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Palästina: Befreiung in den Staat von Helga Baumgarten erscheint nun in einer leicht überarbeiteten Neuauflage. Das Werk das den jahrzehntelangen Kampf der Palästinenser um Freiheit und nationale Selbstbestimmung illustriert, bietet eine präzise Analyse der politischen, sozialen und historischen Entwicklungen, die zur Entstehung der palästinensischen Identität führten. Baumgartens fundiertes Wissen macht dieses Buch zu einem unverzichtbaren Beitrag zur Diskussion über den Nahostkonflikt und dessen Zukunft.
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Helga Baumgarten
Palästina
Befreiung in den Staat
Die palästinensische Nationalbewegung seit 1948
Gamila Basel
Impressum:
Erschienen bei Gamila Verlag, Basel, Schweiz
Dezember 2024
© 1991 Helga Baumgarten
Erstveröffentlichung 1991 im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main
Satz & Covergestaltung: Enso Aellig
ISBN: 9783759274823
Inhaltsverzeichnis
Vorwort der Autorin zur Neuauflage 2024
Einleitung
Theoretische Hinführung
I. Nach der Katastrophe von 1948
1. Die Niederlage der Nationalbewegung unter Hajj Amin al-Husaini
2. Die Teilung Palästinas
3. Die palästinensische Gesellschaft und der Exodus 1948
4. Die Politisierung einer neuen Generation – Palästinenser in der Diaspora
II. Die Bewegung der Arabischen Nationalisten
1. Ideologische Einflüsse
2. Die Gründung der BdAN
3. Die Palästina-Frage zwischen 1952 und 1958
4. Die Qaumiyun und Nasser (1955-1963)
III. Fatah – Die palästinensische nationale Befreiungsbewegung
1. Die Entstehung Fatahs
2. Ideologie und organisatorische Entwicklung bis 1963
3. Fatah und die Qaumiyun 1963: Eine Bestandsaufnahme
IV. Ideologisch-politische Auseinandersetzungen zwischen BdAN und Fatah über die «Befreiung Palästinas»
1. Die palästinensische Entität
2. Strategien zur Befreiung Palästinas: Vom Blitzkrieg zum Dogma des bewaffneten Kampfes
V. Die nationalistische Mobilisierung der palästinensischen Gesellschaft durch die PLO: Von der Diaspora in die besetzten Gebiete
1. Der palästinensische Widerstand in der Diaspora (1968-1974)
2. Die PLO und die besetzten Gebiete
VI. Die Intifada Der Aufstand der Palästinenser gegen die israelische Besatzung
1. Historische Wurzeln
2. Der Aufstand bricht aus
3. Die Proklamation des palästinensischen Staates
Schlussbemerkungen
Postskript: Der Golfkrieg und der Morgen danach
Endnoten
Glossar der arabischen Begriffe
Abkürzungen
Literatur
Für Mustafa und Sami
Es genügt nicht, das Bestehende darzustellen, notwendig ist es, an das Erwünschte und an das Mögliche zu denken.
Maxim Gorki
Wie oft stellt sich etwas so dar, daß es sein kann. Oder gar, daß es anders sein kann als bisher, weshalb etwas daran getan werden kann. Das wäre aber selber nicht möglich ohne Mögliches in ihm und vor ihm.
Ernst Bloch
Freies Volk auf freiem Grund, so total gefaßt, das ist das Endsymbol der Realisierung des Realisierenden, also des radikalsten Grenzinhalts im objektiv-real Möglichen überhaupt.
Ernst Bloch
Vorwort der Autorin zur Neuauflage 2024
33 Jahre nach dem Erscheinen meines Buches «Palästina. Befreiung in den Staat» im Jahre 1991 ist nun eine Neuauflage möglich geworden. Nach so vielen Jahren ist es notwendig, die Analyse und die Argumentation im Buch zu überprüfen.
Der im Buch gesetzte zentrale Schwerpunkt auf die Periode 1948 bis 1967/68 muss bis heute beibehalten werden. Schließlich baut die Analyse in diesem Teil vor allem auf Originaldokumenten der palästinensischen Nationalbewegung auf, die eigentlich nirgends so vollständig und in die Tiefe gehend untersucht worden sind, weder auf Deutsch noch auf Englisch oder in anderen Sprachen.
Außerdem war ich während meiner Feldforschung in der Lage gewesen, in Ergänzung zu diesen Dokumenten so gut wie alle relevanten Gründer und führende Aktivisten aller Organisationen zu interviewen und Dokumente und mündliche Aussagen miteinander in Bezug zu setzen. (Kapitel I-IV)
Das gilt durchaus auch für die zweite Periode, die im Buch in Kapitel V analysiert wird. Auch hier bilden Originaldokumente und Interviews eine zentrale Grundlage.
Die letzte Phase ab 1987 mit dem Ausbruch der ersten Intifada bis zur Staatsproklamation basiert auf Originaldokumenten, auf Interviews sowie auf eigenem Erleben, da ich seit 1985 in Jerusalem lebe und die Vorbereitung zur ersten Intifada und ihren Ausbruch hautnah miterlebte (Kapitel VI und Schluss).
Allerdings stellen sich viele Entwicklungen heute anders dar als Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre, als das Buch erschien.
Zwar ist die Relevanz des Staates und der palästinensischen Forderung nach Unabhängigkeit bis heute unbestritten. Allerdings muss die Frage der staatlichen Lösung für die palästinensische Befreiung sehr viel offener behandelt werden. Offensichtlich ist die geradezu exklusiv präsentierte Zweistaatenlösung heute eine sehr problematische. Nach 1988, als die Entscheidung der PLO auf der Sitzung des palästinensischen Nationalrates in Algier erfolgte, schien eine Alternative kaum möglich, es sei denn, man folgte den Forderungen der 1987 neugegründeten Hamas.
1. Heute hat sich die Lage grundlegend geändert. Inzwischen haben 145 Staaten Palästina als Staat anerkannt, auch Staaten innerhalb der EU. Die systematisch durchgesetzte Politik des israelischen siedlerkolonialistischen Regimes, die mit einer immer massiveren ethnischen Säuberung in Ost-Jerusalem und der Westbank gekoppelt ist, lassen allerdings eine Zweistaatenlösung kaum mehr möglich erscheinen. Demgegenüber ist zu bedenken, dass die Zweistaatenlösung nach wie vor international als einzige Lösung erwähnt wird und dass sowohl die PLO als auch die «sulta», also die palästinensische «Autorität» in Ramallah auf ihr bestehen.
Andererseits verweisen Palästina-Spezialisten weltweit darauf, dass allein die kolonialistischen Siedlungen auf derzeit mehr als 60 % des Landes der Westbank sowie der Ring von Siedlungen rund um Ost-Jerusalem und mitten in Ost-Jerusalem eine Zweistaatenlösung schlicht unmöglich machen. Seit Jahren wird deshalb darauf hingewiesen, dass das Projekt eines Staates vom Jordan-Fluss im Osten bis zum Mittelmeer im Westen, also «from the river to the sea», die einzig realistische Lösung ist – also eine Ein-Staaten-Lösung, für die es verschiedene Umsetzungsmöglichkeiten gibt. Dies könnte ein demokratischer Staat für alle Bürger im Lande mit denselben Rechten und Pflichten sein, ein bi-nationaler Staat oder gar eine Konföderation zwischen einem israelischen und einem palästinensischen Teil.
Egal, welche Lösung sich hier durchsetzt: Eine entscheidende Forderung muss sein, dass es alle Teile der palästinensischen Gesellschaft als Akteure sein müssen, die sich für die eine oder andere Lösung entscheiden. Diese Lösung müsste dann auch von den israelischen Staatsbürgern mitgetragen werden, die jedoch zuvor eine klare Absage an den Siedlerkolonialismus artikuliert haben sollten. Und letztere müssten, ähnlich wie bei der Aufarbeitung der Apartheid in Südafrika, in einer «Truth and reconciliation»-Kommission zu den israelischen Verbrechen seit 1948 stehen und für diese Abbitte tun. Sie müssen also die Forderungen der palästinensischen Seite erfüllen, die am klarsten von Omar Barghuti, einem der Gründer der BDS-Bewegung, formuliert wurden.
Jegliche neokoloniale Lösungen aus dem Westen, zuerst und vor allem aus den USA, in Kooperation mit «gekauften» autoritären Regimen von Ägypten über Jordanien bis zu den Emiraten scheiden als Alternative von vornherein aus.
Was Israel betrifft, so ist die Dekolonisation des zionistischen Regimes eine Voraussetzung sine qua non, wie nicht zuletzt viele israelische Autoren und jüdische Aktivisten in der Diaspora, vor allem von «Jewish Voice for Peace», unzweideutig fordern.
2. In der Terminologie gibt es notwendige Änderungen. Anstelle «Vertreibung» der Palästinenser 1948 und 1967 müsste heute «ethnische Säuberung» stehen. Ich hatte mich damals für die bis dahin verwendete palästinensische Bezeichnung, nicht für den inzwischen gebräuchlichen wissenschaftlichen Begriff entschieden.
Dies gilt auch für den Begriff «Siedlerkolonialismus» und die Analyse durch eben diesen wissenschaftlichen Ansatz. Leider habe ich trotz meiner intensiven Arbeit am Forschungszentrum der PLO in Beirut die Arbeit «Settler Colonialism in Southern Africa and the Middle East» von George Jabbour aus dem Jahre 1970 übersehen. Er war wohl der erste, der im Hinblick auf Israel spezifisch vom Siedlerkolonialismus her argumentierte.
Die wegweisenden Arbeiten von Patrick Wolfe (1999 und vor allem 2006) waren dagegen noch nicht erschienen. Das gilt auch sowohl für die Bücher von Rosemary Sayigh als auch für die Publikationen von Ilan Pappe.
3. Ein weiterer Punkt betrifft die Frage, welche Form der Widerstand gegen Besatzung, Unterdrückung und Siedlerkolonialismus annimmt. Die Einsicht von Nelson Mandela, dass es immer der Unterdrücker ist, der die Form des Kampfes vorgibt*, war mir damals nicht bekannt. Durch das Buch zieht sich daher eine eher kritische Einschätzung und Beurteilung des bewaffneten Widerstandes, nicht zuletzt, wie er durch die Fatah geführt wurde. Die Erfahrung der ersten Intifada und ihres zivilen und friedlichen Massenwiderstandes führte zur klaren Überbetonung eben des friedlichen Widerstandes. Sicher ist da auch ein Einfluss der europäischen und deutschen Erfahrung erkennbar, wo in dieser Periode der Slogan: «Frieden schaffen ohne Waffen» dominant war. Übersehen habe ich dabei den wesentlichen Unterschied zu den Bedingungen eines Widerstandes gegen Besatzung, Unterdrückung und Siedlerkolonialismus.
