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In ihrem bahnbrechenden Werk, das ursprünglich im Jahr 2006 veröffentlicht wurde, taucht die renommierte Journalistin, Historikerin und Nahostwissenschaftlerin Helga Baumgarten tief in die Feinheiten der Hamas ein und bietet eine umfassende und aufschlussreiche Untersuchung, die heute noch genauso relevant ist wie bei ihrer ersten Veröffentlichung. Indem sie die Hamas in ihren breiteren soziopolitischen Kontext einordnet, beleuchtet Baumgarten die Komplexität und die Herausforderungen, mit denen die palästinensische Gesellschaft konfrontiert ist, sowie die breitere Dynamik, die die Region prägt.
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Helga Baumgarten
HAMAS
Der politische Islam in Palästina
Gamila Basel
Impressum:
Erschienen bei GAMILA Verlag, Basel
November 2024
© 2006 Helga Baumgarten
Erstveröffentlichung im Diederichs Verlag, München
Satz & Covergestaltung: Enso Aellig
ISBN: 9783759269096
Vorwort der Verlegerin
Zum Nachdruck von Helga Baumgartens Buch über die Hamas aus dem Jahr 2006:
In der turbulenten Landschaft des Nahen Ostens gibt es nur wenige Themen, die so viele Debatten und Streitigkeiten hervorrufen wie der palästinensisch-israelische Konflikt. Im Zentrum dieses Konflikts steht die Hamas, eine komplexe und vielschichtige Organisation, deren Rolle und Bedeutung seit Jahrzehnten intensiv untersucht und analysiert wird und der zu Unrecht vorgeworfen wird, nichts als eine «terroristische Organisation» zu sein. Dieses simplistische Ansicht greift zu kurz. In ihrem bahnbrechenden Werk, das ursprünglich im Jahr 2006 veröffentlicht wurde, taucht die renommierte Journalistin, Historikerin und Nahostwissenschaftlerin Helga Baumgarten tief in die Feinheiten der Hamas ein und bietet eine umfassende und aufschlussreiche Untersuchung, die heute noch genauso relevant ist wie bei ihrer ersten Veröffentlichung.
Obwohl seit der Erstveröffentlichung viel Zeit vergangen ist (was sich teilweise daran zeigt, dass die als Quellen angegebenen Internet-Links nicht mehr aktuell sind), haben sich die Umstände rund um die Hamas und den palästinensischen Kampf im weiteren Sinne kaum grundlegend geändert. Daher ist Baumgartens Buch nach wie vor eine der wenigen wissenschaftlichen Analysen, die ein rigoroses, evidenzbasiertes Verständnis der Hamas und ihres Platzes im komplexen Gefüge der Nahostpolitik vermitteln.
Baumgartens akribische Recherchen und nuancierte Analysen bieten dem Leser einen seltenen Einblick in das Innenleben der Hamas, indem sie ihre historischen Wurzeln, ideologischen Grundlagen, Organisationsstruktur und sich entwickelnden Strategien untersuchen. Indem sie die Hamas in ihren breiteren soziopolitischen Kontext einordnet, beleuchtet Baumgarten die Komplexität und die Herausforderungen, mit denen die palästinensische Gesellschaft konfrontiert ist, sowie die breitere Dynamik, die die Region prägt.
Was Baumgartens Arbeit von anderen abhebt, ist ihr unerschütterliches Engagement für wissenschaftliche Strenge und intellektuelle Integrität. In einem Bereich, der oft von Polemik und ideologischen Agenden geprägt ist, ist Baumgartens Wissenschaft ein Leuchtfeuer der Objektivität und Unparteilichkeit, das auf empirischen Belegen und solider Methodik beruht. Als solches bleibt ihr Buch eine unschätzbare Ressource für Wissenschaftler, politische Entscheidungsträger und alle, die ein tieferes Verständnis der Hamas, Palästinas und des palästinensisch-israelischen Konflikts suchen.
Angesichts der Komplexität der modernen Welt sind die Einsichten, die Baumgartens Buch bietet, aktueller denn je. Mit der Neuauflage dieses bahnbrechenden Werks bekräftigen wir seine anhaltende Relevanz und seinen Status als Eckpfeiler der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einem der drängendsten Themen unserer Zeit.
Sophie Haesen, Mai 2024
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Die Muslimbrüder in Palästina
Die Ziele der Muslimbrüder und ihre historische Rolle in Palästina (1936–1948)
Die Muslimbrüder in Palästina (1943–1948
Die Muslimbrüder im Westjordanland und im Gazastreifen (48–67)
Die Muslimbrüder im Westjordanland (1950–1967)
Die Muslimbrüder im Gazastreifen (1948–1967)
Die Muslimbrüder unter der israelischen Besatzung (1967–1987)
Zweistaatenlösung oder islamischer Staat?
Die Gründung der Hamas im Dezember 1987
Der litische Kontext der Gründung der Hamas
Hamas und die israelische Besatzung (1987–1989)
Die Hamas-Charta
Hamas’ islamischer Staat und die Zweistaatenlösung der PLO
Israel und die Hamas (1988–1992)
Der bewaffnete Widerstand gegen die israelische Besatzung (1983/4–1992)
Von den Schießereien im Haram asch-Scharif bis zum Zweiten Golfkrieg (1990–1991)
Saddam Hussein in Kuwait und der Zweite Golfkrieg
Deportation von 415 Hamas-Aktivisten und Islamisten
Der Stand der „Beziehungen“ zwischen Israel und der Hamas (1992)
Hamas und der Osloer Prozess (1993–2000)
Die Hamas und das Palästina-Problem
Eine maximale und eine Interims-Lösung stehen sich gegenüber
Fortsetzung der Gewalt trotz Oslo
Das Hebron-Massaker vom 25. Februar 1994
War der Weg in die Katastrophe unausweichlich?
Die ersten Selbstmordattentate der Hamas
Hamas, die palästinensische Regierung und Israel (1994–2000)
In der Zwickmühle: Die Hamas, die Palästinensische Autonomiebehörde und Israel (1997–2000)
Von der Gewalt zur Politik (2000–2005)
Camp David, das Ende des Osloer Prozesses und der Beginn der zweiten Intifada
Die zweite Intifada
Scharons „Politizid“ an den Palästinensern (2001–2003)
Der Waffenstillstand von Juni 2003
Die Entscheidung zur Teilnahme an Wahlen
Die Kommunalwahlen vom Dezember 2004 bis Dezember 2005
Die Parlamentswahlen
Der internationale Boykott gegen die Hamas-Regierung
Der Westen kommt an der Hamas nicht vorbei – Ausblick
Endnoten
Anhang A: Charta der Islamischen Widerstandsbewegung HAMAS
Präambel
Erstes Kapitel: Die Definition der Bewegung
Zweites Kapitel: Ziele
Drittes Kapitel: Strategie und Mittel
Viertes Kapitel: Unsere Positionen gegenüber
Fünftes Kapitel: Das Zeugnis der Geschichte in der Geschichte der Konfrontation mit den Aggressoren
Schluss
Anhang B: Wahlprogramm für die Kandidaten der Liste „Veränderung und Reform“ bei den zweiten Wahlen zum Palästinensischen Legislativrat 2006
Quellenverzeichnis
Einleitung
Alle reden von der Hamas: von der Terrororganisation, die Kinder als lebende Bomben nach Tel Aviv schickt, von den antisemitischen Extremisten, die sich weigern, den Staat Israel anzuerkennen und von den Islamisten, die palästinensische Frauen unterdrücken und die gesamte palästinensische Gesellschaft ins finsterste Mittelalter versetzen wollen.
Seit den palästinensischen Kommunalwahlen vom Dezember 2004 aber hören wir von Hamas-Bürgermeistern, sogar von Frauen, die als Abgeordnete in ein Stadtparlament gewählt worden sind. In Bethlehem wird ein linker Christ Bürgermeister mit den Stimmen der Hamas, und in Ramallah lässt sich eine Schuldirektorin von der Hamas gegen die Fatah unterstützen, um den Posten des Bürgermeisters zu erhalten.
