Heitere Philosophie - Josef Seifert - E-Book

Heitere Philosophie E-Book

Josef Seifert

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Beschreibung

Warum sollte Philosophie, die sich eigentlich an jeden Menschen richtet, immer in trockener Sprache und in Büchern dargestellt werden, die wenige Leser anziehen und von noch wenigeren verstanden werden? Das vorliegende Werk gräbt Schätze tiefsinniger philosophischer Einsichten aus, die Johann Nestroy uns im attraktiven Gewand brillanter Sprachspiele, "metaphysischer Komplimente", unterhaltsamer Couplets und sprühenden Witzes schenkt. Damit erfüllt es einen Herzenswunsch Johann Nestroys, der sich als Hauptdarsteller seiner eigenen Komödien häufig über wiehernde Lachsalven seines Publikums ärgerte und uns wissen ließ, daß sich unter dem meist heiteren, manchmal auch tragischen Gewand seiner Komödien tiefe Erkenntnisse über den Menschen, die Welt, die Wahrheit, die Gerechtigkeit und Ehrlichkeit und das absolute Gute verbergen, die erst der nachdenkliche Leser entdeckt.

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Seitenzahl: 307

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Impressum

1. Auflage2016

© Patrimonium-Verlag

In der Verlagsgruppe Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Erschienen in der Edition »Patrimonium Philosophicum«

Patrimonium-Verlag

Abtei Mariawald

52396 Heimbach/Eifel

www.patrimonium-verlag.de

Herstellung und Vertrieb:

Druck & Verlagshaus Mainz GmbH

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.verlag-mainz.de

Abbildungsnachweis(Umschlag):

Johann Nestroy, Lithografie von Josef Kriehuber, 1839

https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Nestroy#/media/

File:Johann_Nepomuk_Nestroy.jpg

ISBN-13: 978-3-86417-092-8

Vorwort

Nestroy – ein Philosoph?1

Daß Johann Nestroy, der seine Theaterlaufbahn übrigens als Opernsäger anfing und Bassrollen wie Sarastro in Mozartopern sang, der Autor erstrangiger Komödien ist, die durch einen besonders umwerfenden und scharmanten, typisch österreichischen und wienerischen Witz und durch brillante Wortspiele charakterisiert sind, und daß es unter seinen zahlreichen Stücken einige wahre Meisterwerke gibt,2 wird kaum jemand bestreiten. Aber JohannNestroy als Philosoph? Es kann durchaus befremden, einen so häufig zum Sarkasmus, ja nach der Meinung mancher zum Zynismus und in seinem Leben und Werk zur extremen Leichtfertigkeit neigenden Komödiendichter wieJohannNestroyalsPhilosophen zu bezeichnen. Und doch ist Nestroyein durchaus philosophischer Autor, der in seinen Stücken und Couplets nicht nur oft Perlen von Menschen­beobachtung ausstreut, die zumindest implizite philosophische Erkennt­nisse enthalten, sondern der auch häufig echte philosophische Einsichten zum Ausdruck bringt, die es nur ins volle Bewußtsein zu heben gilt, um den philosophischen Gehalt seiner Werke zu erweisen.

Doch muß dieses sich Bewußtmachen des philosophischen Gedankens Nestroys ausdrücklich vollzogen werden. Denn das leichte komödiantische Gewand derNestroy‘schenPhilosophieist dazu angetan, ihren Tiefsinn zu übersehen und nicht zu bemerken, wie hervorragende philosophische Betrachtungen unser genialer Komödien­dichter anstellt. Ja man könnte den Wiener Aristophanes durchaus als Philosophen in einem eigentlicheren Sinn bezeichnen als wenn man jemanden nur deshalb Philosoph nennt, weil er über die ewigen Fragen der Philosophie Bonmots zum besten gibt – so entwickelt sind seine Erkenntnisse über das Wesen der Dinge.3

Außer ausdrücklich philosophischen Einsichten in Nestroys Werken ergibt eine aufmerksame Lektüre seiner Stücke und Couplets, daß noch zwei weitere Beziehungen seiner Komödien zur Philosophie bestehen.4 Zum einen philosophiert er im Gewand einer besonderen Art von dichterischen, vornehmlich ironischen Bemerkungen, bei denen der philosophische Gedanke im suggerierten Gegenteil des in der Komödie Gesagten liegt, so etwa wenn der Refrain seines Wahrheits-Couplets lautet »Ah, d’Wahrheit is in gute Händ’.« Hier liegt der philosophische Gehalt nicht in der buchstäblichen Aussage, sondern in jener, die der verständige Leser im Gegenteil des buchstäblich Gesagten finden wird.

Noch in einer anderen Weise ist Nestroy, wie übrigens viele andere Dichter auch, philosophisch. Er stellt viele Betrachtungen an, die nicht in sich philosophisch sind, die aber Phänomene wie die Langeweile, die Dummheit, den Neid oder die Eifersucht so treffend charakterisieren, daß die dichterisch gestaltete Wirklichkeit gleichsam an die Schwelle einer philoso­phischen Erkenntnis heranführt und es einem wesentlich leichter macht, zur schon halb formulierten philosophischen Einsicht durch­zustoßen, als wenn man nur die alltägliche Erfahrung zum Ausgangs­punkt nähme. Man könnte hier von der literarischen oder poetischen Wahrheit reden, die darin besteht, daß die Dichtung die Wirklichkeit nicht naturalistisch wiedergibt oder nachahmt, sondern – indem sie sie nachahmt oder in sprachlich-gedanklichen Ausdruck faßt – sie selbst zwar darstellt, wie sie ist, aber zugleich über ihre bloße naturalistische und gleichsam fotografische Wiedergabe hinaus ein intuitives Verstehen ihrer wahren Eigenart zum Ausdruck bringt. So wird die Dummheit in der Theaterdichtung nicht nur auf die Bühne gebracht, wie sie leibt und lebt, sondern tritt in ihrem Wesen als Dummheit hervor, was in der Besprechung der wahrhaft genialen Texte Nestroys über die Dummheit etwas ausführlicher erörtert werden soll.