Angesichts der mörderischen israelischen Reaktion auf den Widerstand der Hamas (einerseits befreiender Ausbruch aus dem Gefängnis Gaza, andererseits eine Serie von Kriegsverbrechen mit Massakern an Zivilisten sowie der Entführung von Soldaten und Zivilisten), vor allem nach dem 7. Oktober 2023, mit dem Völkermord und der brutalen Zerstörungskampagne, mit der seitdem der Gazastreifen überzogen wird, stellt sich die Frage nach den Formen des Widerstandes neu. Vor allem muss gefragt werden, ob unter diesen Bedingungen überhaupt ziviler Massenwiderstand möglich ist. Prinzipiell müsste die Frage aufgeworfen werden, was grundsätzlich die Bedingungen sind, die diesen zivilen Massenwiderstand möglich machen.
4. Eine Korrektur ist in der Darstellung und Analyse des Beginns der ersten Intifada im Dezember 1987 überfällig. Zwar habe ich die Rolle des Islamischen Jihad klar aufgezeigt. Die Rolle der Muslimbrüder und die Gründung der Hamas direkt im Anschluss an die erste Demonstration der Intifada, die von den Muslimbrüdern initiiert und angeführt wurde, ist jedoch teils übersehen, teils schlicht falsch dargestellt und analysiert worden. Ich bin beim Verfassen des Buches ausschließlich der Sichtweise der Vereinigten Führung der Intifada unter Führung der PLO gefolgt. Eine Korrektur befindet sich in meinem Hamas-Buch aus dem Jahre 2006.
5. Überhaupt fehlt in der Arbeit eine Analyse der dritten relevanten Bewegung der palästinensischen Nationalbewegung nach 1948, nämlich des politischen Islam unter der Führung der Hamas. In meinem 2005 verfassten Artikel «The Three Faces/Phases of Palestinian Nationalism» habe ich versucht, das zu korrigieren**.
6. Schließlich endet das Buch, trotz aller angeführten Einschränkungen, mit sehr großem Optimismus hinsichtlich der Möglichkeiten der Koexistenz mit Israel nach 1988. Ich hielt am Optimismus fest, obwohl schon damals alles einerseits auf extreme Eskalation, andererseits auf Nicht-Bereitschaft irgendeiner relevanten politischen Gruppe innerhalb der politischen Elite Israels zum Kompromiss mit den Palästinensern hindeutete.
Damals hielt ich einen Völkermord, wie er von Israel seit dem Oktober 2023 verübt wird, schlicht für unmöglich. Dabei gab es durchaus viele Indikatoren in eben diese Richtung. Es gab die fast prophetischen Warnungen von Yehoshua Leibowitz, der schon 1967 einen Judeo-Faschismus als notwendige Folge einer fortgesetzten Besatzung kommen sah. Und die linksradikale Organisation Matzpen hatte bereits im September 1967 in einer Zeitungsanzeige vor den Gewaltexzessen gewarnt, die diese Besatzung sowohl gegen die Palästinenser als auch gegen die Besatzung erzeugen würde:
«Besatzung führt zu Fremdherrschaft. Fremdherrschaft führt zu Widerstand. Widerstand führt zu Terror und Gegen-Terror. Die Opfer des Terrors sind meist unschuldige Menschen. Wenn wir die Besatzung fortsetzen, wird uns dies zu einer Nation von Mördern und Mord-Opfern machen. Wir müssen die besetzten Gebiete sofort verlassen.»
7. Wie aber können wir, zusammen mit den Palästinensern (vor allem den Menschen in Gaza, die inzwischen in der Hölle leben), zusammen mit der winzigen Minderheit innerhalb der jüdischen Israelis in Israel, also Leute wie Adam Keller von Gush Shalom und radikalen Linken der Generation von Matzpen, zusammen mit den vielen anti-zionistischen Juden international, angeführt von «Jewish Voice for Peace», trotzdem die Hoffnung aufrechterhalten? Die Hoffnung auf Freiheit für alle Menschen «from the river to the sea»?
Naomi Klein von Jewish Voice for Peace hat im April 2024 den Weg vorgezeichnet: Dekolonisation ist die einzige Möglichkeit***.
Die Menschen in Gaza behalten ihren Optimismus, trotz alledem: Sie versuchen zu leben, wann immer sich auch nur kurze Momente öffnen. Und der junge Teenager Abu Baker aus Deir al-Balah pflegt seine gelbe Rose als Hoffnungszeichen und Aufruf zur Solidarität weltweit****.
Vor allem aber folgen die Menschen in Gaza und alle Palästinenser, wo immer sie sich befinden, ihrem Dichter Mahmud Darwish, der in seinem unvergessenen Gedicht «Und wir lieben das Leben» schreibt:
«Und wir lieben das Leben, wann immer wir es finden Wir tanzen zwischen zwei Märtyrern, errichten zwischen beiden ein Veilchenminarett oder pflanzen Dattelpalmen.»*****
Helga Baumgarten
Jerusalem im Juli 2024
* «A freedom fighter learns, sooner or later, that it is the oppressor who maes the rules of the battle. We realised that we had to fight fire with fire.” Mandela, Nelson,. Long Walk to Freedom : The Autobiography of Nelson Mandela. Abridged by Coco Cachalia and Marc Suttner . London: Little, Brown, 2008. S. 35.
** Baumgarten, Helga. «The Three Faces/Phases of Palestinian Nationalism, 1948-2005.» Journal of Palestine studies 34.4 (2005): 25–48.
*** https://www.theguardian.com/commentisfree/2024/apr/24/zionism-seder-protest-new-york-gaza-israel
**** https://x.com/MiddleEastEye/status/1784794087083921579
*****Darwish, Mahmud: Wir haben ein Land aus Worten: ausgewählte Gedichte 1986-2002: arabisch und deutsch. Zürich: Ammann 2002. S. 31
Einleitung
Bücher haben ihre eigene, oft lange Geschichte. Dieses Buch geht auf den Anfang der siebziger Jahre zurück, als ich zum ersten Mal den Nahen Osten besuchte. Der Zufall hatte mich in den Libanon geführt, zu dieser Zeit noch als «Schweiz des Vorderen Orients» bewundert. Die Probleme der Region waren mir damals weitgehend unbekannt; auch auf dem Büchermarkt herrschte zu diesem Thema «gähnende Leere» – bis 1972 Walter Hollsteins bahnbrechende Arbeit Kein Frieden um Israel – Zur Sozialgeschichte des Palästina-Konfliktes erschien. Damit begann meine eigene Suche nach den Hintergründen des israelisch-palästinensischen Konfliktes. In der Bundesrepublik nahm man damals den Staat Israel und die jüdisch-israelische Gesellschaft ausschließlich aus der Perspektive der deutschen Geschichte wahr. Die Gründung des jüdischen Staates 1948 hatte für viele die Vernichtung der Juden Europas relativiert und wurde deshalb als bequeme «Lösung» der von Rassismus, Antisemitismus und Völkermord bestimmten jüngsten deutschen Geschichte akklamiert. Finanzielle Unterstützung für den neuen Staat, mit dem man sich uneingeschränkt identifizieren konnte, schien den begangenen Völkermord «wiedergutzumachen». Auch war er geographisch weit genug entfernt, um mit der Aura des Exotischen geschmückt zu werden.
In diesem Szenario tauchten die Palästinenser, wenn überhaupt, nur als Störfaktor auf. Die Konfrontation mit den Palästinensern im Libanon und Hollsteins Darstellung der Geschichte des Palästina-Konfliktes zwangen mich, Palästinenser und Israelis am Ort ihres Konfliktes zu sehen. Über Israel gab es eine umfangreiche Literatur – die Palästinenser dagegen wurden verschwiegen oder als Terroristen kriminalisiert, vor allem seit dem Terroranschlag während der Olympischen Spiele 1972 in München. Mit dieser Arbeit zur Geschichte der palästinensischen Nationalbewegung seit 1948 hoffe ich dazu beizutragen, dass die Palästinenser hierzulande wahrgenommen und geachtet werden, sowohl als Opfer eines auf ihre Kosten gegründeten Staates als auch in ihrem langjährigen Kampf für Freiheit und ein menschenwürdiges Leben. Denn es ist an der Zeit aufzuhören, sie «zu einer historischen Aufrechnung von Schuld zwischen Deutschen und Juden» zu missbrauchen, wie dies zum Beispiel während des Libanon-Krieges 1982 und seit 1987 im Zusammenhang mit der Intifada geschah und geschieht. Mit dieser Perspektive reduzieren wir die Palästinenser zur «tragenden Säule im Gebäude einer exkulpierenden Weltanschauung..., deren historischer Raum mit dem Ort der Auseinandersetzungen und mit dem Konflikt in Palästina nichts, mit deutscher Geschichte aber sehr viel zu tun hat».1
Ebenso erscheint es heute kaum mehr tragbar, die Palästinenser einfach zu ignorieren im Zuge eines Philosemitismus, der den alten Antisemitismus oft nur schlecht verdeckt oder ihn in falsch verstandener historischer «Aufarbeitung» ersetzt, einen Philosemitismus, der Israel zu einem unfehlbaren Staat, die Israelis zu moralisch und politisch stets beispielhaften und untadeligen Demokraten hochstilisiert, sie damit aber wieder einmal nicht als Mit-Menschen anerkennt.
Staaten gegenüber – ob gegenüber Israel oder einem zukünftigen palästinensischen Staat – sollte man kritisch sein; unsere Gefühle sollten wir für Menschen aufsparen. Vor allem aber muss die Politik gegenüber dem Staat Israel diesen historisch und geographisch dort platzieren, wo er seine Geschichte hat und wo er als Staat wirkt: in der Region des Nahen Ostens. Denn nur dann wird es möglich, die Palästinenser als Opfer dieses Staates, aber auch als handelndes Subjekt wahrzunehmen.