Im Januar 2006 überschlagen sich die Meldungen: Die Hamas hat die ersten wirklich freien und demokratischen Wahlen in einem arabischen Staat gewonnen und wird die neue palästinensische Regierung bilden. Wer ist sie, diese Hamas? Woher kommt sie und was sind ihre Ziele?
Dieses Buch verfolgt die historische Entstehung und politische Entwicklung der Hamas in ihrer Komplexität und ihren Widersprüchen: von der Gründung in Gaza 1987 über das Scheitern des Osloer Friedensprozesses und die Gewalt in der zweiten Intifada (2000–2004) bis hin zum unerwartet hohen Wahlerfolg bei den Parlamentswahlen im Januar 2006 und zur Übernahme der palästinensischen Regierung.
Ihren historisch-ideologischen Ursprung hat die Hamas in der 1928 in Ägypten gegründeten Muslimbruderschaft. Die Muslimbruderschaft bildet heute quer durch die arabische Region die wichtigste Bewegung des politischen Islam. François Burgat1 stellt in seiner Untersuchung den politischen Islam in den Kontext des Konfliktes zwischen Norden und Süden und versucht, ihn in all seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit eben daraus zu verstehen und zu analysieren. Der Süden und hier die Region des Südens, deren Bewohner Muslime sind, hat über lange Perioden hin unter der Unterdrückung, der Verachtung und der „Nichtanerkennung“ (in einem politischen, ökonomischen, sozialen und existenziellen Sinn) durch den Norden gelitten. Der politische Islam repräsentiert als Gesamtbewegung seit den achtziger Jahren den Versuch, die eigene Identität des islamischen Südens gegen vom Norden aufgezwungene Identitäten auf allen diesen Ebenen durchzusetzen. Dazu gehört nicht zuletzt die Überwindung der Demütigungen, die den Muslimen von ihren Beherrschern aus dem Norden, vor allem während des Kolonialismus, zugefügt wurden.2
Teil dieses Emanzipationsprozesses ist der Versuch, eine eigene authentische und letztlich im Islam verankerte Entwicklung, ja Modernisierung in Gang zu setzen. Dieser Versuch läuft nicht geradlinig ab, birgt in sich viele Widersprüche, ist aber als Versuch anzuerkennen. Organisationen, die sich auf die Muslimbruderschaft berufen, repräsentieren heute die gemäßigte und zur Integration in die Politik bereite Variante des politischen Islam. Sie sind also im Unterschied zu den „Jihadisten“ des Osama bin Laden „Legalisten.”3 Wir finden sie heute in Jordanien, wo sie seit 1989 als wichtigste Oppositionspartei im Parlament vertreten sind. In Ägypten nahmen sie im Winter 2005 erfolgreich an den Wahlen teil, paradoxerweise infolge amerikanischem Drucks auf die Regierung Mubarak. In den besetzten palästinensischen Gebieten nahm die Hamas zum ersten Mal im Januar 2006 an Parlamentswahlen teil und errang einen haushohen Wahlsieg.
Alle drei Bewegungen haben ihre Bereitschaft gezeigt, in die Politik auf der Basis der bestehenden Gesetze einzutreten. Sie bilden heute einen Teil des politischen Systems ihres Landes und versuchen, dieses System in Richtung größerer Partizipation und größerer Freiheit auf der Basis demokratischer Spielregeln fortzuentwickeln. Sie bestehen auf Recht und Ordnung, wenden sich gegen jede Korruption und versuchen, eine wirtschaftliche Entwicklung herbeizuführen, die auf den internen Möglichkeiten ihrer eigenen Gesellschaften aufbaut.
Die Muslimbrüder in Palästina
Die Hamas wurde Anfang Dezember 1987 von den Führern der Muslimbrüder im Gazastreifen gegründet. Diese gingen davon aus, dass die Struktur der Muslimbrüder in einer politisch so zugespitzten Situation, wie sie beim Ausbruch der Intifada herrschte, nicht mehr angemessen war. Nach einer anderen Interpretation sahen viele Muslimbrüder diesen ersten Schritt in die Politik, in den politischen Kampf und den politischen Aktivismus, als zwar notwendig, aber auch risikoreich. Sie zogen es daher vor, in ihre neue politische Rolle nicht als Muslimbrüder, sondern als Hamas zu schlüpfen. Sollten sie bei diesem Unterfangen scheitern, blieb ihnen immer noch die Muslimbruderschaft als Rückzugsmöglichkeit. Eine dritte Interpretation schließlich betrachtet Hamas als eine von mehreren militärischen Gruppen der Muslimbrüder, neben anderen schon einige Jahre früher gegründeten Untergrundorganisationen wie al-majd oder Mujahidin Filastin.4
Welche Aspekte in ihrer Geschichte, ihrer Ideologie und ihrer politischen Programmatik bewegten die Muslimbrüder zu diesem Schritt? Um diese Fragen zu beantworten, werden die Einflusslinien von der Muslimbruderschaft in Ägypten seit 1928 zur Hamas in Palästina seit 1987 verfolgt.
Im folgenden Kapitel werden deshalb, in der gebotenen Kürze, die für unser Thema relevanten politisch-ideologischen Ziele der Muslimbrüder in Ägypten vorgestellt und untersucht. Es wird nachgezeichnet, warum und wie die Muslimbrüder Palästina zum bevorzugten Aktionsfeld ihrer politischen Arbeit machten. Daran anschließend werden die Aktivitäten der palästinensischen Muslimbrüder im Westjordanland, vor allem aber im Gazastreifen bis 1987, also bis zur Gründung der Hamas, zusammenfassend dargestellt und als notwendige historischer Hintergrund für die neue palästinensische Organisation Hamas, analysiert, die mit der Intifada auf die Bühne des palästinensischen Widerstandes gegen die israelische Besatzung trat.
Die Ziele der Muslimbrüder und ihre historische Rolle in Palästina (1936–1948)
Die Gemeinschaft der Muslimbrüder wurde 1928 von Hasan al-Banna in Ägypten gegründet. Ägypten stand damals noch unter der kolonialen Kontrolle Großbritanniens, obwohl das Land seit 1922 formal unabhängig war. „Wir haben genug von diesem Leben, das nur aus Demütigungen und Beschränkungen besteht. Wir sehen, dass Araber und Muslime weder Status noch Ehre haben. Sie sind einfach nur Tagelöhner im Besitz der Ausländer.”5 Im Kontext der grundlegenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen, wie sie das Ägypten des frühen zwanzigsten Jahrhundert bestimmten, repräsentieren die Muslimbrüder eine eher rückwärts gerichtete Weltanschauung, die sich gegen Säkularismus und Moderne wendet, wie sie aus dem Westen importiert wurden, und sich zurückbezieht auf die einheimische Kultur, Religion und Philosophie, wie sie im Islam repräsentiert sind. Mit ihrem Anspruch auf Veränderung, auf Reform im Innern und Unabhängigkeit nach Außen, steht die Bruderschaft gleichzeitig auch für eine „eigene Moderne“, die Erneuerungen aus der jeweils konkreten Situation ableitet, die sie zu konfrontieren hat.6 Der Rahmen wird dabei vom jeweiligen Staat (arabisch: watan/ Vaterland) gebildet, in dem sich die Muslimbrüder befinden, und umfasst erst in weiteren konzentrischen Kreisen Religion und schließlich umma, Nation, was sowohl die islamische Gemeinde weltweit als auch die arabische Nation bedeuten kann. Die Rangfolge scheint dabei deutlich festgelegt zu sein: an erster Stelle steht der Nationalstaat, gefolgt von der Religion, erst zuletzt kommen die arabische Nation und die islamische Gemeinde.7
Die Forderung nach Veränderung des Status quo basiert auf der Feststellung der Muslimbrüder, dass es nicht nur einen „externen“, sondern auch einen „internen“ Imperialismus oder Kolonialismus gab. Dieser ging von den Kräften innerhalb des Staates aus, die die Interessen des externen Imperialismus vertraten, sei es aus offenem Verrat oder aus Gleichgültigkeit.
