«, fragte Asha, die Sachen von dem schrumpfenden Haufen zusammenfaltete.

»Meine Zeit weg von hier genießen? Zum Denken kommen? Versuchen, dabei nicht den Verstand zu verlieren?«

»Welch große Erwartungen an deinen ersten Urlaub seit Jahren. Nennen wir es Urlaub?«

»Eher familiäre Entsendung? Gibt es so etwas?«

Asha wusste genauso gut wie ich, dass Mama und ich seit meinem Collegeabschluss nicht mehr so lange zusammen gewesen waren. Wir telefonierten am letzten Sonntag des Monats, und Jeff und ich besuchten sie jedes zweite Weihnachten und Thanksgiving, hauptsächlich um kurz dem Bostoner Winter zu entfliehen. Und nachdem ich mir endlos die peinlichen Geschichten mit eingewobenen Elvis-Fakten und -Songs angehört hatte, verkündete ich ihm regelmäßig, dass es das letzte Mal gewesen sei.

»Ich kann verstehen, warum du das machst. Du bist eine nette Tochter.«

Asha sagte immer das Richtige im richtigen Moment, verwandelte meine Schuldgefühle mit wenigen Worten in Heldentaten.

»Ich weiß nicht, ob es mich nett macht. Nur zur Tochter, schätze ich.«

»Tja, das würde nicht jede tun. Also denk einfach daran, wenn du dir zum vierhundertsten Mal die Elvis-Playlist anhörst.«

»Ja, vor der kann mich nichts und niemand bewahren.«

Ich griff nach meinem Weinglas, sank aufs Bett und bemühte mich, nicht so überfordert zu wirken, wie ich mich fühlte. Asha setzte sich zu mir.

»Trink aus, Schwester. Du packst das.«

»Auf jeden Fall packe ich.« Ich trank den Wein aus, sprang wieder auf und ging zur Kommode, auf der ich siegesgewiss das Glas abstellte. »Okay, ich muss fertig werden. Und diese Weinflasche leert sich auch nicht von selbst.«

Asha küsste mich auf den Kopf und hob Puddles hoch.

Auf dem Weg zur Treppe summte sie den Refrain von »You Are Always on My Mind«.

»Was habe ich getan?«

Sie drehte sich zu mir um. »Etwas sehr Gutes.«

Gott, das hoffte ich.

Es klingelte so oft, dass ich im Geiste schon meine Mailbox-Nachricht probte. Als ich mich eben wappnete, Mamas zu hohes »Are You Lonesome Tonight« zu hören, nahm sie ab.

»GRACE?!« Sie war außer Atem. »Ist schon unser Sonntag? Ist alles okay?«

Ich hasste es, dass wir an dem Punkt waren, an dem Anrufe außer der Reihe einen Notfall vermuten ließen. »Mir geht es gut, Mama. Alles in Ordnung. Wie geht es dir? Du hörst dich an, als wärst du eben einen Marathon gelaufen.«

»Oh Gott, nein. Du weißt doch, dass ich nur freiwillig laufen würde, wäre ein Bär hinter mir her. Ich mache diese neue Sache, bei der ich mein Telefon eingestöpselt lasse, damit ich nicht süchtig werde. Das ist nämlich gefährlich, Grace. Es heißt, diese Handys sind wie Drogen.« Sie flüsterte das letzte Wort, als säße sie in einer Suchtberatung.