Aus all dem geht auch hervor, daß man weder die als solche kaum interessante Privatphilosophie Nestroys historisch erklären noch ihn buchstäblich aus einem Komödien-Dichter zu einem Philosophen machen will, der in systematisch-philosophischer Weise diese oder jene philosophische Idee vertreten hat, wenn man die implizite in seinen Komödien steckenden philosophischen Einsichten entfaltet. Solches zu unternehmen wäre eine sinnlose Übung in einer irregeleiteten pedantischen Pseudo­wissenschaft und würde übersehen, daß Nestroys Privatphilosophie weder entwickelt noch interessant ist und daß man auch aus seinen Stücken kein verstecktes »philosophisches System« herausdestillieren kann. Solcher Unsinn wird im folgenden weder behauptet noch wäre die Privatphilosophie und Weltanschauung Nestroys von besonderem Interesse, es sei denn von einem rein biographischen Gesichtspunkt aus, der nicht unser Thema ist. Seine zahlreichen philosophischen Einsichten, die in seine Texte eingestreut sind, hat er vielleicht nur als Komödiendichter gehabt und formuliert, nicht notwendigerweise auch als Privatmann oder Denker, auch wenn man Letzteres annehmen darf. Es ist aber hier nicht unser Thema.

Ob daher jene Philosophie Nestroys, die es im folgenden zu entwickeln gilt – biographisch gesehen – wirklich den Inhalt des philosophischen Denkens des Privatmanns Nestroy ausmacht, das ist hier nicht die Frage. Es ist ja letztlich nicht einmal wirklich interessant, ob ein großer Philosoph wie Platon im historisch-biographischen Sinne wirklich die in seinen Werken dargelegten Gedanken gedacht hat oder man aus den meisten Lesern verborgenen heimlichen Andeutungen oder privaten Aufzeichnungen erschließen kann, daß er ganz anderer Meinung war als es dem Leser seiner Schriften scheinen muß,5 sondern nur, worin die echten philosophischen Erkenntnisse bestehen, die in seinem Werk niedergelegt werden.

Aber während wir in einem Buch über Platons oder Aristoteles’ Philosophie aus Respekt vor diesen großen Denkern möglichst umfassend den Inhalt und wirklichen Sinn der philosophischen Thesen, die im Corpus des platonischen oder aristotelischen Werkes zu finden sind, erklären müßten, haben wir bei unserem Versuch, mit JohannNestroy zu philosophieren, eine zusätzliche Freiheit. Wir können philosophische Thesen, die uns töricht oder dumm erscheinen, einfach von unserer Betrachtung weglassen, sei es, daß man nicht ernsthaft annehmen darf, daß Nestroy sie vertreten hat, sondern erkennen muß, daß er sie nur zur Charakterisierung eines von ihm in keiner Weise als Sprachrohr betrachteten Charakters verwendete, sei es, daß sie jene Tiefe der philosophischen Einsicht vermissen lassen, um deren Herausarbeitung es uns geht. Wir werden die Aussagen jener Charaktere seiner Stücke betrachten, von denen manche Nestroy-Interpreten in leicht überzogener Weise bildhaft behaupten, sie hätten Nestroy nur als Kleiderstöcke gedient, an denen er seine eigenen Gedanken aufgehängt habe.

Was hat mich dazu bestimmt, ein Buch über Johann »Nestroy als Philosoph« zu schreiben? Es herrscht in seinem Witz eine zugleich brillante und menschliche Note, die mich mit dazu bestimmte, als Student und Assistent an der Universität Salzburg das »Salzburger Zimmertheater«, eine Laienbühne, zu gründen, die sich neben Aufführungen Moliere’scher Stücke vorwiegend Aufführungen von Nestroy-Stücken widmete. Fast wäre ich über meine Begeisterung für Nestroy und den Rat eines Burgschauspielers, der meine Aufführungen bemerkenswert fand, Schauspieler geworden, wie später einige andere Mitglieder unseres Laien-Theaters. Auch in Texas – in der deutschstämmigen Stadt Fredericksburg und im Rahmen eines Wettbewerbs, dessen ersten Preis wir gewannen, führten wir an der University of Dallas und in Arlington, Texas Nestroys Der Zerrissene und andere Komödienauf.

Warum dieses besondere Verhältnis eines schon zur Zeit meiner Entdeckung Nestroys der Philosophie ergebenen Studenten zu Nestroy? Vielleicht war es sowohl der gewisse Kontrast zwischen Philosophie und Komödie, den man in seinem Hobby sucht, vielleicht aber war es gerade auch das Philosophische in Nestroys Witz und Humor, was mich sosehr zu ihm hinzog, ähnlich wie ich mich zum Schachspiel als Hobby hingezogen fühle und in ihm viele Beziehungen zur Philosophie entdeckte.6

Nestroy – ein österreichischerPhilosoph?