Vor eben diesem Hintergrund diagnostizierten und analysierten die Muslimbrüder die politischen, sozialen und ökonomischen Probleme Ägyptens.8 Für die Muslimbrüder konstituierte der Islam ein vollständiges, in sich geschlossenes System, das alles im Leben bestimmt. Seine Quellen sind der Koran und „die Weisheit des Propheten in der Sunna“, also die von seinen Anhängern schriftlich festgehaltenen Überlieferungen über Worte und Taten des Propheten. Dieser Islam soll überall und zu allen Zeiten gültig und anwendbar sein. Al-Banna selbst steckt die ganze Spannbreite von Ideologie, Programmatik und praktischen Aktivitäten der Muslimbruderschaft für deren Mitglieder ab: „Die Idee der Muslimbrüder umfasst alle Kategorien der Reform. Sie ist eine Salafi Botschaft (die Botschaft des reinen Islam aus dessen Frühzeit), ein Sunni Weg (der Weg in der Tradition des Propheten), eine Sufi Wahrheit (eine mystische Wahrheit), eine politische Organisation, eine Sportgruppe, eine Kultur- und Erziehungsunion, ein ökonomischer Betrieb sowie schließlich eine soziale Idee.”9
Entscheidend für ihren Erfolg war, dass die Muslimbrüder doktrinäre Streitigkeiten vermieden und sich auf Organisation und Programm, vor allem aber auf Aktion konzentrierten. Diese religiös-philosophisch-ideologische Offenheit und Flexibilität half ihnen, die Gefahr von Abspaltungen zu vermeiden. Gleichzeitig bot sie eine Garantie für die offene Weiterentwicklung der Organisation entsprechend der Herausforderungen der jeweiligen historisch-politischen Gegebenheiten. Muslimbrüder berichten zum Beispiel, dass die Bewegung neue religiös-ideologische Schriften unter ihrem Namen publiziert und diese weder für alle verbindlich macht noch sie sofort verbietet. Das garantierte nach dem Tode von al-Banna die produktive Weiterentwicklung der Bewegung. Die Hamas fand hier einen Ansatz für offene und durchaus auch undogmatische Veränderungen ihrer politischen Positionen, wie später zu zeigen ist.
Schon in den Anfangsjahren ihrer Aktivität wählten die Muslimbrüder Palästina zum Schwerpunkt ihres Kampfes gegen den westlichen Kolonialismus in Ägypten und in der arabischen Region.10 Die britische Mandatsherrschaft in Palästina und deren offizielle Unterstützung für die Gründung eines jüdischen Staates seit der Balfour-Erklärung mussten jeden Araber und jeden Muslim mobilisieren. Für Ideologie und Programmatik der Muslimbrüder bot Palästina beste Voraussetzungen, um den Kampf gegen den Kolonialismus mit der Verteidigung des Islam und einer für den Islam zentralen Stadt mit ihren historisch-religiösen Heiligtümern zu verbinden. Die erste offizielle Delegation der Muslimbrüder, angeführt von Abd ar-Rahman al-Banna, dem Bruder von Hasan al-Banna, besuchte Palästina 1935. Abd ar-Rahman al-Banna hatte sich mit der Palästina-Frage schon seit der Gründung der Muslimbrüder auseinandergesetzt und zu dem Thema in Publikationen der Muslimbrüder einiges veröffentlicht. In Jerusalem traf die Delegation mit dem Führer der palästinensischen Nationalbewegung der Mandatsperiode zusammen, Hajj Amin al-Husaini, Mufti von Jerusalem und Vorsitzender des Obersten Muslimischen Rates.11 In den Berichten Abd ar-Rahman al-Bannas über diesen Palästinabesuch finden sich polemische Ausfälle gegen die Juden in Palästina und ihre politischen Ziele. Dabei werden die jüdischen Ansprüche auf Jerusalem gegen die palästinensischen Ansprüche auf ihre Heimat aufgerechnet, gleichzeitig wird ein antisemitischer Ton in die Debatte zu Palästina eingeführt.12 Zwar ist auch bei Abd ar-Rahman al-Banna der Konflikt um Palästina der Ausgangspunkt, seine Art, den Konflikt verbal auszutragen, unterscheidet sich jedoch deutlich von den Äußerungen und Schriften seines Bruders zu Palästina.
1936 begann der erste landesweite palästinensische Aufstand gegen die britische Mandatsherrschaft und die sich intensivierende jüdische Einwanderung nach Palästina mit einem monatelangen Generalstreik. Er bot den Muslimbrüdern die erste Möglichkeit zu einer konkreten Unterstützung der Palästinenser. Hasan al-Banna rief zu Geldsammlungen für die Streikenden auf, zu Interventionen bei der Regierung in Palästina sowie zu einer regelrechten Pressekampagne für die palästinensische Sache. Gleichzeitig wurden Demonstrationen zur Solidarität mit dem Streik in Palästina organisiert sowie direkte Hilfe nach Palästina geschickt.
Auch Freiwillige aus den Kreisen der Muslimbrüder sollen nach Palästina gezogen sein, um den Rebellen vor Ort direkt zu helfen.13
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann eine neue Periode wachsenden Engagements der ägyptischen Muslimbrüder in Palästina. Man warb dort für die Muslimbruderschaft, unterstützte den Widerstand gegen den Zionismus und half beim militärischen Training palästinensischer Freiwilliger. Eine erste Mission von Muslimbrüdern, unter ihnen ein pensionierter Offizier der ägyptischen Armee, musste Palästina allerdings schon bald auf Anordnung der britischen Mandatsmacht wieder verlassen.14 Als Hajj Amin al-Husaini nach seinem für Palästina und dessen weitere Entwicklung so verhängnisvollen Aufenthalt in Berlin (1943–1945) und seiner kurzen Liaison mit dem Hitler-Regime15 nach Kairo kam, starteten die Muslimbrüder eine Pressekampagne, um bei der Regierung Asyl für ihn zu erreichen.16
Schon vor der Abstimmung in den Vereinten Nationen im November 1947 über die Teilung Palästinas mobilisierten die Muslimbrüder für den Kampf um Palästina mit dem Ruf nach Jihad. Jihad ist hier zunächst als ein „Instrument für die Verteidigung des Islam und der Brüderschaft“ zu verstehen.17 Im Zusammenhang mit dem Krieg um Palästina bedeutet Jihad Kampf mit der Bereitschaft, in diesem Kampf zu sterben und ein Märtyrer zu werden. Dieser Kampf war nach dem Verständnis der Muslimbrüder eine Verpflichtung für jeden Muslim.18 Die Muslimbrüder wollten zusammen mit anderen Freiwilligen aus der gesamten arabischen Region die für ihre Unabhängigkeit kämpfenden Palästinenser unterstützen, ohne die Intervention arabischer Regierungen. Diese Strategie erwies sich jedoch als unrealistisch und nicht durchsetzbar. Denn 1948 begannen arabische Regierungen den internationalen Krieg mit ihrem Einmarsch nach Palästina.19 Die Muslimbrüder sammelten weiter Waffen, Freiwillige wurden militärisch ausgebildet und Ende April 1948, kurz vor dem Beginn des Krieges in Palästina, brach das erste Bataillon von Freiwilligen auf, Richtung al-Arisch, an der Grenze zu Palästina. Die Freiwilligen der Muslimbrüder in Palästina spielten nur bei der arabischen Verteidigung von Jerusalem und Bethlehem gegen die Angriffe der Haganah20 in der ersten Phase des Krieges bis zum ersten Waffenstillstand im Sommer 1948 eine größere Rolle. Danach wurden sie von der jordanischen Armee weitgehend aus den Kämpfen herausgehalten.
