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Vom Jerusalemer Tempel bis zur römischen Mietswohnung: Der Weg der Apostelgeschichte führt von der Urgemeinde in düstere Gefängniskerker, zu einem Falschpropheten auf Zypern und zu Händlerinnen in Philippi, über das sturmgepeitschte Meer bis nach Rom. Für Abt Johannes Eckert ist die Apostelgeschichte eine Ermunterung, sich zu bewegen und auf den neuen Weg einzulassen, um die frohe Botschaft des Jesus von Nazareth an die Enden der Erde zu tragen. Von der Apostelgeschichte schlägt er den Bogen zur Kirche heute: Kirche sollte laut Eckert eine Bewegung durch die Zeit sein, nicht eine Sitzung, wo man sich Gedanken darüber macht, wie man Glaubensgüter bewahren kann. So ermutigt die Apostelgeschichte beispielsweise dazu, über Macht in der Kirche und die Rolle von Frauen nachzudenken. Neue Beweglichkeit gibt es jedoch nicht zum Nulltarif. Bisweilen beschreitet Gottes Geist eigenartige Wege. Unverhofft kommt es zur Wendung, so dass die Augen und Herzen aufgehen und Lähmung in Bewegung verwandelt wird.
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Seitenzahl: 295
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Abt Johannes Eckert OSB
Grenzenlos frei
Ermutigungen aus der Apostelgeschichte
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Als deutsche Bibelübersetzung ist zugrunde gelegt:
Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes. Vollständige deutsche Ausgabe
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2005
Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf
Umschlagmotiv: © ELA YILMAZ / GettyImages
E-Book-Konvertierung: ZeroSoft SRL
ISBN Print 978-3-451-39566-6
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83215-4
ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83336-6
Für Sr. Rosa Maria Dick und P. Lukas Wirth
Einleitung
Grenzenlos frei …
… auf dem neuen Weg …
… vom Geist ermutigt …
… zu mehr Beweglichkeit finden.
1. Ermutigung
Der Springende im Tempel
Mehr Beweglichkeit durch schlichtes Vertrauen
2. Ermutigung
Der beschattende Schatten
Mehr Beweglichkeit durch heilende Umkehr
3. Ermutigung
Der Rat des Gelehrten
Mehr Beweglichkeit durch weise Gelassenheit
4. Ermutigung
Die Fahrgemeinschaft mit dem Eunuchen
Mehr Beweglichkeit durch echtes Interesse
5. Ermutigung
Die Auszeit in der Heimat
Mehr Beweglichkeit durch beruhigende Deeskalation
6. Ermutigung
Die Vision auf dem Dach
Mehr Beweglichkeit durch weitsichtige Konzentration
7. Ermutigung
Die Befreiung aus dem Gefängnis
Mehr Beweglichkeit durch aufweckende Kritik
8. Ermutigung
Die Erblindung des Falschpropheten
Mehr Beweglichkeit durch geistliche Geradlinigkeit
9. Ermutigung
Die Blockaden des Geistes
Mehr Beweglichkeit durch gemeinsame Reflexion
10. Ermutigung
Die Courage der Purpurhändlerin
Mehr Beweglichkeit durch mutige Entschlossenheit
11. Ermutigung
Die Rede auf dem Areopag
Mehr Beweglichkeit durch öffentlichen Diskurs
12. Ermutigung
Der Umzug ins Haus daneben
Mehr Beweglichkeit durch kreativen Selbststand
13. Ermutigung
Die Nachbesserungen der Johannes–Taufe
Mehr Beweglichkeit durch geistreiche Initiativen
14. Ermutigung
Der Aufruhr der Silberschmiede
Mehr Beweglichkeit durch kluge Unterscheidung
15. Ermutigung
Die Auferweckung im Obergemach
Mehr Beweglichkeit durch behutsame Zuwendung
16. Ermutigung
Die Stärkung vor dem Schiffbruch
Mehr Beweglichkeit durch vorbehaltlose Liebe
Ermutigung zum Schluss – in aller Offenheit
Der Gefangene in der Mietswohnung
Mehr Beweglichkeit durch ungehinderten Freimut
Über den Autor
… über diese Wortkombination habe ich mich mit jungen Männern unterhalten, die für eine Woche in unserem Andechser Kloster zu Gast waren. Zunächst suchten wir gegenteilige Begriffe und Wortkombinationen: eingegrenzt abhängig, eingeengt unfrei, ängstlich verschlossen, unbeweglich behindert, unnahbar reserviert, beschränkt vergeben, vergänglich eingesperrt, end-lich gefangen …, um nur einige Ergebnisse zu nennen. Bei der letztgenannten Kombination kam mir ein Mann in den Sinn, dem ich vor Kurzem in einem Gefängnis begegnet bin. Er hatte bewusst eine Straftat begangen, weil er mit seinem Leben allein nicht mehr zurechtkam und sich im Gefängnis Hilfe erhoffte. War das ein Akt seiner Freiheit: endlich gefangen und dabei doch grenzenlos frei?
