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Die internationale Wirtschaftspolitik kann man mit Fug und Recht als Debakel bezeichnen. Nur eine wirklich radikale Änderung in der nationalen und in der internationalen wirtschaftspolitischen Ausrichtung kann ein globales Desaster noch verhindern und das Aufkommen extremistischer Parteien stoppen - ein Aufruf weltweit bekannter und anerkannter Ökonomen. Das Wort Krise suggeriert, dass es sich bei den weltweiten Verwerfungen, denen wir seit einiger Zeit ausgesetzt sind, um eine Art Naturereignis handelt, das über uns gekommen ist. Dabei ist das Versagen der politischen Klasse und der sogenannten wirtschaftlichen Eliten Schuld an der Misere, unter der weite Teile der Weltbevölkerung leiden. Gleichzeitig aber verzweifeln überall Menschen daran, dass die Politik der Finanzindustrie keinen Einhalt gebietet. Und so sorgen Banken weiterhin für eine massive Umverteilung zugunsten der Reichen. Fünf der weltweit wichtigsten Ökonomen fordern mit ihrem Manifest eine internationale Zusammenarbeit ein, die für die Teilhabe aller Menschen am Fortschritt sorgt und die strikt am Allgemeinwohl ausgerichtet ist. Eine Neuordnung der Prioritäten in der Wirtschaftspolitik steht dabei ebenso an wie die Beendigung der einseitigen Konzentration auf den Handel. Ein Weltbuch für alle, die wollen, dass sich endlich etwas ändert!
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Seitenzahl: 236
Ebook Edition
Heiner Flassbeck, Paul Davidson,
James K. Galbraith, Richard Koo,
Jayati Ghosh
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Das globale Manifest zur
Rettung der Wirtschaft
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ISBN 978-3-86489-535-7
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2013
Übersetzung und Lektorat: Stephanie Flassbeck und Dr. Detlef J. Kotte
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
Inhalt
Warum ein globales Manifest?
Paul Davidson
Unsicherheit und staatliche Sparpolitik
James K. Galbraith
Neues Denken und ein strategisches Grundsatzprogramm
Heiner Flassbeck
Der Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Entwicklung
Richard Koo
Bilanzrezessionen und die globale Wirtschaftskrise
Jayati Ghosh
Wirtschaftliche Integration und globale Krise aus der Perspektive der Entwicklungsländer
Handelt jetzt! Das Manifest
Schlusswort
Die Autoren
Anmerkungen
Literatur
Warum ein globales Manifest?
Dieses Buch, lieber Leser, handelt von den wirtschaftlichen Problemen in Ihrem Land, die auch Sie betreffen. Und es handelt davon, wie sie endlich überwunden werden können. In vielen Ländern der Welt steigen die Einkommen der Masse der arbeitenden Menschen schon seit vielen Jahren nicht mehr, während manche unglaublich reich werden. In anderen sind erhebliche Teile der Bevölkerung, vor allem auch die Jugend, von Arbeitslosigkeit bedroht. Immer noch gibt es trotz allen Fortschritts und all des gewaltigen Reichtums Not und Hunger auf dieser Welt. Die Krise des Finanzsystems war sicher ein großer Schock, der in weiten Kreisen ein Nachdenken ausgelöst hat. Aber allzu schnell sind allzu viele wieder zur Tagesordnung übergegangen und vertreten sogar mit größerer Härte als zuvor die gleichen Dogmen, die in die Krise hineingeführt haben.
Man kann natürlich über die Folgen solcher Krisen reden, indem man die Sorgen und Ängste der Menschen im Einzelnen beschreibt und zeigt, welche Auswirkungen unser kollektiver Misserfolg für den Alltag der Bürger und ihre Lebensverhältnisse hat. Man kann auch, und das mit gutem Recht, über die Politik herziehen und beklagen, dass so wenig von dem, was vielleicht möglich wäre, von »denen da oben« verwirklicht wird. Das aber ist nicht Ziel und Zweck dieses Buches. Wir wollten vielmehr ganz unterschiedliche Wissenschaftler mit einer ganz unterschiedlichen Herangehensweise und aus ganz unterschiedlichen Regionen und Lebensräumen dieser Welt zusammenbringen, um aus den jeweils verschiedenen Perspektiven einige wenige, aber äußerst wichtige Fragen zu beantworten. Warum stürzt die Weltwirtschaft immer wieder in so tiefe Krisen? Warum ist der Finanzsektor so schwer zu bändigen? Warum werden in einer Welt des Überflusses die Geißeln des Hungers, der Not und der Arbeitslosigkeit nicht endlich abgeschüttelt?
Die Autoren waren sich von Anfang an einig, dass man es sich zu einfach macht, wenn man nur unfähige Politiker an den Pranger stellt. Politiker sind, wie ein großer Ökonom schon vor vielen Jahrzehnten klar erkannte, immer nur Sklaven eines längst verstorbenen Denkers, von dessen Ideen sie sich nicht emanzipieren können, solange es keine besseren neuen Ideen gibt. Deswegen geht es in diesem Buch darum, die geistigen Wurzeln des vielfältigen Versagens der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik offenzulegen und nach Alternativen zu fragen. Aber natürlich kann man an diese Aufgabe in unterschiedlicher Weise herangehen.