Ihren größten militärischen Einfluss übten sie aus, indem sie die belagerten ägyptischen Armeeverbände in Faluja im Oktober und November 1948 unterstützten. Ägyptens späterer Präsident Gamal Abd en-Naser war einer der jungen ägyptischen Offiziere, die dort kämpften und erst im Frühjahr 1949 nach einem weiteren Waffenstillstand frei abziehen konnten.21 Mitten in die Auseinandersetzungen um die Notwendigkeit eines massiveren offiziellen Engagements in Faluja, in deren Verlauf die ägyptische Regierungen schweren Vorwürfen ausgesetzt war, kam der Beschluss zum Verbot der Muslimbruderschaft in Ägypten. Sie wurden, auch in Faluja, entwaffnet, entschieden sich aber in der Mehrzahl, bis zum endgültigen Abzug aller ägyptischer Truppen im Frühjahr 1949 bei den eingeschlossenen Armeeverbänden zu bleiben.22
In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kämpften Araber in der gesamten arabischen Region für die Beendigung der kolonialistischen Herrschaft und für die Erlangung wirklicher Unabhängigkeit, in Ägypten ebenso wie in Palästina. Der Unabhängigkeitskampf in Palästina war jedoch ungleich komplizierter und endete in einer katastrophalen Niederlage der Palästinenser. Schließlich musste er gleichzeitig gegen die britische Mandatsmacht und gegen die zionistische Bewegung geführt werden. Die zionistische Bewegung wollte einen eigenen jüdischen Staat in Palästina errichten, und im Unterschied zu den Palästinensern war sie erfolgreich.
In Ägypten, in Transjordanien und in anderen Staaten der Region kooperierten zudem die Regierungen mehr oder weniger direkt mit der britischen (oder der französischen) Kolonialherrschaft. Dieser Kampf gegen den Kolonialismus nahm immer wieder extrem fremdenfeindliche Züge an, mit einer Ablehnung des Westens einschließlich der nicht-muslimischen Minderheiten, die der Kooperation mit den Kolonialherren beschuldigt wurden. Vor diesem Hintergrund gab es auch Kritik an den Juden in Ägypten, die der kommunistischen Propaganda beschuldigt und schließlich verdächtigt wurden, mit der zionistischen Bewegung in Palästina beziehungsweise mit dem dort neu gegründeten Staat Israel zusammenzuarbeiten oder für ihn zu spionieren. Korrekt ist lediglich, dass ägyptische Juden eine wichtige und oft führende Rolle in der dortigen kommunistischen Partei spielten.23
Die Hintergründe und Details der Ereignisse in Ägypten zwischen Herbst 1947 und Februar 1949, das Attentat gegen Hasan al-Banna und sein Tod, konnten bis heute nicht aufgeklärt werden. In diesem Zeitraum wurden zahlreiche Attacken sowohl gegen die britische Besatzung als auch gegen ägyptische Polizeiposten durchgeführt. Darauf folgten Bombenattentate gegen große Kinos in Kairo. Nach dem Teilungsbeschluss in den Vereinten Nationen Ende 1947 konzentrierten sich die Angreifer auf den Kampf für die Unabhängigkeit Palästinas mit vielen weiteren Attacken gegen die Briten und allgemein gegen Ausländer in Ägypten.
Wahrscheinlich war ein ganzes Spektrum von politischen Gruppen für die verschiedenen Angriffe und Attentate verantwortlich. Im Mai verhängte die ägyptische Regierung den Ausnahmezustand über das Land. Es kam zu großen Verhaftungswellen, die sich vor allem gegen angebliche Kommunisten und Zionisten richteten.
Damit wurden die infolge des Teilungsbeschlusses in Palästina schon bestehenden Spannungen zwischen ägyptischen Muslimen und Kopten einerseits, Juden andererseits nur noch weiter geschürt und intensiviert. Nur kurze Zeit später ereignete sich im jüdischen Viertel in Kairo eine Reihe von Bombenattentaten. Ein israelischer Flugzeugangriff, bei dem Bomben auf ein Armenviertel in Kairo geworfen wurden, heizte die Stimmung gegen Ausländer und Juden noch mehr an. Zwei große Kaufhäuser mitten in Kairo, die ägyptischen Juden gehörten, wurden in Bombenexplosionen zerstört. Weitere Bomben gegen jüdische Unternehmen folgten, wieder gegen das jüdische Viertel und gegen diverse Institutionen, denen man enge Zusammenarbeit mit den Zionisten vorwarf. Der verursachte Sachschaden war hoch, vor allem aber gab es viele Tote und Verletzte.24 Das ganze Land und insbesondere die Hauptstadt Kairo waren im Aufruhr. Eine Demonstration folgte der anderen, immer sowohl für Palästina als auch gegen die eigene Regierung, der man mangelnde Unterstützung für den Kampf der Palästinenser vorwarf. Den Höhepunkt dieser Demonstrationen gegen die Regierung bildete das Attentat gegen den ägyptischen Regierungschef Nuqraschi. Es war eine direkte Reaktion auf das Verbot der Muslimbruderschaft im Dezember 1948, denn der Attentäter war ein Muslimbruder. Hasan al-Banna distanzierte sich zwar öffentlich sowohl vom Attentat als auch von allen Gewalttaten in Ägypten und den dafür Verantwortlichen: „Sie sind weder (Muslim-)Brüder noch Muslime.“25
Wegen des Verbots der Muslimbruderschaft und der Zerstörung der gesamten Organisationsstrukturen war al-Banna jedoch nicht mehr in der Lage, irgendeine Kontrolle über junge „Heißsporne“ auszuüben. Nur kurze Zeit später, im Februar 1949, wurde er selbst in Kairo durch Attentäter erschossen, die offensichtlich der politischen Polizei angehörten und mit Duldung, wenn nicht in direktem Auftrag der Regierung handelten, vielleicht auch auf Intervention der Briten hin.26
Der Kopte Makram Ubaid Pascha nahm als einziger Vertreter der politischen Elite Ägyptens trotz des Verbotes durch die Regierung an al-Bannas Beerdigung teil, die auf Polizeianordnung nur im engstem Familienkreis stattfinden durfte.
Das anschließende Gerichtsverfahren gegen den Attentäter von Nuqraschi und gegen die Muslimbrüder kam zu einem überraschenden Ergebnis. Gegen das Plädoyer der Staatsanwaltschaft entschieden die Richter, dass die Muslimbrüder weder einen Umsturz in Ägypten geplant hätten, noch für die ihnen vorgeworfenen Attentate und Explosionen in Kairo und überall im Land verantwortlich waren. Eine Reihe von Gewalttaten seien das Werk von Einzeltätern aus der Muslimbruderschaft, die jedoch klar gegen die Anweisungen der Führung gehandelt und Terrorakte begangen hätten.
Al-Banna selbst hatte noch vor seinem Tod jede Verantwortung der Muslimbrüder speziell für die Angriffe gegen jüdische Einrichtungen zurückgewiesen, während er gleichzeitig Kritik an der mangelnden Loyalität einiger „jüdischer Mitbürger“ übte und die Attentate in den Kontext des Krieges um Palästina platzierte.27 Die Muslimbrüder als Organisation, so das Urteil weiter, hätten sich der „Verteidigung Ägyptens, des Arabismus und des Islam gegen Großbritannien und den Zionismus“ verschrieben. Ihr Jihad sei die Verteidigung gegen „den Imperialismus und Unglauben.”28 Nicht ohne Grund sei ihr Beitrag zum Kampf der ägyptischen Armee in Palästina von den beiden dort verantwortlichen Armeekommandeuren ausdrücklich gewürdigt worden.
Der Attentäter Nuqraschis wurde zum Tode verurteilt. Die meisten der anderen angeklagten Muslimbrüder aber wurden freigesprochen, dreizehn wurden zu Gefängnisstrafen von zwischen einem und drei Jahren verurteilt.