Das Wörtchen „frei“ kennt kein eigenes Gegenteilwort (Antonym), wie gut – böse oder richtig – falsch. Wer ist grenzenlos frei?, fragten wir uns daher: ein Vogel in der Luft, der fliegen kann, wohin er will und keine natürlichen Barrieren, wie Schluchten oder Seen, oder gar Ländergrenzen kennt? Aber auch er ist immer wieder von Landeplätzen abhängig. Ist ein Fisch grenzenlos frei, der schwimmen kann, wohin er will, da im Unterschied zu den Kontinenten die Weltmeere miteinander verbunden sind? Ist das Corona-Virus frei, während es weltweit der Menschheit Grenzen setzte? Ist ein Blitz frei, da er zur Energiegewinnung nicht gefangen werden kann? Ist ein absolutistischer Herrscher frei, der tun und lassen kann, was er will? Oder ist es Willkür? Ist allein Gott als der absolut Unbegrenzte grenzenlos frei? …
Im Gespräch wurde uns klar, dass Freiheit ein Bewusstsein voraussetzt. „Die Grenzen sind im Kopf des Menschen! Nelson Mandela war als Gefangener frei, Stephen Hawking war in seiner körperlichen Eingeschränktheit frei, Viktor Frankl im KZ …!“, meinte ein Gesprächsteilnehmer. Ein anderer fügte sinngemäß hinzu: „Und neben dem Bewusstsein hat Freiheit etwas mit Beweglichkeit zu tun, ja diese ist sogar die Voraussetzung von Grenzenlos frei! Dazu braucht es Neugier und Mut, um Grenzen zu überschreiten. Es braucht den Aufbruch!“
Bei dem Austausch kam mir ein Wortspiel von Kurt Marti (1921–2017) in den Sinn, das freimütig dazu auffordert, Grenzen zu überdenken: „Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir hin, und keiner ginge mal nachsehen, wo man hinkäme, wenn man hinginge.“ Letztlich ist es eine Aufforderung, sich nicht nur auf Bewährtes zu verlassen, ja ängstlich uns in Traditionen und Brauchtum einzugrenzen, um Veränderungen nach dem Motto abzuwehren: „Wo kämen wir hin …“ Das Wortspiel des Dichterpfarrers ist Ermutigung, seine Freiheit zu nutzen, aufzubrechen, sich neugierig auf den Weg zu machen und auf Neues einzulassen und dieses mit dem Alten zu konfrontieren. Ein Weg wird zum Weg, indem man ihn geht, indem Menschen sich bewegen. Dabei ist noch lange nicht der Weg das Ziel, wie manchmal zu hören ist. Das wäre zu kurz gegriffen … Der Weg dient vielmehr der Zielerreichung. Dies kann in Etappen geschehen, Schritt für Schritt mit einer großen Offenheit, denn zuweilen braucht es auch Umwege und Irrwege, ja sogar Straßensperren, um das Ziel neu zu erkennen, innezuhalten und den Blick dafür zu schärfen, welche Ziele wir erreichen wollen. So verstanden ist unser Leben eine einzige große „BeWEGung“.
Das Wortspiel von Kurt Marti lässt sich auch auf die Kirche übertragen: Diese ist von ihren Ursprüngen her weniger Organisation oder Institution, sondern vielmehr Bewegung. Immer wieder machen sich Menschen auf den Weg, um dem Beispiel Jesu zu folgen. Sie sind von ihm motiviert und glauben, dass er auch sie durch seine Auferweckung aus dem Tod in eine grenzenlose Freiheit führt. Diese zum Christsein gehörende Beweglichkeit betonen alle Schriften des Neuen Testaments, besonders aber das Doppelwerk des Evangelisten Lukas. Viele Menschen machen sich in seinem Evangelium und später auch in der Apostelgeschichte auf den Weg: Maria macht sich auf den Weg in das Bergland von Judäa, um ihre Freude, dass sie ein Kind erwartet, mit ihrer Verwandten Elisabeth zu teilen. (Vgl. Lk 1,39) Josef und Maria machen sich auf den Weg nach Betlehem, wo ihr Sohn zur Welt kommen soll. (Vgl. Lk 2,4) Später reiht sich die junge Familie in die Schar der Wallfahrer ein und pilgert nach Jerusalem. (Vgl. Lk 2,42) Ebenso wandert Jesus mit seinen Jüngern durch Galiläa und nimmt ganz bewusst das Ziel seines Lebensweges in den Blick, wenn er aus seiner Heimat nach Jerusalem aufbricht, wo Tod und Auferstehung ihn erwarten. (Vgl. Lk 9,51) Immer wieder gibt es Menschen, die sich seinem Weg anschließen und sich von ihm bewegen lassen. Exemplarisch dafür stehen die Emmausjünger. (Vgl. Lk 24,13–35) Vor seiner Himmelfahrt wird Jesus seine Jünger auffordern, sich auf den Weg zu machen und als Zeugen seine frohe Botschaft von Jerusalem bis an die Grenze der Erde zu tragen. (Vgl. Apg 1,8) Gestärkt durch die Kraft des Heiligen Geistes brechen sie auf, sodass die Jesusbewegung in der Apostelgeschichte als der „neue Weg“ oder einfach als „der Weg“ bezeichnet wird. (Vgl. Apg 9,2; 19,9.23; 22,4; 24,14 f.)
All diese Weggeschichten sind Eigengut des Lukas. Damit unterstreicht der Evangelist, dass das werdende Christentum ganz im Judentum, dem „alten Weg“, wie wir im Sinn von „altehrwürdig“ sagen könnten, beheimatet ist. Auch das Judentum ist eine Wegreligion, die in die Freiheit führen will. So bricht schon Abram von Ur in Chaldäa auf und macht sich mit seiner Verheißung auf den Weg. (Vgl. Gen 12,1–4) Mose lässt sich auf das Wort aus dem brennenden Dornbusch ein und folgt der Berufung, sein Volk aus der Gefangenschaft Ägyptens in die Freiheit des gelobten Landes herauszuführen. (Vgl. Ex 3) Der Exodus ist sozusagen die Wegerfahrung Israels schlechthin. Später brechen die Propheten auf, um mit ihrer unangenehmen Kritik, mit ihren provozierenden Mahnungen und ihren weitblickenden Visionen ihr Volk aufzuwecken und es von falschen Abhängigkeiten zu befreien. Das Weg-Motiv, das das Alten Testament prägt, unterstreicht die Glaubensüberzeugung Israels: Gott ist mit uns auf dem Weg und führt uns stets aufs Neue in die Freiheit. Wenn wir uns von ihm bewegen lassen, dann wird unsere Geschichte zur Geschichte mit ihm, d. h. zur Heilsgeschichte.