Paul Davidson, einer der besten Kenner und Vertreter des Keynesianismus, stellt gleich zu Anfang die wichtigste aller Fragen, nämlich die nach unserer Kenntnis über den Lauf der Geschichte. Diese Frage ist deswegen von überragender Bedeutung, weil große Teile der herrschenden Lehre in den Wirtschaftswissenschaften mit Modellen arbeiten, die von einem deterministischen Weltbild ausgehen, also unterstellen, die Geschichte sei im Grunde vorgegeben und wir könnten nur noch an ganz kleinen Rädchen drehen, um die Dinge besser ins Lot zu bringen. Dem stellt Davidson ein Weltbild entgegen, in dem die Zukunft offen und gestaltbar ist, in dem menschliche Erfahrung und menschlicher Gestaltungswille die Lebensverhältnisse der Menschen grundlegend verbessern können.
James K. Galbraith, einer der meistzitierten Kritiker des ökonomischen Mainstream in den USA und Europa, skizziert die Zeitläufte des herrschenden Denkens und dessen Versagen in den vergangenen 30 Jahren anhand der großen Krisen, angefangen mit den Ölkrisen und den unterschiedlichen Finanzkrisen bis hin zur großen Krise des Jahres 2008. Nur vollständig neues Denken, so sein Credo, kann die Wende bringen.
Richard Koo, einer der besten Kenner der japanischen Wirtschaft und global der bekannteste Experte für die Folgen von Finanzkrisen, zeigt auf, dass nur ein ganzheitliches Denken, also das Denken in gesamtwirtschaftlichen Kategorien, gangbare Auswege aus der Krise zu bieten vermag. Er weist darauf hin, dass in den meisten Ländern nur ein aktiver Staat und vor allem Enttabuisierung der Staatsverschuldung global eine nachhaltige Überwindung der Krise erlaubt, da die Verschuldung des öffentlichen Sektors als Gegenstück zum privaten Sparen unabdingbar ist.
Jayati Ghosh, die renommierte indische Ökonomin und Entwicklungsexpertin, macht deutlich, dass die Entwicklungsländer bei aller Ähnlichkeit der geistigen Strömungen, die die orthodoxe Wirtschaftspolitik hier wie dort bestimmen, doch zusätzliche und institutionell anders geartete Empfehlungen brauchen.
Heiner Flassbeck, eine der bekanntesten kritischen Stimmen unter den deutscher Ökonomen und Experte für Finanzmärkte mit globalem Einfluss, zeigt in diesem Buch, dass nicht nur die Finanzmärkte, sondern auch der Arbeitsmarkt ganz anders funktionieren als üblicherweise unterstellt. Es gibt keinen einfachen Marktmechanismus, der dafür sorgen würde, dass eine einmal, zum Beispiel als Folge einer Finanzkrise, entstandene Arbeitslosigkeit durch Senkung der Löhne wieder zum Verschwinden gebracht werden könnte. Wenn es diesen Mechanismus aber nicht gibt, ist das ganze Denkgebäude, auf dem die Wirtschaftspolitik der meisten Länder dieser Welt basiert, äußerst brüchig.
In einem gemeinsam getragenen Manifest plädieren diese Ökonomen für eine fundamentale Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik. Nur wenn die alten Dogmen konsequent über Bord geworfen werden, sehen sie eine Chance für eine erfolgreiche Erneuerung der marktwirtschaftlichen Ordnung. Sie fordern zum sofortigen Handeln auf der Basis der neuen Erkenntnisse auf, weil sonst nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die politische Ordnung in vielen Ländern gefährdet ist. Eine Globalisierung der Wirtschaft ohne eine funktionierende globale Regelsetzung kann nicht funktionieren.
Schon einmal, in den 1920er Jahren, hatte man geglaubt, je schrankenloser der Kapitalismus sei, umso besser würde er funktionieren. Das war falsch, und unter den fatalen Folgen dieser falschen Einschätzung haben noch viele Generationen leiden müssen. Noch ist es nicht zu spät für eine Umkehr, aber die Zeichen der Zeit stehen auf Sturm. Auch im fünften Jahr nach der großen Finanzkrise ist es nicht gelungen, zur Normalität, nämlich zu einem von dem Einkommen der Masse der Bevölkerung getragenen Wachstum zurückzukehren. Die globale Wirtschaftspolitik muss jetzt zur Einsicht kommen. Fiskalpolitische Austerität, Lohnsenkungen, der Fortbestand eines fast schrankenlosen Finanzsystems und die Verfolgung nationaler wirtschaftlicher Interessen auf Kosten anderer Länder sind nicht die angemessenen Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit.
Paul Davidson
Unsicherheit und staatliche Sparpolitik
Entscheidungsfindung in der Volkswirtschaft
Das Wirtschaftsgeschehen ist ein Prozess, der sich in der Zeit vollzieht. Es ist nicht möglich, dass alles gleichzeitig passiert. Die Produktion von Gütern braucht Zeit, und der Verbrauch von Gütern, besonders der langlebigen Güter, braucht viel Zeit. Die Volkswirtschaftslehre beschäftigt sich in erster Linie damit, wie Haushalte und Firmen Entscheidungen hinsichtlich ihres Produktions- und Konsumverhaltens treffen, deren Auswirkungen sich erst irgendwann in der Zukunft zeigen.
