Hallervorden - Tim Pröse - E-Book

Hallervorden E-Book

Tim Pröse

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Beschreibung

»Ich bin privat ein scheuer Mensch. Tim Pröse hat es geschafft, mich zu öffnen. Manche Dinge, nach denen er mich gefragt hat, überraschten mich. Nicht nur seine Fragen, sondern auch meine Antworten. Einiges, was ich im Leben tat, und vor allem warum ich es tat, war mir zuvor selber nicht so klar.« Dieter Hallervorden

Dieter Hallervorden hat schon lange das »Didi«-Image abgelegt. In einem Alter, in dem andere längst in Rente sind, übernimmt er das Schlosspark Theater in Berlin und überrascht viele Millionen als preisgekrönter Charakterdarsteller in Sein letztes Rennen, Honig im Kopf oder Mein Freund, das Ekel. Nr.-1-Spiegel-Bestseller-Autor Tim Pröse ist beeindruckt von diesem Ausnahmekünstler und nähert sich in einer jahrelangen Spurensuche dem »wahren« Hallervorden. Zahlreiche Gespräche mit ihm, seiner Lebensgefährtin, seinem Sohn, Freunden und prominenten Weggefährten, ein Besuch auf der Privatinsel und einige gemeinsame Auftritte bringen einen oft sehr ernsten, empfindsamen und selbstkritischen Mann ans Licht und die Antwort auf eine der größten Fragen: Wie wird man einfach nur man selbst?

»Ein schönes und gelungenes Buch, in dem ich viel und gern gelesen - und einen völlig anderen Hallervorden kennen gelernt habe!« Markus Lanz, ZDF

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»Ich bin privat ein scheuer Mensch. Tim Pröse hat es geschafft, mich zu öffnen. Manche Dinge, nach denen er mich gefragt hat, überraschten mich. Nicht nur seine Fragen, sondern auch meine Antworten. Einiges, was ich im Leben tat, und vor allem warum ich es tat, war mir zuvor selber nicht so klar.« Dieter Hallervorden

Dieter Hallervorden hat schon lange das »Didi«-Image abgelegt. In einem Alter, in dem andere längst in Rente sind, übernimmt er das Schlosspark Theater in Berlin und überrascht viele Millionen als preisgekrönter Charakterdarsteller in Sein letztes Rennen, Honig im Kopf oder Mein Freund, das Ekel. Nr.-1-Spiegel-Bestseller-Autor Tim Pröse ist beeindruckt von diesem Ausnahmekünstler und nähert sich in einer jahrelangen Spurensuche dem »wahren« Hallervorden. Zahlreiche Gespräche mit ihm, seiner Lebensgefährtin, seinem Sohn, Freunden und prominenten Weggefährten, ein Besuch auf der Privatinsel und einige gemeinsame Auftritte bringen einen oft sehr ernsten, empfindsamen und selbstkritischen Mann ans Licht und die Antwort auf eine der größten Fragen: Wie wird man einfach nur man selbst?

»Ein schönes und gelungenes Buch, in dem ich viel und gern gelesen - und einen völlig anderen Hallervorden kennen gelernt habe!« Markus Lanz, ZDF, zur Hardcover-Ausgabe

TIM PRÖSE

HALLERVORDEN

EIN KOMIKER MACHT ERNST

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

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Hinweis: Das Werk basiert auf dem bei Hoffmann und Campe 2017 erschienenen Hardcover mit dem gleichnamigen Titel, wurde jedoch grundlegend überarbeitet, aktualisiert und erweitert.

Copyright © 2022 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Heike Wolter

Umschlaggestaltung: wilhelm typo grafisch, unter Verwendung eines Fotos von © Hannes Caspar

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-29567-7V001

www.heyne.de

Für alle, die niemals aufgeben

»Ja, während die Mächtigen, die großen Narren, die Welt in Trümmer schlagen, versuchen wir, die kleinen Narren, den Trümmerhaufen immer wieder mit versöhnlichen Schriftzeichen zu beschreiben und mit Blumensamen zu besäen.«

Hermann Hesse

»Ein Narr gibt nie auf!«

Dieter Hallervorden

INHALT

Prolog

Vor und hinter dem Vorhang

Der wahre Hallervorden

Ein Mann, eine Insel

Ein spätes Wiedersehen

Wie Hallervorden in unsere Herzen zurückkehrte

Honig im Herzen

Woher nimmt der Held aus dem Schweiger-Film seinen Zauber?

»Mann, ist der schwierig«

Das Spiel mit dem eigenen Klischee

»Ich hatte nicht mehr an die große Liebe geglaubt«

Ein Herz-Tattoo mit 81

»Manchmal grüßen wir himmelwärts seine Mutter«

Ein Gespräch mit Hallervordens Ehefrau Christiane über das Glück mit ihm und die Zeit, die bleibt

Hochzeit

Ein bisschen dringend und mit großer Freude

Ein neuer Doppelgänger

Wie sich Michael Kessler in Hallervorden verwandelt

Ins Gesicht geschrieben

Was er ist, trägt er um die Nase herum. Eine Nahaufnahme

Alles halb so palim …

Wie Didi begann – und was von ihm in Hallervorden überlebt hat

»Ich brauche mehr Details!«

»Didi – Der Doppelgänger« und lauter Schauspielasse als Mitstreiter

»Manchmal bin ich zu Tode betrübt«

Ein Gespräch mit Dieter Hallervorden über Depressionen, Hochgefühle und die Liebe

Der Entzug

Von einem, der nicht mehr leben wollte

Dem Tod davonrennen

Vom filmischen Sterben und Wiedergeburten:Wieso Hallervorden nicht ausruhen will

Der Trotzige

Die Gegenwart seines Gestern:das geplante Attentat und ein Opa als Held

»Ich bewundere sein Durchhaltevermögen«

Ein Gespräch mit Nathalie Hallervorden über ihren Vater, ihre Mutter Rotraud Schindler, Verletzungen und Hochzeitsscherze