Wird jemand als ›österreichischer‹ Philosoph apostrophiert, so bedeutet dies zunächst einfach, daß der betreffende Philosoph Österreicher war, so wie wir andere Denker italienische oder französische Philosophen nennen, weil sie Italiener oder Franzosen waren. Doch meine ich mehr, wenn ich Nestroy als »österreichischen Philosophen« bezeichne und schreibe seinem Denken eine besondere nationale Qualität des ›Österreichischen‹ zu. Deshalb sollte ich ein Wort über das Österreichische in der Philosophie sagen: Dabei ist es selbstverständlich nur unter großen Vorbehalten zulässig, in der Philosophie, wo es um Wahrheit und Falschheit und damit notwendig um universale Wahrheits­ansprüche, die sich an jeden Menschen richten, geht, von nationalen Charakteren zu sprechen, wenn dies auch immer wieder mit Bezug auf die griechische, römische, deutsche oder französische Philosophie mit gewissem Erfolg getan wird und Buttiglione vor langer Zeit eine bemerkenswerte Philosophie des ›Österreichischen in der Philosophie‹ entwickelt hat.7

Wenn auch philosophische Wahrheit oder Falschheit unabhängig von allen besonderen nationalen Charakteren ist, so wirkt sich dennoch der Genius einer Nation jeweils, wie in der Kunst, so auch in der Philosophie aus. Dabei gibt es freilich, je nach der individuellen Persönlichkeit und vor allem je nach den Inhalten von Gedanken, die Möglichkeit, daß selbst die für den Geist einer Nation charakteristischen Momente sich in jeweils verschiedener, ja oft gegensätzlicher Weise ausprägen oder besser: daß es innerhalb derselben Nation und kulturellen Identität radikal verschiedene und gegensätzliche Ausprägungen gibt. Diese verschiedenen Seiten können, von einem Wertgesichtspunkt aus gesehen, komplementär, aber auch konträr sein, wie etwa im Gegensatz zwischen den besonderen einer Nation anvertrauten Wertbereichen und ihren spezifischen Gefahren. Daher können auch für eine Nation in jeweils verschiedener Weise typische Philosophen radikal verschiedene Thesen vertreten. Dazu möchte ich zwei Dinge anmerken. Erstens weisen echte philosophische Einsichten viel größere und tiefere Ähnlichkeiten mit denselben oder ähnlichen Einsichten aus völlig anderen kulturellen Welten auf als mit den entgegengesetzten Ideen innerhalb derselben Nation, auch wenn beide ein gewisses verbindendes »nationales Gepräge« tragen wie etwa Descartes’, Pascals und Sartres Philosophien, die alle in je verschiedener Weise ›typisch französisch‹, aber in ihrem substantiellen Gehalt viel ähnlicher gewissen antiken, deutschen oder englischen Denkern sind. Ähnliches gilt für die Philosophie bestimmter Zeitalter, die zwar auch durch ein gemeinsames Band ›mittelalterlicher‹, ›neuzeitlicher‹ oder ›zeitgenössischer‹ philosophischer Stile verbunden, aber im übrigen oft radikal gegensätzlich sind.8 Daher ist auch das typisch Österreichische in Nestroys philosophischen Einsichten viel weniger interessant als die übernationale Wahrheit, die er sieht.

Man sollte weiters, wenn man überhaupt von der nationalen Eigenart, wie sie sich in einer Philosophie ausprägt, redet, in einer ›platonischen‹ Wende und Erkenntnis des Wesens der Nation zuallererst den nur von objektiven Werten her bestimmbaren ›wahren Logos‹ einer Nation von dessen Zerrbildern und Antithesen klar unter­scheiden, die zwar auch am Charakter der Nation teilhaben, aber einen Verrat an deren wahrem Wesen darstellen und typische Entgleisungen und Gefahren dieser Nation sind, die ihrem eigentlichen Genius widersprechen. Ähnlich wie bei individuellen Personen kann man die wahre Identität einer Nation nur im Wertvollen und Wahren erblicken, dessen besondere individuelle Ausprägung oder Verteidigung einer Nation gleichsam als deren ›Wort‹ (Logos) und besondere Stimme im Konzert der Nationen und Zeitalter anvertraut ist. Dies ist auch das Prinzip einer idealen Gemeinschaft und inneren bereichernden Einheit aller Nationen, die nur erreicht werden kann, wenn ihre Glieder diese wahren Werte leben und die Angehörigen anderer Nationen nicht nur die besondere Schönheit des Logos der eigenen Nation, sondern auch jene anderer Nationen achten und lieben. Nur so kann auch Frieden unter den Nationen und Völkern eintreten.9 Wenn man hingegen selber den Gefahren der eigenen Nation erliegt und die Vertreter anderer Nationen in einem dummen Nationalstolz oder gar einem Fremdenhaß nur im Licht der Zerrbilder und Abirrungen dieser nationalen Charaktere betrachtet, entstehen Unfrieden, Krieg, Rivalität, Ausländerfeindlichkeit und andere Übel bis hin zu den Greueln der Nazizeit. Daher ist es ganz wichtig zu erkennen: die nationalen Abirrungen – so typisch sie für die Vertreter einer Nation und so weit verbreitet sie unter diesen sein mögen – sind niemals Teil des wahren Wesens einer Nation und dürfen daher auch nicht als deren Verkörperung, sondern müssen als deren Verrat oder Entstellung betrachtet werden.