Um das Verhalten wirtschaftlicher Entscheidungsträger zu analysieren, muss man darüber Annahmen treffen, (a) was sie bezüglich der zukünftigen Ergebnisse ihrer Entscheidung erwarten, und (b) ob diese Erwartungen sich erfüllen. Dieser Zusammenhang ist ganz offensichtlich bei Entscheidungen über Investitionen in Sachanlagen und Ausrüstungsgüter, wo man erst Jahre später weiß, ob die Investition tatsächlich rentabel war. Sobald die Entscheidung getroffen wurde, ist der Investor für die gesamte Lebensdauer der Investition daran gebunden. Investitionen in Sachanlagen und Ausrüstungsgüter sind wie eine Ehe in einer konservativen Gesellschaft: Der Investor und seine Investition sind vereint, »bis dass der Tod sie scheidet«.
Wird die tatsächliche Rendite über die Dauer der Investition der Erwartung des Unternehmers zum Zeitpunkt der Investitionsentscheidung entsprechen? Und wie kam der Unternehmer ursprünglich zu seiner Renditeerwartung?
Die Mehrheit der Ökonomen nimmt an, dass man Unsicherheit über die Zukunft mit einer objektiven Wahrscheinlichkeitsverteilung messen kann, die sich aus heute verfügbaren Marktdaten ermitteln lässt. Sie nehmen grundsätzlich an, dass Investoren »rationale Erwartungen« haben und deshalb die Fähigkeit besitzen, die Zukunft aktuarisch »berechenbar« zu machen.1 Auf dieser Fähigkeit basiert die Theorie der effizienten Kapitalmärkte: Wenn die Zukunft wirklich statistisch vorhersehbar ist, dann »wissen« Investoren heute bereits, wie hoch die zukünftige Rendite ihrer Investition sein wird. Deshalb werden sie aus Eigeninteresse ihr knappes Kapital für diejenigen Investitionsprojekte verwenden, von denen sie »wissen«, dass sie die im Vergleich zu allen Alternativen größte Rendite erbringen. Investitionen einzelner Wirtschaftssubjekte, die aus Eigeninteresse handeln und die zukünftige Rendite »kennen«, werden deshalb auch einen für die Gesellschaft als Ganzes optimalen Ertrag erzielen. Wenn eine Regierung in irgendeiner Weise in diesen individuellen Entscheidungsprozess eingreift, wird das zu einem weniger effizienten Ergebnis führen. Folglich sind diejenigen, die glauben, dass man das Problem der Unsicherheit durch die Messung einer Wahrscheinlichkeitsverteilung auf der Basis verfügbarer fundamentaler Marktdaten lösen könne, der Ansicht, dass die Wirtschaftspolitik nach dem Laissez-faire-Prinzip handeln solle, das heißt, die Regierung sollte nie regulierend oder in irgendeiner anderen Form ins Marktgeschehen eingreifen.
Bei Entscheidungen über Finanzanlagen gilt dasselbe wie für Investitionen in Sachanlagen; auch hier kennt man die realisierte Rendite über die Dauer der Finanzanlage erst im Nachhinein, das heißt am Ende der Laufzeit dieser Finanzanlage. Wieder können wir fragen, ob die realisierte Rendite derjenigen entspricht, die zum Zeitpunkt der Anlageentscheidung erwartet wurde. Die Antwort lautet: Wenn Unsicherheit mit einer bekannten, objektiven Wahrscheinlichkeitsverteilung gemessen werden kann, dann wird die Renditeerwartung im Augenblick der Anlageentscheidung durch die realisierte Rendite am Ende der Laufzeit bestätigt werden.
Falls es sich bei den Finanzanlagen jedoch um Vermögenstitel handelt, die auf gut organisierten und geregelten liquiden Märkten2 gehandelt werden, gibt es immer die Möglichkeit eines »Ausstiegs«: Wenn der Besitzer eines solchen Vermögenstitels der Ansicht ist, dass etwas unerwartet falsch läuft, kann er die Anlage jederzeit auf dem Markt verkaufen. Mit anderen Worten, wenn im Laufe der Zeit etwas Unerwartetes passiert, das Kapitalanleger befürchten lässt, einen Fehler gemacht zu haben, dann können flüssige Anlagen schnell zu Geld gemacht werden, und zwar zu einem Preis, der nahe am letzten Marktpreis des entsprechenden Vermögenstitels liegt. Dadurch vermindert sich das Risiko einer Ertragseinbuße oder gar eines erheblichen Verlustes, das bei Verbleib dieses Titels im Portefeuille bestünde. Folglich ist die Verbindung zwischen Kapitalanleger und seiner Anlage – um im Bild zu bleiben – so wie die Ehe in einer Gesellschaft, in der jederzeit eine Scheidung möglich ist.
Die oben zum Ausdruck gebrachte Vorstellung, dass plötzlich »etwas Unerwartetes geschieht«, ist nur sinnvoll, wenn die Zukunft unsicher ist in dem Sinne, dass sie nicht zuverlässig durch die statistische Analyse von existierenden Marktdaten zum Zeitpunkt einer Investitions- oder Anlageentscheidung vorhergesagt werden kann. Wenn jedoch die Finanzanlage illiquide, das heißt nicht handelbar ist, dann bleibt der Anleger auf seiner Kapitalanlage sitzen, bis dass der Tod sie scheidet, eben auch dann, wenn etwas Unerwartetes geschieht.