Dieser Band versucht zu zeigen, wie die Palästinenser aus Erniedrigten und Beleidigten zu Menschen wurden, die in der Intifada, ihrem Aufstand gegen die israelische Besatzung, den «aufrechten Gang» gelernt haben. Heute sind sie an einem Wendepunkt angelangt: Sie sind zu einem historischen Kompromiss fähig und bereit, d. h. zur Anerkennung einer Koexistenz zwischen einem palästinensischen Kleinstaat in Westbank und Gaza-Streifen, mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt, und dem Staat Israel in den Grenzen von 1967, mit West-Jerusalem als Hauptstadt. Damit dieser historische Kompromiss Realität wird, damit die ersten Schritte zu seiner Verwirklichung getan werden durch die Aufnahme von Verhandlungen zwischen Israel und der Vertretung der Palästinenser, der PLO («Palestine Liberation Organization»), brauchen beide Seiten unsere Solidarität, die Palästinenser ebenso wie die Israelis, die verstanden haben, dass nur eine Zukunft «ohne Diskriminierung, ohne Unterdrückung und mit der Garantie der Lebensrechte beider nationaler Kollektive»2 möglich ist.
Als Yasir Arafat, der Vorsitzende des Exekutivkomitees der PLO, am 15. November 1988 vor dem palästinensischen Nationalrat (PNR) die Unabhängigkeitserklärung des Staates Palästina verlas, stimmten ihr alle Mitglieder des palästinensischen Parlamentes im Exil zu. 41 Jahre nach der Teilungsresolution der Vollversammlung der Vereinten Nationen, die Palästina in zwei Staaten, einen jüdischen und einen arabisch-palästinensischen, spaltete, willigte die palästinensische Nationalbewegung, institutionalisiert in der PLO, in diese Teilung ein. Sie verzichtete damit auf einen Großteil des historischen palästinensischen Heimatlandes und erkannte Israel als Staat an.
Dieser Band analysiert die Entstehung und Entwicklung dieser zeitgenössischen palästinensischen Nationalbewegung, die mit ihrer Staatsproklamation unzweideutig die Bereitschaft zu einem Kompromiss mit Israel signalisierte – ein Novum in ihrer vom Konflikt mit der jüdisch-zionistischen Bewegung bzw. mit dem Staat Israel geprägten Vergangenheit. Wie ein roter Faden zieht sich das Problem der Staatsbildung durch die Geschichte des Nahen Osten. Die Geschichte Palästinas ist davon in ganz besonderem Maße geprägt. Staatsproklamationen – die Gründung Israels im Mai 1948 und die Unabhängigkeitserklärung eines palästinensischen Staates durch den palästinensischen Nationalrat im November 1988 – bilden nicht von ungefähr den historischen Rahmen dieser Arbeit.
Das Jahr 1948 ist für Araber im allgemeinen, Palästinenser im besonderen, das Jahr der Katastrophe (nakba)3: Israel wurde – gegen den Willen der einheimischen palästinensischen Bevölkerung und unter Anwendung von Gewalt sowie mit Unterstützung der Großmächte (USA, Großbritannien und UdSSR) – gegründet; verbunden damit waren Vertreibung und Flucht von fast 750 000 Palästinensern aus ihrer Heimat.
Die Frage der Entstehung der Nationalbewegung nach 1948 ist in der umfangreichen Literatur zu Palästina bisher weitgehend ausgespart worden. Die Nationalbewegung der Mandatszeit bis 1939 bzw. 1948 hat hingegen längst ihre Historiker gefunden4; die Nationalbewegung der Post-nakba-Periode ist als Massenbewegung, seit 1968/69 institutionalisiert in der PLO und geführt von Yasir Arafat, von Wissenschaftlern analysiert5 und von Journalisten beschrieben6 worden. Über den Zeitraum zwischen 1948 und 1968 wissen wir jedoch nur sehr wenig. Eben diese beiden Jahrzehnte sind es aber, in denen die Weichen für die politische Entwicklung der Palästinenser bis heute gestellt wurden. Eine Untersuchung der Herausbildung und Formierung der Nationalbewegung in dieser Periode ermöglicht es darüber hinaus, ihren Wurzeln in der Mandatszeit nachzuspüren und damit sowohl den historischen Bruch des Jahres 1948, also der nakba, zu erfassen, als auch Kontinuitäten herauszuarbeiten und zu verfolgen, die aus der Mandatszeit in die Jahre nach 1948 hineinwirken.
Im Mittelpunkt der Analyse stehen zwei politische Bewegungen: die Qaumiyun (Bewegung der Arabischen Nationalisten, BdAN), 1952 in Beirut gegründet, sowie Fatah (die Palästinensische Nationale Befreiungsbewegung), 1957/58 in Kuwait entstanden. Diese beiden Bewegungen konstituieren die ersten und einzig bedeutenden unabhängigen palästinensischen Organisationen, die nach 1948 gegründet wurden. Seit 1968/69 machen sie die PLO aus: Fatah stellt mit Yasir Arafat den Präsidenten der PLO und bildet die Mehrheit in der Nationalbewegung, die BdAN bzw. ihre Nachfolgeorganisationen PFLP («Populär Front for the Liberation of Palestine») unter George Habash und PDFLP («Popular Democratic Front for the Liberation of Palestine») unter Nayef Hawatmeh fungieren gleichsam als Opposition.
In der theoretischen Hinführung werden die im Buch verwendeten analytischen Begriffe, also Nationalbewegungen und ihre Führung, die von ihnen entwickelten mobilisatorischen Ideologien sowie der angestrebte Nationalstaat im erforderlichen theoretischen und historischen Zusammenhang kurz eingeführt.
Rückblickend vom Jahre 1948 wird im ersten Kapitel die palästinensische Nationalbewegung während der britischen Mandatsverwaltung untersucht. Im Mittelpunkt steht ihre Niederlage unter der Führung von Hajj Amin al-Husaini sowohl gegenüber der zionistischen Bewegung als auch gegenüber ihrem arabischen Konkurrenten, dem von Großbritannien unterstützten Haschemitenfürsten Abdallah von Jordanien. Die daraus resultierende Katastrophe für die palästinensische Gesellschaft, die Vertreibung und Flucht fast aller Palästinenser aus dem neugegründeten jüdischen Nationalstaat, wird vor allem in ihren Auswirkungen auf jene Generation, die nach 1948 die Führung der Palästinenser in der Diaspora, d. h. insbesondere im Libanon und in Kuwait, übernahm, untersucht.
In den Kapiteln II und III werden die Entstehung und die ideologisch-politische Entwicklung von BdAN und Fatah bis Anfang der sechziger Jahre verfolgt. Der Gegensatz zwischen einer im arabischen Nationalismus beheimateten palästinensischen Politik, wie ihn Habashs Qaumiyun vertraten, und einer dezidiert palästinensisch- nationalistischen Politik, wie sie Arafats Fatah entwickelte, steht hier im Mittelpunkt. Im zentralen vierten Kapitel wird die direkte politische und ideologische Konfrontation zwischen beiden Bewegungen im für die Zukunft entscheidenden Jahrzehnt von 1958 bis 1968 thematisiert. Fatahs mobilisatorische Ideologie eines selbstbewusst auftretenden palästinensischen Nationalismus, zugespitzt im Mythos des bewaffneten Befreiungskampfes, erweist sich im Moment der dem arabischen Nationalismus durch Israel im Krieg von 1967 zugefügten vernichtenden Niederlage der neuen linken und eher sozialrevolutionären als nationalistischen Programmatik von PFLP und der PDFLP, den Nachfolgeorganisationen der Qaumiyyun weit überlegen. In der Schlacht von Karama, einem Dorf im Jordantal, dessen arabischer Name «Ehre» bedeutet, stellen die von Arafat angeführten Fatah-Fidaiyun mit ihrem Widerstand gegen eine weit überlegene israelische Militärmacht die Ehre der Palästinenser wieder her: aus der Generation der nakba entsteht die Generation des Widerstandes, der Revolution und des nationalen Befreiungskampfes.
Das fünfte Kapitel folgt Fatah auf ihrem Weg der Mobilisierung der gesamten palästinensischen Gesellschaft in allen ihren seit 1948 entstandenen Fragmenten – von der Diaspora bis in die seit 1967 von Israel besetzte Westbank und den Gaza-Streifen. In diesem Zusammenhang soll u. a. erklärt werden, wie und warum Fatahs palästinensischer Nationalismus sich der palästinensischen Linken von PFLP und PDFLP immer als überlegen erwies.
Auf der Basis der in den ersten fünf Kapiteln geleisteten historischen und ideologisch-politischen Analyse kann im abschließenden sechsten Kapitel die Intifada, der seit 1987 geführte Aufstand der Palästinenser gegen die israelische Besatzung, neu interpretiert werden. Die bisher nur unzureichend bekannte Verbindung zwischen der palästinensischen Nationalbewegung in der Diaspora und der Nationalbewegung in den besetzten Gebieten wird aufgezeigt, das Zusammenwirken von PLO-Führung und Vereinigter Führung der Intifada seit 1987 demonstriert. Den Abschluss der Darstellung bildet die palästinensische Staatsproklamation in Algier vom November 1988. Dieser erste Höhepunkt in der Geschichte der palästinensischen Nationalbewegung seit 1948 wird nüchtern und in entmythologisierender Absicht dargestellt und auf die ihm innewohnende Dynamik hin untersucht.
Da mit dieser Arbeit nicht nur Orientalisten und Nahostspezialisten, sondern breitere Leserkreise angesprochen werden sollen, wurde auf eine orthodoxe Transkription von arabischen Namen und Begriffen zugunsten der Übernahme der geläufigen Formen verzichtet. Arabische Begriffe werden zudem im Glossar kurz erläutert. An dieser Stelle möchte ich all denen danken, die mich bei meinen Forschungen unterstützt haben, an erster Stelle den Freunden in Beirut von 1975 bis 1979. Gedankt sei auch allen palästinensischen politischen Verantwortlichen, die sich in diesen für sie so schwierigen Jahren die notwendige Zeit nahmen, um meine Fragen zu beantworten.