An dieser Stelle muß ich deshalb auch gestehen, daß ich etwa den Positivismus des Wiener Kreises, oder einen gewissen, von Idealen und hohen Werten, vor allem moralischen, freien literarischen Stil, wie er sich etwa in ›typisch österreichischer‹ Weise bei einem so genialen Schriftsteller wie Robert Musil findet, für Dekadenz­er­scheinungen halte, die keineswegs zum Wesen des Österreichischen gehören, so sehr sie auch in der Philosophiegeschichte und Literaturgeschichte als ›typische Erzeugnisse‹ österreichischen Geistes gelten. Doch waren von diesen Elementen andere, spezifisch österreichische Denker, Komponisten und Dichter wie Bernard Bolzano, Georg Trakl, Josef Weinheber, Adalbert Stifter, Franz Grillparzer, und erst recht Mozart, Haydn, Schubert oder Bruckner, die den Genius der österreichischen Nation in ihren Werken verkörpern, völlig frei. Zwar liegt eine Form dekadenter, leichtfertiger oder zynischer Wertfreiheit und ein nihilistisch-resignierter Zug einer Reihe von genialen österreichischen Autoren näher als z.B. deutschen oder Schweizer Autoren, und liegt in einer positivistischen und Werte niedermachenden Haltung – in einer besonderen pessimistisch-defaitistischen, ja raunzigen Gestalt – eine spezielle Versuchung des österreichischen Geistes. Doch steht das Eigentliche des österreichischen Wesens, das Wahre im österreichischen Nationalcharakter, im typischen Gegensatz zu diesen nationalen Übeln.

Man bedenke noch einmal, daß jede Nation ihre spezifischen positiven Züge, ihren eigentlichen Genius, wie auch ihre spezifischen Perversionen besitzt, ähnlich wie jede individuelle Person. Und um das Wesen eines Individuums oder einer Nation zu begreifen, muß man immer vor allem diesen positiven Genius und Logos der Persön­lichkeit oder der Nation ins Auge fassen. Nur daraus kann auch echte Liebe zu einer Person, echte Heimatliebe und eine positive, nicht-nationalistische Liebe zu jener überindivi­duellen Kulturgemeinschaft der eigenen Nation, in der man viele geistige Wurzeln hat und sich beheimatet weiß, sowie auch Liebe zu einer fremden Nation, zu ihrer Sprache, Kultur, sowie positiven historischen Taten ent­springen.10

Greifen wir einige Momente heraus, die für eine österreichische Philosophie in unserem Sinn charakteristisch sind:

Da ist einmal ein enger Sachbezug, der sich von gewagten und gewaltsamen Theorien fernhält, als Merkmal der österreichischen Mentalität zu nennen – gegenüber den oft kühneren und mitunter genialeren, aber häufig gewaltsameren Systemen und Gedankengängen vieler deutscher Philosophen. Es ist nicht reiner Zufall, daß die Phänomenologie mit ihrem Ruf ›zurück zu den Sachen‹ in Österreich entstanden ist. Sie ist vielleicht der wahrste Ausdruck des österreichischen Geistes in der Philosophie, wenn auch mit die größten Meister dieser in Österreich entstandenen philosophischen Bewegung11 Deutsche waren.12 In diesem Sinne ist Nestroy zweifellos ein typisch österreichischer Denker, der mit einer meisterhaften und phänomenologischen Einstellung zahlreiche Phänomene analysiert, wie z.B. die Dummheit und sich in seinen treffsicheren Analysen von künstlichen Theorien ganz fernhält.

Selbstverständlich ist ›schlichte Sach­nähe‹ und jener Realismus, den Rocco Buttiglione der österreichischen Philosophie auch aus dem Grund ihrer Verbundenheit mit der katholischen Kirche, die Österreich so stark prägt, zuerkennt,13 kein aus­schließ­licher Zug des Österreichers, was zu behaupten töricht wäre. Dies schließt jedoch nicht aus, daß gewisse allgemein dem Menschen zukommende Eigenschaften in der einen oder anderen Nation gleichsam besondere Wurzeln schlagen und deshalb für den betreffenden Nationalcharakter prägend werden können, wie die kindliche und sympathische Offenheit für das Amerikanische, Eleganz und leibliches, aber auch spirituelles Raffinement für das Französische, klassische Natürlichkeit, ein Sinn für das schlicht-Erhabene und ur­wüchsige Ausdruckskraft, sowie ciceronische sprachliche Eleganz und Klarheit, wie sie etwa zur Allgemeinverständlichkeit und dem unvergleichlichen Erfolg der Werke Giovanni Reales geführt haben, für das Italienische. Diese Werte sind für die betreffende Nation typisch und finden gleichsam in ihren Angehörigen einen besonders fruchtbaren Boden, der sich freilich mit dem in allgemeinen Begriffen unaussagbaren besonderen Caché dieser Nation und dessen wiederum individueller Ausformung in dieser oder jener Gestalt verbindet.

Wenn man also in diesem Sinne eine schlichte Sach- und Wirklichkeitsnähe als einen für den Genius der österreichischen Nation besonders wichtigen Zug bezeichnen darf, ist Nestroy zweifellos ein typisch österreichischer Denker, der mit einer meisterhaften und phänomenologischen Einstellung zahlreiche Phänomene analysiert, wie z.B. die Dummheit, und sich in seinen treffsicheren Analysen von künstlichen Theorien ganz fernhält.

