Kein Frieden für Palästina - Helga Baumgarten - E-Book

Kein Frieden für Palästina E-Book

Helga Baumgarten

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Beschreibung

Die israelische Besatzung mit ihrer Siedlungs- und Vertreibungspolitik, der Krieg der israelischen Armee gegen den Gaza-Streifen, der seit 2007 unter einer völkerrechtswidrigen Blockade leidet, und der Widerstand der PalästinenserInnen dagegen dominieren in zeitlich immer kürzer werdenden Abständen die Schlagzeilen der internationalen Presse. Noch nie hat die palästinensische Bevölkerung so viel internationale Solidarität erfahren, von den USA (bis hinein in den Kongress) über Europa bis in die arabische Welt und nach Ostasien. Das Buch der in Jerusalem ansässigen deutschen Politikwissenschaftlerin Helga Baumgarten will den interessierten LeserInnen die Hintergründe für den längsten geopolitischen Konflikt unseres Zeitalters näherbringen, um ihn besser verstehen und einordnen zu können. Mit einem historisch-analytischen Rückblick ab 1948, dem Jahr der Staatsgründung Israels und dem Beginn der palästinensischen Tragödie, der Nakba, über die Intifada bis zum Scheitern der als Friedensprozess gefeierten Osloer Verhandlungen werden die wichtigsten Stationen der Entwicklungen in Israel/Palästina kritisch untersucht. Im Mittelpunkt stehen die PalästinenserInnen, ihre politischen Bewegungen und ihr Widerstand gegen die Unterdrückung durch den Staat Israel unter den verschiedenen Regierungen seit 1948. Inzwischen wird Israel von vielen internationalen BeobachterInnen als Apartheid-Staat kritisiert, und darauf aufbauend entwickelt sich mehr und mehr Verständnis für die unerträgliche Lage der PalästinenserInnen und den Widerstand dagegen. Die wichtigsten palästinensischen Parteien, ihre historische Herausbildung und die politische Rolle, die sie seit 1967 gespielt haben, werden im Detail untersucht. Es geht dabei auf der einen Seite um die Hamas, die heute im Gaza-Streifen regiert, sowie um die Fatah (sie kontrolliert die PLO, die palästinensische Befreiungsorganisation), die die Regierung in Ramallah unter Mahmud Abbas als Präsident stellt. Ziel der Analyse dieser beiden Bewegungen ist es, die vielen Mythen und Missverständnisse, die sich um sie insbesondere im deutschen Sprachraum ranken, sachlich zu klären.

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Helga BaumgartenKein Frieden für Palästina

© 2021 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

ISBN: 978-3-85371-895-7(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-496-6)

Coverfoto: Timon Studler, unsplash.com

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung: »Wir wollen unsere Freiheit, und wir wollen sie jetzt«
I. Historischer Rückblick (1948−1967)
II. Besatzung zwischen Juni-Krieg und Erster Intifada (1967−1987)
III. Erste Intifada und Oslo: 1987−2004
IV. Die Wahlen 2004−2006
V. Israels langer Krieg gegen Gaza: 2006−2021
Schluss
Bibliographie

Die Autorin

Helga Baumgarten, geboren 1947 in Stuttgart, studierte Geschichte, Politik und Orientalistik an den Universitäten Tübingen, New York, London, Beirut und Berlin. Von 1993 bis 2020 lehrte sie Politikwissenschaft an der Universität Birzeit, wo sie u. a. das Master-Programm »Democracy and Human Rights« leitete und bis heute Doktorarbeiten betreut.

Sie hat international zum Nahostkonflikt, zum palästinensischen Nationalismus und zum Politischen Islam publiziert, unter anderem ihre klassische Arbeit zur palästinensischen Nationalbewegung, »Palästina. Befreiung in den Staat« (Suhrkamp 1991) sowie ihre Untersuchung zum politischen Islam in Palästina, »Hamas« (Diederichs 2006).

 

Im Gedenken an die Opfer der israelischen Kriege gegen Gaza Für die Kinder von Beit Hanun bis Rafah

Vorwort

Jedes Buch hat seine Geschichte. Dieses ist entstanden als Reaktion auf den palästinensischen Widerstand gegen Besatzungsgewalt und ethnische Säuberung in Ost-Jerusalem sowie auf den Krieg Israels gegen die Menschen im Gaza-Streifen.

Ein kurzes Interview von gerade vier Minuten im ZDF-Mittagsmagazin am 12. Mai 2021 führte zu einer von mir völlig unerwarteten Reaktion zigtausender Menschen in Deutschland und lehrte mich sehr viel über das Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin. Zahllose deutsche Mitbürger muslimischen Glaubens schickten mir E-Mails, um sich schlicht und einfach für mein Interview zu bedanken. Für sie war es offensichtlich eine unerwartete und neue Erfahrung, dass im deutschen Fernsehen jemand offen Kritik an Unrecht übt, in diesem Fall an der israelischen Besatzung. Und es war für sie wichtig, dass ich die palästinensischen Muslime in Jerusalem als Menschen wie du und ich zeichnete und erzählte, wie sie ihre Feste feiern wollen und daran gehindert werden, wie entsetzlich und demütigend die Gewalt der israelischen Grenzpolizei auf dem Haram asch-Scharif für sie ist und wie sie dagegen Widerstand leisten. Sie schrieben mir in immer neuen Formulierungen, wie sie in Deutschland als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt werden und wie sie die Medien als Extremisten abstempeln. Immer wieder, so hieß es, fühlten sie sich gedemütigt, obwohl sie einfach auf Respekt und Anerkennung ihrer menschlichen Würde warten.