Der Springteufel und das letzte Lagerfeuer

Beinahe-Karrieren als Bösewicht und Samstagabend-Unterhalter

»Ich weiß, was ich an ihm habe«

Ein Streit mit Til Schweiger und seine Folgen

Schildkröten als Wesensverwandte

Was das Fossil Hallervorden mit den Reptilien eint

Genscher, Schmidt und Klemperer

Begegnungen mit Staatsmännern und Helden

»Ein Narr gibt nie auf!«

Hallervorden singt eine Hymne auf seine Melancholie

»Er muss immer weiter tanzen«

Wie seine Kollegen ihn sehen

Johannes ist seine Hoffnung

Ein Sohn als bester Freund

»Wir sind auf Augenhöhe«

Ein Gespräch mit Johannes Hallervorden über seine Kindheit auf der Insel und seinen Vater

Der Ver-rückte

Der Spaß am Ärgern mit neuen Spott-Songs und kalkulierten Entgleisungen

»Wie ist der denn nun wirklich?«

Ein Getriebener und seine letzten Geheimnisse

»Bin umgezogen!«

Wie er sein Begräbnis plant und sich den Tod ausmalt

»Wem das Wasser bis zum Hals steht …«

Ein Kämpfer gegen Corona

Epilog

Hallervordens Traum

Werkverzeichnis

Bildnachweis

PROLOG

Vor und hinter dem Vorhang

Wer in Hallervordens Herz hineinsehen will, sollte in sein Schlosspark Theater kommen. So wie heute Abend 450 Menschen. Kurz vor acht. Volles Haus, endlich wieder nach Corona im Winter 2021. Im Zuschauersaal setzt ein Murmeln, ein Stimmengewirr ein. Dazu das Geräusch Hunderter Schritte und Absätze, das leise Klacken und Quietschen der Sessel, wenn die Leute Platz nehmen. Alles dort vor dem Vorhang richtet sich nach und nach aus, voller Erwartung. Bis die Stimmen leiser werden nach dem zweiten, dritten Gong. Und nur noch ein Raunen und Rascheln über der Szenerie liegt und zu uns auf die andere Seite des Vorhangs dringt. Eine Stille zieht auf, derart gespannt, dass sie ein bisschen wehtut. Denn nun gibt es kein Zurück mehr für ihn, der im Dunkel der Seitenbühne steht. 19.59 Uhr.

Warum tut er sich das an, immer noch? Weil er sich selbst in diesen Momenten am meisten spüren kann. Alles, was er ist – und das ist bei einem Verwandlungskünstler wie ihm so einiges. All das wird er gleich zeigen können. Und vor allem wird er leben können. Und nicht sterben.

Irgendwann vor ein paar Jahren lud er mich ein, mit ihm auf die andere Seite des Vorhangs zu kommen. Mitten hinein in sein Reich. Er schlug mir vor, mit ihm auf der Bühne zu stehen: Pröse liest. Hallervorden erzählt nannte er das Programm dieses Abends, mit dem wir bisher ein Dutzend Mal aufgetreten sind. Ich las und trug vor aus diesem Buch hier und moderierte. Und er erzählte, performte, berührte und erheiterte. In seinem Schlosspark Theater waren wir und in den Stachelschweinen in Berlin. Aber auch in Österreich, als wir im Mai 2022 auf eine kleine Tour gingen: Gmunden, Graz, Wien.

Die Bühne mit Hallervorden zu teilen, bedeutet, dass man ihn mitten in seinem Seelenreich, in einer seiner Herzkammern erlebt. Es gibt keinen Ort, der ihm mehr bedeutet, der überlebenswichtiger für ihn ist, der ihn intensiver am Leben hält.

Anderthalb Stunden vor Vorstellungsbeginn treffen wir uns in der Maske. Immer leicht verausgabt und ein bisschen atemlos erlebe ich Hallervorden in diesen Momenten. Auch angefüllt von einer beinah bangen Erwartung, ob das jetzt gleich denn nur gut gehen wird. Er fragt sich das wirklich, erst sich selbst und dann auch mich und die anderen, die ihm hinter der Bühne begegnen. Manchmal sogar den Feuerwehrmann, der jede Vorstellung an der Seitenbühne sitzt für den Fall der Fälle und der die Vorstellung aus dem Off ansieht.

Seine Stirn ist gekräuselt, die Augen tränen wie so oft ein bisschen, sein Gang ist nicht so gerade, wie er sein könnte, fast geduckt. Erst gleich, wenn es losgeht, wird er all das, was er an Präsenz und Aura besitzt, in sein Gesicht und seine Gestalt legen. Er kann es abrufen wie das berühmte Zirkuspferd, das zuverlässig lostrabt, wenn das Licht in der Manege angeht.

Sandra Meyer ist die Nachfolgerin von Roland Krämer, der jahrzehntelang Hallervordens persönlicher Maskenbildner war und nun in Rente gegangen ist. Sie kommt zu ihm in die Garderobe und beginnt, indem sie kühlende Pads auf seine Augen legt und ihm mit einem Brennnessel-Wässerchen den Kopf sanft massiert, weil das vitalisiert. Die maßangefertigten Perücken für manche seiner Rollen knüpft sie selber, wochenlang. Sie ist es auch, die weiß, welche Kräutertees sie wie lange ziehen lassen muss für den Chef.

Sandra Meyer spricht mit einer Sanftheit und Leisigkeit zu Hallervorden, dass er bald schon die Augen schließt und genießt. Es wird auch Zeit, denn irgendwann muss er alles loslassen, was bis gerade eben noch in ihm hochschwappte an Gedanken, an Konzepten, an Vorhaben, an Ideen. Das muss bitte alles zurückstehen. Endlich gelingt es. Und dennoch: So mancher Zweifel, ein kleines Weh und Ach kommen noch über seine Lippen und jedes Wort schmeckt jetzt nach Puder, weil Sandra Meyer übernimmt. Sie schminkt ihm an jenen Stellen des Gesichts hellere Farben, die breiter zum Vorschein kommen sollen und einen dunkleren Teint an jenen, die tiefer und noch markanter zur Wirkung kommen sollen. »Sein Gesicht bietet jeder Maskenbildnerin von Natur aus sehr viel«, sagt Sandra. Was sie an Ausdruck und markanten Merkmalen in andere erst hineinlegen muss, ist bei ihrem Chef von Natur aus vorhanden.