Diesen wesentlichen Gedanken des Volkes Israels greift Lukas auf: Gott schreibt seine Geschichte mit uns Menschen stetig weiter. Daher durchtränkt Lukas seine beiden Werke mit Schriftzitaten aus dem griechischen Alten Testament, der sogenannten Septuaginta, die er offensichtlich sehr gut kennt. Auch die Zeit nach Tod und Auferstehung Jesu ist Heilsgeschichte, Weg Gottes mit den Menschen. Er führt in die Freiheit. Mit seinem zweiten Werk, der Apostelgeschichte, ermutigt der Evangelist seine Weggefährten, die Schriften des alten Bundes auf Jesus hin zu deuten. Das bringen u. a. die vielen längeren Reden zum Ausdruck, die immer wieder mit Zitaten aus dem Alten Testament gespickt sind. Für Lukas ist klar: Der erhoffte Messias, von dem besonders die Psalmen und die Propheten sprechen, ist Jesus von Nazareth. Er ist der Sohn Gottes, der Gesalbte des Herrn (hebr. Messias, griech. Christus). Diesen lässt der Vater nicht im Tod, sondern befreit ihn am Paschafest, an Ostern, zu neuem Leben, sodass sich an ihm die ganze Schrift erfüllt. Er ist grenzenlos frei und will, dass auch wir dies durch die Verbindung mit ihm werden!
Dieses Auferstehungsgeheimnis motiviert Lukas. Es ist die zentrale Botschaft seiner beiden Werke. Daher findet sich in der Apostelgeschichte immer wieder die Aufforderung: „Steh auf!“ Schon zu Beginn wird ein Gelähmter von Petrus und Johannes geheilt, sodass er aufsteht, ja sogar im Tempel springend Gott lobt (vgl. Apg 3,6). Was für eine neue Bewegungsfreiheit wurde ihm geschenkt! Bei seiner Bekehrung hört Paulus die Aufforderung: „Steh auf!“ (vgl. Apg 9,6) ebenso wie später Petrus, der von einem Engel aus einem Gefängnis befreit wird (vgl. Apg 12,7). Die Apostelgeschichte ist eine einzige Ermunterung zum Aufstehen. Aus allen Begrenzungen will sie zum Leben befreien.
Damit unterstreicht Lukas, dass der Exodus, die Befreiungstat Gottes, weitergeht. Wir könnten auch mit dem Theologen Tomáš Halík (*1948) von einer resurrectio continua, von einer anhaltenden Auferweckung sprechen. Der neue Weg geht weiter. Dazu will Lukas am Beispiel vieler Frauen und Männer mit seinem zweiten Werk ermutigen. So verstanden errichtet der Evangelist eine Art Triptychon, einen dreiteiligen Altar. Auf dem ersten Bild sind die Verheißungen des Alten Testaments zu entdecken, in der Mitte das Evangelium, auf dem dritten Flügel die Apostelgeschichte. In der Zusammenschau soll der Leser erkennen: Die zentrale Botschaft des Exodus, die Erlösung aus der Gefangenschaft, ereignet sich in Jesus Christus neu. Der Vater hat ihn aus den Fesseln des Tods befreit. Diese befreiende Botschaft wird durch seine Gefährten als Zeugen seiner Auferstehung weitergegeben (vgl. Apg 1,22). Nun liegt es am Betrachter, dies auf sein Leben zu übertragen.
Der Titel „Apostelgeschichte“, der dem zweiten Werk später gegeben wurde, ist etwas unglücklich. Es geht in ihr nicht so sehr um die Heldentaten einzelner Apostel und deren Geschichte. Es geht im zweiten Werk des Lukas um eine Befreiungsbewegung, die durch das Wirken des Geistes in Gang gesetzt wird. Daher ist es nachvollziehbar, wenn Beda Venerabilis (672/673–735) analog zu den Taten Jesu im Evangelium der Apostelgeschichte den Titel gab: „Die Taten des Heiligen Geistes“. Manche Exegeten sprechen sogar vom Evangelium des Heiligen Geistes. Wir könnten auch sagen, durch das Wirken des Geistes, d. h. durch von Jesus Begeisterte gehen seine Taten weiter, werden Menschen zum Leben befreit.
Bei genauer Lektüre fällt auf, dass das Subjekt, also die handelnde Größe in der Apostelgeschichte, immer wieder das Wort Gottes ist. Es ist das Wort, das sich z. B. ausbreitet oder wächst (vgl. Apg 6,7; 13,49; 19,20; etc.), das man empfängt oder rühmt (vgl. Apg 2,41; 11,1; 13,48; etc.). Im Unterschied zum Johannesevangelium ist bei Lukas nicht Jesus selbst das Wort, das Fleisch geworden ist (vgl. Joh 1,1–18). Vielmehr haben sich in Jesus die Worte der Propheten und der anderen Schriften erfüllt. Streitpunkt zwischen altem und neuem Weg ist bei Lukas daher nicht das Gesetz oder das Ärgernis des Kreuzes, wie es in den Briefen des Paulus der Fall ist, sondern das Ostergeschehen und seine Deutung: Jesus von Nazareth ist der Christus, den Gott aus dem Tod auferweckt hat. An ihm erfüllen sich alle Schriften.
So verstanden ist für Lukas die Jesusbewegung eine creatura verbi – eine Frucht des wachsenden Wortes, bzw. eine Gottes-Wort-Bewegung. Damit ist sein zweites Werk der Anfang einer Geschichte, die bis heute anhält. Immer, wenn sich Menschen auf den Weg machen, sich über den Sinn der Schriften austauschen und dadurch tiefer die Botschaft Jesu für ihre Situation deuten, geht, wie bei den Emmausjüngern, unerkannt der Auferstandene mit. Im Miteinandergehen entsteht Gemeinschaft derer, die an den Herrn glauben. Nichts anderes umschreibt der Begriff „Kirche“ (gr. Kyriaka, „dem Herrn gehörig“). So verstanden ist die Apostelgeschichte eine einzige Synode (gr. syn-hodos – „gemeinsamer Weg“). Dadurch, dass Papst Franziskus die Synodalität für die Kirche unserer Zeit neu entdeckt und einen weltweiten Prozess angestoßen hat, schreiben alle, die sich darauf einlassen, die Apostelgeschichte fort.