Dieses Buch ist nicht zuletzt eine Antwort darauf und mein Versuch, diesen gerade auch für Muslime so zentralen Konflikt um Jerusalem und Palästina aus der Perspektive der Opfer darzustellen und zu analysieren.

Helga Baumgarten Jerusalem/al-Quds, im Juli 2021

Einleitung: »Wir wollen unsere Freiheit, und wir wollen sie jetzt«

Jerusalem und Gaza, Palästina und Israel haben, wieder einmal, weltweit die Schlagzeilen dominiert. Gewalt auf dem Haram asch-Scharif, dem drittheiligsten Ort für Muslime weltweit, Zusammenstöße zwischen Jugendlichen und der schwer bewaffneten israelischen Grenzpolizei am Damaskus-Tor in Jerusalem wegen Polizeiabsperrungen trotz Ramadan, Demonstrationen im Stadtteil Scheikh Jarrah gegen die drohende Vertreibung der Bewohner aus ihren Häusern, schließlich »Raketen«-Beschuss auf Israel aus dem Gaza-Streifen und eine brutale Bombardierungskampagne der israelischen Armee gegen Gaza.

Worum ging es, worum geht es bis heute?

Geht es um den Widerstand der Palästinenser gegen die israelische Besatzung und um ihren Kampf um Freiheit und ein Leben in Würde? Oder geht es um Israels »Recht auf Selbstverteidigung« gegen den Beschuss aus dem Gaza-Streifen, Selbstverteidigung durch einen Angriffskrieg, der zuerst und vor allem die Zivilbevölkerung dort trifft? Die Antwort auf diese Frage durch die Regierungen in Berlin und Wien war unmissverständlich. In Wien wurde die israelische Flagge auf dem Bundeskanzleramt gehisst, in Berlin war ausschließlich die Rede vom Selbstverteidigungsrecht Israels. Bei seinem Blitzbesuch in Israel konzentrierte sich der deutsche Außenminister Maas allein auf den israelischen Standpunkt. Die Menschen im Gaza-Streifen schienen für ihn nicht zu existieren.

In einem Buch, konzipiert für Leser im deutschen Sprachraum, vor allem in Österreich und Deutschland, kommt man nicht umhin, den ganz besonderen Umgang Deutschlands und Österreichs (vor allem auf der Ebene der politischen Eliten) mit Palästina und Israel an den Anfang zu stellen.

Der Konflikt in der nahöstlichen Region scheint bei uns zwei Dimensionen anzunehmen:

1.) die reale Situation vor Ort: Sie wird vor allem von den politischen Eliten, und zumindest in deren öffentlichen Erklärungen, systematisch verdrängt bzw. ausschließlich aus der Sicht des israelischen Establishments wahrgenommen.

2.) der hegemoniale Diskurs in Österreich und Deutschland: Er besteht aus einem Narrativ, mit dem die Wahrnehmung der Situation und der realen Entwicklungen vor Ort verzerrt oder sogar völlig verhindert wird.

Die reale Situation vor Ort, und hier sind sich die Spezialisten weltweit einig, ist bestimmt von einem seit 1967 andauernden Besatzungsregime, von Siedlerkolonialismus, ethnischer Säuberung und einem spezifisch nahöstlichen System der Apartheid.

Im europäischen Diskurs, insbesondere im deutschsprachigen, wird dagegen, gerade in Krisenzeiten, diese real existierende Besatzung schlicht übersehen. Der Gaza-Streifen mit seinen 2 Millionen Bewohnern, die gesamte Gesellschaft dort, wird »uminterpretiert« zur »Hamas«, also zu »Terroristen« und »radikalen Islamisten«. Unsere Regierungen und politischen Eliten werden dabei nicht müde zu betonen, dass sie unverbrüchlich auf der Seite Israels stehen und gegen jede Art von Antisemitismus entschieden vorgehen. Dies gelte vor allem, wenn dieser neue Antisemitismus, wie immer wieder hervorgehoben wird, von Muslimen – ob Staatsbürger, Migranten oder Asylsuchende – demonstriert wird. Während sie, wie sie immer wieder herausstreichen, eine Form des Rassismus bekämpfen, entwickeln sie eine andere Form des Rassismus, nämlich Islamophobie, und scheinen sich dessen noch nicht einmal bewusst zu sein. Gleichzeitig übersehen sie immer wieder großzügig, dass Antisemitismus zuerst und vor allem Teil der Ideologie der ex­tremen Rechten ist. Sie vergessen, dass die Vernichtung der europäischen Juden1 das Werk des rechtsextremistisch-faschistischen Nazi-Regimes und seiner Unterstützer war, als dessen Erben sich heute wieder extremistische Rechte in Deutschland verstehen. Muslime tragen dafür keine Verantwortung.

Dieses Buch versucht, Aufklärung zu leisten, indem es den Blick auf die Realitäten im historischen Palästina lenkt, also in dem 1948 errichteten Staat Israel und in den palästinensischen Gebieten Gaza, Ost-Jerusalem und West Bank, die sich seit 1967 unter israelischer Besatzung befinden.

Was also passierte im Mai 2021, zuerst in Jerusalem, danach in Gaza und Israel und schließlich im gesamten Territorium zwischen Mittelmeer und Jordan, das seit 1967 unter ausschließlicher israelischer Kontrolle steht?