Die erste Arbeitsphase an diesem Buch wurde durch ein Graduiertenstipendium der Universität Göttingen ermöglicht, das ich auf Empfehlung von Bassam Tibi erhielt. Ihm möchte ich für seine Förderung danken. Das Ergebnis dieser ersten Forschungen wurde im Frühjahr 1985 als Philosophische Dissertation an der Freien Universität von Berlin angenommen. In diesem Zusammenhang gebührt Friedemann Büttner und Alexander Schölch mein Dank.
Die Stiftung Volkswagenwerk finanzierte ein Forschungsprojekt zur palästinensischen Arbeitsmigration; aus dieser zweiten Arbeits- und Forschungsphase ging schließlich dieses Buch hervor. Die für mich entscheidende ideelle Unterstützung erhielt ich von Alexander Schölch (1943-1986), dem viel zu früh verstorbenen Lehrer und Freund, der sehr behutsam und verständnisvoll auch über die schwierigsten Hürden hinwegzuhelfen verstand. Den Mitarbeitern folgender Bibliotheken danke ich für die gute Zusammenarbeit: American University of Beirut, PLO-Forschungszentrum und Institute of Palestine Studies in Beirut, Staatsbibliothek Berlin und Truman Institute an der Hebräischen Universität Jerusalem.
Für die kritische Lektüre verschiedener Versionen möchte ich Alexander Flores, Erlangen, Dorothea Friedrich und Lola Horowitz, Jerusalem, Roger Heacock, Ramallah, und Arno Schmitt, Berlin, danken. Ein besonderer Dank geht an Esther Dischereit, die die entscheidenden Schritte unternahm, dass diese Forschungsergebnisse nun als Buch erscheinen können. Mein Mann, Mustafa al-Kurd, und unser Sohn Sami Darwish mussten jahrelang mit der Arbeit an diesem Buch leben. Ihnen soll es gewidmet sein.
Theoretische Hinführung
Diese Untersuchung setzt sich mit dem historischen und konzeptionellen Problem der Entstehung von Nationalbewegungen im Kontext des Prozesses der Dekolonisation auseinander. Alain Touraine bestimmt Nationalbewegungen in abhängigen Gesellschaften als soziale Bewegungen, die zu historischem Handeln fähig sind, wenn die Prinzipien der Identität, der Opposition und der Totalität, d. h. der Definition der globalen Legitimität ihres Handelns «koexistieren und miteinander verbunden sind».7 Dies führt er an anderer Stelle näher aus, wo er postuliert, dass eine Nationalbewegung als historische Bewegung «nicht existieren kann, wenn sie sich nicht auf ein Identitätsprinzip stützt, das ihre Forderungen begründet, aber sie besteht auch nicht, wenn sie sich nicht auf ein Oppositionsprinzip stützt, das den Gegner und die Art des Konfliktes bezeichnet, und sie kann schließlich nicht ohne ein Totalitätsprinzip bestehen, also nicht ohne einen Bezug auf das historische Subjekt, das oft die Form der ‹gerechten› oder ‹humanen› Lösung annimmt, die für das sich stellende Problem vorgeschlagen wird».8
Maxime Rodinson führt in diesem Zusammenhang den Begriff «ideologische Bewegung» (mouvement ideologique) ein.9 Konstitutives Element für die Entstehung einer ideologischen Bewegung ist eine allgemeine Unzufriedenheit, die zum Widerstand führt und schließlich die Forderung nach grundlegenden Veränderungen in der Situation der «Unzufriedenen» hervorbringt.
Barrington Moore beschreibt sehr anschaulich, wie sich dieser Prozess der Konstituierung einer ideologischen Bewegung und der damit untrennbar verbundenen Mobilisierung der Bevölkerung entwickelt:
«Sowie sich eine kritische Masse potentiell unzufriedener Menschen durch die Herausbildung institutioneller Kräfte in großem Maßstab geformt hat, ist das Stadium für das Auftreten von ‹Agitatoren von außen› erreicht. Die entscheidende Bedeutung ihrer Rolle muss gesehen werden... Es ist immer eine aktivistische Minderheit, die neue Maßstäbe der Verurteilung befürwortet und verkündet. Sie sind ein unerlässlicher Grund für größere gesellschaftliche Transformationen... Im allgemeinen sind sie ziemlich jung und nicht mit gesellschaftlichen Bindungen und Verpflichtungen belastet.»10
Zur notwendigen Mobilisierung der Bevölkerung gehören also sowohl eine mobilisatorische Ideologie11 als auch, und zuallererst, die Produzenten dieser Ideologie. Betrachten wir zunächst diese Ideologie-Produzenten, Barrington Moores ‹Agitatoren von außerhalb›. Erfahrungsgemäß sind dies Intellektuelle, und in Anlehnung an Rodinson sollen sie sowohl als funktionale Gruppe analysiert als auch in ihrer Zugehörigkeit zu einer Klasse erfasst werden:
«Theoretisierungen, ob mehr oder weniger komplex, sind das Werk von Intellektuellen. Diese drücken gleichzeitig sowohl den Standpunkt der funktionalen Gruppe, die sie bilden, als auch den der Klasse, der sie angehören, aus. Trotzdem dürfen zwei Aspekte nicht außer Acht gelassen werden. Erstens ist die durch die generelle Situation ihrer Ethnie geschaffene Gefühlslage oder implizite Ideologie das Material, die Grundlage und der Ausgangspunkt ihrer Theoretisierungen. Zweitens haben diese eine Mobilisationsfunktion und müssen daher die Gefühle der Massen der gesamten Ethnie befriedigen. Man kann daher diese Theoretisierungen nicht einfach auf nützliche Mythen einer Klasse der Nation, aus der sie entstanden sind, reduzieren, wie das allzu oft die Tendenz der Marxisten ist. Sie sind nur in dem Maße erfolgreich, indem sie über den engen Klassenhorizont hinausgehen. Aber gleichzeitig darf man auch nicht ihren Klassencharakter leugnen.»12
Der Prager Historiker Miroslav Hroch, der in einer wegweisenden Arbeit die nationale Mobilisierung und Politisierung kleiner Völker in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert untersuchte, weist der Frage nach der «national aktivsten Avantgarde im Prozess des nationalen Erwachens der unterdrückten Völker» einen zentralen Platz zu.13 An erster Stelle nennt er dabei die Intellektuellen, die in der Anfangsphase des nationalen Erwachens Sprache, Kultur und Geschichte der kleinen Nation wiederbeleben, noch in relativer Isolation von der Mehrheit der Bevölkerung.14 In einer zweiten Phase, der der nationalen Mobilisierung, weitet sich der Kreis der Beteiligten. Hier sind die soziale Zusammensetzung und Herkunft wie auch die territoriale Struktur der erweiterten Bewegung von Relevanz. Und es ist diese Phase, in der ein politisches Programm formuliert wird: nationale Befreiung und das Recht auf Selbstbestimmung, zu realisieren im Rahmen eines unabhängigen Nationalstaates. Erst in der dritten und letzten Phase beginnt die Mobilisierung breiter Teile der Bevölkerung und die Entstehung einer Massenbewegung.15
Welches sind nach Hroch die spezifischen Merkmale der Intelligenzija? «Die Intelligenz ist keine einheitliche soziale Gruppe. Sie ist tief differenziert, vielleicht so tief, dass eine eindeutige Charakteristik ihrer materiellen Interessen als einer Gruppe kaum möglich ist.»16 Eine Sonderstellung räumt Hroch der Gruppe der Studenten innerhalb der Intelligenzija ein. Die Ambivalenz hinsichtlich der sozialen Position der Intellektuellen ist hier am stärksten ausgebildet, und eben darin sicht Hroch eine der Quellen des studentischen Radikalismus.17 In Hrochs Analyse der Intellektuellen ist sein Hinweis auf die «Rückwirkung des Subjekts als eines sekundären Faktors» besonders wichtig.18
«Die klassenmäßige bzw. soziale Charakteristik der gesellschaftlichen Tätigkeit ist nämlich gerade bei Einzelpersonen aus den Reihen der Intelligenz nicht automatisch durch ihren Platz (in der Gesellschaft, H. B.)... gegeben. Die subjektive Motivierung, Zielsetzung und auch teilweise die objektive Wirkung ist hier bei jedem einzelnen mehr als bei den Mitgliedern aller anderen sozialen Gruppen und Klassen durch den Willensfaktor beeinflusst, durch die Entscheidung auf Grund der allgemeinen Lebensauffassung.»19
Den Willensfaktor sicht Hroch jedoch völlig zu Recht nicht als primum movens an, sondern er sucht dessen Wurzeln in der «sozialen Herkunft (des Intellektuellen, H. B.) im breitesten Sinn».20 Dazu gehören neben der aktuellen gesellschaftlichen Situation auch die Herkunft, und zwar neben der Familie das Milieu, in dem Jugend- und Studentenzeit verbracht wurden. Gerade diese Aspekte sind es, die sich in der Analyse der palästinensischen Nationalbewegung als relevant erweisen.
So wichtig diese Ergebnisse der Hrochschen Analyse von Intellektuellen sind, durchaus auch in ihrer partiellen Anwendung im vorliegenden Fall der palästinensischen Nationalbewegung, so ist doch zu betonen, dass Hroch sich mit europäischen Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert beschäftigte. Für die Untersuchung von Nationalbewegungen in abhängigen Gesellschaften in der Dekolonisationsperiode seit den fünfziger Jahren erweisen sich die Begriffe Intelligenzija und Intellektuelle als unscharf. Wenn mit Intelligenzija all diejenigen bezeichnet werden, die eine höhere Bildung haben, ist der Begriff zu weit21; wenn nur die eigentlichen Intellektuellen, also Lehrer, Journalisten und Wissenschaftler, darunter verstanden werden, ist er zu eng. Denn diese machen nur einen Teil – je nach Beispiel größer oder kleiner – der politischen Elite in abhängigen Gesellschaften aus. Relevant erscheint zudem weniger die Tatsache der Zugehörigkeit zur funktionalen Gruppe der Intellektuellen als das konkrete Fach, das studiert, und der Beruf, der danach ergriffen wird; Studienort und Niveau der besuchten Universität sind ebenfalls von Bedeutung. Dies zeigt sich gerade bei der Untersuchung der palästinensischen Nationalbewegung.