Als wanderndes Volk Gottes gilt es, durch dieses Werk des Evangelisten Lukas hindurchzugehen, mit den Episoden in Dialog zu treten und diese mit Leben zu erfüllen, sodass sich an uns die Schrift erfüllt und unsere Zeit zur Heilsgeschichte wird. Ich stelle es mir vor wie in unserer Andechser Wallfahrtskirche, die statt eines Haupteingangs im Westen über einen Eingang an der Südseite und einen Ausgang an der Nordseite verfügt. Die Wallfahrer schreiten also nicht auf den Hauptaltar zu, sondern werden an ihm vorbei durch die Kirche geleitet, um Stau oder Gegenverkehr zu vermeiden. So bleibt der Besucherstrom immer im Fluss.
Auch die Kirche als Ganze ist eine Befreiungsbewegung, keine Sitzung, in der man sich Gedanken darüber macht, wie man Glaubensgüter bewahren kann.
Dies geht aber nur im Miteinander, so lautet die christliche Überzeugung von Anfang an. Vielleicht widmet daher Lukas als einziger der Evangelisten sein Doppelwerk einer Person. Diese heißt Theophilus, was sich mit „Freund Gottes“ übersetzen lässt. (Vgl. Lk 1,1–4; Apg 1,1) Es ist nicht bekannt, ob es sich bei diesem „hochverehrten Theophilus“, wie ihn Lukas nennt, um eine konkrete historische Persönlichkeit handelt oder ob der Name eine Chiffre für jeden Leser ist, der sich als Freund Gottes verstehen darf. Letztlich ist das m. E. auch zweitranig. Ausgehend von Augenzeugen, die von Anfang an dabei waren und so Diener des Wortes wurden (vgl. Lk 1,1 f.), lässt sich Lukas zusammen mit Theophil auf den Weg Jesu ein im Dialog und Austausch, wie es Jesus tat. Die Episode von den Emmausjüngern am Ende des Lukasevangeliums (vgl. Lk 24, 13–35), die sich nur in diesem findet, scheint mir daher ein Schlüssel zum Verständnis der Apostelgeschichte zu sein.
Die beiden Jünger kreisen anfangs nur um sich selbst und ihre Enttäuschung. Sie sind in sich und ihrer Trauer gefangen. Erst in der Begegnung mit dem Fremden, der sich mit ihnen auf den Weg macht und sie mit den Schriften konfrontiert, treten sie in den Dialog mit dem Auferstandenen ein. Schritt für Schritt gehen ihnen die Augen auf und sie erkennen beim Brotbrechen den Auferstandenen. Beglückt können sie resümieren: „Brannte nicht das Herz in uns, als er auf dem Weg mit uns redete, als er uns die Schriften erschloss?“ (Lk 24,32) Dieses beglückende Erleben einer grenzenlosen Freiheit können sie nicht für sich behalten, sodass sie nach Jerusalem zurückkehren und dort die Osterbotschaft verkünden. So werden sie miteinander als Augenzeugen zu Dienern des Wortes und Freunden Gottes. Nichts anderes soll durch uns geschehen, die wir lesend durch die Apostelgeschichte schreiten.
Der Evangelist Lukas war vermutlich ein hochgebildeter Mann, wie sein hervorragendes Griechisch verrät. Geprägt von seiner hellenistischen Umwelt war er ebenso mit jüdischen Gebräuchen und den Schriften des Alten Testaments vertraut. Einige nehmen an, dass er kein Jude war, aber mit dem Judentum sympathisierte, wie es zu seiner Zeit in gebildeten Kreisen üblich war. Der antike griechisch/römische Götterhimmel erschien vielen religiös suchenden Menschen des ersten Jahrhunderts als zu primitiv. Die Götter waren in ihren Begehrlichkeiten zu subtil, ja den Menschen gerade in ihren Unzulänglichkeiten und Begrenztheiten zu gleich. Der Ein-Gott-Glaube Israels dagegen faszinierte, die Existenz eines personalen Gottes, der als Du – als Da-Seiender, um seinen hebräischen Namen vorsichtig zu übertragen, Anteil nimmt an den Geschicken seiner Schöpfung und seines Volkes. Dieser Glaube an einen grenzenlos freien Gott, von dem man sich aufgrund seiner Souveränität kein Bild machen kann und dessen Name unaussprechlich bleibt, der aber Verantwortung übernimmt, begeisterte. Die Befolgung der zahlreichen jüdischen Gesetzesvorschriften wie die Speiseregeln oder die Beschneidung schreckten jedoch ab, sodass viele den Gott Israels verehrten, indem sie die Synagogen oder gar den Tempel aufsuchten, ohne dem Judentum formal beizutreten. Daher erscheint die These plausibel, dass Lukas vielleicht ein solch gottesfürchtiger Proselyt, d. h. Hinzugekommener war. Nachweisen lässt sich dies allerdings nicht. So aber wäre auch erklärbar, warum in der Apostelgeschichte die Verkündigung des Wortes durch die Jesusjünger immer zunächst in den Synagogen geschieht. Dort kommt es häufig zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen gläubigen Juden und den Anhängern des neuen Weges, sodass Letztere sich zunehmend zu Gebet und Gottesdienst in ihren eigenen Häusern treffen. Ebenso berichtet Lukas in der Mitte der Apostelgeschichte (vgl. Apg 15), also an zentraler Stelle, vom sogenannten Apostelkonzil. Dieses löste einen der schwerwiegendsten Konflikte der jungen Jesusbewegung. Während gerade Judenchristen, d. h. Anhänger der Jesusbewegung, die wie ihr Rabbi aus dem Judentum kamen, an der Beschneidung festhielten und diese auch für Neubekehrte forderten, entschied sich die junge Kirche dafür, auf diese für das Judentum wesentliche Verpflichtung zu verzichten. Man konnte also ohne Beschneidung Christ werden, sodass gerade für viele Proselyten der neue Weg besonders in der Einfachheit der Lehre eine attraktive Alternative zum Judentum darstellte. Vielleicht liegt gerade in dieser freimütigen Offenheit neben dem glaubwürdigen Zeugnis der Märtyrer das Erfolgsrezept des jungen Christentums, sodass sich das Evangelium im römischen Weltreich schnell verbreiten konnte.