Ausgelöst wurden die Ereignisse im Mai 2021 von einem präzedenzlosen Vorgehen der israelischen Polizei und Grenzpolizei (in Jerusalem wird nicht die israelische Armee eingesetzt, sondern die Grenzpolizei, deren Uniformen wie Armee-Uniformen aussehen) am Damaskus-Tor, also einem der Tore, durch die man in die Altstadt gelangt. Vor allem Jugendliche versammeln sich auf dem großen Treppen-Rondell vor dem Tor an den Abenden des Fastenmonats Ramadan, um dort zu feiern. Völlig überraschend wurden die Treppen gesperrt und keiner durfte sich dort aufhalten. Die gesamte Polizeiaktion machte keinerlei Sinn und wurde von den Jugendlichen als inakzeptable Schikane verstanden. Es kam Abend für Abend zu zunehmend gewaltsameren Zusammenstößen, bis die Polizeiführung sich eines Besseren besann und das Damaskus-Tor wieder frei gab.

In der Zwischenzeit hatten sich auch auf dem Haram asch-Sharif permanente Spannungen entwickelt, vor allem nach den abendlichen Gebeten, die nach dem Fastenbrechen abgehalten werden und zu denen täglich Zehntausende pilgern, die Frauen in den Felsendom (as-sakhra), die Männer in die Aqsa-Moschee. Die palästinensischen Gläubigen sahen sich immer wieder von den israelischen Sicherheitskräften provoziert, ob Grenzpolizei oder Geheimdienst, und immer wieder kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die schließlich das gesamte Terrain des Haram asch-Scharif inklusive des Inneren der Aqsa-Moschee in ein Schlachtfeld verwandelten. Viele Palästinenser wurden verletzt, zum Teil sehr schwer.

Parallel dazu spitzte sich eine schon seit Jahren schwelende Krise im Stadtteil Scheikh Jarrah, knapp zwei Kilometer nördlich vom Damaskus-Tor, zu. Dort sollen palästinensische Bewohner aus ihren Häusern verdrängt werden. Sie sind ausnahmslos Flüchtlinge von 1948, die damals aus ihren Dörfern und Städten von der israelischen Armee vertrieben wurden. In Scheikh Jarrah leben sie seit den 1950er-Jahren auf der Basis eines Abkommens zwischen Jordanien und der UN-Hilfsorganisation UNRWA. Extremistische israelische Siedler wollen an ihrer Stelle dort einziehen, also mitten hinein in ein palästinensisches Stadtviertel. Sie argumentieren, dass Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Land in dieser Gegend gekauft hätten. Ihre Ansprüche versuchen sie gerichtlich durchzusetzen. Im Mai 2021 sollten die Palästinenser ihre Häuser räumen und Platz für die Siedler machen, so der Beschluss israelischer Gerichte.

Eine breite Solidaritätsbewegung mit täglichen Demonstrationen bildete sich heraus. Schon seit Jahren demonstrieren jeden Freitag linke jüdische Israelis in Solidarität mit den Palästinensern, darunter auch bekannte Namen wie der Schriftsteller David Grossmann. Im Mai 2021 nun entwickelte sich dies zu einer permanenten Solidaritäts-und Widerstandsbewegung mit einer breiten Beteiligung junger Palästinenserinnen und Palästinenser, in der Mehrzahl aus Jerusalem und aus Israel.

Die Zusammenstöße am Damaskus-Tor, die konstanten Probleme auf dem Haram während des Ramadan und schließlich die drohende Vertreibung palästinensischer Familien in Scheikh Jarrah eskalierten bis Ende des Ramadan zu einem explosiven Gemisch aus Empörung und Bereitschaft, die Verschärfung der israelischen Besatzung nicht länger hinzunehmen.

Diese Entschiedenheit, nicht länger zu schweigen und der israelischen Unterdrückung untätig zuzuschauen, erfasste schließlich die Gläubigen im Haram asch-Scharif, die sich dort nach dem Gebet für ihre Landsleute in Scheikh Jarrah einsetzten. Amira Hass dokumentierte in Haaretz die Entwicklungen auf dem Haram am Freitag, dem 7. Mai, dem letzten Freitag im Ramadan, einem ganz besonderen Tag, an dem jeder, dem es irgendwie möglich ist, nach dem Fastenbrechen zum Haram pilgert. Ihr Interviewpartner berichtet: »Die Atmosphäre war ruhig, angenehm, von überall her waren Familien gekommen, aus dem Norden, aus Jerusalem und aus der West Bank. Die Spannung entstand an einem der Tore zum Haram, wo sich israelische Polizisten in großer Zahl versammelten und die Menschen auf dem Haram in Angst vor einem Angriff gegen sie versetzten. Jugendliche warfen leere Plastikflaschen, um zu signalisieren, dass die Polizei abziehen sollte. Diese attackierten jedoch und begannen sofort, mit Lärm- und Gummigeschossen zu feuern. Muslimische Geistliche riefen die Polizei über Lautsprecher auf, nicht in den Haram einzudringen und forderten Mäßigung. Aber all dies war vergeblich. Innerhalb kürzester Zeit waren über 200 Menschen verletzt worden, durch Gummikugeln vor allem, die von den Soldaten oft gezielt auf Kopf oder Gesicht abgeschossen wurden. Amira Hass zitiert ihren Interviewpartner: »Ein Soldat, der auf mich feuerte (der junge Mann war klar als Journalist ausgewiesen), war etwa 50 m von mir entfernt. Ich hatte meine Kamera in der Hand, sah ihn direkt an. In dem Moment, in dem er schoss, drehte ich mich um, und wurde deshalb auf dem Rücken, unterhalb meiner Schulter, getroffen. Dies war gezieltes Schießen auf mich, nicht ein zufälliger Schuss«. Obwohl er durch den Schuss eine gebrochene Rippe hatte, blieb der junge Mann bis zum nächsten Morgen, mit fast allen Menschen, die dort abends zum Gebet gekommen waren und die wegen der Polizeigewalt den Haram nicht mehr verlassen konnten.2