Gerade in dieser Hinsicht ist Nestroys Philosophie und die spezifisch österreichische Philosophie übrigens auch mit einer philosophischen Richtung verwandt, die in der schottischen und englischen Philosophie erblühte, mit der Common sense Philosophie oder der Common sense View-Philosophie, wie sie heute etwa von Barry Smith oder von Avrum Stroll vertreten wird.14

Eine gewisse Ausgewogenheit, die sich von fanatischen und extremen Positionen fernhält, ist gleichfalls eine typisch österreichische Eigenschaft, die sich mehr von einer spezifisch deutschen Gefahr15 als von entsprechenden österreichischen Gefahren abhebt, wenn diese Ausge­wogenheit und maßvolle Art auch von ganz verschiedenen Gründen bedingt oder motiviert sein kann. Idealerweise gründet sie in einer inneren Ordnung und Ausgewogenheit der geistigen Natur des Österreichers, die der Harmonie und Schönheit des Landes verwandt sind, wie sie etwa Franz Grillparzer in seinem schönen, wenn auch etwas idealisierenden Charakterbild des Österreichers in König Ottokars Glück und Ende beschreibt.16

Manchmal mögen die Abgeneigtheit dem Fanatismus und der geistigen Zerstücklung österreichischer Denker freilich ihre Wurzel auch einem schwächeren willentlichen oder intellektuellen Charakter mancher österreichischer Philosophen haben, die die eigenen Positionen selten mit jener inneren Konsequenz vertreten wie deutsche Denker, aber gerade dadurch manchmal von gefährlichen Ideologien und geistiger Gewalttätigkeit verschont bleiben.

Man muß sich allerdings bei der Beschreibung des Genius der österreichischen Nation offen eingestehen, daß seit Josef Weinheber und anderen österreichischen Dichtern und Komponisten, die diese Eigenschaften, deren einzigartige Inkarnation Mozarts Werk ist, in hohem Maß besitzen, diese traditionelle österreichische Eigenschaft einer inneren Ausgewogenheit und ›leicht‹ wirkenden Perfektion in der tatsächlichen österreichischen Kultur immer mehr einem provinziellen und defaitistischen Geist Platz macht, der gewissermaßen das Zerrbild des eigentlichen Öster­reichischen ist.

Nestroy jedoch besitzt zweifellos – bei allen radikalen und kritischen, und mitunter sogar zynischen und dekadenten Momenten – eine sehr ausgewogene und unfanatische philosophische Position, die in besonderer Weise das Ideal des Österreichers verkörpert.

Man denke ferner an eine kaum beschreibbare und wiederum für das Österreichische typische Qualität von Anmut und Grazie, oder zumindest von Charme, wie sie wiederum in den vollendetsten Werken österreichischer Kunst hervortritt, etwa im Stift Melk und im Werk Bernhard Fischer von Erlachs, in der Stadt Salzburg oder im österreichischen Barock überhaupt, in dem sich der Genius italienischer Architekten doch in einer Weise dem Österreichischen anpaßt, daß dessen Wesen in einer Altstadt wie jener Salzburgs oder Wiens einen einmaligen Ausdruck findet.17 Vor allem aber erlangt neben einer alle nationalen Charaktere überschreitenden universalen und allgemeingültigen Schönheit auch der Ausdruck des Genius der österreichischen Nation in der Musik Joseph Haydns, Wolfgang Amadeus Mozarts und Franz Schuberts, und auf einer anderen Ebene natürlich der Musik von Johann Strauss, seine Vollendung. Wenn man also einen besonderen Charme und eine gewisse Anmut und Leichtigkeit als ein weiteres wesentliches Prädikat des wahren Logos der Österreichischen Nation bezeichnen darf, dann ist diese Eigenschaft bei Nestroy in Form eines freilich viel weniger poetischen und klassisch-reinen, aber doch zauberhaften wienerischen Charmes vorhanden, wie er selbst innerhalb der österreichischen Literatur und unter anderen Österreichern seines­gleichen sucht.18 Nestroys Werk, wenn man es nicht ins Vulgäre und Zotenhafte herunterzieht, was manchmal seine eigene Gefahr gewesen sein dürfte,19 besitzt einen unvergleichlichen geistreichen Charme. Ja wenn man an die humorvolle und zugleich witzige Version dieses österreichischen und spezifisch wienerischen Nestroy-Charmes denkt, muß man sagen, daß kaum ein Dichter österreichischer ist als Nestroy und daß dieser wahrhaft seinen Titel eines »österreichischen Aristophanes« verdient; gerade wenn man ihn mit seinem griechischen Urbild vergleicht, sticht das völlig Neue des Österreichischen bei Nestroy in die Augen.