Entscheidend ist, so kann abschließend zusammengefasst werden, die Betätigung als Politiker bzw. als politischer Aktivist, nicht aber die Spezialisierung auf intellektuelle Funktionen. Aus diesem Grunde ist für die Untersuchung von Nationalbewegungen in abhängigen Gesellschaften, von ideologischen Bewegungen also, die Verwendung des Begriffs ‹politische Elite› dem der ‹Intelligenzija› vorzuziehen.22 Hingegen verwende ich den Begriff ‹Intellektuelle› im engeren Sinne nur für die Intellektuellen innerhalb der politischen Elite, die auch überwiegend bzw. ausschließlich intellektuell aktiv sind, also z. B. Journalisten, Schriftsteller, Teile der Lehrerschaft sowie Universitätsdozenten.23
Wenden wir uns nun dem Problem der Untersuchung von mobilisatorischen Ideologien und ihrer Produktion durch die Gründer von Nationalbewegungen im Kontext der Dekolonisation zu.24 Im wesentlichen geht es um drei Fragenkomplexe:
Erstens: Das Verhältnis der Gründer einer Nationalbewegung zu ihrer Gesellschaft, sowohl auf der Ebene der Zuordnung dieser Gründer zu einer der vorhandenen gesellschaftlichen Klassen als auch auf der Ebene der Beziehung zwischen der impliziten Ideologie der betreffenden Gesellschaft und der neuformulierten expliziten Ideologie der politischen Elite von Nationalisten.
Zweitens: Die Bestimmung der Funktionen der mobilisatorischen Ideologie.
Drittens: Die politische Programmatik im engeren Sinn, die in der mobilisatorischen Ideologie enthalten ist, d. h. die konkreten Ziele, die die politische Elite in und mit der Nationalbewegung durchzusetzen versucht.
Ausschlaggebend für das Verständnis und die Interpretation einer Ideologie ist es, sie als Synthese aus in der impliziten Ideologie einer Gesellschaft angelegten Elementen und aus den expliziten Zielen der politischen Elite zu analysieren. Anders formuliert, eine Ideologie muss, um Wirksamkeit zu entfalten, vorhandene Interessen der Bevölkerung im allgemeinen sowie spezifische Interessen der politischen Elite und der Klasse, der diese zuzurechnen ist, in sich aufnehmen, in einem neuen Kontext artikulieren, vor der und für die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit repräsentieren. Wie dies konkret vor sich geht, kann nur die Untersuchung von je spezifischen historischen Beispielen zeigen.
In einem nächsten Schritt ist die Frage nach der Funktion mobilisatorischer Ideologien zu stellen, hier am Beispiel nationalistischer Ideologien. Diese Funktion erklärt sich aus bzw. ist abhängig von der Situation, in der sich eine Gesellschaft jeweils befindet.25 Angewandt auf das palästinensische Beispiel mit der extremen Fragmentation der palästinensischen Gesellschaft in der Diaspora nach 1948 ist deren Integration die eigentliche Funktion einer mobilisatorischen Ideologie.
Zu untersuchen ist in diesem Zusammenhang vorrangig, wie und auf welchem Weg die palästinensische Elite dies zu erreichen versuchte. Oben wurde schon Touraine zitiert mit den von ihm aufgestellten zentralen Erfordernissen, denen eine Bewegung genügen muss, um als soziale Bewegung, in unserer an Rodinson angelehnten Diktion als ideologische Bewegung, verstanden zu werden bzw. wirksam sein zu können: nämlich Identität, Opposition und Totalität.
Mehr im Detail ausgeführt wird dies bei Rodinson in Anlehnung an Lemberg26: Danach ist Integration zu erreichen, wenn die jeweilige Ideologie die Gesellschaft nach außen hin abgrenzt sowie ihre Überlegenheit, gerade auch aus einer Situation der Unterlegenheit heraus, postuliert, kurz, wenn sie in der Lage ist, eine Identität für die Gesellschaft zu konstruieren.
Hinzukommen muss die Mobilisierung gegen Druck von außen, also das Oppositionsprinzip von Touraine. Schließlich ist als Basis der Integration eine innere moralische Strukturierung durch ein für die Gesellschaft als gültig etabliertes System von Werten notwendig, und es müssen nach außen hin Maßnahmen zur Erhaltung bzw. in unserem Beispiel zuerst zur Herstellung der Einheit der Gesellschaft getroffen werden.
Der Geschichte einer Gesellschaft kommt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle zu.27 Sie wird nach dem Bild der Gesellschaft, das diese sich in der Gegenwart von sich macht, neukonstruiert und hat die Funktion, dieses Bild immer von neuem zu bestätigen. Dabei werden auf der einen Seite vergangene Erfolge der Gesellschaft mit deren eigentlichem Wesen – ausschließlich positiv betrachtet – verknüpft, während auf der anderen Seite Niederlagen aus der Geschichte, überhaupt Unrecht und alles Negative an sich, in das Bild des Gegners projiziert werden.28
Symbole und Rituale üben eine wichtige Funktion aus bei der Herstellung und Stabilisierung der nationalen Integration.29 Denn diese sind eine gleichsam perpetuelle Manifestation der Identität einer Gesellschaft. Dazu gehören u. a. die Nationalfarben, nationale Trachten, Sprache und Dialekt sowie nationale Gedenktage, Erinnerungsfeiern, Zeremonien etc.; aber auch, und darauf soll ausdrücklich verwiesen werden, um die Verbindung von Geschichte und Symbolik in diesem Kontext deutlich zu machen, nationale Mythen. Olivier Carré hat für den palästinensischen Widerstand den anti-imperialistischen Mythos der Wiederauferstehung nachgewiesen.30 Dieser Mythos wiederum wurde in der Geschichte des Widerstandes symbolisiert durch die Ideologie des bewaffneten Kampfes und repräsentiert durch das Gewehr.31 In den Zeremonien zur Erinnerung an den Beginn der palästinensischen Revolution, der im Nachhinein auf den 1. Januar 1965, also auf den Beginn eines Neuen Jahres, gelegt wurde, sind alle diese eben genannten Elemente aufgenommen und fließen ineinander über: Mythos der Revolution, des bewaffneten Kampfes, der Stärke, Symbole wie die Fahne, Trachten und Uniformen, v. a. die Hatta oder Kufiya, und das Gewehr bzw. Waffen, die politische Wirksamkeit von Geschichte etc.32
Die Untersuchung der Entstehung der neuen palästinensischen Nationalbewegung nach 1948 bietet die faszinierende Möglichkeit einer vergleichenden Analyse von BdAN und Fatah.33 Denn beide Bewegungen traten mit dem historischen Anspruch auf, die Nationalbewegung der Palästinenser zu konstituieren bzw. deren Avantgarde und Führung zu sein. Mit einem komparativen Ansatz sollen die je spezifischen Charakteristika beider Bewegungen herausgearbeitet werden. Kontrastierungen schärfen die Interpretation und führen zu einem neuen und adäquateren Verständnis divergierender Entwicklungen.
Schließlich ermöglicht ein Vergleich, Hypothesen über die Gründe für Erfolg von Nationalbewegungen zu testen. Im palästinensischen Beispiel kann noch keine definitive Aussage über die erfolgreiche Durchsetzung des Ziels der Bewegung, also die Etablierung eines unabhängigen Nationalstaates, gemacht werden. Es soll jedoch versucht werden, möglichst präzise zu bestimmen, wie und auf welcher Grundlage Fatah die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung mobilisierte. Allerdings ist gerade in diesem Zusammenhang die Frage nach der historischen Kontingenz dieses Erfolges von entscheidender Relevanz.
Die politische Programmatik aller bisher aufgetretenen Nationalbewegungen war vom Ziel der Emanzipation durch die Errichtung eines souveränen Nationalstaates bestimmt.34 Damit ging es gleichzeitig um zwei schwer zu vereinbarende politische Ziele: das der gesellschaftlichen Emanzipation und das des Erwerbs und der Ausübung von politischer Macht. Auch die palästinensische Nationalbewegung bildet keine Ausnahme, selbst wenn sie aus spezifischen historischen Gründen, auf die in den folgenden Kapiteln einzugehen ist, relativ lange Zeit brauchte, ehe sie die Errichtung eines palästinensischen Staates als politisches Ziel formulierte.
Absicht dieser abschließenden Gedanken ist es, einen Erklärungsrahmen dafür abzustecken sowie gleichzeitig einige Überlegungen anzustellen, die über dieses bisher weltweit dominierende Modell der Emanzipation bzw. der Machtausübung hinausführen bzw. dieses in Frage stellen. Der internationale Kontext, in dem Nationalbewegungen in abhängigen Gesellschaften die Dekolonisation durchzusetzen versuchten, war und ist wesentlich bestimmt durch die nationalstaatliche Strukturierung des internationalen Systems. Die europäischen Kolonialmächte hatten im Verlauf des 19. Jahrhunderts die außereuropäische Welt weitgehend unter sich aufgeteilt. Als zum Teil nach dem Ersten, v. a. aber nach dem Zweiten Weltkrieg ein weltweiter Dekolonisationsprozess in Gang gesetzt wurde, war das Nationalstaatsmodell
«zweifellos das einzige, das für die Staatlichkeit nach der Unabhängigkeit verfügbar war. Welches alternative Modell hätte eine Unabhängigkeitsbewegung oder die jeweils betroffene Kolonialmacht für den unabhängigen Staat denn anbieten können? Selbst wenn die Regierung zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit aus traditionellen Häuptlingen / Aristokraten / religiösen Würdenträgern bestand und selbst wo die Existenz einer nationalen Einheit, wie immer man sie definieren will, innerhalb willkürlich gezogener Grenzen, nicht mehr als eine offizielle Fiktion war (z. B. Nigeria oder die Golfstaaten), selbst dann musste das organisatorische Modell des Nationalstaates und die damit verbundene Rhetorik dominieren. In dieser Hinsicht musste das Ende des Kolonialismus (nicht immer infolge lokalen Widerstandes) die Entstehung der «Nation» mit sich bringen. Gleichermaßen konnte der Widerstand gegen Kolonialismus in der modernen Welt nur als nationalistischer Widerstand erfolgen.»35
Bemerkenswert ist, dass die kolonialistische Grenzziehung mit einigen Modifikationen und Ausnahmen beibehalten wurde, die im Laufe des Jahrhunderts neu entstandenen Staaten sich, entgegen vielen Erwartungen und Voraussagen, als widerstandsfähig und zählebig erwiesen. Die normative historisch-politische Realität des Nationalstaates als des kleinsten Bausteins des internationalen Systems übte von der Französischen Revolution bis heute einen entscheidenden Einfluss aus. Theodor Schieder formulierte, sehr prägnant und doch mit einem kritischen Stachel:
«Jede politische Emanzipation der letzten zwei Jahrhunderte – die liberaldemokratische, die nationale, die antikolonialistische und im Ergebnis auch die sozialistische – hat in irgendeiner Form zur Staatsbildung geführt, der selbstständige Staat wurde zum Symbol der vollendeten Emanzipation, so sehr sich dieser Staat in seiner Gestalt und in seinen Inhalten geändert und seine reale Bedeutung sich abgeschwächt hat. Die Emanzipation steht schließlich im Zeichen von Gleichheit und Unabhängigkeit der Staaten, die aber tatsächlich nur in einem rechtsformalen Sinne erreicht wird.»36
Noch 1970 postulierte Tibi den Nationalstaat als einzige «Organisationsform für die Entwicklungspolitik».