Im Gegensatz zu der Vorstellung, dass die Zukunft bekannt ist, wenn man die Wahrscheinlichkeitsverteilung aus existierenden Marktdaten errechnet, ist im analytischen Rahmen von John Maynard Keynes die Zukunft unsicher in dem Sinn, dass man sie heute einfach nicht kennen kann. Folglich kann die Entscheidung, in Sachanlagen und Ausrüstungsgüter zu investieren, nur Ergebnis des unternehmerischen Instinkts (»animal spirits«) sein, nicht jedoch Folge der Berechnung eines gewichteten Durchschnitts von quantitativem Nutzen multipliziert mit quantitativer Wahrscheinlichkeit.3
Die Existenz von organisierten liquiden Finanzmärkten, in denen Kapitalanlagen leicht in Liquidität umgewandelt werden können, ist wichtig für Menschen, die ein gewisses Vermögen investieren wollen, denen aber die Alternative einer langfristigen Kapitalanlage nicht ausreichend attraktiv erscheint; das gilt besonders für diejenigen, die diese Kapitalanlagen nicht selbst verwalten und sehr wenig darüber wissen.4
Demzufolge sind Ökonomen hinsichtlich der Bedeutung von Ungewissheit für zukünftige Entwicklungen in zwei größere theoretische Lager gespalten: einerseits die orthodoxen Mainstream-Ökonomen und andererseits die keynesianisch/post-keynesianisch orientierten Ökonomen. Jedes der beiden Lager liefert eine unterschiedliche Erklärung für makroökonomische Probleme und die Rolle der Wirtschaftspolitik bei der Lösung solcher Probleme. Man muss die Unterschiede zwischen diesen zwei Konzepten von Unsicherheit kennen, um die gegensätzlichen philosophischen Auffassungen der beiden Lager zu verstehen. Das eine hängt der Philosophie des Laissez-faire an, also der Philosophie freier Märkte; vom andern Lager wird dagegen die Bedeutung einer aktiven Wirtschaftspolitik unterstrichen, die bei wiederkehrenden gesamtwirtschaftlichen Problemen korrigierend oder wenigstens schadensbegrenzend in den Wirtschaftsablauf eingreift.
Die Annahme, dass alle Unsicherheit auf eine bekannte objektive Wahrscheinlichkeitsverteilung reduziert werden kann, verleitet die orthodoxen Mainstream-Ökonomen zu dem »panglossianischen« Optimismus5, dass freier Wettbewerb immer zu gesellschaftlich optimalen Ergebnissen führt. Die Existenz von Börsenblasen, wie zum Beispiel der Dotcom-Blase der 1990er Jahre oder die Immobilienblase in vielen Ländern zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ist logisch nicht mit der Mainstream-Analyse vereinbar. Letztere unterstellt, dass der seinem Eigeninteresse folgende, individuelle Entscheidungsträger die existierende Wahrscheinlichkeitsverteilung nutzt, um daraus eine sichere »Kenntnis« der Zukunft zu formen. Nun erlitt die Weltwirtschaft jedoch einen schweren Finanzschock, als der Markt für Subprime-Hypothekardarlehen und daraus abgeleiteter Derivate im Jahr 2007 zusammenbrach. Wie ist es in einer Welt, in der die unsichere Zukunft mittels Wahrscheinlichkeitsverteilung zuverlässig vorhergesagt werden kann, möglich, dass sich an freien Finanzmärkten Blasen bilden, die das globale Wirtschaftssystem ins Chaos stürzen können, wenn sie schließlich platzen?
In einem erstaunlichen »mea culpa«-Bekenntnis vor dem Kongress der Vereinigten Staaten am 23. Oktober 2008 gab der frühere Federal Reserve Chairman Alan Greenspan zu, dass er die Fähigkeit freier Finanzmärkte, Finanzierungsmittel effizient und auch im Sinne der Gesellschaft optimal zu verwenden, überschätzt hatte. Er habe völlig verkannt, dass die Deregulierung von Finanzmärkten sich auf die Wirtschaft derart zerstörerisch auswirken kann, wie das 2007 bis 2008 der Fall war. Greenspan stellte fest: »Ich begreife immer noch nicht ganz, warum es passiert ist, aber soweit ich das Ausmaß und die Ursachen dessen, was passiert ist, verstehe, werde ich meine Ansichten ändern.«6
Auch Greenspans Nachfolger als US-Notenbankchef, Ben Bernanke, und die meisten Mainstream-Ökonomen haben den Zusammenbruch der Investmentbanken von 2007 bis 2008 und des Schattenbanksystems mit einer Fehlbewertung von (probabilistischen) Risiken im Hinblick auf zukünftige Ergebnisse erklärt. Würde man dagegen eine statistisch verlässliche Berechnung der Wahrscheinlichkeitsverteilung, die die Finanz- und Investitionsmärkte bestimmt, durchführen, wäre eine »Fehlbewertung« solcher Risiken eigentlich unmöglich.