Die Solidaritätsdemonstrationen verbreiteten sich selbst unter den palästinensischen Staatsbürgern Israels sehr schnell. Sie waren schon während des gesamten Ramadan mobilisiert worden, da sie jeden Freitag zum Beten nach Jerusalem gekommen und dort mit den Entwicklungen am Damaskus-Tor, im Haram selbst und den Auseinandersetzungen in Scheikh Jarrah konfrontiert worden waren. Auch in der West Bank wurden die ersten Demonstrationen durchgeführt, anfangs noch weitgehend unterdrückt durch das autoritäre Regime in Ramallah und seine Geheimdienste.

Schließlich sprang der Funke auch auf den Gaza-Streifen über. Nach den ersten Demonstrationen der Solidarität aus der Gesellschaft und seitens vieler Nichtregierungsorganisationen stellte die in Gaza regierende Hamas (seit ihrem Wahlerfolg bei den Parlamentswahlen 2006) Israel ein Ultimatum: Verlasst den Haram asch-Scharif, unterlasst die Gewalt dort, zuerst und vor allem innerhalb der Moscheen, und stoppt den Versuch, die Palästinenser in Scheikh Jarrah zu vertreiben. Die Hamas stellte damit Forderungen an Israel, die mit Gaza nichts zu tun hatten, die aber demonstrierten, dass alle Palästinenser, egal wo und wie sie leben, zusammenstehen und eine Gesellschaft, eine Nation bilden. Wenn es Probleme gibt, so die Botschaft, unterstützen sich alle gegenseitig.

Das Ultimatum wurde von Israel zurückgewiesen und ab dem Abend des 10. Mai wurde aus Gaza geschossen: durch die Hamas, den Islamischen Jihad und durch zwei linke Organisationen, die PFLP und die DFLP. Israel reagierte, wie schon immer in der Vergangenheit, absolut unverhältnismäßig und bombte den Gaza-Streifen wieder einmal brutal zusammen. Massivste Zerstörungen: Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen, Moscheen, Opfer vor allem unter der Zivilbevölkerung, Kinder (fast 70), Frauen, unbeteiligte Männer; über 250 Tote, fast 2000 Verletzte. In Israel gab es 13 Tote, darunter 2 Kinder und fast 120 Verletzte.

Die israelische Armee operierte auf der Basis der Dahiya-Doktrin (entwickelt von General Eisenkot nach dem Libanon-Krieg 2006 und zuerst 2014 in Gaza umgesetzt).3 Diese Doktrin verlangt die Anwendung von unverhältnismäßiger Gewalt sowie die Zerstörung der zivilen Infrastruktur, da diese potenziell von bewaffneten Militanten in Gaza benützt werden könnte. Der französische Journalist Alain Gresh formulierte in Le Monde Diplomatique im Juni 2021, dass »keine andere Armee der Welt offen eine Doktrin des ›Staats-Terrorismus‹ formuliert habe« (angewandt worden sei sie aber z. B. von den USA im Irak und von Russland in Tschetschenien).4

Am 21. Mai 2021 wurde durch ägyptische Vermittlung ein Waffenstillstand geschlossen, der auch noch im Juli hielt. An der Lage änderte sich aber nichts. Gaza blieb abgeriegelt, die West Bank stand weiter unter Besatzung und die Palästinenser in Israel behielten ihren Status als Bürger zweiter Klasse. Die israelische Polizei in den gemischten israelischen Städten wie Lydda (Lod) oder Haifa, aber auch überall in den mehrheitlich palästinensischen Orten in Israel (innerhalb der Grenzen von 1967) griff kompromisslos durch, allerdings fast ausschließlich gegen Palästinenser.5 Dasselbe spielte sich in Ost-Jerusalem in den palästinensischen Stadtvierteln ab sowie seitens der Armee in der West Bank: massenhaft Verhaftungen und immer wieder Einsatz von Schusswaffen, um deutlich zu machen, wer die Macht im Lande hat.

Scheikh Jarrah ist vollständig abgeriegelt und nur zugänglich für die jüdischen Siedler (völlig problemlos und praktisch ohne Kontrolle) und die dort noch lebenden palästinensischen Hauseigentümer, die hart und zeitaufwendig kontrolliert werden. Dabei gehen die Solidaritätsdemonstrationen ungebrochen weiter. Immer wieder attackiert die Polizei die Demonstrierenden.6

In Gaza leben die Menschen mitten in einem zerbombten Land, oft ohne Strom, ohne funktionierende Wasserversorgung,mit einem Minimum an Lebensmitteln und fast keinen Materialien, um mit dem Wiederaufbau zu beginnen.7 Gleichzeitig feiern Anhänger der Hamas ihren Sieg. Darunter verstehen sie, dass sie bis zum Schluss gegenhalten und schließlich einen Waffenstillstand durchsetzen konnten … auch wenn der Preis dafür enorm hoch war.