Um die Unterstützung der Muslimbrüder für den Kampf der Palästinenser gegen die jüdische Einwanderung nach Palästina und die Etablierung eines jüdischen Staates in dem Territorium, auf dem die Palästinenser ihren Staat Palästina hatten errichten wollen, verstehen zu können, müssen wir deren ideologisch-politische Grundlagen näher untersuchen. Für sie bildete der Kampf für die Unabhängigkeit Palästinas zweifellos einen zentralen Aspekt ihrer Mobilisierung gegen den Kolonialismus und dessen Verbündete in der Region, also die zionistische Bewegung und die ägyptische Regierung. Die Palästina-Frage war es, die zu ihrer ersten aktiven Einmischung in die Politik geführt hatte.29 Palästina war für sie Kristallisationspunkt für viele ihrer Aktivitäten, die Basis zur Mobilisierung für ihre Ideologie und ihr daraus abgeleitetes politisches Programm, aber auch für die Gewinnung von Anhängern und für die Verbreitung der Bewegung über die gesamte arabische Region. Rein religiöse Argumente oder aus religionsphilosophischen Überzeugungen abgeleitete Argumente scheinen keine besondere Rolle gespielt zu haben, wie folgendes Zitat von Hasan al-Banna zeigt: „In unseren Herzen nimmt Palästina einen heiligen, einen spirituellen Platz ein, der über abstrakten nationalistischen Gefühlen angesiedelt ist. In Palästina haben wir die gesegneten Lüfte Jerusalems und die Segnungen der Propheten und ihrer Schüler und die Krippe von Christus, Friede sei mit ihm. All dies erfrischt und nährt unsere Seele.“30
Erst später sollten bei den palästinensischen Muslimbrüdern und bei der Hamas eher religiös inspirierte Argumente eine gewisse Rolle spielen.
Bei den Palästinensern, gleich welcher politischer Richtung, standen die Muslimbrüder wegen ihres Einsatzes für Palästina in hohem Ansehen. Anders als die arabischen Regierungen hatten sie es nicht bei Worten gelassen, sondern ihre Unterstützung in Taten umgesetzt, zuerst 1936 bis 1937, vor allem aber während des Krieges 1948. Hajj Amin, der Führer der alten palästinensischen Nationalbewegung der Mandatszeit, nahm Muslimbrüder deshalb ausdrücklich von den Anschuldigungen aus, die er gegen alle arabischen Regierungen nach 1948 erhob.31 Umgekehrt folgten die Muslimbrüder Hajj Amin, wenn sie die arabischen Regierungen als Hauptschuldige für die Niederlage gegen die zionistische Bewegung und später Israel verantwortlich machten.32
In der palästinensischen Bevölkerung blieb die Erinnerung an die aktive Solidarität der Muslimbrüder wach bis in die siebziger Jahre. Sie bildete einen günstigen Nährboden für die organisatorische Entwicklung der Muslimbrüder sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland, trotz der sehr verschiedenen historisch-politischen Wege, die die Muslimbrüder in den beiden Teilen Palästinas zwischen 1948 und 1967 einschlugen.
Die Muslimbrüder in Palästina (1943–1948)
Im Oktober 1945 gründete Said Ramadan, den das Hauptquartier der Muslimbrüder in Kairo mit direkten Anweisungen von Hasan al-Banna nach Palästina entsandt hatte, den ersten offiziellen Zweig der Muslimbrüder in Jerusalem im Hause der Qutaina-Familie und mit Unterstützung von Abdullah Ghusha. Weitere Zweige wurden in Haifa (Nimr al-Khatib), Jaffa (Zafir al-Dajani), Hebron (Abd al-Hayy Arafa) und Gaza (Zafir asch-Schawa und Shaban al-Hilu) aufgemacht. Die ersten Ansätze zu eigenen Zweigen entstanden in Nablus, Bir Saba, Ramallah, Lydda, Ramla und Jericho. Die Brüderschaft entwickelte sich in einem rasanten Tempo. Innerhalb der ersten Monate schon soll die Mitgliederzahl auf etwa 15 000 angestiegen sein, bis 1947 sogar auf 20 000. Einige der wichtigsten politischen Führer der Palästinenser wie Jamal al-Husaini aus Jerusalem, Muhammad Ali al-Jabari aus Hebron und Zafir al-Dajani aus Jaffa schlossen sich gleich zu Beginn der Muslimbruderschaft an.33 Hajj Amin al-Husaini soll zwar enge Beziehungen zu Hasan al-Banna gehabt haben und von diesem vor allem als symbolische Führungsperson hoch geschätzt worden sein, aber er war offensichtlich nicht Mitglied oder gar lokaler Führer der Muslimbrüder in Palästina.34
In Jerusalem eröffneten die Muslimbrüder im Mai 1946 ihr eigenes Büro mit einer großen Feier, an der die wichtigsten Jerusalemer Notabeln, die noch im Land und nicht von der britischen Mandatsherrschaft vertrieben worden waren, teilnahmen zusammen mit mehr als zweitausend Anhängern der Gemeinde. Schon kurze Zeit später eröffnen die Muslimbrüder ein weiteres Büro mit einer eigenen Bücherei. Geplant war auch, ein Grundstück zu kaufen, um darauf ein eigenes Gebäude zu errichten. Der Krieg 1948 verhinderte dies jedoch.35
Einen Einblick in die Themen, mit denen sich die palästinensischen Muslimbrüder in dieser Zeit beschäftigten, geben die Resolutionen ihrer Konferenz in Haifa im Oktober 1946, an der auch Delegierte aus dem Libanon und aus Transjordanien (dem heutigen Jordanien) teilnahmen. Im Mittelpunkt stand die politische Lage in Palästina. Die britische Mandatsregierung wurde verantwortlich gemacht für die generelle Krisensituation im Land. Die Konferenz sprach sich dafür aus, die Palästina-Frage vor den UN-Sicherheitsrat zu bringen. Sie bestritt die Legitimität der jüdischen Einwanderung nach Palästina und sprach sich für die Unterstützung aller Maßnahmen aus, Palästina zu retten.
Die anderen Themen betrafen die Lage in Ägypten, wo die Konferenz den Rückzug der britischen Truppen forderte, sowie die neu gegründete Arabische Liga, der man Unterstützung versprach. Schließlich ging es noch um die organisatorische Weiterverbreitung der Muslimbruderschaft in ganz Palästina.36
Offensichtlich wurden die palästinensischen Muslimbrüder durch die dramatische Entwicklung der Ereignisse in ihrer Heimat direkt politisiert. Statt sich, wie eigentlich vorgesehen, auf soziale Aktivitäten und auf die Verbreitung der religiösen Botschaft der Muslimbrüder zu konzentrieren, gerieten sie fast unmittelbar in den Sog des palästinensischen Nationalismus. Wie alle Palästinenser stellten sie sich kategorisch gegen weitere jüdische Einwanderung und unterstützten den Kampf für einen unabhängigen palästinensischen Staat im gesamten Mandatsgebiet. Auf einer weiteren Konferenz in Haifa im Oktober 1947, also kurz vor der (aus der Sicht der betroffenen Palästinenser) „Katastrophe“ der Teilungsresolution einen Monat später, gaben sie sich als überzeugte palästinensische Nationalisten, die ihren Anteil am Widerstand leisten wollten.37 Auffällig neu ist dabei, dass die Muslimbrüder ihr Vertrauen in die Vereinten Nationen verloren hatten.