Schließlich ist auch ein gewisser Realismus, der sich von phantastischen utopischen Gedanken ebenso fernhält wie von einem Idealismus, der die ganze Wirklichkeit nur als Produkt der Subjektivität deutet, zumindest für die historisch gewachsene österreichische Philosophie von Bolzano bis Brentano, Meinong, Mally, u.a. charakteristisch. Und auch im Sinne dieses Realismus hinsichtlich der Unrealisierbarkeit von Utopien auf Erden, der Hinfälligkeit des Lebens, aber auch der vom menschlichen Bewußtsein völlig unabhängigen Existenz und Wesensstruktur der Wirklichkeit ist Nestroy ein durch und durch österreichischer Philosoph. In einem Realismus der Werte, die nicht als Setzungen des menschlichen Geistes oder als Synthesen der praktischen Vernunft, sondern als vorgefundene Wirklichkeiten erkannt und anerkannt werden, finden dieser Realismus und diese Ethik einen besonderen und anziehenden Ausdruck. Obwohl ein anti-kantischer und empiristischer Wert­subjektivismus wie derjenige von Moritz Schlick oder Sigmund Freud oder auch der subjektivistische Rechtspositivismus eines Hans Kelsen für die österreichische Philosophie sehr einflußreich waren, so sehe ich darin doch eher einen Verrat nicht nur des allgemein Menschlichen, das objektive Werte anerkennt, sondern auch der spezifisch österreichischen Ausprägung des Menschlichen, für die ein besonders feiner Sinn für die allen Wertungen vorgegebenen Werte und für die Notwendigkeit eines Erlauschens und Erfassens objektiver Werte charakteristisch ist.

Es ist der von einer Hybris der Wertsetzungen freie Wertrealismus, wie er in Franz Brentanos Schrift Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis seinen Ausdruck findet, der auch bei Nestroy eine charakteristische und eindrucksvolle Gestalt gewinnt, wenn auch gerade diese Seite von den meisten Kritikern Nestroys verkannt wird, die in ihm – im Gegensatz zu Ferdinand Raimund, einem weniger philosophischen, aber höchst liebenswerten österreichischen Komödien­dichter – den alles zersetzenden und auflösenden Zyniker sehen. In Wirklichkeit ist jedoch der Wertobjektivismus und die zentrale Rolle ethischer Aspekte ein für Nestroy wesentlicher Aspekt – ein Gesichtspunkt, unter dem er sich vom erwähnten Zerrbild des »typisch österreichischen« Zynikers unterscheidet – wenn ihn auch manche Züge mit diesem verbinden.

Der Realismus und die Ausgewogenheit der spezifisch öster­reichischen geistigen Qualität in der Philosophie finden dort einen besonders bemerkenswerten Ausdruck, wo sie sich mit der eher deutschen oder auch englischen und in Shakespeares Werk einen absolut überragenden Höhepunkt erreichen­den Eigenschaft der Umfassendheit der dramatischen Themenstellung verbinden. Diese ist zwar eher für den deutschen, und wohl noch mehr für den griechischen Geist als für den österreichischen kennzeichnend, aber erfährt doch in typisch österreichischen Autoren wie Grillparzer, Stifter u.a. und auch in der weiten philosophischen Fragestellung eines Franz Brentano eine besondere österreichisch-universale Ausprägung, die eher aus dem alten Österreich einer übernationalen Staatengemeinschaft erwach­sen ist als aus dem neuen, oft ausländer­feindlichen und chauvinistisch-provinziellen Österreich, das allerdings durch die seit 1989 eingetretene Öffnung zum Osten hin wohl wieder manches von seiner früheren Bedeutung und Universalität wiedergewinnen mag. Wenn wir an das breite Spektrum von Themen denken, die etwa Brentano behandelt – von Fragen der Erkenntnistheorie, Ethik und Psychologie angefangen bis hin zu der Gottesfrage und Theodizee – und wenn wir darin ein Moment typisch österreichischer Universalität erblicken, so finden wir bei Nestroy ein für Komödien seltenes und ähnlich breites Spektrum behandelter Themen. Ja man könnte hier noch einmal eine andere Universalität unterscheiden, die weniger in der Themenstellung als vielmehr darin besteht, im Sinne einer übernationalen Staatengemeinschaft die Beiträge von Philosophen ganz verschiedener Hintergründe zu vereinen, ohne dabei notwendig in einen Synkretismus oder Eklektizismus zu verfallen. Es geht dabei vielmehr um eine in besonderem Sinne übernationale Philosophie, um den Versuch, eine universal verbindliche Philosophie, die nicht nur historisch-kulturelle nationale Eigenheiten auf den Begriff bringt, zu entwickeln.

Schließlich kann man es als Merkmal des wahren Österreichers oder des Ideals des Österreichers bezeichnen, daß seine Weltsicht einen gewissen Anti-Reduktionismus, wie er übrigens für den Common Sense als solchen kennzeichnend ist,20 enthält. Dies als typisch österreichisch anzusehen klingt nahezu wie eine unverschämte Fehleinschätzung des eigenen Nationalcharakters, da gerade die ›nothing but‹-Methode des Reduktionismus im Wiener Kreis (von dessen Vertretern wie Rudolf Carnap alles, was nicht durch Sinneswahrnehmung identifizierbar und verifizierbar, oder wenigstens, wie bei Sir Karl Popper, falsifizierbar ist, als sinnlose Sätze angeschaut wurde) sich in Österreich entwickelt hat; auch feierte der wohl radikalste Reduktionismus in der Geschichte der Psychologie und philosophischen Anthropologie (eine Frucht der Österreichischen Schule der Tiefenpsychologie, vor allem Freuds), in Österreich Triumphe. Dennoch widerstrebt die dem gesunden Menschenverstand verhaftete österreichische – und in dieser Hinsicht wohl auch die süddeutsch-bayrische – Mentalität dem Reduktionismus. Die Dinge beim Namen zu nennen, sie als das zu erkennen, was sie sind, sie jeweils in ihrer Eigenheit zu belassen anstatt sie gewaltsam umzudeuten und auf den Altären irgendwelcher Theorien zu opfern – das ist typisch für die wirkliche und tiefere Ausgewogenheit der österreichischen Seele, für die genaue Naturbeobachtung einer Stifter’schen Novelle, für die phänomenologische Analyse des Gegebenen bei Brentano oder Husserl – und in besonderer Weise auch für Nestroy. Gerade aus diesem Geist entstammt auch die Phänomenologie, wie Johann Wolfgang von Goethe in einer Reihe bemerkenswerter Stellen, in denen er eigentlich als Vater der Phänomenologie betrachtet werden kann, hervorhebt, etwa in der folgenden:

Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ... ist das Erstaunen, und wenn das Urphänomen ihn in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze. Aber den Menschen ist der Anblick eines Urphänomens gewöhnlich noch nicht genug, sie denken, es müsse noch weiter gehen, und sie sind den Kindern ähnlich, die, wenn sie in einen Spiegel geguckt, ihn sogleich umwenden, um zu sehen, was auf der anderen Seite ist.21

Die Betrachtung der tatsächlichen österreichischen Philosophie und vor allem der in Österreich entstandenen realistischen phänomenologischen Bewegung22 bringt uns zu einem anderen und viel leichter beantwortbaren Problem als dem nach dem Wesen des Österreichers, nämlich dem Verhältnis Nestroys zur rein faktischen österreichischen Philosophie. Im Hinblick darauf könnte man Nestroy als einen geistigen Vorläufer jener großen Tradition der realistischen Phänomenologie betrachten, die von Bolzano, Brentano und dem Husserl der Logischen Untersuchungen23 ihren entscheidenden Anstoß empfing, aber auch anderen österreichischen Philosophen der Grazer Gegenstandstheorie – vor allem Alexius Meinong – nahesteht. Damit sei nicht behauptet, daß Nestroy auf diese Philosophie inhaltlich irgendeinen Einfluß gehabt hätte, was sich keineswegs nachweisen läßt, oder daß seine eigenen Einsichten von deren ersten Vertretern beeinflußt worden wären.

Warum es sinnvoll ist, Johann Nestroy als Philosophen zu betrachten

Wichtiger als die Frage nach dem österreichischen Kolorit in Nestroys Philosophie oder nach seiner Verwandt­schaft zu Brentano oder Bolzano, oder auch nach allen in seinen Komödien verstreuten und teils (im Sinne des erwähnten Zerrbildes der Nation »typisch österreichischen«) oberflächlichen philoso­phischen Ideen zu erwägen ist es, die wesentlichen philosophischen Einsichten Nestroys, die als solche selbstredend immer übernationalen Charakter tragen und einfach wahr sind, zu erforschen. Es geht uns also im folgenden um Nestroys philosophische Einsichten in die Wirklichkeit, um ein Philosophieren mit Johann Nestroy!

Vielleicht ist das folgende Unterfangen, das Denken JohannNestroys zu entfalten,24 aber zugleich ein Versuch, den Anlaß zu jener Entrüstung zu beseitigen, die Nestroy bewog, mit scharfem Ärger gegen ein Publikum seiner Stücke zu reagieren, das bloß über sie lachte und den Tiefsinn und die Philosophie in seinen Komödien nicht verstand.

Oft sind übrigens Nestroys philosophische Gedanken und komischen Perlen im Couplet-Werk oder auch in sonst ganz unbekannten oder auch – als Ganzes gesehen – unbedeutenden Stücken verstreut. Außerdem bemerkt sie der Zuschauer oder Leser seiner Stücke kaum, eingestreut in komische und oft unphilosophische Szenen, wie sie sind. Aus all diesen Gründen empfiehlt es sich gewiß, einmal Nestroy den Philosophen zu Wort kommen zu lassen und seine philosophischen Einsichten, die in seinen Stücken weit zerstreut und mehr angedeutet als entfaltet sind, weiter herauszuarbeiten. Was also sind philosophische Einsichten Nestroys, was hat uns Nestroy als Denker zu sagen? Beginnen wir mit ihm über die Sachen selbst zu philosophieren.

1 Der folgende Text wurde in seiner Urfassung für den Österreicher-Verein im Fürstentum Liechtenstein am 15. XI. 1991 als Vortrag gehalten. Die Einleitung enthielt u.a. die folgenden Ausführungen: Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Es freut mich besonders, heute zum ersten Mal den Österreicher-Verein in Liechtenstein, dem ich selbst angehöre, an der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein begrüßen zu dürfen. Sie besonders herzlich willkommen zu heißen ist aus mehreren Gründen nur billig. Abgesehen davon, daß ich selbst Österreicher und Ihr Landsmann bin, ist unsere Hochschule auch nach österreichischem Recht eine ausländische Universität, deren Studienabschlüsse und akademischen Grade in Österreich als gleichwertig mit den an einer österreichischen Universität erworbenen anerkannt werden. Dabei sind wir mit unserem Heimatland besonders verbunden, weil Österreich das erste Ausland war, das uns durch ein zwischenstaatliches Abkommen volle akademische Anerkennung gewährt hat – noch vor der in diesem Jahr erfolgtenAnerkennung in Deutschland und internationalen Anerkennung in den EG-Ländern und in anderen Ländern. Es ist also längst fällig gewesen, einmal eine Veranstaltung zu Ihren Ehren zu halten. Bei der Überlegung, welchen Vortrag ich gerade für Sie halten könnte, fiel meine Wahl auf Johann Nestroy, dessen Werk ich mich seit meinem 14. Lebensjahr mit besonderer Zuneigung verbunden fühle. ...