Die führenden Investmentbanken verwendeten komplexe Computermodelle, die Finanzderivate unter dem Aspekt des »Risikomanagements« wahrscheinlichkeitstheoretisch bewerteten und dabei auf die Analysen von Nobelpreis-Ökonomen zurückgriffen (wie Greenspan in seiner Aussage bemerkte). Diese Modelle wurden von Investmentbanken auch dann noch verwendet, als klar geworden war, dass das mathematische Modell zur Bewertung von Finanzanlagen (capital asset pricing model) des Nobelpreisträgers Myron Scholes zum Zusammenbruch des Hedgefonds »Long-Term Capital Management« beigetragen hatte, in dessen Direktorium Scholes selbst saß. Die »quantitativen Analysten« von der Wall Street behaupteten einfach, sie müssten bessere Modelle entwickeln, das heißt noch kompliziertere Computermodelle, um das Risikomanagement weiter zu verbessern! Auch heute liegt die Lösung unserer Finanzkrise aus Sicht der Mainstream-Ökonomen wieder darin, dass man die Banken bessere Risikomanagement-Modelle entwickeln lässt. Wenn es aber so ist, wie Keynes glaubte, nämlich dass die Unsicherheit über die Zukunft nicht von Wahrscheinlichkeitsrechnungen erfasst werden kann, so ist ein weiterer Kollaps des Finanzsektors nicht auszuschließen.
Diejenigen, die an die Hypothese der rationalen Erwartungen glauben, würden allenfalls zugeben, dass schockartige Ereignisse wie das Platzen von Blasen lediglich kurzfristige, exogene Störungen sind. Wenn wir dem Laissez-faire-Prinzip nur konsequent genug folgten, würden die Volkswirtschaften aller Länder auf lange Sicht zu Vollbeschäftigung und Wohlstand gelangen. Keynes bemerkte dazu, dass solche Vorstellungen der Mainstream-Theoretiker »die größte intellektuelle Errungenschaft« seien, da hier eine hypothetische Welt entworfen werde, die, »obgleich weit entfernt von unseren Erfahrungen, als unsere erfahrbare Welt angesehen wird, in der wir dann dauerhaft leben«.7
In diesem Beitrag werden wir Greenspan und anderen zwei Dinge erklären. Zum einen, warum sie falschliegen, wenn sie diese hypothetische Welt zur Grundlage ihres »panglossianischen« Glaubens machen, dass freie Märkte gesellschaftlich optimale Ergebnisse zutage bringen, und zum anderen, wie das Keynes’sche Konzept von Unsicherheit zu der Schlussfolgerung führen muss, dass Laissez-faire-Märkte nicht effizient sein können.
Das Wissen um die Zukunft
Ricardo und seine klassischen Anhänger im 19. Jahrhundert setzten eine Welt voraus, in der vollkommene Gewissheit herrschte. Für alle Haushalte und Unternehmen wurde angenommen, dass sie über vollständiges und korrektes Wissen von einer vorprogrammierten ökonomischen Außenwelt verfügten, die die wirtschaftlichen Ergebnisse in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft bestimmt. Es wurde unterstellt, dass das externe ökonomische Umfeld der Zukunft insofern unveränderlich sei, als es nicht durch menschliches Handeln verändert werden kann. Der Pfad der Wirtschaft sei, wie die Bahn der Planeten in Newtons Himmelsmechanik, durch zeitlose Naturgesetze festgelegt. Da man annahm, dass ökonomische Entscheidungen immer im vollständigen Wissen über diese Gesetze getroffen werden, könnten Haushalte oder Firmen bei ihren Ausgabeentscheidungen nie Fehler begehen. Sie verwendeten ihr ganzes Einkommen für Dinge, von denen sie »wissen«, dass sie in der Zukunft die höchsten Erträge, also den größten Nutzen für Haushalte und die höchsten Profite für Unternehmen, erbringen. Demzufolge könnte es nie ein Mangel an Nachfrage für industrielle Produkte oder für arbeitswillige Arbeitskräfte geben.
Das angenommene vollständige Wissen über die Zukunft bei allen, die in einem klassischen ricardianischen Wirtschaftsmodell Entscheidungen treffen, rechtfertigte eine Laissez-faire-Philosophie. In dieser Vorstellungswelt kann das Handeln einer Regierung niemals einen höheren Ertrag erbringen als die Entscheidungen über die Zukunft in einer Marktwirtschaft vollständig informierter und am eigenen Nutzen interessierter Individuen.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts versuchten Ökonomen, das Konzept der Unsicherheit in das theoretische Gerüst Ricardos einzufügen. Wenn in einer Volkswirtschaft nichts sicher ist, wie kann man da bei heutigen Entscheidungen den zukünftigen ökonomischen Ertrag »kennen«? Als Reaktion auf solche Fragestellungen ersetzten klassische Ökonomen Anfang des 20. Jahrhunderts die in der frühen klassischen Theorie gemachte Annahme perfekten Wissens durch die Idee von auf statistischen Wahrscheinlichkeiten basierenden »Risikoprämien« (probabilistic risk premiums) und »Sicherheitsäquivalenten«, durch die versicherungsmathematische Sicherheit ökonomischer Voraussagen erreicht werden sollte.