Und so ist die Maske nicht bloß eine kosmetische Einrichtung in seinem Theater, sondern auch eine Schleuse zwischen der Wirklichkeit da draußen und der Bühnenwelt hier drinnen in seinem Eldorado. Wird ihm anschließend noch beim Anlegen des jeweiligen Kostüms geholfen, wird die Metamorphose des Dieter H. perfekt.

Doch noch etwas verhilft ihm nun, die Seiten zu wechseln, hinaus aus seinem Alltag und hinein in die Theatermagie – und das ist die Wärme der Scheinwerfer, in die er nun für eine kurze technische Probe tritt. Wenn Tom Weinhold von seiner Kommandobrücke in seinem Theaterbalkon die Lichter auf einen Schlag aufdreht, fühlt es sich an wie am Meer, wenn man auf dem Strand liegt unter einer Wolkendecke und friert, bis der Wind endlich ein Loch in den Himmel pustet und die Strahlen der Sonne wärmend auf einen herabfluten. Das Licht hüllt ihn ein, als würde es ihn schützen und Mut spenden. Es blendet kurz ganz stark, sodass die Augen tränen, aber es ist der herrliche Vorgeschmack auf die Zeit, die nun gleich kommen wird: die Zeit im Licht.

Das Lampenfieber, so sang es Udo Jürgens, kriecht langsam in ihm hoch. Der Puls wird schneller. Jetzt bitte tief ein- und ausatmen.

Dann schließt sich der Vorhang und die Türen zum Einlass öffnen sich, eine halbe Stunde vor Beginn. Hallervorden und ich stehen noch kurz hinter dem Vorhang. In der Luft liegt der Geruch des schweren roten Samts und des Staubs, den das große rote Tuch gerade aufgewirbelt hat, als es sich zugezogen hat. Dazu kommt der Duft von Sägespänen, weil sich hinter der Bühne jede Menge hölzerner Kulissen stapeln. Theaterluft.

Er weiß, jede seiner Bewegungen gleich auf der Bühne und jedes seiner Worte muss den Zuschauer in Reihe eins Mitte genau so erreichen wie jenen ganz dahinten im letzten Rang. Alle in diesem Saal muss er nun berühren, erheitern, bewegen. Alle, die mit ihrem eigenen Leben heute Abend zu ihm kommen. Mit ihrer Geschichte, ihrem Glück und auch ihrem Leid. Hallervorden spürt seinen Pulsschlag. Und die Angst. Jene Furcht, die jeden erfasst, der es wirklich ernst meint mit dem Theater und die verniedlichend Lampenfieber genannt wird. Er wird sie bändigen müssen, doch nicht ganz auslöschen. Sie wird ihm, wenn es gut läuft, helfen, gleich bis an die Reserven zu gehen. Nur keine Gewohnheit aufkommen zu lassen.

Er geht auf und ab, schließt immer wieder die Augen. Stationen, Bilder, Stimmen seines Lebens ziehen an ihm vorbei. Vor allem seine Eltern kommen ihm in den Sinn. Irgendjemand kommt noch und will irgendetwas von ihm. Doch es ist jetzt zu spät, denn Hallervorden ist mit seinen Gedanken schon auf der anderen Seite des Vorhangs.

Und spürt in diesem Augenblick jenen einsamsten Moment, wie ihn Udo Lindenberg besingt. In dem ihm keiner mehr helfen kann. Er ist ganz allein. Und wird gleich vor Hunderten Menschen stehen.

Irgendwann an diesem Abend wird er den Text eines Liedes von seiner neuen CD80 plus rezitieren – den Epilog zu seinem Mein Leben-Song. Und der geht so:

»Mein Leben, meine ganz persönlichen Wegpfeiler:

Mein Leben ist keine Generalprobe

Mein Leben wirkt so bunt, wie ich wage, es mir auszumalen.

Leben ist wie Zeichnen ohne Radiergummi

Aber eigentlich ist das Leben doch nur ein Spiel.

Ein Spiel, in dem Gott die Karten mischt,

der Teufel abhebt und wir die Stiche machen müssen.

Ich liebe mein Leben, weil ich darin eine schöne Rolle spielen darf.«

Auf seinen Wunsch hin trete ich zuerst hinaus, um ihn anzukündigen. Drei Minuten steigere ich die Spannung auf ihn, bis ich jenen Mann, der da gleich kommen wird, einen »Überlebenskünstler« nenne. Deswegen hallen jetzt die ersten Takte seines Lieblingslieds laut durch die Boxen: I will survive von Gloria Gaynor. Das Stichwort für Hallervorden. Im lässigen Laufschritt nimmt er nun die Bretter, die seine Welt bedeuten. Applaus brandet auf wie eine einzige große Welle, viele im Publikum johlen, lachen vor Freude. Der Mann lächelt fast besinnlich und etwas in sich hinein, noch zögernd fast. Er winkt beinahe scheu den Leuten zu und sagt: »Tagggchen!« Und dann schon mit einem bisschen seiner typischen Rotzigkeit: »Wie nett von Ihnen, dass Sie so tun, als würden Sie mich kennen …«.