Nichts anderes soll heute durch uns geschehen entsprechend dem Auftrag des Auferstandenen an seine Jünger zu Beginn der Apostelgeschichte: „Ihr werdet meine Zeugen sein, in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenze der Erde.“ (Apg 1,8) Im Griechischen ist vom eschaton die Rede, das das „äußerste, letzte, extremste, entlegenste Ende“ bezeichnet. Dazu gilt es, manche Grenzen zu überwinden, ja hinter sich zu lassen, um in der Endlosigkeit der Welt für Christus Zeugen zu sein. Letztlich soll so durch die Jünger Jesu die Prophetie des Jesaja in Erfüllung gehen, dass Gottes Heil nicht nur dem auserwählten Volk Israel zuteilwird, sondern bis an das Ende der Erde reicht (vgl. Jes 49,6). Was das bedeutet, unterstreicht Lukas, indem er sein zweites Werk in Jerusalem beginnen und in Rom, in der Metropole des Reiches, enden lässt. Mit der Hauptstadt kommt das Evangelium in die ganze Welt. Gestärkt durch den Geist Gottes am Pfingstfest, fangen die Apostel an, die Botschaft der Auferstehung weiterzugeben.
Dieser Spannungsbogen, den Lukas über sein zweites Werk legt, motivierte mich, in der Apostelgeschichte nach eigenartigen und bisweilen humorvollen Begebenheiten zu suchen. In ihnen können wir „Therapievorschläge des Heiligen Geistes für die Kirche“ entdecken, sodass wir vielleicht mit ihrer Hilfe zu neuer Beweglichkeit finden können. Neue Bewegungsfreiheit gibt es nicht zum Nulltarif. Das gilt mit Sicherheit auch für die Kirche unserer Zeit. Aber, und auch das beinhaltet die Apostelgeschichte, die Kraft des Geistes und des Wortes ist nicht zu unterschätzen. Bisweilen beschreitet Gottes Geist eigenartige Wege. Unverhofft kommt es zur Wendung, sodass Lähmung in Bewegung verwandelt wird. Das ermutigt mich sehr.
Bei meiner Einkleidung hat mir mein Vorgänger Abt Odilo Lechner (1931–2017) die Regel Benedikts überreicht und in diese ein Zitat aus dem Prolog hineingeschrieben: Pietate sua demonstrat nobis dominum viam vitae – „In seiner Güte zeigt uns der Herr den Weg des Lebens.“ (RB Prol 20) Da das Mönchtum als „Sehnsucht nach der Urkirche“ charakterisiert wird und die Spiritualität Benedikts diese zum Ausdruck bringt, sollen ausgehend von den Texten der Apostelgeschichte stets auch Gedanken aus der Benediktsregel dazu anregen, den Weg des Lebens in der Nachfolge Jesu weiterzugehen. Letztlich war das frühe Mönchtum eine große Befreiungsbewegung. Frauen und Männer ließen das sich etablierende Christentum hinter sich und suchten in den Wüsten nach dem Vorbild der Urkirche alternative Lebensformen. Gerade auch von der Apostelgeschichte inspiriert wurde vieles ausprobiert. Manches prägt unser Leben bis heute, anderes wurde wieder aufgegeben oder bisweilen neu erfunden. Dies ermutigt, ebenso heute manche Herausforderungen anders anzugehen und zumindest gedanklich neue Wege einzuschlagen, wie es die ersten Christen und später Nonnen und Mönche stets aufs Neue taten. Dabei hat das Experimentieren immer etwas Fragliches im eigentlichen Sinn des Wortes und fordert Beweglichkeit, womit wir wiederum bei Martis Frage wären: „Wo kämen wir hin?“
Meine Eltern haben mir den schönen Namen Claudius gegeben. Während der Mädchenname Claudia in meiner Kindheit häufiger zu hören war, stellte mein Vorname damals ein Alleinstellungsmerkmal dar. Darauf war ich immer ein wenig stolz. Es gab nur einen Claudius in der Klasse, ja sogar in der ganzen Schule. Mit dem Lateinunterricht kam es bei mir zu einer gewissen Ernüchterung, als ich darüber erfuhr, dass mein Name sich von claudicari – „hinken“ ableiten ließe und ich also ein „Hinkebein“ sei. Das fand ich nicht so toll. Ein „Lahmer“ wollte ich nicht sein!
Mein Name bekam für mich neue Bedeutung, als ich mir vor zwanzig Jahren beim Federballspiel einen Achillessehnenriss zuzog. Nach einem Sprung in die Höhe sackte ich, als ich mit den Füßen auf den Boden kam, in mich zusammen. Ich hörte einen lauten Schnalzer und hatte von jetzt auf gleich im linken Fuß jegliche Stabilität verloren. Es ging nichts mehr. Es war ein eigenartiges Gefühl, nicht mehr stehen und gehen zu können. Nach der Operation war ich für einige Wochen auf Krücken angewiesen und musste einen VACOped-Schuh tragen. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu hinken. Schritt für Schritt musste ich mithilfe von Physiotherapie wieder laufen lernen.