Bis zu den 1970er Jahren entwickelte sich diese klassische Risikoanalyse zu dem, was Ökonomen die Neue Klassische Theorie der »rationalen Erwartungen« nennen. Darin treffen Individuen ihre Entscheidungen aufgrund ihrer subjektiven Wahrscheinlichkeitsverteilung. Es wird aber angenommen, dass sie zu dem gleichen Ergebnis kommen wie bei einer unveränderlichen objektiven Wahrscheinlichkeitsverteilung. Die heutigen orthodoxen Wirtschaftswissenschaftler interpretieren Unsicherheit in der Ökonomie als gleichbedeutend mit objektiver Wahrscheinlichkeitsverteilung im Hinblick auf zukünftige Ereignisse.8 Es wird unterstellt, dass alle Personen in der Lage sind, heute Stichproben aus einem bestehenden Datensatz zu entnehmen und auf dieser Grundlage die statistische Wahrscheinlichkeit zu berechnen, mit der ein beliebiges Ereignis in der Zukunft eintreten wird.
Dieses Hilfsmittel der Annahme von statistisch ermittelten, verlässlichen Wahrscheinlichkeitsrisiken zum Messen der Unsicherheit erlaubt es den orthodoxen Ökonomen, die meisten der philosophischen Schlussfolgerungen unangetastet zu lassen, die ehedem von Ricardo und seinen Anhängern entwickelt worden waren. Auch wenn die Mainstream-Ökonomen Ricardos Modell der perfekten Gewissheit heute ablehnen, akzeptieren sie weiterhin die Existenz einer vorgegebenen ökonomischen Realität (ähnlich der Newton’schen Himmelsmechanik) wie ein Naturgesetz. Diese Realität kann mit unveränderlichen objektiven Wahrscheinlichkeitsfunktionen vollständig beschrieben werden, die denjenigen, die im Modell Entscheidungen treffen, auch vollständig bekannt sind. Die Annahme, dass Leute mit rationalen Erwartungen die objektive Wahrscheinlichkeit schon »kennen« stellt sicher, dass im Durchschnitt von den »fähigsten« Entscheidungsträgern die richtige Wahl getroffen wird und dass diese – im Darwin’schen Sinn – in einer Welt der freien Märkte überleben.
Keynes stellte dazu fest, dass die grundlegenden Axiome der klassischen Theorie, in denen wir die Zukunft kennen, »sich nur auf einen Sonderfall beziehen und nicht allgemein anwenden lassen … Die Merkmale des Sonderfalls, den die klassische Theorie unterstellt, haben nichts mit der Gesellschaft zu tun, in der wir leben. Deshalb führt diese Lehre in die Irre und ist sogar verhängnisvoll, wenn wir versuchen, sie auf erfahrbare Tatsachen anzuwenden«.9 Die Annahme, dass Unsicherheit bezüglich der Zukunft auf ein Wahrscheinlichkeitsrisiko reduziert werden kann, dass durch eine existierende Wahrscheinlichkeitsverteilung gemessen wird, ist ein »Sonderfall«, der getragen wird von einem grundlegenden Axiom, das sich auf die erfahrbare Welt nicht anwenden lässt. Keynes’ Warnung im Hinblick auf die Lehre von solch einem »Sonderfall« gilt auch für die heutigen wirtschaftspolitischen Ratschläge der Mainstream-Ökonomen, zum Beispiel in der Diskussion um die staatliche Sparpolitik in den USA, Großbritannien, der Eurozone, China und anderswo.
Unsicherheit und das ergodische Axiom
In der Mainstream-Ökonomie betrachtet man Marktdaten typischerweise als Ergebnis eines »ergodisch« stochastischen Prozesses, wie Statistiker ihn bezeichnen. Tatsächlich hat der Nobelpreisträger Paul Samuelson die Akzeptanz des ergodischen Axioms der Statistischen Theorie zum sine qua non der wissenschaftlichen Methode in der Ökonomie gemacht.10
Ein Axiom ist definiert als eine Feststellung, von der man annimmt, es handele sich um eine »universelle Wahrheit«, die nicht weiter bewiesen werden muss. Was ist diese universelle Wahrheit der Ergodizität, von der Samuelson behauptet, dass sie notwendig sei, um die Ökonomie zu einer Wissenschaft zu machen?
Um statistische Schlussfolgerungen aus einem Universum von möglichen Beobachtungen zu ziehen, sollte man logischerweise eine Stichprobe aus diesem Universum entnehmen und die Wahrscheinlichkeitsverteilung anhand dieser Stichprobe analysieren. Um statistisch zuverlässige Wahrscheinlichkeitsaussagen über zukünftige ökonomische Entwicklungen machen zu können, sollte man folglich diese Stichproben aus dem Universum der Märkte der Zukunft entnehmen und diese analysieren. Da es aber nicht möglich ist, Stichproben aus der Zukunft zu entnehmen, nimmt das ergodische Axiom an, dass die Zukunft bereits durch die verfügbaren Marktdaten abgebildet wird und dass eine Stichprobe aus der Vergangenheit äquivalent mit einer Stichprobe aus der Zukunft ist.
Mit anderen Worten, die Annahme, dass zukünftige ökonomische Entwicklungen aus ergodisch stochastischen Wirtschaftsprozessen resultieren, erlaubt dem Analytiker ohne Beweis zu behaupten, dass Stichproben aus existierenden Marktdaten der Vergangenheit und der Gegenwart äquivalent sind einer Stichprobenentnahme aus dem zukünftigen Universum von Marktdaten. Daraus folgt, dass das wahrscheinliche Ergebnis aller zukünftigen Daten bereits in den existierenden Marktdaten gebündelt ist. Demnach wäre die Zukunft nur ein statistischer Schatten von Marktdaten aus Vergangenheit und Gegenwart.