«Die Nation als politische Herrschaftslegitimität nach innen und außen und der Nationalstaat als institutioneller Rahmen... erscheinen gegenwärtig als die einzige historisch gebotene Alternative, um die Probleme der kolonialen und halbkolonialen Länder im Sinne ihrer Emanzipation zu lösen.»37
Allerdings erfolgte diese Emanzipation der Staaten und Gesellschaften der Peripherie bis heute nicht. Wie Schieder hervorhebt, wurde Emanzipation ausschließlich im rechtsformalen Sinn erreicht. Materialisiert hat sich diese Entwicklung in der Gestalt der Vereinten Nationen. Die materiellen Probleme der ungleichen Entwicklung, auf deren Boden nicht zuletzt der Nationalismus und die Forderung nach einem Nationalstaat wuchsen, sind bis heute ungelöst. Symptom dieser Realität sind neue Formen von Widerstand gegen das herrschende Weltsystem und seine Auswirkungen in der Peripherie wie z. B. religiös-fundamentalistische oder ethnische Bewegungen.
Es ist also keineswegs angebracht, im Anschluss an Hegel den Staat als das Ziel und die Erfüllung der Geschichte generell, einen palästinensischen Staat als Ziel und Erfüllung der palästinensischen Geschichte im besonderen zu betrachten. Aus diesem Grund soll hier auf einige unorthodoxe Überlegungen zumindest hingewiesen werden. Im Anschluss an Martin Buber argumentiert Stephen Halbrook:
«Die palästinensischen Bauern, vertrieben und ausgebeutet durch den türkischen, den israelischen und die arabischen Staaten, könnten sehr wohl den vermenschlichenden und progressiven Charakter des Staates bestreiten... Die Eskalation staatlicher Macht im Mittleren Osten verstärkt nur die institutionalisierte Gewalt gegen Muslime, Juden und Christen. Die libertäre Philosophie Martin Bubers... lehnt den ethnisch-begründeten Staat ebenso wie bürokratische Elitenherrschaft und Kolonialismus ab; statt dessen strebt sie nach Verwirklichung der Ziele von Internationalismus und universeller Befreiung aller Völker in freiwillig gebildeten Gemeinschaften. Vielleicht ist es die utopische Lösung, die eines Tages als realistische Bedingung für Frieden im Mittleren Osten angesehen wird.»38
Während diese Gedanken die gegenwärtige Struktur des internationalen Systems radikal in Frage stellen, argumentiert Dan Diner durchaus innerhalb dieser herrschenden Machtstruktur. Allerdings stellt er deren Realität von innen her in Frage, indem er den Lösungsansatz der Nation als Herrschaftslegitimität für die Probleme in Palästina/Israel ausschließt.
«Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Vorstellung von einem Gemeinwesen derart zu fassen, dass beiden Nationalitäten, vom Verhältnis Mehrheit-Minderheit absehend, gleiche national-kollektive Rechte zugebilligt werden, also programmatisch Binationalität anzustreben. Staatstheoretisch gesehen geht es um die Entpolitisierung der Nationalität, die Trennung zwischen Herrschaft und den jeweiligen nationalen Attributen. ...Ähnliches (wie in Europa bei der Trennung von Herrschaft und Religion erfolgte, als Religion zur privaten Angelegenheit wurde, H. B.) hätte im Palästinakonflikt zu erfolgen – nunmehr aber mit der Nationalität. Da ihre Attribute aber nicht privatisierbar..., sondern äußere Merkmale des gesellschaftlichen Verkehrs sind, lassen sie sich nicht internalisieren. Ihre Entpolitisierung kann nur dadurch erfolgen, dass sie als Lebensform garantiert werden. Die Garantie der Nationalitätenrechte entspricht ihrer Entpolitisierung wie die Garantie der Religionsfreiheit der Entpolitisierung der Religion entsprach.»39
Dieser Denkansatz findet sich schon 1948 bei Hans Kohn formuliert:
«Eine ähnliche Entpolitisierung der Nationalität ist vorstellbar. Sie kann ihre Verbindung mit politischer Organisation verlieren, sie kann ein zutiefst persönliches und emotional wichtiges Gefühl werden. Sollte jedoch der Tag, an dem dies eintritt, jemals kommen, dann ist das Zeitalter des Nationalismus in dem Sinne, in dem es hier verstanden wird, zu Ende gegangen.»40
In einem 1988 erschienenen Aufsatz weist Stephen Krasner auf die Gefahr eines Atomkrieges hin mit seinem Potential der Zerstörung jeglicher menschlicher Existenz sowie auf die sich verschärfenden ökonomischen Probleme. Im Rahmen von Nationalstaaten sind die daraus resultierenden Gefahren kaum mehr zu bewältigen. Deshalb «ist es nicht länger eine Selbstverständlichkeit, dass das Staatensystem die beste Organisationsform des politischen Lebens ist».41 Dennoch führt Krasners Analyse des souveränen Nationalstaates zu folgendem Schluss:
«Die Breitenwirkung des Staates im Sinne seiner Verbindungen mit anderen sozialen Einheiten und die Tiefenwirkung des Staates, die im Konzept der Staatsbürgerschaft selbst als einer wesentlichen Grundlage individueller Identität reflektiert ist, machen seine Überwindung fast unmöglich... Der souveräne Staat ist in unserem gegenwärtigen internationalen System die einzige universell anerkannte Form der Organisation des politischen Lebens. Es ist heute sogar schon schwierig geworden, sich mögliche Alternativen vorzustellen. Das historische Erbe der Entwicklung des Staatensystems ist eine mächtige institutionelle Struktur, die trotz veränderter Umstände in der materiellen Umwelt nicht einfach zu überwinden sein wird.»42
Angesichts der Intifada in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten ist für die Palästina-Frage kaum eine andere Lösung denkbar als ein unabhängiger Staat in Westbank, Ost-Jerusalem und Gaza-Streifen neben einem unabhängigen Staat Israel in den Grenzen von 1967, mag diese Lösung auch weit entfernt sein von dem Ideal, das viele noch damit verbinden.43
I. Nach der Katastrophe von 1948
Die Katastrophe von 1948, die nakba, besiegelte die Niederlage der palästinensischen Nationalbewegung der Mandatszeit.44 Unter der Führung von Hajj Amin al-Husaini war es der Nationalbewegung nicht gelungen, ihr politisches Ziel, die Errichtung eines unabhängigen palästinensischen Nationalstaates, zu erreichen. Großbritanniens imperialistische Politik in der Region, die zionistische Bewegung, deren Raison d’être die Etablierung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina war, sowie der haschemitische Emir Abdallah mit seinen Expansionsplänen in Richtung Mittelmeerküste erwiesen sich als mächtiger, und gemeinsam konnten sie ihre Interessen in Palästina durchsetzen.45 An die Stelle des von Großbritannien kontrollierten Mandats Palästina traten der jüdische Nationalstaat Israel sowie das Königreich Jordanien. Der Gaza-Streifen wurde unter ägyptische Militärverwaltung gestellt. Die palästinensische Gesellschaft wurde 1948 bis zum Äußersten fragmentiert. Palästinenser lebten fortan als arabische Minderheit in Israel, als Jordanier (seit 1949 bzw. seit der 1950 de iure erfolgten Annexion der Westbank durch Jordanien) im haschemitischen Königreich und als überwiegend marginalisierte Flüchtlinge in Israels arabischen Anrainerstaaten Libanon, Syrien und Jordanien sowie vor allem im Gaza-Streifen.46
Damit bildet die nakba 1948 den zentralen Bruch in der palästinensischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Diskontinuität erscheint als bestimmendes Charakteristikum der palästinensischen Erfahrung. Aber unterhalb der Ebene der Einschnitte, der Brüche und der Diskontinuitäten lassen sich Kontinuitäten in der sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklung der palästinensischen Gesellschaft offenlegen. Und das Aufzeigen von Kontinuitätssträngen ist das Anliegen des folgenden Kapitels über die historischen Grundlagen und Traditionslinien der Nationalbewegung nach 1948, also jener Organisationen, aus denen sich die PLO seit 1968 zusammensetzt.
Um die Frage nach den Auswirkungen des Scheiterns der palästinensischen Nationalbewegung auf die neuen Bewegungen nach 1948, ihre Organisationen und Führer zu beantworten, muss zuerst auf die soziale Basis der Nationalbewegung unter Hajj Amin eingegangen werden, müssen ihre politischen Aktivitäten, ihre Erfolge und Niederlagen ebenso wie ihre wichtigsten Gegner untersucht werden. Anschließend können die Gründe für die nakba herauskristallisiert werden. Es erscheint reizvoll, dies durch einen Vergleich mit Geschichte und Entwicklung der syrischen Nationalbewegung unter dem bzw. gegen das französische Mandatsregime zu versuchen. Da die palästinensische Nationalbewegung noch nicht ihren Hanna Batatu47 oder ihren Philip Khoury48 gefunden hat, muss dies vielfach in der Form von Hypothesen oder Anregungen zu neuen, eher kritischen Fragestellungen erfolgen. Das Forschungsinteresse geht dabei in Richtung einer Klärung des Fragenkomplexes, inwieweit die palästinensische Entwicklung Teil der Entwicklung der Region des geographischen Syriens, der Levante, ist und inwieweit sich hier ein palästinensischer Sonderweg herausbildet.