1947 begannen die palästinensischen Muslimbrüder mit öffentlichen Kampagnen für die Vorbereitung des Jihad, als Widerstand gegen Briten und Zionisten zugleich, und mit Propagandafeldzügen gegen die Zionisten. Israelische Berichte dieser Zeit sprechen von „Aufwiegelung in Moscheen und bei den Festlichkeiten und Treffen der Muslimbrüder, einer extrem religiös-nationalistischen Organisation aus Ägypten.”38
Die Muslimbrüder spielten 1947 und 1948 sicher keine zentrale Rolle in der palästinensischen Politik. Interessant und bemerkenswert erscheint jedoch, dass die junge Bewegung mit den größeren und seit langem etablierten Organisationen in der Ablehnung des für die Palästinenser so verheerenden Teilungsbeschlusses zusammenarbeitete. Wenn es um die palästinensische Sache ging, um den palästinensischen Nationalismus, dann kooperierten die palästinensischen Muslimbrüder sowohl mit Kommunisten als auch mit Christen. Gerade das Beispiel des Nationalen Komitees in Jaffa zeigt, wie sich darin die alt-etablierten Parteien mit den Kommunisten und den Muslimbrüdern zusammenschlossen, wie alle Religionsgemeinschaften vertreten waren und wie selbst die umliegenden Dörfer in den durchgehend städtischen Komitees repräsentiert sein mussten.39
Sowohl in den Kämpfen um Jaffa als auch bei der Verteidigung von Jerusalem hatten die Muslimbrüder Anteil: Sie organisierten Waffen, gewährten finanzielle Unterstützung und einige von ihnen, teils aus den verschiedenen arabischen Ländern, teils aus Palästina, nahmen aktiv an den Kampfhandlungen teil.40
Die Muslimbrüder im Westjordanland und im Gazastreifen (48–67)
Der Krieg von 1948, die arabische und palästinensische Niederlage und die Gründung des Staates Israel schufen eine grundsätzlich neue Situation. Das historische Palästina gab es nicht mehr. Den größten Teil nahm nun der neu geschaffene Staat Israel ein, aus dem fast alle palästinensischen Bewohner vertrieben worden oder vor den Kriegshandlungen und drohenden Massakern geflüchtet waren. Ein palästinensischer Staat konnte nicht entstehen, da weder Großbritannien noch Jordanien noch Israel dies wünschten.41
Der Gazastreifen, in dem die ägyptische Armee bei Kriegsende präsent war, fiel unter ägyptische Militärherrschaft, die bis zum Juni-Krieg 1967 und dem Beginn der israelischen Besatzung andauerte. Im Westjordanland und in Ost-Jerusalem stand die transjordanische Armee, die „Arabische Legion“, unter Glubb Pascha, die diesen anderen Teil, der noch von Palästina geblieben war, unter ihrer Kontrolle behielt. 1950 wurde das Westjordanland von Transjordanien annektiert und bildete fortan einen Teil des Haschemitischen Königreiches Jordanien. Angesichts dieser neuen politischen Lage vereinigten sich die palästinensischen Muslimbrüder mit ihren transjordanischen Brüdern und bildeten fortan die „Muslimbruderschaft in Jordanien.” Die Muslimbrüder im Gazastreifen behielten dagegen ihre eigene Organisation, die wegen der geografischen Nähe in besonders enger Verbindung zur ägyptischen Zentrale der Muslimbrüder in Kairo stand. Auf diesem Hintergrund mündeten die Jahre zwischen 1948 und 1967 in zwei eher gegensätzliche Entwicklungsrichtungen und führten damit auch zu sehr verschiedenen historisch-politischen Erfahrungen auf Seiten der Muslimbrüder in den beiden noch verbliebenen Teilen des historischen Palästina.42
Die Muslimbrüder im Westjordanland (1950–1967)
Wie ursprünglich bei ihrer Gründung in Palästina vorgesehen, lag der Schwerpunkt der Aktivitäten der Muslimbrüder in Jordanien auf dem Gebiet der Erziehung, vor allem der religiösen Erziehung, dem Werben von neuen Mitgliedern für die Organisation und nur in einem eher allgemeinen Sinn auch im Bereich der Politik. Nach den turbulenten Jahren 1946 bis 1948, die ihnen keine Alternative gelassen hatten als am nationalen Kampf aller Palästinenser teilzunehmen, hielten sich die Muslimbrüder nach 1948 systematisch fern von jeder Art von Widerstand oder gar von militärischen Aktivitäten.
Ihr Ruf in der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland, vor allem aber in den großen Flüchtlingslagern östlich und westlich des Jordan, die nach wie vor hochpolitisiert und bereit zum Kampf war gegen den neu geschaffenen Staat Israel, der sie ihrer Heimat beraubt hatte, wurde eben deswegen zusehends schlechter. In der spezifischen politischen Konstellation Jordaniens seit den fünfziger Jahren konnten sie sich jedoch als Organisation konsolidieren. Denn für die haschemitische Monarchie, an deren Spitze seit 1953 der junge König Hussein stand, waren die Muslimbrüder ein willkommener Verbündeter gegen den sich immer weiter verbreitenden arabischen Nationalismus unter der Führung des ägyptischen Präsidenten Gamal Abd en-Naser. Die ihnen von Hussein zugedachte politische Rolle war es, ein Gegengewicht zu bilden gegen diesen für die Monarchie so bedrohlichen arabischen Nationalismus, aber auch gegen die sehr viel kleinere Kommunistische Partei. Denn beide, Nationalisten sehr viel entschiedener und offener als die kommunistische Linke, strebten einen Umsturz in Jordanien an, um dort ein revolutionäres Regime zu etablieren, das sowohl für die arabische Einheit als auch für die Befreiung Palästinas kämpfen würde. Während politische Parteien in Jordanien verboten waren, waren die Muslimbrüder die einzige Bewegung, die legal im Königreich operieren durfte. Direkt nach ihrer Gründung 1945 erhielten die Brüder eine offizielle Lizenz für ihre Aktivitäten als Islamische Gemeinschaft unter dem Namen „Gemeinschaft der Muslimbrüder.”43
Etwa 1954 beantragten die Muslimbrüder eine neue erweiterte Lizenz als „eine allgemeine multifunktionelle Islamische Körperschaft.” Der neue Aufseher (arabisch: murschid) der jordanischen Brüder, Muhammad Abd ar-Rahman Khalifah begründete seinen Antrag mit dem Hinweis, dass bei allen Veranstaltungen der Muslimbrüder die Polizei auftauchte, obwohl alle vorher genehmigt worden waren. Mit der neuen Lizenz erhielt die Brüderschaft weitgehende Freiheiten für ihre Arbeit in Jordanien. Trotzdem mussten sie weiterhin alle ihre Aktivitäten im Detail mit den jordanischen Behörden abstimmen. Sie hatten keine Alternative, als diese Beschränkungen zu akzeptierten. Sie betonten sogar ganz ausdrücklich, zuerst und vor allem den Interessen von König und Staat dienen zu wollen.44 Yusuf al-Azm, einer der Führer der Muslimbrüder in Jordanien, formulierte sehr deutlich, warum sie König Hussein unterstützten: „Wir standen hinter dem König, weil die Angriffe von ... Nasser nicht rational waren. Außerdem misstrauten wir Nasser wegen seiner Beziehungen zu den Vereinigten Staaten... Schließlich unterstützten wir den König im Interesse unserer Selbstverteidigung. Denn wenn es Nasser gelungen wäre, Jordanien zu übernehmen und dort eine ihm loyale Regierung zu etablieren, hätte er die Muslimbrüder in Jordanien ebenso liquidiert, wie er das gerade in Ägypten gemacht hatte.“45
In Ägypten waren die Muslimbrüder unter der Monarchie zum ersten Mal 1948 verboten und aufgelöst worden. Nach der Revolution der Freien Offiziere 1952 konnten sie wieder legal arbeiten. Sehr schnell aber entwickelten sich neue Konflikte, vor allem mit der neuen ägyptischen Führung unter Gamal Abd en-Nasser und 1954 kam das zweite Verbot, gefolgt von brutaler Verfolgung.46
Innenpolitisch arrangierten sich die Muslimbrüder also fast durchgängig mit der Monarchie, wenn sie auch immer wieder kritisch auf einer Reform des Staates auf der Basis der Scharia bestanden, den offenen Konsum von Alkohol anprangerten oder die Verwestlichung der Erziehung bedauerten.