In den westlichen Medien, vor allem aber in der deutschsprachigen Presse, wird die Hamas zusammen mit den anderen Gruppierungen in Gaza als Angreifer gebrandmarkt, gegen den sich Israel wehren muss, um seine Bevölkerung zu schützen. Nelson Mandela schrieb dazu in seinen Memoiren, dass es immer der Unterdrücker – nicht der Unterdrückte – ist, der diktiert, welche Form der Kampf annimmt. Wenn der Unterdrücker Gewalt anwendet, dann haben die Unterdrückten keine andere Wahl, als mit Gewalt zu antworten.8

Der oben zitierte Alain Gresh zieht deshalb eine gerade Linie von der Rebellion der Palästinenser in Jerusalem, also am Damaskus-Tor, auf dem Haram asch-Scharif und in Scheikh Jarrah zu den »Raketenangriffen« der Hamas und des Islamischen Jihad auf Israel.

Der entscheidende Erfolg dieser palästinensischen Rebellion ist wohl in einer historisch einmaligen Vereinigung aller Palästinenser zu sehen. Palästinenser aus Israel, die sich nicht mehr, wie in israelischem Verständnis, als israelische Araber definieren, sondern als Palästinenser mit israelischer Staatsangehörigkeit, Palästinenser aus Ost-Jerusalem, Palästinenser aus der West Bank, Palästinenser aus dem Gaza-Streifen, Palästinenser in den Flüchtlingslagern im Libanon, Syrien und Jordanien, und schließlich Palästinenser weltweit, egal wo sie leben und egal, wie ihre Lebensumstände sind, standen und stehen. Sie alle stehen bis heute (Mitte Juli 2021) vereint und geschlossen zusammen, gegen die israelische Besatzung, gegen den neuen Krieg Israels gegen Gaza, gegen die versuchte Vertreibung aus Scheikh Jarrah, also gegen ethnische Säuberung, gegen Siedlerkolonialismus, Rassismus und Apartheid, um die zentralen Begriffe zu wiederholen, die immer wieder auf den Plakaten der Demonstranten zu lesen sind.

Wie kam es dazu und wird die Einheit andauern und sich weiterentwickeln? Dies soll in den folgenden Kapiteln immer als Frage im Hintergrund stehen. Im Schlussteil wird die Frage dann erneut aufgenommen und in die nähere Zukunft projiziert.

Für Israel, zumindest für kritische israelische Journalisten, konstituierten die elf Tage Krieg gegen Gaza im Mai 2021, ohne auf die Toten und Verletzten auf israelischer Seite einzugehen, »eine Operation, die absolut sinnlos war und in totalem Scheitern endete«.9

Welches sind die Gründe, dass Israel von Krieg zu Krieg immer brutaler vorgeht und gleichzeitig immer weniger erreicht? Auch das soll im Buch historisch eingebettet werden, um dann im Schlussteil erneut und auf einer sehr viel tiefer greifenden Basis beantwortet zu werden.

Ausgehend von den Problemen, die im Mai 2021 ins Zentrum rückten und letztendlich zum Krieg der israelischen Armee gegen Gaza führten, sollen diese in einem historischen Rückblick herausgearbeitet und analysiert werden. Dabei stehen ethnische Säuberung und Siedlerkolonialismus im Mittelpunkt, angefangen mit der Massenvertreibung von Palästinensern 1948, vor und nach der Etablierung des Staates Israel. Der Siedlerkolonialismus, der schon mit den ersten zionistischen Einwanderungswellen Ende des 19. Jahrhunderts begonnen hatte, führte in der Periode von 1948 bis 1967 dazu, dass die im Lande verbliebenen Palästinenser, knapp 160.000, bis 1966 unter Militärherrschaft gestellt wurden (nicht in den gemischten Städten wie Akka, Haifa und Jaffa), sukzessive ihr Land verloren und recht eigentlich in einem Apartheidsystem leben mussten (Kapitel I). Der Beginn der zionistischen Einwanderung, die Balfour-Deklaration Großbritanniens und die Herrschaft Großbritanniens über Palästina, beschönigend Mandatsherrschaft benannt, da es der Völkerbund war, der Großbritannien dieses Mandat erteilte, kann aus Platzgründen hier nicht analysiert werden. Auch der erste landesweite Aufstand der Palästinenser gegen die zionistische Einwanderung und die britische Herrschaft muss ausgespart bleiben.

Der Juni-Krieg 1967, den Israel, wie alle Kriege, als Verteidigungskrieg versteht10 und so auch propagiert, führte zur israelischen Besatzung der Reste des historischen Palästina, also Ost-Jerusalem, West Bank und Gaza-Streifen. Damit wurde die Fragmentierung, die Teilung und Aufsplitterung der Palästinenser in voneinander getrennte Gruppen, die 1948 begonnen wurde, noch weiter vertieft.

Die palästinensischen politischen Akteure, die in der Periode nach 1948 entstanden, dominieren bis heute die politische Landschaft der Palästinenser, allerdings mit zusehends weniger Einfluss. Dazu gehören die Fatah, die bis Mitte der 1990er-Jahre hegemoniale politische Bewegung, angeführt und mitgegründet von Yasir Arafat, ebenso wie die linken Organisationen PFLP und DFLP, die 1967 bzw. 1969 gegründet wurden. Beide entwickelten sich aus der Bewegung der arabischen Nationalisten, der wichtigsten palästinensischen Strömung nach 1948 mit dem Zentrum im Libanon. Parallel dazu hatten sich die Muslimbrüder, in den 1920er-Jahren in Ägypten gegründet, auch in Palästina etabliert. Auch sie spielten eine gewisse Rolle, entwickelten sich aber erst in den 1990er-Jahren durch die 1987 gegründete Hamas zu einer politischen Kraft, die zum wichtigsten Konkurrenten der Fatah wurde.