In einem zweiten Schritt wird die nakba als die letztlich prägende Erfahrung für alle Palästinenser analysiert, nicht nur individuell, sondern auch in ihrem kollektiven Bewusstsein. Zentral ist dabei die Frage nach einer palästinensischen Identität und damit nach den Ideologien, die diese Identität speisen. Zugespitzt stellt sich hier die Problematik des Verhältnisses zwischen panarabischem und palästinensisch-partikularistischem Nationalismus. Damit stoßen wir auf den Kern der palästinensischen Katastrophe von 1948, und gleichzeitig finden wir hier die Wurzeln für ein über Jahre hin unlösbares Dilemma der aktuellen palästinensischen Politik, nämlich das Dilemma zwischen Befreiung und Staatsbildung. Das Scheitern von Hajj Amins «Regierung von ganz Palästina», so die These, übt bis heute einen nachhaltigen Einfluss auf die palästinensische Politik aus.
Schließlich ist die nakba als Dispersion, Fragmentierung und Marginalisierung der palästinensischen Gesellschaft zu sehen. Welche Momente in der Entwicklung der palästinensischen Gesellschaft unter dem Mandat können neues Licht auf die soziale Dimension dieser Katastrophe werfen? Und inwieweit sind eben darin die Keime angelegt für die Entstehung neuer sozialer und politischer Eliten? Welchen Einfluss hat diese Sozialisation in der Diaspora (vor allem im Libanon und in Kuwait) auf die neuen politischen Eliten, und wie wirkt sie sich noch bis heute aus?
1. Die Niederlage der Nationalbewegung unter Hajj Amin al-Husaini
Als ein Grund für das Scheitern der Nationalbewegung unter Hajj Amin werden vor allem «die strukturellen Schwächen der palästinensischen Gesellschaft»49 betont und, eng damit verknüpft, die Tatsache, dass die Führung der Nationalbewegung 1947/48 außer Landes war. Dieses Argument wird auch in der neuesten Arbeit über Hajj Amin von Philip Mattar aufgegriffen, wenn er von der palästinensischen Gesellschaft der Mandatszeit als einer «schwachen, unterentwickelten Agrar-Gesellschaft» spricht, deren «traditionelle und ineffektive Führung» keine den Erfordernissen der extremen Situation entsprechende Organisation aufbauen und leiten konnte.50
Ein Blick auf die palästinensische Gesellschaft der Mandatszeit, etwa Mitte der dreißiger Jahre, bietet folgendes Bild51: An der Spitze der sozialen Pyramide standen etwa 250 Familien, in der Mehrzahl städtische Notabeln. Ihre Machtbasis bildete zum einen der Großgrundbesitz, zum anderen ihre führende Stellung in der zivilen und religiösen Administration Palästinas, zum Beispiel an der Spitze der diversen religiösen Gemeinschaften, Regionen oder städtischen Zentren sowie einzelner Clans. Der Prozess der Machtkonzentration in den Händen der städtischen Notabeln hatte schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnen. Ihre Macht wurde dann jedoch von der britischen Mandatsregierung beträchtlich eingeschränkt, dies vor allem durch ihre eher einseitige – nicht zuletzt finanzielle – Abhängigkeit von der Mandatsverwaltung. Jeder Versuch der palästinensischen Führung, über den ihr von den Briten zugewiesenen Kompetenzbereich hinauszugehen, wurde schon im Ansatz zurückgewiesen. Eine Anekdote zum Versuch Hajj Amins, über seine Machtposition als Präsident des Obersten Muslimischen Rates britische Zugeständnisse durchzusetzen, illustriert dies in eindringlicher Weise:
«Als ihm der Mufti einmal sagte, er übernehme keine Verantwortung für die arabische Seite, es sei denn, es würden bestimmte Konzessionen gemacht, klemmte Lord Plumer in der für ihn charakteristischen Weise sein Augenglas fest, heftete seinen Blick unbarmherzig auf den Mufti und sagte: «Eure Eminenz, es besteht keine Notwendigkeit für Sie, Verantwortung zu übernehmen. Denn ich bin es, der für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in Palästina verantwortlich ist.»52
Die städtischen Notabeln Palästinas, die ihr Pendant u. a. in Syrien hatten, konstituierten eine für den Maschreq spezifische Klasse, die Philip Khoury als «bürokratisch-großgrundbesitzende Klasse»53 bezeichnete.
«In beiden Gebieten existierte eine aktive städtische Notabelnschicht, deren Macht und Einfluss aus ihrer Kontrolle über lokale Regierungsämter und religiöse Institutionen herrührte und deren Reichtum auf Großgrundbesitz und Wucher auf dem Lande basierte.»54
Die politische Elite der Mandatsperiode – Porath geht dabei von etwa 3000 politisch aktiven Personen aus55 – rekrutierte sich fast ausschließlich aus dieser «bürokratisch-großgrundbesitzenden Klasse» der Notabeln. Sie verstand sich als legitimer Repräsentant der Bevölkerung und war als solcher auch allgemein anerkannt. Dabei gaben traditionelle Prestigefaktoren den Ausschlag. Ab 1929 verstärkten sich Zahl und Einfluss von Akademikern, vor allem von Juristen. Die meisten gehörten dabei den städtischen Notabelnfamilien an.
Eine immer geringere Rolle spielten innerhalb dieser Elite die Familien der Dorfscheichs, deren traditionelle Machtposition seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend beschnitten worden war, die aber trotzdem eine bestimmende soziale Stellung beibehielten: «Die Erhaltung der Subdistrikte gab den Scheichs, die an ihrer Spitze standen, politische Macht und ließ sie zu einem Faktor im Kampf um die Führung innerhalb der arabisch-palästinensischen Gesellschaft werden.»56
In der sehr schmalen Mitte der Sozialpyramide findet sich eine städtische Mittelklasse, konzentriert vor allem in den rapide wachsenden Städten an der Küste sowie in Jerusalem. Schölch57 spricht in diesem Zusammenhang schon für das 19. Jahrhundert von einer neuen und langsam sich entwickelnden kommerziellen Bourgeoisie, bestehend vor allem aus lokalen sowie libanesischen Christen, aus Juden sowie aus Europäern und deren Protegés. Der palästinensische Teil dieser «ersten Anfänge einer Bourgeoisie» wurde in der Mandatszeit in seiner Weiterentwicklung durch die wachsende jüdische Konkurrenz behindert. Dasselbe gilt für Geschäftsleute, Handwerker und Kleinunternehmer in allen wichtigeren Städten Palästinas. Zu dieser mittleren Gruppe ist noch eine kleine Schicht wohlhabender Bauern zu rechnen, aus der sich traditionell die Dorfscheichs rekrutiert hatten.58 Die Intelligenz gehörte der Herkunft nach teils zur Elite der städtischen Notabeln, teils zur städtischen und in geringerem Maße zur ländlichen Mittelklasse. Die sehr breite Basis wurde konstituiert durch kleine Bauern, Pächter und Landarbeiter sowie die städtischen Armen; zu den letzteren zählten sowohl die traditionelle städtische Unterschicht als auch die in verstärktem Maße vom Land in die Städte abwandernden landlosen Bauern, die dort Arbeit suchten. Diese Migranten bildeten eine weitgehend marginalisierte Bevölkerungsgruppe in den palästinensischen Küstenstädten.
Die Bevölkerung Palästinas betrug (ohne den jüdischen Anteil) in den zwanziger Jahren etwa 660 000 Menschen, Mitte der dreißiger Jahre waren es knapp eine Million, 1946 etwa 1,3 Millionen. In den Städten lebten vor allem Christen (75% der Christen in Palästina waren Städter) und Juden (mit einem städtischen Anteil von 82%). Im Vergleich dazu wohnten nur 23% der palästinensischen Muslime in Städten. Der Gesamtanteil der städtischen Bevölkerung betrug 35%. Auf dem Land lebten in der großen Mehrzahl Muslime und Drusen.59
Soziale und politische Loyalitäten waren in dieser Gesellschaft vertikal organisiert; jeweils an der Spitze standen die großen Familien. Dabei hatten sich Bedeutung und Einfluss Jerusalems als eines sozialen und politischen Machtzentrums seit Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr verstärkt, so dass es die Notabelnfamilien Jerusalems waren, die in der Mandatszeit landesweit eine entscheidende Rolle spielten.60 Der zentrale Konflikt in der palästinensischen Gesellschaft war dementsprechend der Machtkampf zwischen diesen führenden Notabelnfamilien Jerusalems, den Husainis und den Nashashibis. Dieser Faktionalismus bildete den bestimmenden Faktor für den mangelnden Zusammenhalt der palästinensischen Gesellschaft und weist hin auf die Problematik der Herausbildung einer nationalen Gesellschaft.61
Demgegenüber war der Gegensatz Stadt-Land sekundär.62 Dies gilt auch für den sich herausbildenden Konflikt zwischen den einzelnen Regionen Palästinas mit ihren städtischen Zentren und der zunehmenden landesweit hegemonialen Stellung Jerusalems.63
Den Gegensatz zwischen christlicher Minderheit (10%) und muslimischer Mehrheit versuchten Christen wie Muslime in der Mandatszeit bewusst abzubauen, «um nicht die gemeinsame Front gegen den Zionismus zu schwächen. Die Bezeichnung, die sich die ‹offiziellen› lokalen Organisationen der Nationalbewegung gaben (muslimisch-christliche Vereinigungen, MCV, H. B.), ist für diese Bemühungen charakteristisch. Sie waren einigermaßen erfolgreich.»64
Bevor die Politik der Nationalbewegung analysiert wird, muss betont werden, dass wir es in dieser Periode nie mit einer effektiv durchorganisierten Bewegung zu tun haben. Vielmehr bestand sie aus mehreren verschiedenen Organisationen, die einander in loser zeitlicher Reihenfolge ablösten. In den zwanziger Jahren dominieren die MCV, an ihrer Spitze die Arabische Exekutive unter der Führung des Jerusalemer Notabeln Musa Kazim al-Husaini mit Sitz in Jerusalem.65 An ihre Stelle treten Anfang der dreißiger Jahre eine Reihe neugegründeter Parteien, die um die Führung der palästinensischen Gesellschaft konkurrieren, allen voran die Arabisch-Palästinensische Partei der Husainis und die Nationale Verteidigungspartei der Nashashibis. 1936 schließlich entsteht mit dem Obersten Arabischen Komitee (OAK), in dem alle sechs bestehenden palästinensischen Parteien vertreten waren, die erste «nationale» Organisation nach den MCV bzw. der Arabischen Exekutive, die erst 1934, nach dem Tode von Musa Kazim al-Husaini, endgültig zerfallen war. Die Führung des OAK lag in der Hand von Hajj Amin al-Husaini, dem Mufti von Jerusalem und dem nationalen Führer, der über die breiteste Anerkennung im gesamten Land verfügte. Alle diese Organisationen konzentrierten sich in ihren politischen Bemühungen um Erringung der Unabhängigkeit sowie um Beendigung des jüdisch-zionistischen Kolonisationsprojektes in Palästina auf «eine Mischung von punktuellen Massenprotesten, Diplomatie und regionaler und internationaler Aktivität «.66 Das gilt auch für die von Hajj Amin betriebene Politik als Mufti von Jerusalem (seit 1921) und als Präsident des Obersten Muslimischen Rates (seit 1922), in deren Folge er spätestens 1929 zum politischen Führer der Palästinenser aufgestiegen war.67
Damit unterschied sich die palästinensische Nationalbewegung in keiner Weise von der syrischen Nationalbewegung, weder was ihre soziale Zusammensetzung betraf (städtische Notabeln) noch bezüglich ihrer politischen Aktionsformen (Streiks, Protestnoten, Entsendung von Delegationen zu regionalen und internationalen Konferenzen, regionale und internationale diplomatische Bemühungen). Parallelen zwischen syrischer und palästinensischer Nationalbewegung finden sich noch in einem anderen Charakteristikum, das im Falle der palästinensischen Nationalbewegung durchgängig als ein entscheidender Grund für ihr Scheitern gegenüber der zionistischen Herausforderung angeführt wird: dem Faktionalismus des politischen Lebens.