Außenpolitisch kam es jedoch immer wieder zu vorübergehenden Unstimmigkeiten oder sogar zu offenen Konflikten. Den Anlass dazu bildete die pro-westliche Politik König Husains, die für die Muslimbrüder absolut indiskutabel war. Zwar betonte Yusuf al-Azm, dass man den König nicht provozieren wolle und zu einer Art Waffenstillstand gekommen sei. Als Grund führte er die pragmatische politische Maxime an, dass die Brüder nicht überall gleichzeitig eine Front aufbauen konnten oder wollten.47 Dennoch waren Konflikte nicht immer vermeidbar. Streitpunkte bildeten bis 1956 die Kontrolle der jordanischen Armee durch britische Offiziere und die Forderung, diese durch jordanische Offiziere zu ersetzen, die Stellung der Monarchie zum pro-westlichen Bagdad-Pakt 1955 oder zur Eisenhower-Doktrin 1957. Die Brüder feierten König Hussein dafür, dass er Glubb Pascha, den Kommandeur der Arabischen Legion Ende 1956 entlassen hatte und sie unterstützten mit ihm die ägyptische Politik im Suez-Krieg 1956.48
Die wachsende westliche Unterstützung für die Monarchie in Jordanien angesichts der immer größeren Dominanz des arabischen Nationalismus Nasserscher Prägung in der gesamten arabischen Region führte zu erneuten Konflikten mit den Muslimbrüdern. Ausgangspunkt war der Vorwurf an die Monarchie, die Lösung der Palästina-Frage auf Druck der „Imperialisten“ hinauszuschieben. Immer wieder führten Polizei und Geheimdienst in diesem Zeitraum regelrechte Verhaftungswellen durch, vor allem im Westjordanland.49 Diese machten auch vor der Führung der Brüder nicht halt. Abd er-Rahman Khalifa, der die Muslimbrüder in Jordanien von 1954 bis 1965 anführte, musste 1955 nach Damaskus fliehen, um seiner drohenden Verhaftung zu entkommen. Nach kurzem Exil durfte er jedoch wieder zurück ins Land. Sein Vorgänger war in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre gleich mehrere Male inhaftiert worden.50
Im gesamten Zeitraum von 1950 bis 1967 nahmen die Muslimbrüder regelmäßig an den Wahlen in Jordanien teil, allerdings mit minimalem Erfolg. Sie hatten nie mehr als vier Abgeordnete (von 60) im Parlament in Amman, davon einen einzigen aus dem Westjordanland, dem insgesamt 30 Sitze zustanden51, nämlich Dr. Hafiz Abd an-Nabi Natsche.52 In ihrer parlamentarischen Arbeit konzentrierten sie ihre Kritik an der Regierung interessanterweise nicht auf außenpolitische, sondern eher auf innenpolitische Themen. Im Mittelpunkt stand die Forderung nach Einhaltung der Scharia. Aber auch die in der Öffentlichkeit im Zentrum stehende Kritik an der pro-westlichen Politik der Regierung wurde vorgebracht, oft mit der Ermahnung, dass auch die jordanische Regierung den Kampf gegen Israel vorantreiben müsse.53
Die Organisation des Allgemeinen Islamischen Kongresses in Jerusalem, der zum ersten Mal im Dezember 1953 einberufen wurde, spielte in den Aktivitäten der Muslimbrüder in Jordanien eine zentrale Rolle. Delegierte aus islamischen Ländern weltweit kamen nach Jerusalem, um am Kongress teilzunehmen. Die dort verabschiedeten Resolutionen wiederholten die zentralen Themen der Muslimbrüder: eine Verurteilung der Imperialisten, den Ruf zur Zurückgewinnung Palästinas für seine rechtmäßigen Besitzer sowie eine Verurteilung der Unterdrückung der Muslime durch die sowjetische Regierung.54 Weiter beschloss der Kongress die Finanzierung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus von Palästina und insbesondere von Jerusalem; man wollte alle islamischen Länder an der Erhaltung der beiden großen Moscheen in Jerusalem beteiligen und die Aktivitäten der Arabischen Liga in diesem Bereich unterstützen. Überall in der islamischen Welt sollte von nun an jedes Jahr ein Palästina-Tag abgehalten werden.
Auf der Ebene der internationalen Politik forderte man die Etablierung eines islamischen Blocks, analog zum West- und Ost Zionisten richteten. block während des Kalten Krieges, und noch zwei Jahre vor dem Zusammenschluss der Blockfreien unter der Führung von Abd an-Nasir, Nehru, Tito und Sukarno auf dem Kongress von Bandung 1955.
Obwohl vorgesehen war, den Kongress jährlich in Jerusalem einzuberufen, fand die nächste Sitzung in Jerusalem erst wieder 1959 statt. Die jordanische Führung hielt die auf dem Kongress behandelten Themen offensichtlich für zu explosiv und potenziell gefährlich für die Stabilität im Land und untersagte deshalb weitere Treffen.
Nach einigen Jahren des Verbotes hatten diese Interventionen der Regierung den erwünschten Erfolg erzielt. Der offiziell genehmigte Kongress 1959 konzentrierte sich fast ausschließlich auf scharfe Angriffe gegen das nasseristische Ägypten, in vollem Einklang mit der offiziellen jordanischen Politik, und auf diesem Hintergrund konnte König Hussein dem Kongress 1961 sogar die Ehre erweisen, dort eine Rede zu halten.55
Ideologie und politisches Programm der palästinensischen beziehungsweise der palästinensisch-jordanischen Muslimbrüder entsprachen dem der Gemeinschaft in Ägypten. In der Charta des Ortsvereins der Muslimbrüder in Jerusalem von 1946, die auch von anderen Ortsvereinen in Palästina übernommen wurde, sind diese niedergelegt. Darin werden die sechs wichtigsten Ziele der Brüder aufgeführt:
Übermittlung islamischer Verhaltens- und Moralprinzipien Verbreitung der Werte des Koran; Streben nach einem höheren Lebensstandard; Kampf gegen Armut und Analphabetentum; Führung eines modernen Lebens auf der Basis islamischer Werte; Bewahrung und Verteidigung der Rechte der Muslime.56Auffallend in dieser Charta ist die Betonung der palästinensischen Besonderheit und der Schwerpunkt, der auf den palästinensischen Nationalismus gelegt wurde. Diese Tendenz verstärkte sich bis in die sechziger Jahre hinein. Die Ausrichtung an den einzelnen Nationalismen war aber schon in den ersten Dokumenten der Muslimbrüder in Ägypten zu finden, wo der „Dienst für das Vaterland (watan), die Religion und die Nation (umma)“ gefordert wurde.57 Sehr klar sind darin richtungsweisende politische und ideologische Ausrichtungen für Organisationen der Muslimbrüder in verschiedenen Ländern und Staaten angelegt. An erster Stelle stand immer das Vaterland, also der Staat, in dem die jeweiligen Muslimbrüder lebten und politisch agierten, danach kam die Religion und an letzter Stelle die arabische beziehungsweise islamische Nation oder umma.58
Über die Zahl der Mitglieder der Muslimbrüder in Jordanien und im Westjordanland gibt es keine verlässlichen Angaben. Schätzungen auf der Basis von Geheimdienstberichten, die eher mit Vorsicht zu bewerten sind, sprechen von 700 bis 1 000 Mitgliedern.59 Es erscheint wenig plausibel, dass innerhalb weniger Jahre die etwa 20 000 Mitglieder der Muslimbrüder der ersten Jahre plötzlich verschwunden sind. Wahrscheinlich haben diese ihre öffentlichen Aktivitäten reduziert, sind aber der Bewegung erhalten geblieben.
Interessant ist die geografische Verteilung der Mitglieder im Westjordanland, wo laut Cohen bis 1967 über die Hälfte der Mitglieder im Norden konzentriert war: Der Schwerpunkt lag in Nablus.