All das war für mich eine wichtige Erfahrung, zumal ich mit der überraschenden Wahl zum Abt kurz nach dem Unfall ein weiteres Mal aus der gewohnten Bahn geworfen wurde. Wer schon einmal Einschränkungen mit seinem Bewegungsapparat hatte, bei jedem Schritt und Tritt Schmerzen spürte oder gar ans Bett gefesselt war, weiß, was es heißen kann, nicht mehr in die Gänge zu kommen und von manchen Dingen ausgeschlossen zu sein. Ja: Über eigene Standfestigkeit und Beweglichkeit zu verfügen, ist ein hohes Gut!
So vieles kann uns in unserem persönlichen Fortkommen plötzlich lähmen. Nicht nur ein verhältnismäßig kleiner Sportunfall, auch eine Kündigung, eine Trennung oder gar der Tod eines lieben Menschen und viele andere Schicksalsschläge werfen uns aus der Bahn. Lähmungen bedeuten oft Stillstand, nichts mehr geht weiter wie bisher, alles kommt zum Erliegen. Oft braucht es viel Kraft und Aufbauarbeit, bis sich etwas neu bewegen kann. Manche müssen mit ihrer Lähmung leben lernen oder bleiben Geschlagene ein Leben lang.
All das schwingt bei mir mit, wenn zu Beginn der Apostelgeschichte ein Hinkender zu neuer Beweglichkeit findet. Es ist das erste Wunder, das im zweiten Werk des Lukas überliefert wird.
Petrus und Johannes gingen um die neunte Stunde zum Gebet in den Tempel hinauf. Da trug man einen Mann herbei, der von Geburt an lahm war. Man setzte ihn Tag um Tag an das Tor des Tempels, das man das Schöne nennt, damit er die Tempelbesucher um ein Almosen bitten sollte. Als er Petrus und Johannes sah, die eben in den Tempel gehen wollten, bat er um ein Almosen. Petrus und Johannes blickten ihn an und Petrus sagte: Sieh uns an! Er richtete seinen Blick auf sie in der Hoffnung, etwas von ihnen zu erhalten. Petrus aber sagte: Silber und Gold besitze ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi des Nazoräers, geh umher! Und er fasste ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Gelenke fest. Er sprang auf, konnte stehen und ging umher; er ging an ihrer Seite in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott. Alles Volk sah ihn so umhergehen und Gott loben. Sie erkannten, dass es derselbe war, der wegen Almosen am Schönen Tor des Tempels gesessen hatte; und sie wurden von Verwunderung und Staunen über das erfüllt, was ihm widerfahren war.
Apg 3,1–10
Petrus und Johannes gehen zusammen um die 9. Stunde, also nachmittags um 15 Uhr zum Gebet in den Tempel. Damit wird deutlich, dass die ersten Christen fromme Juden sind. Es handelt sich um das zweite Gebet von insgesamt dreien, um das Abendgebet Mincha, das zeitgleich mit der Darbringung des abendlichen Brandopfers (Tamid) verrichtet wurde. (Vgl. Dtn 9,21) Zu dieser Stunde wird ein Hinkender (griech. choolos, lat. claudus), wie man wörtlich übersetzen müsste, vor die prachtvolle Pforte des Tempels gelegt. Seit seiner Geburt ist er gelähmt, wie eigens betont wird, er konnte also noch nie die Beine bewegen. Diese körperliche Einschränkung hatte weitreichende Folgen für sein Lebensschicksal: Nach dem mosaischen Gesetz stellt das Hinken wie auch andere Behinderungen eine Unreinheit dar. (Vgl. Lev 21,18) Daher ist es dem Gehandikapten verboten, den Tempel zu betreten. (Vgl. 2Sam 5,8) Ausschluss vom Kult und gesellschaftliche Isolation sind die Folge. Vor dem Tempel abgelegt, soll dieser Mann wenigsten noch etwas einbringen, indem er die Tempelbesucher um eine milde Gabe anfleht. Schließlich gehörte das Almosengeben neben Gebet und Fasten wesentlich zur jüdischen Frömmigkeitspraxis dazu.
Es fällt auf, dass in diesem kurzen Abschnitt vier Mal vom Sehen die Rede ist. Ausgehend vom einfachen Blick des Wahrnehmens über das An-sehen durch Petrus und durch die Aufforderung: „Sieh uns an!“, wird der Bettler zum aufmerksamen Beobachter. Vielleicht hofft er bei den beiden auf ein besonders großzügiges Almosen. Doch Jesus hatte schon bei der Aussendung seiner 72 Jünger eben diese angewiesen, kein Geld auf den Weg mitzunehmen. (Vgl. Lk 9,3) Zuvor berichtet die Apostelgeschichte, dass die Christengemeinde in Gütergemeinschaft lebt, die Apostel somit mittellos sind. (Vgl. Apg 2,44–45) Sie sollen sich nicht an Besitz binden, sondern ganz Gott vertrauen und so für die Nachfolge beweglich bleiben. Das ist der Hintergrund, wenn Petrus nüchtern feststellt: „Gold und Silber haben wir nicht.“ Doch dieses Nicht-Vermögen wird durch ein höheres Gut überboten. Indem Petrus den Namen Jesu anruft, wird der Hinkende in die Machtsphäre des Auferstandenen gerückt. Dies unterstreicht der Apostel ausdrucksstark, indem er den Mann an seiner Hand packt und ihn aufrichtet. Das griechische Wort egeirein meint „aufwecken“ und beschreibt das Ostergeschehen. (Vgl. Lk 24,6) Der Hinkende erlebt Ostern, die Auferweckung, am eigenen Leib. Er wird aus dem Tod ins Leben gezogen, aus der Isolation in die Gemeinschaft. Eigens wird erwähnt, dass seine Fersen und Füße sich festigen. Er bekommt „Selbst-Stand“, wird also selbstständig. Sechs Bewegungsverben (aufrichten – aufspringen – sich aufrichten – umhergehen – hineingehen – springen) unterstreichen die Dynamik des Geschehens und zeigen, welch souveräne Beweglichkeit dem einst Gelähmten geschenkt wurde. An ihm erfüllt sich die Prophetie des Jesaja, dass der Hinkende wie ein Hirsch springen wird. (Vgl. Jes 35,5) Doch damit nicht genug: Indem der Geheilte den Tempel betritt und dort Gott lobend umherspringt, wird er wieder in die Glaubensgemeinschaft Israels eingegliedert. Letztlich wird so bereits zu Beginn der Apostelgeschichte wunderbar ins Bild gesetzt, was es heißt, Ostern am eigenen Leib zu erleben. Es ist eine Szene voller Freude, Dynamik, Souveränität und Leichtigkeit.