Für zwei Stunden wird dieser Mann nun endlich angekommen sein. Er wird selbst die letzte Spur seiner Schwermut überwinden. Wie im Rausch. Um die Leichtigkeit des Seins zu leben für die Zeit auf der Bühne. Denn eben jene soll er doch gleich, verdammt noch mal und bitteschön, unter die Leute bringen. Und tatsächlich wird ihm ganz leicht zumute in dieser Glücksschwere. Alles lässt er hinter sich, so wie man es sich von einem Rausch nun einmal verspricht. Er löst sich von allen Fesseln. Er spürt, wie frei er jetzt ist. Ein Ausbruch aus seinem inneren Alcatraz. Aus allem, was ihn manchmal so gefangen nimmt.

Und aufhalten kann ihn dabei nichts. Nicht einmal widrige Umstände. Rückblende: Im Januar 2018 standen wir das erste Mal gemeinsam auf der Bühne. Die Nacht zuvor unternahmen wir zusammen mit seinem Sohn Johannes einen Kneipenbummel durch sein Berlin, der sich bis in den frühen Morgen ausweitete. Am Nachmittag des nächsten Tages sollte dann die Lesung vor ausverkauftem Haus beginnen. Und wir beide traten – mit den Spuren unseres Ausflugs im Gesicht und in den Knochen – ins Dunkel der Seitenbühne.

Als sich der Vorhang dann hob und die Scheinwerfer aufflammten, setzte auf einmal die Technik aus. Unsere Bühnenmikrofone versagten. Und so erreichten unsere Worte, vor allem meine, die hinteren Reihen im Theater viel zu leise. Das ging endlose Minuten so. Bis das Publikum auf den letzten Plätzen erst murrte und dann anfing zu rumoren.

Das war der Moment, als Hallervorden unseren Auftritt rettete. Er riss sich sein Mikrofon vom Revers, schnellte hoch von seinem Stuhl. Und schritt von seinem Platz auf der Bühnenmitte bis an den äußersten Bühnenrand. Dort angekommen, erfüllte er das Theater mit seiner ganzen Stimme und Präsenz. Er schlug das eben schon zu Recht leicht missmutige Publikum, das uns so schlecht hören konnte, in seinen Bann und drehte die Stimmung ins genaue Gegenteil. Ein Dutzend Mal unterbrach ihn an diesem Nachmittag der Szenenapplaus seiner Zuschauer.

Wir redeten damals auch ganz offen über seine Schatten. In denen und mit denen er immer wieder lebt. Und aus denen er es immer wieder herausgeschafft hatte in seinem Leben. Ganz so wie aus jener noch oft zu erwähnenden Schublade, in der er als deutscher Künstler viele Jahre lang feststeckte.

Wir sprachen über seine Melancholie und seine Schwermut, die immer mal wieder bis heute anwachsen zu waschechten Depressionen. Auch über die werden wir noch reden in diesem Buch.

Aber bis der Vorhang fällt, ist der Mann gefeit gegen das Dunkel in sich. Auf seiner Bühne ist er ganz bei sich. In seiner Königsdisziplin, wie er sie selbst nennt. Die Menschen erwarten genau das von ihm. Aber jubeln auch darüber. Er wird sie überraschen mit dem, was sie von ihm kennen. Aber auch mit dem, was sie ihm vielleicht bis dahin nicht zugetraut haben. Mit Feingefühl und Melancholie wird er sie berühren. Und die Leute werden an die vielen Momente in ihren eigenen Leben denken, in denen sie seinetwegen schon lachen mussten. Zurücklehnen werden sie sich in dieser Zeitreise. Weil der Mann da vorne im Rampenlicht nun etwas von sich gibt.

Nicht irgendetwas. Sondern immer alles.

München, im August 2022

Tim Pröse

Sie können mir schreiben, wenn Sie möchten: [email protected]

DER WAHRE HALLERVORDEN

Ein Mann, eine Insel

Der Weg zum wahren Hallervorden ist weit. Raus aus dem Grau seines Berlins führen 1520 Kilometer in sein verborgenes Ich. In seine Abgeschiedenheit, in der sich der Himmel weiten wird, der sich gerade noch wolkenschwer über Deutschland wölbt.

Ein Air-France-Flieger stößt durch die Wolkendecke ins Sonnenlicht. Er gleitet nach Paris-Charles-de-Gaulle, dann geht es weiter mit der nächsten Maschine nach Brest. Von dort schlängelt sich der Besucher in anderthalb Stunden Fahrt mit dem Mietwagen die bretonische Küste entlang. An den Säumen der Landstraße wachsen immer buntere und immer wildere Blumen aus dem Gras. Das Licht und die Farben flirren.

Die Fahrt zum anderen, der Öffentlichkeit bislang unbekannten Hallervorden führt mich bis in den nordwestlichsten Zipfel von Frankreich. Fast in die Gegend, in der Asterix’ Dorf steht. Bis der Kontinent aufhört. Bis sich die Landstraße am Horizont im großen Blau des Atlantiks verliert.

Irgendwo dort draußen in diesem Blau liegt Hallervordens Zweitwohnsitz – auf seiner Privatinsel. Die Mittagssonne gleißt über das Meer und lässt die Gestalt der Insel da drüben nah am Horizont fast verschwimmen. Hallervorden zieht sich auf sie immer wieder zurück, weil ihn sein ganzes Wesen dorthin treibt. Um auf ihr zu verschwinden und sich von der Welt verschlucken zu lassen.

Für dieses Buch, die aktualisierte Neuausgabe von »Hallervorden – Ein Komiker macht Ernst«, habe ich den Mann fünf Jahre lang immer wieder begleiten können: Erst das ganze Jahr 2017 über, damals für die Erstausgabe. Aber wir blieben seit dieser Zeit verbunden und sahen uns seither immer wieder.