Aus der Annahme, dass Entscheidungsträger über rationale Erwartungen verfügen, folgt, dass aus Eigennutz handelnde Entscheidungsträger Informationen verarbeiten, in die alle Marktdaten aus der Vergangenheit und der Gegenwart eingeflossen sind. Aus diesen Informationen werden dann statistische Durchschnittswerte gebildet, die verlässlich die Zukunft vorhersagen. Thomas Sargent, einer der führenden Vertreter der Rationale-Erwartungen-Schule stellt dazu fest: »Das Modell der rationalen Erwartungen schreibt den Handelnden (die eine Gleichgewichts-Wahrscheinlichkeitsverteilung benutzen) innerhalb des Modells viel mehr Wissen zu, als es ein Ökonometriker besitzt, der sich mit Schätzungs- und Inferenzproblemen auseinandersetzen muss, die die Handelnden im Modell irgendwie gelöst haben.«11
Im 20. Jahrhundert gab es allerdings einige Ökonomen, die bezweifelten, dass es sinnvoll ist, die Risikowahrscheinlichkeit als Maß für Unsicherheit zu nehmen. Beginnend mit Knights bahnbrechender Arbeit aus dem Jahre 1921 wurde eine Unterscheidung zwischen »wahrer« Unsicherheit und den Eintrittswahrscheinlichkeiten eines Risikos getroffen.12 Letzteres kann aufgrund von Häufigkeitsverteilungen in der Vergangenheit kalkuliert werden und ist somit im Prinzip versicherbar. Dagegen ist »wirkliche« Ungewissheit weder berechenbar noch versicherbar.
Mit seiner General Theory löste Keynes 1936 eine Revolution in den Wirtschaftswissenschaften aus. Er betonte, dass Unsicherheit in der Ökonomie etwas anderes ist als die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Risikos. Er wies darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen Risiko und Unsicherheit wichtige Konsequenzen habe für das Verständnis (a) des Funktionierens einer Markt- und Geldwirtschaft und (b) der Rolle der Regierung bei der Beeinflussung der Marktergebnisse durch bewusste gesetzgeberische Maßnahmen.
Keynes verwendete bei der Ausarbeitung seines Konzepts der Unsicherheit nicht die bei den heutigen Mainstream-Ökonomen geläufige Terminologie der stochastischen Prozesse, denn die Theorie des ergodisch-stochastischen Systems wurde erst 1935 von der Moskauer mathematischen Schule der Wahrscheinlichkeitsrechnung entwickelt und im Westen erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs bekannt, als Keynes schon nicht mehr lebte. Für ihn lag Unsicherheit dann vor, wenn es keine wissenschaftliche Basis für die Berechnung der Eintrittswahrscheinlichkeit eines bestimmten Ereignisses gibt.13
Mit der Entwicklung der ergodisch-statistischen Theorie wurde es jedoch möglich, das Keynes’sche Konzept der Unsicherheit in diese Terminologie zu übersetzen.14 Die Theorie von Keynes setzt bei den ökonomischen Entscheidungsträgern die Einsicht voraus, dass in dem Marktsystem, in dem sie handeln, die Zukunft ungewiss ist und nicht auf der Basis von statistischen Analysen der Vergangenheit verlässlich vorhergesagt werden kann. Selbst wenn die Wirtschaftssubjekte Marktdaten aus der Gegenwart und der Vergangenheit erhalten und verarbeiten könnten, so wären die Beobachtungen in einem solchen nicht-ergodischen Umfeld keine statistisch verlässliche Basis für eine Vorhersage von Wahrscheinlichkeitsverteilungen, und diese Beobachtungen könnten auch nicht die Ergebnisse heutiger ökonomischer Entscheidungen zu irgendeinem Zeitpunkt in der Zukunft bestimmen. »Für Dinge, die in der Zukunft liegen, gibt es keine wissenschaftliche Basis, die die Berechnung einer Wahrscheinlichkeit erlaubt. Wir wissen einfach nicht, was geschehen wird.«15 Keynes argumentierte also im Kern, dass die Ökonomie eine nicht-ergodische Wissenschaft sei.
Keynes’ Konzept der Unsicherheit beinhaltet, dass die Zukunft veränderbar oder gestaltbar ist in dem Sinn, dass Art und Inhalt zukünftiger Ergebnisse permanent durch das heutige Handeln von Individuen, Gruppen (zum Beispiel Gewerkschaften, Kartelle) und/oder Regierungen beeinflusst werden können. Dies geschieht oft sogar, ohne dass sich die Betreffenden dieser Einflussnahme bewusst sind. (Es ist auch möglich, dass unvorhergesehene Veränderungen völlig ohne bewusstes wirtschaftliches Handeln der Menschen eintreten.)