»Mama, dasselbe hast du über Kreditkarten gedacht. Und sieh dich jetzt an. Du bestellst deine Perücken online wie eine echte Millennial.« Erst nachdem ich es gesagt hatte, kam mir der Gedanke, dass Mama keine Ahnung hatte, was ein Millennial war, und ich vermutlich die nächste Viertelstunde damit verbringen durfte, es ihr zu erklären. Also sprach ich schnell weiter. »Dein Geburtstag. Deswegen rufe ich an.«

»Oh, ja. Sieben-Null, SIEB-ZIG. Glaubt man das? Jane Pardue sagt, ich sehe keinen Tag älter als sechzig aus, aber na ja, sie haben eben noch nie eine alte Asiatin gesehen. Wir werden keine Rosinen!« Sie kicherte. Weiß der Himmel, wo sie das gehört hatte. »Deren gebräunte Haut verschrumpelt eben. Deswegen gehe ich nie in die Sonne.« Mama plapperte weiter über Hautpflege und Schirme, was mir früher immer peinlich gewesen war, mittlerweile aber auf die Liste der Dinge gehört, die ich heute vollkommen verstehe und selbst mache – gleich nach warmem Zitronenwasser. Ich bin zu der Frau geworden, die bei Sonnenschein einen Schirm trägt.

»Also, diese Fahrt nach Graceland. Willst du die noch machen?«

»Ja, natürlich. Die plane ich schon seit Jahren. Ich habe alles durchorganisiert. Ronnie Albertson sagt, sie würde mich fahren, wenn ihr Mann sie weglässt, aber mit der Frau halte ich es keine zwei Wochen im Auto aus, nicht einmal für Elvis.«

»Willst du noch mit mir fahren?«

Am anderen Ende wurde es still.

»Das würde ich sehr gerne«, antwortete sie in einem Ton, als zwänge sie jemand, von einem Blatt abzulesen.

Ich hatte sie noch nie so wortkarg erlebt und war nicht darauf vorbereitet.

»Na gut, ähm, tja, wollen wir das also machen? Ich … fliege bis El Paso, und dann fahren wir los.«

Wieder herrschte Stille.

»Mama? Mama?«

»WOOOO-HOOOO!«, kreischte Mama. Ich riss das Telefon von meinem Ohr weg. Sie quäkte weiter, ratterte begeistert eine To-do-Liste herunter. »Siehst du? Ich habe dir doch gesagt, dass Jeff sich für dich freut, wenn du es machst.«

»Mama, er …« Ich überlegte, ob ich ihr gleich von der Trennung erzählen sollte, wollte ihr aber nicht die Stimmung versauen. »Ja, du hast recht gehabt.«

»Oh, Schatz, das ist einfach magisch! Endlich! Vielleicht mache ich dich doch noch zum Elvis-Fan.«

»Übertreib’s nicht, Mama. Sieh mich als deine Uber-Fahrerin.«

»Meine Was-Fahrerin?«

»Vergiss es. Pack schon mal. Ich gebe dir später meine Flugdaten durch.«

»Mach ich, mach ich! Ich kann es gar nicht glauben. Ich hätte nie gedacht, dass du Ja sagst. Manchmal fügen sich die Dinge eben, nicht?«

Oder, in meinem Fall, brechen auseinander.

»Genau, Mama. Das tun sie.«

Als ich klein war, bestand Mama darauf, jede Schnittwunde und jeden Kratzer mit Unmengen Wasserstoffperoxid zu behandeln, wobei ich wie am Spieß brüllte, als könnte es das Brennen lindern, das mir immer schlimmer vorkam als die Verletzung selbst. Ich habe keine Ahnung, ob das Zeug jemals geholfen hat, Wunden schneller heilen zu lassen. Auf jeden Fall lenkte es mich verlässlich von dem ab, was geschehen war, denn ich konnte mich nach ihrer Behandlung eigentlich nie richtig erinnern.

Und als ich beschloss, meine Mama auf ihrem epischen Trip zu chauffieren, stellte ich es mir so ähnlich vor: dass es zuerst wehtun würde, mich hinterher aber ein Neuanfang erwartete. Und vielleicht könnte ich mich so davon ablenken, all die Entscheidungen zu hinterfragen, die ich getroffen hatte.