«Städtische Führer waren nur in dem Sinne homogen, dass sie einer besonderen Klasse angehörten und nicht streng entlang ethnischer, religiöser, sprachlicher oder anderer kategorischer Linien geteilt waren. Da sie aber in ihrer exklusiven Stellung an der Spitze der Politik relativ sicher waren, fühlten sie sich kaum verpflichtet, eine geschlossene Position einzunehmen und ihre gemeinsamen Interessen an entscheidenden politischen Fragen zu klären. Die Bündnisse zwischen städtischen Führern waren deshalb selten stabil; im Gegenteil, ein intensiver Faktionalismus und ständig wechselnde Bündnisse charakterisierten die Spitze des politischen Lebens in Syrien»68, und ebenso in Palästina, müsste hinzugefügt werden.
Allerdings bot der palästinensische Faktionalismus den rivalisierenden Mächten in Palästina die besten Ansatzpunkte, ihre jeweiligen Interessen entsprechend der alten Herrschermaxime ‹divide et impera› durchzusetzen. Vor allem die zionistische Bewegung und ihre Agenten bestachen wiederholt palästinensische Notabeln, um gemeinsam mit ihnen die Position Hajj Amins zu untergraben oder mit gekaufter – oder erzwungener – palästinensischer Legitimation ihre eigenen Ziele zu verfolgen.69 Letzteres trifft auch auf die Aktivitäten des haschemitischen Emirs Abdallah zu. Im Gegensatz zur syrischen Nationalbewegung, die in der Auseinandersetzung mit der französischen Regierung 1945 die Unabhängigkeit Syriens erreicht hatte, verschwand Palästina als politische Einheit 1948 von der Landkarte.
Ein Vergleich zwischen dem syrischen Generalstreik von Januar bis März 1936 und dem palästinensischen Generalstreik von April bis Oktober 1936 weist auf den entscheidenden Unterschied in der Situation der beiden Nationalbewegungen hin:
«Was in einem fast vollständig arabischen Syrien ausgereicht hatte, konnte in Palästina, wo die Juden nicht nur weiter arbeiteten, sondern den arabischen Streik gleichzeitig ausnützten, um wichtige Fortschritte in Richtung ihres Ziels der wirtschaftlichen Autarkie zu erreichen, nicht erfolgreich wiederholt werden.»70
Während also die Syrer 1936 durch ihren Streik die französische Regierung zwangen, zu einer Verständigung mit der Nationalbewegung zu kommen und in Verhandlungen einzutreten71, endete der sechsmonatige palästinensische Streik, ohne dass selbst die rudimentärste Forderung nach Einstellung der jüdischen Immigration erfüllt worden wäre. Die Palästinenser verwiesen zum wiederholten Male auf die Ungültigkeit der Balfour-Deklaration sowie auf die Tatsache, dass sie nie ihre Zustimmung zum Mandat gegeben hatten, da es dem international anerkannten Prinzip der Selbstbestimmung widersprach. Gefordert wurde deshalb die Beendigung der Mandatsherrschaft sowie die Etablierung einer unabhängigen palästinensischen Regierung.72 Großbritannien antwortete darauf mit dem Teilungsplan von 1937, nach dem Palästina in einen jüdischen und einen palästinensischen Staat geteilt werden sollte. Dies gab in Palästina das Signal für den Ausbruch der arabischen Revolte, mit der die Massen der Bauern, und unter ihrem Druck die städtische Notabelnführung, gegen die Teilung, gegen das Mandat und gegen die zionistische Implantation in ihrem Lande rebellierten. Großbritannien schlug diese landesweite Revolte blutig nieder.73
Schon vorher, im September 1937, hatte Großbritannien zum Schlag gegen die Führung der Nationalbewegung ausgeholt. Das OAK wurde für illegal erklärt, einige seiner Mitglieder auf die Seychellen verbannt, weitere 200 Führer der Bewegung verhaftet. Hajj Amin, der sich bereits im Juli einer drohenden Verhaftung entzogen hatte, indem er im Haram ash-sharif Zuflucht suchte, entkam von dort bei Nacht und Nebel und flüchtete in den Libanon. 74
Der entscheidende Unterschied in der Situation, in der die syrische und die palästinensische Nationalbewegung operierten, war also die Präsenz der zionistischen Bewegung in Palästina sowie die von Großbritannien mit der Balfour-Deklaration von 1917 eingegangene Verpflichtung, in Palästina eine jüdische Heimstätte zu errichten, eine Verpflichtung, die 1920 in den offiziellen Mandatstext aufgenommen worden war.75 In Syrien konnte der Generalstreik von 1936 zum größten Erfolg des Nationalen Blocks werden und es seiner
«Führung ermöglichen, in weniger als zwei Monaten ihre Strategie der «ehrlichen Kooperation» zu retten. Weiter war der Block in der Lage, seine Strategie auf einer neuen und viel besseren Grundlage weiterzuverfolgen. «Ehrliche Kooperation» hieß von nun an... das Recht des Blocks auf Teilung der Macht mit den Franzosen...»76
In Palästina dagegen waren der Generalstreik von 1936 und die Revolte 1936-1939 der Anfang vom Ende der Nationalbewegung.77 Während der syrische Generalstreik schließlich zur Unabhängigkeit führte, legte das Scheitern der palästinensischen Rebellion den Grundstein für die nakba und die Vereitelung palästinensischer Eigenstaatlichkeit.
Die Rebellion forderte über 3000 Tote, mehr als 100 Rebellen wurden von der Mandatsregierung gehängt, über 6000 waren 1939 im Gefängnis.78 Das politische, soziale und nicht zuletzt militärische Widerstandspotential der palästinensischen Gesellschaft war auf Jahre hinaus zerstört. Die Nationalbewegung, die aufgrund ihrer vertikalen Struktur auf Gedeih und Verderb mit ihrer Führung zusammenhing, war zerschlagen, ihre Führer verhaftet und/oder in Verbannung; Hajj Amin, der charismatische und einflussreiche Führer an der Spitze der Bewegung, war auf der Flucht: vom Libanon ging es in den Irak, dann in den Iran, und am Schluss stand der sowohl für ihn selbst als auch für die palästinensische Nationalbewegung verhängnisvolle und folgenreiche Aufenthalt im nationalsozialistischen Berlin.79
Das Einschwenken der Führung der Nationalbewegung auf eine radikale politische Linie, auf den Kurs des bewaffneten Widerstandes, wenn auch unter dem Druck von unten, leitete in Palästina den Beginn der endgültigen Niederlage des Unabhängigkeitskampfes ein. Als direkte Reaktion auf den neuen palästinensischen Radikalismus wurde Hajj Amin durch die britische Mandatsregierung von allen weiteren politischen Entwicklungen in Palästina ausgeschlossen.80 Der Mufti wurde zum Erzfeind britischer Politik im Nahen Osten stilisiert, und Großbritannien startete, gemeinsam mit der zionistischen Bewegung und ab 1948 mit Israel sowie schließlich auch mit Emir Abdallah, eine gezielte Diffamierungs- und Delegitimierungskampagne gegen ihn, gekoppelt mit einer Delegitimierung palästinensischer nationalistischer Ziele bzw. der Palästinenser generell als Nation.81 Die Wirkung dieser Kampagne war überwältigend: Hajj Amin wurde zu einer Art «Paria-Politiker». Sie war so erfolgreich, dass selbst ein Teil der Nationalbewegung nach 1948 von ihr beeinflusst wurde.
Obendrein wurde der Mufti in der historischen Rückschau nicht wegen seiner Radikalität und seines Scheiterns aufgrund dieses radikalen Kurses verurteilt, sondern wegen seiner als moderat kritisierten Politik der begrenzten Kooperation mit der Mandatsmacht, die er bis 1936 verfolgt hatte, um den eigentlichen Gegner des palästinensischen Nationalismus, die zionistische Bewegung, gemeinsam mit Großbritannien zu neutralisieren. Demgegenüber entwickelte sich auf der Grundlage des Widerstandes der Bauernrebellen von 1936 bis 1939 ein neuer Mythos des bewaffneten Kampfes. Gleichzeitig wurde eine Dichotomie nachträglich in die palästinensische Geschichte hineininterpretiert, nach der die traditionellen Notabeln nur verbal gegen das Mandat und die zionistische Kolonisation gekämpft und sich vergeblichen politischen und diplomatischen Exerzitien gewidmet hätten, anstatt wie die revolutionären Bauern Palästinas den bewaffneten Kampf gegen Imperialismus und Zionismus zu führen.82