Lukas übt mit dieser Szene indirekt Kritik an der starren Gesetzesfrömmigkeit mancher seiner Zeitgenossen. Dort, wo Behinderte durch ein mit der Thora begründetes Eintrittsverbot an den Rand gedrängt und zum Betteln verdammt werden, befreit der Glaube an den Auferstandenen. Der von den Almosen der anderen abhängige Bettler wird im Namen Jesu geheilt. Der Auferstandene erlöst von Abhängigkeit und Isolation. Erneut beginnt der Exodus; es ist der Auszug des Einzelnen aus dem Leid, der Sklaverei und Gefangenschaft und der Einzug in das Volk Gottes. Die Apostel als Gesandte Jesu schenken, wie ihr Meister, Ansehen, packen an und erwecken zu neuem Leben. Das ist Ostern und es löst bei den Zuschauenden Furcht und Verwirrung aus. Im Griechischen ist von der ek-statis die Rede, die einen Stabilitätsverlust beschreibt. Während ein Mensch zur Standfestigkeit, ja zur Selbst-Ständigkeit findet, verlieren andere ihre Orientierung und geraten in Erklärungsnot. Ihre bisherigen Standpunkte kommen ins Wanken. Denn ein Randständiger wird durch den Namen Jesu in die Gemeinschaft der Glaubenden zurückgeführt. Ausschluss und Abhängigkeit, sowie alle Passivität wird gewandelt in Teilhabe und Aktivität. So verheutigen Petrus und Johannes eines der ersten Wunder Jesu, das sie selbst miterlebt hatten; damals heilte Jesus einen Gelähmten und die staunende Menge in Karfanaum stellte fest: „Heute haben wir unmögliches gesehen.“ (Vgl. Lk 5,17–26) Später wird auf ähnliche Weise Paulus einen Gelähmten in Lystra aufrichten und ihn in das Ostergeheimnis einweihen. (Vgl. Apg 14,8)
Lukas unterstreicht mit diesem ersten Wunder: Die Taten Jesu gehen in seinem Geist und Namen weiter. Der Geheilte kann die Grenze zum Tempelinneren überschreiten und am Lob Gottes teilnehmen. Dadurch wird der Tempel mit neuer Beweglichkeit erfüllt und alle Gesetze und Vorschriften werden auf ihren eigentlichen Inhalt zurückgeführt: Sie sollen dem Heil der Menschen dienen.
Der Codex Iuris Cononici, das Buch des kanonischen Rechtes von 1983, wiegt in lateinisch/deutscher Fassung 904 Gramm. Der Katechismus der Katholischen Kirche in deutscher Übersetzung, 1993 veröffentlicht, bringt sogar 1060 Gramm auf die Waage. Zusammen kommen beide Werke auf 1964 Gramm– was für ein gewichtiges Glaubenskonstrukt! Ein Senfkorn dagegen wiegt 0,0007 Gramm so zumindest im arabischen Gewichtssystem. Das bedeutet: Es braucht ca. 1 291 428 Senfkörner, um das Kirchenrecht aufzuwiegen, und ca. 1 514 285 Senfkörner für den Katechismus. Die definierte Glaubenslehre der katholischen Kirche und deren Umsetzung mithilfe des Kirchenrechts bringt somit 2 805 713 Senfkörner auf die Waage. Dieses Rechenbeispiel präsentierte mir ein Mitbruder, als ich noch Student war. Ich muss etwas verdutzt geschaut haben. Mit einem Schmunzeln meinte er dann: „Jetzt machen Sie sich einmal Gedanken darüber, wenn die Jünger Jesus bitten: „Stärke unseren Glauben!“ Und dieser ihnen antwortet: „Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn, so würdet ihr zu dem Maulbeerbaum da sagen: Zieh deine Wurzeln heraus und verpflanz dich ins Meer! Und er würde euch gehorchen.“ (Vgl. Lk 17,5–6)
Freilich ist die Rechnung gewagt und der Vergleich hinkt, aber der Gedanke lässt mich seither nicht mehr los. Über die Jahrhunderte hat die Kirche ein gewaltiges Glaubensgebäude errichtet, das dem Jerusalemer Tempel gleicht. Stetig wurde mit großem Fleiß und immensen Anstrengungen daran gearbeitet. Sowohl der Katechismus als auch das Kirchenrecht sollen Orientierung geben, Ordnung schaffen und dem Leben der Kirche dienen. Und das tun sie auch. Gerade als junger Abt habe ich die Klarheit des Kirchenrechtes, dessen Notwendigkeit ich als Student noch infrage gestellt hatte, neu schätzen gelernt. Es braucht einen Rahmen, an dem man sich orientieren kann, der andere schützt, sowie Rechte und Pflichten ins Wort bringt und der bisweilen auch eingefordert werden muss. Allerdings ist darauf zu achten, dass dieses gewichtige Glaubenskonstrukt mit seinen detaillierten Ausführungen und Anweisungen nicht die Beweglichkeit hemmt oder gar unser Glaubensleben lähmt. Umso tröstlicher ist das Bild Jesu, dass ein kleines Senfkorn genügt, um etwas tief Verwurzeltes wie einen Maulbeerbaum in Gang zu setzen.