2017 besuchte ich ihn auf seiner Insel und übernachtete in seinem Schloss, das auf ihr thront. Auch das ist eine Premiere in seinem an Erstaufführungen, Abschieden und Neubeginnen reichen Leben. Zum ersten Mal wird sich Hallervorden, mit dem Generationen von Fernsehzuschauern aufwuchsen und den viele zu kennen glauben, wirklich öffnen in diesem Buch. Er wird seine bunten Masken ablegen, hinter denen er erfolgreich war. Und einiges an Theaterpuder wird er sich abschminken. Er wird von seinen Träumen, von seiner Traurigkeit und auch von seiner Schwermut erzählen. Etwas von dieser Tiefe erahnt jeder, der seine Kinofilme Honig im Kopf oder Sein letztes Rennen gesehen hat. Aber da ist noch mehr. Hallervorden wird in diesem Buch auch von seinen Ängsten erzählen und von dem, was ihn immer schon quält. Er wird sogar berichten, dass er Angst vor dem Leben hatte und nicht mehr leben wollte.

Seine Christiane, die er kurz vor Erscheinen dieser Neuausgabe geheiratet hat, wird über ihre Liebe zu ihm sprechen. Und seine Kinder über ihren Vater.

Für Dieter Hallervorden selbst waren unsere zahlreichen Gespräche eine Überwindung, manchmal eine Häutung. Doch schließlich tat er das, was er jahrzehntelang öffentlich vermieden hatte: Er zeigte seine ganze Seele. Und war am Ende von sich selbst überrascht – »nicht nur von den Fragen, sondern auch von meinen Antworten«. Und das sagte er ohne jedes Augenzwinkern.

Da war einer verwundert über sich selbst. Und über seine große Verwandlung in den vergangenen Jahren. Von eben jener will dieses Buch erzählen. Es ist die Geschichte von einem, der vor langer Zeit auszog, das Lachen zu lehren. Von einem, der sehr ernst zu sich selbst ist. Von einem, der feststeckte in den Schubladenköpfen der Fernsehmacher und der sich noch einmal neu erfand. Von einem, der noch vor ein paar Jahren sagte, er meide rote Teppiche und VIP-Feten seiner Branche. Und der nun mit seiner Christiane – in etlichen Ausgaben von Gala und Bunte wird es auf Hochglanz gedruckt – durch die Nächte tanzt. Von einem, der sich als Eulenspiegel der BRD ausgab und seine Doktorarbeit schon begonnen hatte. Von einem, der sagt, er glaube nicht an einen Gott, und der doch fast jeden Tag zum Himmel hinaufschaut, um sich bei seiner Mutter zu bedanken.

Es ist Mai 2017. Die Alleen der Bretagne stehen Spalier auf dem Weg zu ihm hin. Manche Bäume hat der Seewind zerzaust. Manche trotzen ihm, stellen sich ihm entgegen. Das Salz in der Luft schlägt gegen die Windschutzscheibe. So entlegen ist die Gegend, dass das Navi im Mietwagen aussetzt. Fragt man deswegen die alten Männer im Dorf nach der Insel »mit dem Château« und »dem Monsieur Comédien aus Allemagne«, antworten sie: »Ah oui, oui, Monsieur ’Allervooorden! Oui, oui, Didier …«

Sie lächeln und deuten weiter Richtung Meer. Sie kennen den lustigen Deutschen, von dem die Kapitäne Tag für Tag auf den Touristenbooten über die Bordlautsprecher erzählen, wenn sie zum Sightseeing an seiner Privatinsel vorbeituckern.

Mit aller Macht drückt der Atlantik hier an die Küste der Bretagne. Erst schlägt er in Wellen und später als Gischt an die Felsen. Wer aussteigt, den umarmen die warmen Böen. Der steht am Ufer, atmet, schmeckt das Salz der Luft und spürt die offene See. Eine Küste, die berührt und befreit.

Deswegen also ist er hier, denke ich mir.

Deswegen also empfindet er sich heute als noch frankophiler und freier als damals. Als er Romanistik studierte mit dieser großen Vorliebe für die französische Sprache und jede Art von Unabhängigkeit.

Nur ein paar Kilometer sind es jetzt noch bis zu ihm hin. Der kleine Zacken von Frankreich, der hier in den Ozean ragt, ist einzigartig, unverwechselbar. Es sind besondere Steine, die es nur an diesem Ort der Welt gibt und sonst nur noch auf den Seychellen, so wird Dieter Hallervorden es mir erklären. Riesige Findlinge und Felsbrocken, die von den Jahrtausenden geschliffen wurden. Die märchenhaft anmuten. Sie berühren die Erde kaum. Als hätte sie ein Riese vor Kurzem beim Boulespielen in diese Gegend geworfen.

Je näher das Ziel rückt, desto gewaltiger türmen sich die Steine vor mir auf. Dann erreiche ich endlich den kleinen abgelegenen Strand, zu dem ich fahren sollte. Auch er ist eingefasst von diesen Steinen, sie sind vier bis sechs Meter hoch. Und ein rosafarbener Schimmer lässt sie aus der tintenblauen See herausleuchten.

Auch deswegen ist er wohl hier, denke ich jetzt noch einmal. Es war 1988, da las ich – als Student, der davon träumte, einmal Journalist zu werden –, dass Hallervorden sich eine Insel gekauft hatte. Davon erzählte ich ihm und dass es seither einer meiner offenen Reporterwünsche sei, ihn dort einmal zu erleben. Er zögerte. Doch dann lud er mich ein.

Vom Strand aus fallen meine ersten Blicke nun auf seine Insel. Die Spitzen und Zinnen der Türme seines Schlosses ragen aus den Kronen der Bäume hervor. Ich rufe Hallervorden an, und er meldet sich am Handy.