Ich erwartete nicht, von Jeff zu hören, erst recht nicht nach so langer Funkstille. Entsprechend überrascht war ich, als er mir eine Textnachricht schrieb, in der er um ein Treffen bat. Ich spielte mit dem Gedanken zu fragen, ob er das Beisein eines Therapeuten bräuchte, doch das schien unnötig fies und kontraproduktiv. Obwohl ich genervt war – hauptsächlich von ihm, aber auch von mir selbst –, wollte ich die Dinge nicht so lassen, wie sie jetzt waren.

Ich sagte zu, allerdings fiel mir zu spät ein, dass ich ihn dann ja sehen würde, und ich wünschte, ich hätte den Mumm gehabt, als Erste Kontakt aufzunehmen. Mir wäre es erheblich lieber gewesen, alles per Textnachricht zu klären und bis zur Mediation fertig mit ihm zu sein. Kann man jemanden aus der eigenen Ehe ghosten?

Er schlug das Café in der Nähe von uns vor, eindeutig zu seiner persönlichen Sicherheit und der seiner Trommelfelle. Ich neigte eigentlich nicht zu öffentlichen Ausbrüchen, bis auf das eine Mal, als er Puddles versehentlich nach draußen gelassen hatte. Da stand ich mitten auf der Straße und wechselte zwischen Vorwürfen gegen Jeff und Rufen nach meinem Kater, der eindeutig kein Freigänger war.

Ich bat ihn, mich in einem Café im Nachbarort zu treffen. Nicht, weil ich fürchtete, ihn mit Zuckertütchen zu bewerfen, sondern weil ich gut darauf verzichten konnte, dass meine Kollegen von den billigen Plätzen aus alles mit ansahen. Das Letzte, was ich wollte, war, dass Jane Choi Wind von meiner bevorstehenden Scheidung bekam. Und mein Privatleben am Wasserspender durchhechelte.

Als ich ankam, saß er bereits ziemlich weit hinten in dem fast leeren Café, mit der Hand einen großen Kaffeebecher umklammernd. Von dem Dampf beschlug seine Brille. Er war für die Arbeit gekleidet, trug einen seiner vielen grauen Anzüge und eins der bunten Hemden, die ich gerade im Wandschrank angestarrt hatte. Und ausnahmsweise sah er so aus, wie er sich fühlte. Seine fehlende Heiterkeit war beruhigend. Vielleicht war er doch kein Roboter.

Ich setzte mich ihm gegenüber hin und legte los, ehe er etwas sagen konnte. »Mich erstaunt, dass wir uns nicht beim Therapeuten treffen. Jetzt ist dir wohl dabei, ohne eine dritte Partei mit mir zu reden?« Es laut auszusprechen, war sehr viel befriedigender, als es eine Textnachricht jemals sein könnte. Ihn zu sehen machte mich unerwartet wütend.

Er begann, eine Hand zu heben, um an seinen Nägeln zu kauen, ließ es jedoch bleiben. Vielleicht erinnerte er sich daran, wie eklig ich das immer gefunden hatte. Ich hätte wissen müssen, dass an den Nägeln zu kauen, bis sie bluteten, nicht bloß eine schlechte Angewohnheit war. Naiv, wie ich war, hatte ich geglaubt, dass er einfach immer glücklich war, aber Stress äußerte sich anders bei ihm. Zum Beispiel in dem Nägelkauen.

»Kannst du mir zumindest verraten, was schiefgegangen ist?« Er klang zu Recht verwirrt.

Ich verzog das Gesicht. Ernsthaft?

»Ich meine, ähm, du weißt, was ich meine.« Er stammelte und erkannte, wie lächerlich das war, was er eben gesagt hatte.

»Vielleicht solltest du es mir erzählen?«, konterte ich.

»Ich weiß es ehrlich nicht. Wir haben uns nie gestritten …« Er verstummte wieder. Vielleicht versuchte er, sich an unseren letzten Streit zu erinnern.

»Nein, aber wir haben auch nie gelacht.«

»Früher hast du mich witzig gefunden.«