Der Glaube des Petrus und des Johannes gleicht diesem Senfkorn, denn sie nehmen, trotz der gewaltigen Mauern und dem prunkvollen Portal des Tempels den Hinkenden wahr. Dabei sind sie ganz in der jüdischen Frömmigkeit beheimatet; sie gehen zum Gebet. Zugleich sind sie in der Spur Jesu, wenn sie in seinem Namen darauf vertrauen, dass Ostern sich im Leben dieses Bettlers ereignen kann. Der Glaube, so groß wie ein Senfkorn, kann Berge versetzen und einem Hinkenden neue Beweglichkeit schenken, sodass er im Tempel umherspringt.
Mir als „Hinkebein“ hilft es, mich in diesem bedürftigen Menschen wiederzuentdecken. Wie viele andere tue ich mich manchmal schwer mit dem umfangreichen Glaubenskonstrukt der Kirche und ihrer Dogmatik. Und zugleich ist mir seine Notwendigkeit durchaus bewusst. Aber was hat sich nicht alles an Glaubenswissen über die Jahrhunderte angehäuft?! Gleichfalls ist aus der Dogmengeschichte bekannt, wie manche Glaubenssätze im unlauteren Streit durchgesetzt wurden. Es fällt mir schwer, manche der zahlreichen Gebote und Verbote der Sittenlehre, gerade in der Sexualmoral nachzuvollziehen, wenn dabei vergessen wird, dass das Gewissen des Menschen, auch wenn es irrt, seine letzte Instanz ist. Noch komplizierter wird es im Eherecht. Vor einiger Zeit musste ich z. B. einer Person erklären, die schon einmal evangelisch verheiratet war, deren Ehe aber geschieden wurde und die nun neu katholisch heiraten wollte, dass ihre erste evangelisch geschlossene Ehe nach katholischem Kirchenrecht gültig bleibt. Eine neue Trauung konnte es von katholischer Seite nicht geben. Solche und ähnliche Situationen machen mich traurig. Freilich steht am Ende des Codex der Rechtsgrundsatz, dass das Heil der Seelen das oberste Gesetz ist. (Vgl. can 1752) Aber oft genug kommt es durch die Anwendung des Rechts nicht zum Heil, sondern zu neuen Verwundungen.
So bin ich für das Vorbild von Petrus und Johannes dankbar. Von ihnen kann ich lernen, was der Kern unseres Glaubens ist: Ostern. Ganz in der Spur Jesu verkünden sie in seinem Namen die Auferstehung: „Blick uns an!“ Ich bewundere ihr Gottvertrauen. Der Gott unserer Väter, in deren Geschichte wir stehen und in deren Glaubensspur wir gehen, befreit. Nichts anderes versuchen wir Mönche, wenn wir uns regelmäßig zum Gebet treffen. Auf die Beziehung mit Gott kommt es an und darauf, diese kontinuierlich zu pflegen. Das dürfen wir als Gemeinschaft der Glaubenden nie verlernen. Dabei geht uns Gott wie beim Exodus in der unergründlichen Wolken- und Lichtsäule voran. Ebenso motiviert mich der Senfkorn-Glaube der beiden Apostel und hilft mir in meiner Kleingläubigkeit auf. Ich bin dankbar für Menschen, die mir heute den Auferstehungsglauben vorleben, z. B. im Engagement in den Asylbewerbereinrichtungen, in der Firmvorbereitung oder im Besuchsdienst der Kliniken. Sie schenken Ansehen, packen an und richten auf, sie motivieren zur Beweglichkeit. Diese vielseitige Sensibilität für die Not vor unserer Tür stärkt mich immer wieder neu. Der Glaube lässt sich nicht besitzen oder wie ein gewaltiges Gebäude errichten. Der Glaube muss gelebt werden. Er muss bewegen und neue Räume eröffnen. So verstanden ermutigt mich der Springende im Tempel, mich frei im Raum des Glaubens zu bewegen und eine gewisse Bewegungsfreiheit in unserer Kirche mit all ihren Traditionen einzufordern, wie es so viele tun und auch vor uns taten. Wir dürfen uns der Weiterentwicklung der kirchlichen Lehre nicht verweigern, wenn Jugendliche z. B. die Schöpfungsverantwortung einfordern, Homosexuelle um die Segnung ihrer Partnerschaft bitten oder Geschiedene nach einer Zeit der Buße in die volle Gemeinschaft am Tisch des Herrn wieder aufgenommen werden wollen. Manchmal springen sie bildlich gesprochen sogar im Tempel, wie ein noch ungeborenes Kind im Mutterleib sich rührt (vgl. Lk 2,44), und geben so wichtige Impulse, wohin unser Weg führen könnte. Durch sie bekommt Kirche neue Beweglichkeit.
Als Benediktinermönche haben wir das Gelübde der Beständigkeit abgelegt. (Vgl. RB 58,17) Oft wird auch von der stabilitas loci gesprochen, der Ortsbeständigkeit, die sich so nicht in unserer Regel findet. Benedikt dagegen spricht von der Beständigkeit in der Gemeinschaft. (Vgl. RB 4,78) Diese meint für ihn kein statisches Verweilen im einmal gegebenen Versprechen. Sie ist für ihn vielmehr Auseinandersetzung mit den anderen Brüdern und damit etwas sehr Dynamisches. Das Gelübde der Beständigkeit verpflichtet jeden Mönch, in und mit seiner Gemeinschaft auf dem Weg zu bleiben, miteinander und voneinander zu lernen und zu reifen. Folgerichtig vergleicht Benedikt die Gemeinschaft mit einer Werkstatt, in der Mönche aneinander und miteinander arbeiten. Dazu braucht es hier und da Korrekturen und Erneuerungen. Wenn Standpunkte abgeglichen werden, dient auch das der Stabilität.