»Okay«, sagt er, »ich setze mich ins Boot.«

Fünf Minuten später erscheint ein winziger Punkt auf der See. Eine Viertelstunde weiter erkenne ich dieses so bekannte Gesicht, halb verborgen von einer Seemannsmütze, bis über die Augenbrauen gezogen. Er springt jetzt aus seinem Schlauchboot, zerrt es an den Strand. Aus seinem Bart und von seinem Ölzeug tropft das Spritzwasser der Wellen. »Schön, dass Sie da sind«, sagt er, umarmt mich und deutet lächelnd erst einmal in die andere Richtung, zum Dorf: »Lassen Sie uns eben noch Bier kaufen …«

Nach einem Abstecher zum nahen Supermarkt kommen wir mit einem Sixpack unterm Arm zurück zum Strand, und die Überfahrt beginnt. Die Luftkammern des Schlauchboots sind nicht richtig vollgepumpt, was das kleine Bötchen einmal mehr schaukeln lässt in der aufgewühlten See. Dann fällt auf halber Strecke auch noch der Außenborder aus, und Hallervorden kämpft gegen die Technik. Reißt tapfer an der Startleine, bis das Ding wieder anspringt. Nach jeder Welle, die das Boot emporträgt, platschen wir zurück in die See. Die Gischt weht uns in kleinen Schaumkronen entgegen, und jeder Meter nach vorn spült einen neuen Schwall Wasser in unser Boot.

»Geht doch!«, sagt er mit einem Lächeln. »Gestern hätte ich Sie nicht abholen können, da war der Sturm zu stark.«

Ich versuche zurückzulächeln, spüre jedoch bald schon Übelkeit in mir aufsteigen. Anmerken lassen will ich mir aber natürlich nichts. Bemüht tapfer steige ich aus, als wir den Strand seiner Insel im knietiefen Wasser erreichen. Ich probiere einen möglichst coolen Ausfallschritt in die Brandung hinein, so wie er Hallervorden gerade gelang, als ich schon merke, wie ich auf den Algen eines Steins ausglitsche, den Boden unter den Füßen verliere. Ich rudere mit meinen Armen, die finden aber keinen Halt mehr. Ich plumpse rückwärts ins Meer – in der einen Hand mein Gepäck, in der anderen einen Blumenstrauß für Christiane. Eine Welle drückt meinen Kopf unter Wasser in den feinen Sand.

Hallervorden gelingt jetzt der Spagat. Mit der einen Hand reißt er das Schlauchboot ans Ufer, mit der anderen zieht er mich aus der misslichen Lage. Ich schüttele mich wie ein nasser Hund, pruste und versuche zu lachen: »Ich wollte zur Begrüßung endlich einmal einen so guten Sketch hinlegen wie Sie damals, Herr Hallervorden …«

Der Meister schmunzelt höflich.

Christiane kommt uns entgegen. Mit Salz in den Augen sehe ich sie zunächst nur wie durch Schlieren. Auch die Insel ist noch verschwommen. Ich stehe tropfnass vor dem Hügel und reibe mir die Augen – und schaue und staune.

So haben wir uns als Kinder die Landschaften der Grimm’schen Märchen ausgemalt: Kiefern werfen Schatten auf den von ihren Nadeln weich bedeckten Boden. Jeder Schritt auf ihm federt sacht. Die Dächer der Bäume bestimmen zusammen mit den Haufenwolken über ihnen, welchen Sonnenstrahl sie auf welche Stelle dieses Eilands durchlassen. Und so leuchten lauter Lichtkegel rund um das Schloss, das sich über allem erhebt. Der Wind rauscht in den Zweigen. Drückt er von oben auf die Bäume, riecht die Luft nach Harz. Gleitet er über die See und wirbelt an der Insel und dem Schloss empor, verbreitet er den Duft der Blumen in den vielen Beeten.

In den Kiefern hören wir Vögel. Auch ihr Gesang wird vom Wind mal näher zu uns und dann wieder fortgetragen. Vor uns erhebt sich der Bau mit seinen Türmen und Zinnen. Er ist aus den gleichen Steinen gemauert, die die Küste und Insel bevölkern. Und wieder einmal, nicht zum letzten Mal an diesem Tag, denke ich: Deswegen ist er also hier …

Ein Fleck Paradies im Meer, einen knappen Kilometer vor der bretonischen Küste. Hallervordens Allerheiligstes. Nirgendwo sonst ist er so sehr er selbst, das spürt man gleich. Und deswegen ist es ein großes Glück, ihn hier zu besuchen.

Er deutet jetzt auf Hecken, die die Pfade seiner Insel säumen. Er hat sie angelegt, um den Wind zu brechen. »Die Blüten des Elaeagnus hier duften wie ein Frauenparfüm«, sagt er und taucht seine Nase ins Grün.

Die Insel scheint mir ein Ort, an dem sich ein Mann wunderbar den Gewalten aussetzen kann und sich gleichzeitig in ihnen geborgen fühlt. An dem er umschlossen ist von wilder Natur. Jeweils nur wenige Momente lang gibt das Meer den Weg zum Festland frei. Bei totaler Ebbe. Dann ist sie kurz zugänglich. Zugänglich, wie es Hallervorden in seinem Innersten eigentlich auch ist. Bei Flut jedoch erlebt er wieder das, was er mindestens genauso gerne ist: reserviert und für sich.

Ist Hallervorden einer, der getragen und geliebt sein will von den Menschen und gleichzeitig nach Einsamkeit dürstet? Stecken die Ebbe und die Flut, die sein Leben auf der Insel bestimmen, selbst tief in ihm verborgen?

Dieses Buch ist eine Hommage an Hallervorden und kein distanzierter Bericht. Weil ich ihn mag und er mich. Deswegen gibt er mir Einblicke in sein wahres Ich und lässt eine Nähe zu wie nie zuvor in einem Buch oder Artikel über ihn. Nicht, weil ich ihm investigativ entgegentrete, sondern ihm zugewandt bin. Mich interessieren Hallervordens Gefühle und jene, die er entfacht, wenn man ihm begegnet.

Das Buch leistet sich auch immer wieder den kindlichen Blick auf diesen Dieter Hallervorden, denn als Kinder liebten wir ihn ja alle. Danach bemüht es sich wieder, ihn mit Vernunft zu sehen. Das, was er tut und tat, abzuwägen, zu hinterfragen. Doch oft lächelt es einfach. Denn das ist ja klar bei einem wie Hallervorden, der so viele Generationen begleitet hat beim Altwerden. Mit seinem Lachen. Und jenem, das er bei Millionen erweckt hat.