Diese Akteure sollen in ihrer historischen Herausbildung und der jeweiligen politischen Rolle, die sie spielten, analysiert werden. Nur so wird es möglich sein zu verstehen, welche Positionen sie heute vertreten, wie sie in der palästinensischen Gesellschaft verankert sind und was von ihnen in der Zukunft zu erwarten ist (Kapitel II).

Der erste landesweite palästinensische Aufstand gegen die israelische Besatzung von 1967 sowie die erste Intifada (von 1987−1991) führten sowohl zur palästinensischen Akzeptanz der Zwei-Staaten-Lösung (1988) als auch zum umstrittenen Osloer Prozess (1993 bis heute). Oslo stellte die Fragmentierung der Palästinenser auf eine völlig neue Ebene: die West Bank selbst wurde nun in drei Gebiete aufgeteilt, A, B und C, während Ost-Jerusalem herausgetrennt und der Gaza-Streifen stärker blockiert wurde durch eine sich verschärfende Serie von Aus- und Einreiserestriktionen. In dieser Zeit verschob sich die Konstellation der palästinensischen politischen Akteure. Auf der einen Seite stand die von der Fatah seit 1968/69 dominierte PLO, inklusive der linken Organisationen PFLP, DFLP und der ehemaligen palästinensischen Kommunistischen Partei, später Palästinensische Volkspartei. Auf der anderen Seite standen die Hamas, der wichtigste Herausforderer für die hegemoniale Rolle der Fatah, und der wesentlich kleinere Islamische Jihad.

In diese Periode fallen der gewaltsame Tod von Yasir Arafat, wohl durch eine bis heute nicht aufgeklärte Vergiftung, und die Ermordung des Hamas-Gründers und Vorsitzenden Sheikh Ahmad Yassin durch eine israelische »gezielte Tötung« (Kapitel III).

Der Verlust der zwei historischen palästinensischen politischen Führungspersönlichkeiten, Arafat und Yassin, führte zu einer Reihe von Entwicklungen, die in den Parlamentswahlen von 2006 kulminierten.

Die Hamas erzielte einen haushohen Wahlsieg, der aber für sie sehr schnell zu einem politischen Alptraum werden sollte. Die USA und Europa akzeptierten die Wahlergebnisse nicht, genauso wenig wie Israel, und auch die Fatah war nicht bereit, ihre Wahlniederlage einzugestehen und in die Opposition zu gehen.

Das führte ein weiteres Mal zu einer neuen Stufe der Fragmentierung, diesmal sowohl geographisch zwischen Gaza und West Bank, als auch politisch zwischen Hamas in Gaza und Fatah/PLO in der West Bank. Ost-Jerusalems Abtrennung von der West Bank, dem wichtigsten Hinterland für die Stadt, wurde weiter verschärft und vertieft (Kapitel IV).

Für Gaza führten diese Entwicklungen zu einer Periode, die von Gewalt auf allen Ebenen bestimmt war: strukturelle Gewalt ebenso wie offene Gewalt in einer ganzen Serie von Kriegen, mit denen Israel den Gaza-Streifen und die Menschen dort überzog: 2006/7, 2008/9, 2012, 2014 und schließlich als dem bislang letzten Höhepunkt bzw. Tiefpunkt, dem Krieg von 2021. Die Trennung zwischen West Bank/Fatah und Gaza/Hamas soll hier mit den vier Kriegen Israels gegen Gaza analysiert und verknüpft werden. Dabei muss auch die Frage der Gewalt thematisiert werden, gekoppelt einerseits mit dem Problem »Terrorismus«, andererseits mit der Frage der Menschenrechte und der Rolle des internationalen Rechts (Kapitel V).

Abschließend sollen die Fragen, die in der Einleitung gestellt wurden, wieder aufgenommen werden. Auf der Basis der kurzen historischen Analysen, die das Buch leistet, soll schließlich ein Ausblick in die Zukunft gewagt werden. Im Schlussteil werden die aktuellen Forderungen der Palästinenser vorgestellt und analysiert. Dabei muss auch gefragt werden, welche politische Unterstützung die Palästinenser bei diesen Forderungen haben, wer ihre Verbündeten sind, sowohl innerhalb Israels als auch regional und international, vor allem aus der Gesellschaft, weniger von den Regierungen und politischen Führungen (Schlussteil).

1 Raul Hilberg 1985. The Destruction of the European Jews. New York: Holmes and Meier. 3 volumes (revised and definitive edition). Ich verwende hier den Begriff, den Hilberg benutzt, da er nicht abstrakt daherkommt. Vernichtung der Juden drückt klar aus, was die Deutschen damals getan haben.

2 Amira Hass, Haaretz, 31. Mai 2021. »Every minute at Al-Aqsa another Palestinian was injured«

3 Gabi Siboni, INSS Insight no. 74, Oct. 2, 2008. »Disproportionate Force: Israel’s Concept of Response in Light of the Second Lebanon War«. (Institute for National Security Studies inss.org.il). TRT World, 14. May 2021. »According to established Israeli military policy every Gaza is a target … and that’s not an accident«. Gadi Eisenkot. Military and Strategic Affairs vol. 2, no. 1, June 2010: »A Changed Threat? The Response on the Northern Area«.