Eine weitere Konzentration war in diesem Zeitraum in Hebron zu beobachten.60 Palästinensische Muslimbrüder berichten dagegen über eine Konzentration der Brüderschaft in Jerusalem, wo schließlich deren Hauptquartier lag. Die Inschrift auf dem Haus der Muslimbruderschaft aus diesen Jahren ist bis heute vorhanden und zu lesen. In den siebziger Jahren veränderte sich dieses Bild fast vollständig. Fatah und die palästinensische Nationalbewegung unter der Führung der PLO (Palestine Liberation Organization) wurden nun in eben diesen Regionen die dominanten politischen Gruppen. Erst 2005/2006 verschob sich die politische Ausrichtung erneut, als Hamas nicht nur die Gemeinderatswahlen, sondern auch die Parlamentswahlen sowohl in Nablus als auch in Hebron und in Jerusalem mit großer Mehrheit für sich entscheiden konnte.
Über die soziale Zusammensetzung der Muslimbrüder wissen wir nicht viel mehr. Geheimdienstberichte geben verschiedene Hinweise, vieles ist aber nicht plausibel. Selbst bei bekannten Persönlichkeiten können die Geheimdienste keine klare Auskunft darüber geben, welcher politischen Gruppierung sie angehörten. Der palästinensische Historiker Arif al-Arif zum Beispiel wird einmal als Mitglied der Muslimbrüder, ein andermal als Mitglied der (ebenfalls islamistischen) Tahrir-Partei genannt.
Alle sozialen Gruppen waren wohl vertreten in der Bruderschaft. Eine Konzentration in Städten, vor allem unter Händlern und Hausbesitzern, zeichnet sich deutlich ab. Im Unterschied zu Ägypten waren Angestellte und Freiberufler kaum vertreten, wahrscheinlich als Folge der ganz anderen Sozialstruktur im Westjordanland, wo die Modernisierung erst in Ansätzen begonnen hatte. Schüler, Studenten und Lehrer waren ebenfalls unterrepräsentiert. Die Mehrzahl der Mitglieder kamen aus einem eher konservativ-religiösen Milieu.61
Trotz immer wieder aufbrechender Konflikte zwischen den Muslimbrüdern und Krone sowohl in außen- als auch innenpolitischen Themen war das Verhältnis zwischen beiden Seiten grundsätzlich gut. Die Muslimbrüder unterstützten die Monarchie nachdrücklich im Kampf gegen den Nasserismus seit 1954/55. Sie kritisierten den König aber wegen seiner pro-westlichen Außenpolitik und sie mahnten im Parlament vor allem die fehlende Beachtung islamischen Rechts an. Man könnte deshalb von einer loyalen Opposition sprechen, die in Zeiten der Krise verlässlich hinter der Regierung und der Monarchie stand. Als solche wurden die Muslimbrüder wohl auch von König Hussein gesehen. Wenn der Geheimdienst auch immer ein Auge auf die Muslimbrüder hielt , so wusste die Regierung doch, dass man sich auf sie im Krisenfall verlassen konnte. Diese Einstellung der Machthaber wurde durch die schlichte Tatsache erleichtert, dass die Muslimbrüder eine Minderheit darstellten und eine eher kleine soziale und politische Kraft in Jordanien repräsentierten.
Im Unterschied zu den Muslimbrüdern in Ägypten in den fünfziger und sechziger Jahren hielten sich die jordanischen Brüder aus allen gewaltsamen Konflikten heraus. Gewalt wurde weder propagiert noch jemals ausgeübt. Der eher friedliche und fast durchgängig gewaltfreie Kontext, in dem sie ihre sozialen, religiösen und politischen Aktivitäten betrieben, bot dazu auch keinen Anlass. Dagegen musste die extrem gewaltsame Unterdrückung und Verfolgung der Brüder in Ägypten durch Gamal Abd en-Naser seit 1954 zu dem gewaltsamen Kurs der Muslimbrüder führen. Es war also die grundsätzlich zurückhaltende, fast tolerante Politik König Husains gegenüber den Muslimbrüdern, die diesen einen gemäßigten politischen Kurs ermöglichte und ihnen nie die Entscheidung zur Gewalt aufzwang.62
Die Muslimbrüder im Gazastreifen (1948–1967)
Die Entwicklung der Muslimbruderschaft im Gazastreifen verlief in klarem Gegensatz zur Entwicklung im Westjordanland. Der Grund dafür lag nicht nur in der unterschiedlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation dort oder in der extremen Armut, der Isolierung und dem Überleben einer traditionalen Sozialstruktur. Eine entscheidende Rolle spielte die grundsätzlich andere politische Situation in Gaza, die zu anderen historisch-politischen Erfahrungen führte. Gaza stand weiter unter der direkten militärischen Kontrolle der ägyptischen Armee, Flüchtlinge dominierten den Gazastreifen zahlenmäßig und politisch-ideologisch, und hier machten die Palästinenser ihre erste Erfahrung mit der Besatzung durch die israelische Armee 1956/57.
Die Muslimbrüder im Gazastreifen konnten sich deshalb nicht wie ihre Brüder im Westjordanland in den Elfenbeinturm von Erziehung und allgemeinen politischen Erklärungen zurückziehen. Infolge ihres direkten Engagements im Kampf gegen Israel blieben sie nicht die relativ kleine politische Kraft wie ihre Brüder im Westjordanland, sondern sie bildeten bis Mitte der fünfziger Jahre die größte und wichtigste politische Gruppierung im Gazastreifen.63 Schon früh organisierten sie sich im Untergrund, trugen Waffen zusammen und bereiteten sich militärisch auf den bewaffneten Kampf gegen Israel vor. Die israelische Besatzung des Gazastreifens 1956/57 forderte sie zum ersten Mal direkt heraus.
Nur wenige Jahre vorher hatte Nasers Verbot der Muslimbruderschaft 1954 eine ernste Krise der Muslimbrüder in Gaza verursacht und sie in den Untergrund gezwungen, ähnlich wie zuvor schon Kommunisten und Ba’thisten. Dies wirkte sich sehr schnell und sehr negativ auf die Zahl der Mitglieder und Anhänger aus. Viele mussten den Gazastreifen verlassen, um der Unterdrückung zu entkommen und um sich selbst und ihre Familien versorgen zu können. Darunter waren viele spätere Fatah- und PLO-Führer wie zum Beispiel der im Januar 1991 ermordete Salah Khalaf (Abu Iyad), lange Jahre die Nummer drei hinter Yasir Arafat, oder Salim Zanun, derzeit Präsident des Palästinensischen Nationalrates, des PLO-Parlamentes.
Trotz dieser massiven Beschränkungen für ihre Aktivitäten unter der ägyptischen Herrschaft, engagierten sich die Muslimbrüder zusammen mit allen anderen in Gaza aktiven politischen Organisationen gegen verschiedene internationale und regionale Pläne, die hier so dominante Flüchtlingsfrage zu lösen. Gewaltige Demonstrationen gegen ein Projekt zur Ansiedlung von palästinensischen Flüchtlingen auf der Sinaihalbinsel führten 1955 zur Aufgabe des Projektes. 1956/57 kämpften Muslimbrüder gemeinsam mit anderen Aktivisten in Gaza gegen die israelische Besatzung, bis diese nach wenigen Monaten beendet wurde, zwar nicht als Folge des Widerstands, sondern wegen des massiven Drucks der USA auf Israel.
1957 schließlich beteiligten sich die Muslimbrüder an den nationalistischen Demonstrationen gegen einen Plan zur Internationalisierung des Gazastreifens, die diesen sehr schnell scheitern ließen. 64
Bis zu ihrem Verbot 1954 sollen die Muslimbrüder in Gaza mehr als 1 000 Mitglieder gehabt haben. Die Mehrzahl davon waren, ganz anders als im Westjordanland, Schüler und Studenten aus den Flüchtlingslagern.65 Viele der Studenten aus Gaza, die in Kairo studierten, organisierten sich dort in der Palästinensischen Studentenunion, zu deren Präsident Yasir Arafat 1952 gewählt worden war.