Hallervorden hat mir alle Freiheiten gelassen beim Recherchieren und Schreiben. Er wollte nichts von meiner Sicht auf ihn kontrollieren oder gar vorschreiben. Stattdessen erlaubte er mir, dass ich ihn noch einmal wie ein Junge durchbohre mit meinen Blicken und Fragen. Meine Sicht auf ihn war und ist sehr neugierig, aber nicht entlarvend und auch hoffentlich nie abgeklärt, sondern liebevoll. Einfach, weil er neben Winnetou alias Pierre Brice, der den ernsten Part übernahm, mein lustiger Kindheitsheld war. Ich sehe mich als Stellvertreter für die meisten Leser dieses Buchs. Deswegen erzähle ich manchmal auch in Ich-Form. Ein Stilmittel, weil ich ein ziemlich typischer Vertreter der Generation Didi war, der mit ihm erwachsen und mittlerweile 52 Jahre alt wurde. Ich bin zudem ein Augenzeuge seiner jahrzehntelangen Verwandlung – so wie viele Hunderttausende andere es in ihren Vorstellungen und Eindrücken von ihm sind.

Deswegen habe ich ihn gefragt, ob ich seine Biographie schreiben darf. Vor 16 Jahren tat er das selbst schon einmal, im Eilverfahren, wie er selbst sagt: Wer immer schmunzelnd sich bemüht. Ein autobiographischer Blick zurück nach vorn. Doch das Spannendste in seinem Leben sollte damals ja erst noch kommen. Seine große öffentliche Metamorphose von einem Berühmten, der belustigt, zu einem Berühmten, der die Menschen berührt. Die stand damals noch aus. Vielleicht hatte er schon nicht mehr mit ihr gerechnet und seine Memoiren zu früh verfasst. Er selbst hat das ein bisschen bereut.

Diese Insel ist Reichtum. Natürlich auch materieller. Im Jahr 1988 hatte er sie sich gekauft für über eine Million Mark. Mich beeindruckt aber mehr noch ihr ideeller Wert. Sie ist Freiheit. Und sie gehört einem freien Mann. Viel mehr Freiheit kann man sich für Geld nicht kaufen, denke ich.

Und bald schon spüre ich, dass dieser Mann diese Insel nicht nur besitzt. Sondern sie auch ihn.

Er zog sich hierher zurück, ohne es damals wirklich zu wollen. Viel zu lange. Er wartete auf die Ebbe und sechs Stunden später auf die Flut. Dann wieder auf die Ebbe. Er langweilte sich dort. In den Jahren um die Jahrtausendwende lebte er den größten Teil des Jahres in Frankreich, sein Sohn Johannes, Jahrgang 1998, wuchs hier quasi auf. Erst seit 2009, seit er das SchlossparkTheater in Berlin übernahm, ist er nur noch wenige Wochen im Jahr auf der Insel.

Sie ist sein »Hideaway«, wie es heute heißt. »Mit dem Gesicht kann man sich nur verstecken«, sang er aus Spaß. Bis der Spaß immer ernster wurde und er in Berlin allenfalls schmunzelnd oder lächelnd die Straßen kreuzen durfte. Schaute er ganz normal wie jeder andere, stoppten ihn gleich die Leute: »Mensch, Didi, geht‘s dir nicht gut? Mach uns mal ’n gespielten Witz!«

Von Berufs wegen ist Hallervorden ja gerne umbrandet von Menschen und ihrem Beifall. Als Mensch lieber nur vom Wellenschlag des Atlantiks. Er flieht immer wieder auf diese Insel, weil ihn der Lärm dieser Welt quält. »Extrem geräuschempfindlich« nennt er sich selber. Und wer ihn einmal beobachtet hat, welchen Schmerz es in ihm auslöst, wenn ein Handy während eines Gesprächs klingelt oder auch bloß eine Heizung bollert, ein Kühlschrank summt, der ahnt, dass Berlin zu laut ist für ihn. »Alle unnatürlichen Geräusche stören mich«, sagt er. Das Röcheln der Kaffeemaschinen in italienischen Restaurants. Das Quäken aus den Kopfhörern der U-Bahn-Nachbarn. Das Knattern der Rasenmäher in den Vorgärten. Das Dröhnen der Presslufthämmer auf den Hunderten Baustellen der Stadt. Das Heulen der Blaulichtsirenen. All das stört Hallervorden nicht bloß. Es hindert ihn zu leben.

Da scheint es wie eine Ironie seines Lebens, dass ausgerechnet ein imitiertes nerviges Geräusch sein Markenzeichen wurde: »Palim-Palim!«. Sein Fingerabdruck, seine komische DNS.

Umso mehr spürt er jenen Geräuschen auf seiner Insel nach, die allein die Natur hervorbringt. Dem Rascheln der Blätter in den Bäumen, die er hier einst selbst gepflanzt hat. Und dem Kreischen der Möwen. Ansonsten dringt so gut wie nichts in diese meeresumrauschte Stille. Schon gar kein »Palim-Palim«.

Jeden noch so kleinen Flecken zwischen den Inselfelsen hat Hallervorden mit kleinen Steinen bewehrt und dazwischen Beete angelegt. Wenn er heute um sein Eiland spazieren geht, blickt er auf diese Beete und erinnert sich an die Jahre, in denen er die Setzlinge eingepflanzt hat. Und ist berührt, wenn sie emporwachsen. »Wobei mir nicht wichtig ist, wie groß sie werden, sondern, ob sie sich wohlfühlen«, erklärt er. »Ich habe da eine Sorgfaltspflicht, genauso wie ich sie meiner Theaterfamilie gegenüber habe, meinem Sohn oder meiner Christiane.«

Die meisten von ihm gepflanzten Sträucher wachsen längst auf Augenhöhe mit ihm oder überragen ihren Gärtner. »Diese Insel ist in weiten Teilen geprägt durch meine Persönlichkeit«, sagt er und erzählt, wie er sich das neugotische Schloss von innen Stück um Stück zurückeroberte. Wie er die geschmacklose Einrichtung seines Vorgängers, der sämtliche Kamine zugemauert und Neonröhren an die Decken geschraubt hatte, wieder herausgerissen hat. »So sehr geliebt hat diese Insel vor mir wahrscheinlich noch niemand«, lächelt er und führt mich zu seinen Lieblingsplätzen.