4 Alain Gresh. Le Monde Diplomatique (English edition) Juni 2021. »Can Israel win its endless wars on the Palestinians?«

5 Josh Breiner. Haaretz. 3. Juni 2021 »Israel Police arrested over 2,000 people since Gaza op – 91 % of them Arab. Vgl. auch Jack Khoury. Haaretz. 28. Mai 2021. »Israeli police aren’t seeking law and order, but to silence Arab citizens«.

6 Am 5. Juni 2021 ging die israelische Grenzpolizei so weit, zwei Journalisten von al-Jazeera, die die Demonstrationen in Sheikh Jarrah dokumentierten, zu verhaften, bei der Verhaftung regelrecht zusammenzuschlagen und etwa sieben Stunden festzuhalten, ehe die Journalistin, Dschivara Budeiri, und ihr Kameramann freigelassen wurden.

7 Amira Hass. Haaretz, 31. Mai 2021 zur mangelnden Stromversorgung, und am 2. Juni 2021 zum dramatischen Wassermangel.

8 Nelson Mandela. 1995. Long Walk to Freedom: The Autobiography of Nelson Mandela. Boston. Zitat hier übernommen von Jamie Wilson. 2014. Learning from Mandela. University of Washington. »… the state was responsible for the violence … and that it is always the oppressor, not the oppressed, who dictates the form of struggle«.

9 Aluf Benn. Haaretz, 18. Mai 2021 »This is Israel’s most failed and pointless Gaza operation ever. It must end now.«

10 Menahem Begin war die große Ausnahme, wenn er sowohl die Dreier-Aggression von 1956 als auch den Krieg 1967 als »Kriege freier Wahl«, als frei gewählte Kriege bezeichnete.

I. Historischer Rückblick (1948−1967)

1948 – Das Jahr der nakba, der Katastrophe

Im Mai 1948 wurde der Staat Israel als jüdischer Staat in einem Großteil des historischen Palästina gegründet und sofort international anerkannt. Die israelische Armee vertrieb die dort lebenden Palästinenser. Parallel dazu verübten die Armee und diverse bewaffnete zionistische Verbände eine lange Serie von Massakern, durch die zahllose Palästinenser in die Flucht getrieben wurden. Ihre Rückkehr wurde vom neugegründeten Staat systematisch unterbunden.

Ein palästinensischer Staat, wie ihn der UN-Teilungsplan vom November 1947 vorgesehen hatte, konnte nicht entstehen. Dies verhinderten sowohl Israel, die noch dominierende Großmacht Großbritannien im Einklang mit Transjordanien, die Vereinten Nationen durch den UN-Vermittler Bernadotte als auch schließlich die neue Weltmacht USA. Die Regierung von ganz Palästina, die in Gaza ausgerufen wurde, blieb eine Fußnote in der Geschichte bzw. wurde durch ägyptisches Eingreifen, gedeckt durch Transjordanien, dazu gemacht.

Das Jahr 1948 wurde für die Palästinenser zur nakba, zur Katastrophe. Fast eine dreiviertel Million Menschen wurde vertrieben und zu Flüchtlingen gemacht. In ihrem Heimatland wurde ein jüdischer Staat proklamiert, ihnen jedoch blieb ein eigener Staat verwehrt, im direkten Unterschied zur arabischen Region generell, wo überall neue Staaten entstanden, sich konsolidierten oder zur Unabhängigkeit geführt wurden.

Die zentrale Bedeutung der nakba für die Palästinenser war ihre Vertreibung und ihre Transformation zu Flüchtlingen. Der Prozess der Vertreibung zog sich etwa über ein Jahr hin.11 Er begann mit der Flucht der Notabeln und der gutsituierten und gebildeten oberen Mittelklasse aus den Küstenstädten Jaffa, Haifa und Akka, aus Ramla in der Küstenebene, Tiberias im Norden sowie den westlichen Bezirken Jerusalems. Sie alle suchten Zuflucht in den benachbarten Städten wie Beirut, Damaskus, Amman, Gaza und Kairo, wo sie oft Verwandte und Freunde hatten. Dort wollten sie – wohl zwischen 5000 und 10.000 Personen – abwarten, bis sich die Lage in Palästina wieder entspannt hatte. Der militärische Druck der Haganah, der prästaatlichen jüdischen Armee,12 führte bis März 1948 zur Flucht von etwa 75.000 Personen, vor allem aus Dörfern in der Küstenebene, also dort, wo nach dem Teilungsbeschluss der neue Staat entstehen sollte.

Die großen Haganah-Offensiven im April und Mai 1948 trieben die Bewohner von Haifa (etwa 70.000) und Jaffa (bis 80.000 Menschen) in die Flucht, zusätzlich zu vielen Einwohnern aus umliegenden Dörfern, die nicht zuletzt infolge des Massakers von Dair Yasin (einem kleinen Dorf bei Jerusalem, heute ein Stadtteil) ihre Dörfer fluchtartig verließen.