Diese nicht-ergodische Sichtweise auf die Unsicherheit im wirtschaftlichen Handeln beschrieb der Nobelpreisträger Sir John Hicks einmal damit, dass die Menschen im Modell »nicht wissen, was passieren wird, und sie wissen, dass sie nicht wissen, was passieren wird. Wie in der Geschichte!«.16
Warum macht es einen Unterschied für die Beurteilung der Rolle der Regierung im ökonomischen Prozess, wenn man – wie die Mainstream-Ökonomen – das ergodische Axiom akzeptiert? Samuelson, Lucas und andere übernehmen explizit oder implizit das ergodische Axiom, weil sie an die Ökonomie den Anspruch stellen, zu den »harten« Wissenschaften, wie es zum Beispiel die Astronomie ist, zu gehören. Die Astronomie basiert auf der Annahme eines ergodisch-stochastischen Prozesses, der die Bewegungen aller Himmelskörper steuert, vom Moment des Urknalls bis zum Ende des Universums. Folglich erlauben statistische Analysen von Bewegungsmessungen in der Vergangenheit der Himmelskörper den Astronomen die sekundengenaue Vorhersage künftiger Sonnenfinsternisse.
Weder der Kongress oder der Präsident der Vereinigten Staaten, weder die Vereinten Nationen noch die Umweltschutzbewegung sind jedoch in der Lage, irgendetwas zu tun, das die vorbestimmten Daten und die Zeiten künftiger Sonnenfinsternisse ändert. So kann zum Beispiel der Kongress kein durchsetzbares Gesetz erlassen, das die Sonnenfinsternis verbietet, um mehr Sonnenschein zu haben und so den Ernteertrag zu steigern.
In einer ergodischen Welt sind alle zukünftigen Ereignisse schon vorherbestimmt und können nicht durch menschliches Handeln verändert werden. In einer nicht-ergodischen Welt dagegen kann menschliches Handeln die Zukunft gestalten. Das hat Folgen für die Rolle der Regierung in einer Volkswirtschaft. Wenn man annimmt, dass Ökonomie ein ergodischer Prozess ist, kommt einer Regierung nicht die Rolle zu, die Zukunft zu beeinflussen, da diese ja schon feststeht. Wenn die Ökonomie eine ergodische Wissenschaft wie die Astronomie ist, dann muss die Regierung eine Laissez-faire-Haltung gegenüber dem Wirtschaftsgeschehen einnehmen. Wenn es sich aber bei der Ökonomie um eine nicht-ergodische Wissenschaft handelt, dann kann ein angemessenes Eingreifen einer Regierung die wirtschaftliche Zukunft so gestalten, dass die Menschen bessere Lebensbedingungen vorfinden als unter einem Laissez-faire-System.
Sparen als Ausweg aus der Verschuldung?
Menschen wissen aus Erfahrung, dass man die Zukunft nicht kennen kann. Wie können sich private Haushalte und Unternehmen dann vor dem Eintritt ungünstiger Ereignisse schützen, die ihre Einkünfte und damit ihren Lebensstandard und Lebensgrundlage in der Zukunft beeinträchtigen?
Unsere moderne kapitalistische Gesellschaft hat versucht, den Menschen durch gewisse Regeln eine teilweise Kontrolle über ihre unsichere wirtschaftliche Zukunft zu verschaffen. In kapitalistischen Wirtschaftssystemen dienen das Geld und auf Geld lautende, rechtlich bindende Verträge dazu, den Produktionsprozess und den Handel mit Gütern und Dienstleistungen auf dem Markt zu organisieren. Dieses System erlaubt es einzelnen Haushalten und Unternehmen, zukünftige Zu- und Abflüsse finanzieller Mittel und damit auch ihr Geldeinkommen und ihre Ausgaben in der Zukunft in gewissem Umfang zu kontrollieren.
So schließen private Haushalte auf Geld lautende Verträge, mit denen sie sich auf Mietzahlungen oder die Bedienung von Hypothekendarlehen auf ihr Wohneigentum festlegen, und sie unterschreiben Verträge, die sie zu Zahlungen an Unternehmen als Gegenleistung für die Versorgung mit Gas, Strom und Kommunikationsdienstleistungen verpflichten. Durch diese Verträge erhalten die Haushalte eine gewisse Sicherheit in Bezug auf die Kosten in wichtigen Bereichen ihrer Lebenshaltung zum gegenwärtigen Zeitpunkt, aber auch auf Monate und vielleicht Jahre hinaus. Zugleich erhalten die Vertragspartner (die Unternehmen) rechtlich bindende Zusagen auf gegenwärtige und zukünftige Geldzuflüsse; die Unternehmen können damit ihre heutigen und die erwarteten zukünftigen Produktionskosten decken und aus der Lieferung der Güter oder Dienstleistungen einen Gewinn erzielen. Auf Geld lautende Arbeitsverträge verschaffen den Firmen Kontrolle über die gegenwärtigen und zukünftigen Arbeitskosten ihrer Produktion, während sie den Arbeiternehmern zumindest eine teilweise Kontrolle über ihre gegenwärtigen und zukünftigen Einkommen erlauben.
Einzelpersonen, private Haushalte und Firmen gehen freiwillig solche Verträge ein, denn jede Partei glaubt, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, die sich aus den Bedingungen der vertraglichen Übereinkunft ergebenden Verpflichtungen zu erfüllen. Indem sie eine vertragliche Vereinbarung eingehen, verschaffen sich die Menschen auch in einer Welt der Unsicherheit ein gewisses Maß an Vorhersagbarkeit im Hinblick auf ihre vertraglich festgelegten finanziellen Zu- und Abflüsse.