Zur »Abend-Philosophen-Bank« etwa, auf der er gerne beim Sonnenuntergang mit seinem Sohn sitzt und dem Tag in Gedanken und Gesprächen nachsinnt. Oder seine »Bars«. Das sind flache, abgesenkte Stellen inmitten der Riesenfindlinge, auf denen er gut ein Glas abstellen kann und von denen der Blick nur ins weite Blau geht. Von diesen »Bars« aus genießt er den Rundumblick. Hallervorden fällt, als er mir diese Weite zeigt, die Schauspielersentenz ein, nach der immer nur der Augenblick zählt, der so schnell vergeht: »Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze.« Bei ihm auf der Insel aber wachsen immer neue Zweige für diese Kränze. »Ich habe hier Beständigkeit gefunden«, sagt er.

Lachend erinnert er sich an seine ersten Abenteuer mit seiner Insel. Den ersten Einkauf etwa, als er die Lebensmittel vom Festland-Supermarkt auf sein Gummiboot verlud und gleich in starke Strömungen geriet auf dem Weg zwischen Land und Insel. Die Gezeiten zerrten so stark am Boot, dass es ohne ihn forttrieb. Hallervorden also riss sich die Sachen vom Leib, schwamm hinter ihm her, erreichte das Boot und kletterte hinein, blieb aber mit seiner Unterhose am Außenruder hängen. So schwankte er mit nacktem Hintern und ruderte mit seinen Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Die Franzosen am Ufer gaben Szenenapplaus vor Lachen.

Der Einkauf schwamm im Meer, Orangen trieben wie Bojen in den Wellen, das gesunkene Zehn-Kilo-Waschmittel-Paket ließ das Meer schäumen. Der Hafenmeister kehrte gerade vom Fischen zurück und wollte den Schiffbrüchigen retten, ihn zurück in den Hafen schleppen. Einen Fuß hatte Hallervorden schon auf dem Fischerboot, einen noch auf seinem, versuchte mit ganzer Kraft und beiden Beinen, die schwimmenden Untergründe zusammenzuführen, schaffte das natürlich nicht, geriet erst ins Grätschen, dann in den Spagat und plumpste erneut ins Meer. Bis ihn der Hafenmeister mit seinem Fischernetz kescherte und zum Kai brachte. Die Einheimischen im Hafen klatschten immer noch, riefen nach Zugaben. Von nun an hieß es unter ihnen: »Kommt schnell zum Hafen! Der Deutsche ist wieder da!«

Es dauerte noch etwas, bis durchsickerte, dass dieser Slapstick-Könner aus dem Hafen ein professioneller ist. Sogar ein Star! Dann wollten ihn alle mal in einer richtigen Vorstellung erleben, und Hallervorden gab den Didi auf einer Laienbühne im bretonischen Dorf. Er kann ja fließend Französisch.

Hallervorden beauftragte Handwerker, sein Schlösschen auf der Insel zu renovieren. Nach wochenlangen Bauarbeiten schmirgelte ein Maler mit einem Bunsenbrenner den alten Lack von den Fenstern und setzte dabei den Dachstuhl in Brand. Die Feuerwehr ließ sich zu viel Zeit, und auch ihr Schlauch wurde von der Strömung so weit abgetrieben, dass er nicht vom Hydranten am Hafen bis zur Insel reichte. Wieder half der Hafenmeister und hangelte sich am Schlauch entlang. Fädelte ihn zwischen den Felsen so geschickt ein, dass er doch noch ausreichte – doch da durchpflügte ein Motorboot dröhnend die Szenerie und zerschnitt den Schlauch. Das Ergebnis: Hallervordens Traumschloss war fast zerstört, noch ehe er es genießen konnte. Und nun musste er es wieder aufbauen.

Auch das passt bestens zu seinem ganzen Leben, dieses Anpacken nach dem Absturz, dieser beherzte Neuanfang.

Inzwischen ist Hallervorden längst heimisch geworden. Das Schloss der Insel, 1895 im Stil mittelalterlicher Burgen gebaut, beherbergte einst den Literaturnobelpreisträger Henryk Sienkiewicz, Autor des berühmten Romans QuoVadis?. Und auch der Nachbar ist erlesen: Hallervorden schaut auf das Anwesen eines gewissen Gustave Eiffel, das heute dessen Ahnen bewohnen. Bald wird er mich hineinführen in seinen »Herrensitz«, wie er das Schloss gerne nennt. Später, gegen Ende dieses Buchs, werden wir uns dort drinnen über das Lebensende unterhalten.

Jetzt zeigt er gen Horizont. Und sagt, dass er mit seinem Bötchen gern mal zum Fischen raus aufs Meer tuckert. »Vierhundert Meter in diese Richtung gibt es viele Makrelen«, deutet er hinaus, »für Barsche muss ich etwas weiter raus.«

Etwas weiter raus … In diesem Buch wird sich Hallervorden weit hinauswagen. Und tief eintauchen. In sein Meer. Das Meer in sich.

EIN SPÄTES WIEDERSEHEN

Wie Hallervorden in unsere Herzen zurückkehrte

Hallervorden braucht diese zwei Leben in seinen zwei Welten. Mal ist er die Rampensau, mal der Robinson. Er benötigt diesen Rollentausch mit sich selbst. Und fast hat er vergessen, dass seine Insel auch für ein großes »Was-wäre-wenn« steht in seinem Leben. Dass sie beinahe Schauplatz eines ziemlich langweiligen und verhängnisvollen Plans B gewesen wäre.