Die dritte Fluchtwelle entstand als Resultat des Zusammenbruchs des ersten Waffenstillstands im Juli 1948. Etwa 100.000 Palästinenser verloren in diesem Sommer ihre Heimat. Sie kamen einmal aus Galiläa im Norden, zum anderen aus den Nachbarstädten Ramla und Lydda in der Küstenebene, nur wenige Kilometer von Tel Aviv entfernt. Unter der Führung des späteren Premierministers Rabin und auf Befehl des damaligen Premiers Ben Gurion wurden allein aus diesen Städten 45.000 Menschen, viele zuvor schon dorthin in vermeintliche Sicherheit geflüchtet, vertrieben.

Die vierte und letzte Flucht- und Vertreibungswelle führte zum Exodus von weiteren 100.000 bis 150.000 Menschen, sowohl im Süden (aus Aschdod und Aschkelon, in arabisch Sdud und Majdal), von dort aus flohen die Menschen nach Gaza, als auch im Norden, wo vor allem die ländliche Bevölkerung in den Libanon vertrieben wurde.13

Die persönlichen Erinnerungen von späteren führenden Persönlichkeiten der palästinensischen Nationalbewegung sowie von palästinensischen Wissenschaftlern, Intellektuellen und Schriftstellern vermitteln einen Eindruck von ihren konkreten Erlebnissen 1948. Diese einschneidenden traumatischen Erfahrungen üben bis heute ihren Einfluss innerhalb der palästinensischen Gesellschaft aus. Auch ganz junge Menschen, zum Beispiel viele von denen, die seit Mai 2021 in Jerusalem demonstrieren oder die als militante Aktivisten in Gaza kämpfen, sind davon geprägt.

George Habasch: Vertreibung aus Lydda, seine Familie flüchtet nach Ramallah, er kehrt zur Weiterführung seines Studiums nach Beirut zurück

George Habasch war einer der Gründer der Bewegung der arabischen Nationalisten und später der PFLP. Auch nach den Osloer Verträgen 1993 – er lehnte das Abkommen kategorisch ab – kehrte er nicht nach Palästina zurück. 2000 trat er von der Führung der PFLP zurück. 2008 starb er im Exil in Amman.

»Was damals in Palästina passierte, war fürchterlich, unerträglich. Ganz besonders für einen jungen Mann wie mich, Anfang zwanzig, der noch nichts erlebt hatte. Für mich war es das Natürlichste der Welt, in Lydda, in Palästina zu sein. Schließlich war Lydda meine Heimatstadt, Palästina mein Heimatland. Und dann musste ich miterleben, wie die israelische Armee einmarschierte. Sie schoss auf alles, was sich bewegte, einfach so. Am nächsten Tag befahlen sie den Einwohnern Lyddas, ihre Stadt zu verlassen. Sie gaben den Befehl dazu, ich bin absolut sicher; mit Gewalt trieben sie uns hinaus, töteten Menschen noch unterwegs. Ich konnte es nicht fassen. Als ich nach Beirut zurückkam (wo er Medizin studierte; HB), war ich fest entschlossen, den Kampf für eine Sache weiterzuführen, die gerecht war und völlig eindeutig.

Denn was für einen Sinn hat es, einen kranken Körper zu heilen, wenn so etwas passieren kann. Man muss die Welt verändern, etwas tun, töten wenn notwendig, selbst mit dem Risiko, nun selber unmenschlich zu werden.«14

Die letzten Forschungen aus Israel, in einem Buch von Adam Raz, bestätigen die Erinnerungen von George Habasch und ergänzen sie durch horrende Details:15 Nach der Eroberung von Lydda, so liest man bei Raz, hatte man den Soldaten befohlen, den vertriebenen Arabern jede Uhr, jedes Stück Schmuck, Geld, sonstige Wertsachen, überhaupt alles abzunehmen. Und die direkte Verbindung zwischen Plünderungen und Vertreibungen wurde gerade im Hinblick auf Lydda deutlich gezogen: »Es ist kein Zufall, dass Plünderungen und Vertreibungen Hand in Hand gehen. Es gibt unausgesprochene, aber (potenziell) sehr wirksame Absichten, keinen Araber im Staat Israel zu lassen.« (Zitat eines Gewerkschaftsfunktionärs).

Schon Jahre zuvor hatte Benny Morris Ben Gurion als den Verantwortlichen für die Vertreibung der Palästinenser aus Lydda identifiziert: »Der Befehl zur Vertreibung (der Palästinenser; HB) aus Lydda, der von Yitzhak Rabin unterzeichnet war, wurde direkt nach dem Besuch Ben Gurions im Hauptquartier der ›Operation Dani‹ (Juli 1948) erlassen«.16

Und die Frage des Journalisten Avi Shavit, ob er tatsächlich sage, »dass Ben Gurion die persönliche Verantwortung trage für eine bewusste und systematische Politik der Massenvertreibung«, beantwortet er mit einem klaren Ja: »Unter Ben Gurion wurde ein Konsens zum Transfer hergestellt. (…) Ben Gurion war ein Befürworter des Transfers. Er verstand, dass es keinen jüdischen Staat geben würde mit einer großen und feindseligen arabischen Minderheit.« Und er schließt mit einem brutal-zynischen Argument: »Ohne die Entwurzelung der Palästinenser hätte es keinen jüdischen Staat gegeben.«

Abu Iyad (Salah Khalaf): Er wurde aus Jaffa nach Gaza vertrieben. Nach dem Studium in Kairo ging er als Arbeitsmigrant in den Golf

Abu Iyad war Mitgründer der Fatah. Er war zeitlebens ein führender Fatah-Aktivist. 1991 wurde er im Exil in Tunis ermordet.

»Der 13.