. ... Als der Österreicher-Verein seinen Besuch an der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein ankündigte, sprach ich zu mir selber in Gedanken: »Du sollst den Österreichern etwas Österreichisches bieten. Österreichischer als Nestroy kann man nicht mehr werden. Unterhaltender kann die Philosophie auch nicht sein als mit Nestroy.« Soviel zur Geschichte dieser Veranstaltung, die mich vielleicht einen Schritt näher an das Projekt heranführt, ein Buch über Nestroy als Philosophen zu schreiben.

2 Unter anderen:Einen Jux will er sich machen; Der Zerrissene; Mädl aus der Vorstadt; Der Talisman; Lumpazi Vagabundus.

3 Nestroy hat nach seinem Überwechseln zu den Rechtstudien die drei im Rahmen seines nicht sehr konsequent absolvierten Studiums der Rechtswissenschaften verlangten Pflichtveranstaltungen in Philosophie an der Universität besucht. Vgl. Johann Nestroy, Gesammelte Werke, 6 Bde, hrsg. v. Otto Rommel (Wien: Anton Schroll & Co., 1962), Bd. I, S. 16. Im folgenden zitiere ich teilweise aus dieser Ausgabe. Die erste römische Ziffer nach dem Namen des Werkes Nestroys gibt den Akt, die arabische Ziffer danach die Szene, die zweite römische Ziffer den Band, die zweite arabische Ziffer die Seitennummer dieser Ausgabe an. Andere Nestroytexte entnehme ich der neueren und besten Ausgabe seiner Schriften: Johann Nestroy: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe – Index und Konkordanz, die in einer digitalen Erfassung sämtlicher Nestroy-Texte inklusive seiner Briefe und Handschriften im Internet zugänglich ist und mit einer auf der Seitehttp://www.nestroy-werke.at/index.php?r=sentence/viewpdf/id/ publizierten und hervor­ragen­den Suchmaschine ausgestattet ist. Aus dieser Ausgabe zitiere ich im folgenden Format, z.B.: Eulenspiegel oder Schabernack über Schabernack (Stücke 9/I, 5/1–78/12), S. 48, (Zeile) 24. Da diese Ausgabe ein wundervolles Instrument der Nestroyforschung ist und Zugang zu allen erhaltenen Schriften des Autors gewährt, war sie mir eine unersetzliche Hilfe für meine Arbeit. Andererseits ist mein Buch kein linguistisches und literaturwissenschaftlich-kritisches, sondern ein philosophisches, das sich an einen breiten Kreis von Philosophie- und Nestroy-Liebhabern richtet. Daher habe ich dort, wo die Texte auch in der Rommel’schen Ausgabe zugänglich sind, diese meist der historisch-kritischen vorgezogen, welche sich primär an Wissenschaftler richtet und die antiquierte Rechtschreibung Nestroys beibehält, was dem heutigen Leser die Freude an der Lektüre seiner Texte etwas erschweren dürfte.

4 Diese beiden weiteren Beziehungen seiner Werke zur Philosophie kommen – zumindest in rudimentärer Form – bei allen Dichtungen vor.

5 Es ist die Neigung von Leo Strauss und seiner Schule, bei allen großen Denkern nachzuweisen, daß ihre wirkliche Meinung eine ganz andere war als die in ihren Werken ausgedrückte. Doch selbst wenn diese esoterische Deutung und Entlarvungshermeneutik Erfolg hätte, so bliebe philosophisch gesehen ausschließlich die Frage bedeutungsvoll, ob die augenscheinliche oder die kryptische Philosophie eines Denkers die wahrere, überzeugendere, adäquatere ist.

6 Vgl. Josef Seifert, Schachphilosophie (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989).

7 Vgl. Rocco Buttiglione, »Saggio Introduttivo: L’Essere e Persona’ di Seifert: Sfondo teoretico e significato di quest’opera«, in: J. Seifert, Essere e persona. Verso una fondazione fenomenologica di una metafisica classica e personalistica. (Milano: Vita e Pensiero, 1989), pp. 9–75, bes. S. 12 ff. Buttiglione sieht als hauptsächliche Merkmale des Österreichischen in der Philosophie vor allem die folgenden: einen Realismus und Anti-Immanentismus und damit auch ein katholisches Prinzip der Anerkennung einer Wirklichkeit und Wahrheit jenseits der Subjektivität sowie den Versuch, eine universal verbindliche Philosophie, die nicht nur historisch-kulturelle nationale Eigenheiten auf den Begriff bringt, zu entwickeln.

8 Vgl. dazu Balduin Schwarz, Ewige Philosophie. Gesetz und Freiheit in der Geistesgeschichte (Leipzig: Verlag J. Hegner, 1937). Vgl. auch Josef Seifert, »Truth and History. Noumenal Phenomenology (Phenomenological Realism) defended against some Claims made by Hegel, Dilthey, and the Hermeneutical School« in Diotima XI, Athens 1983; ders., »Wahrheit – Philosophie – Geschichte. Zeitlose und historische Dimensionen der Philosophie« in Forum Katholische Theologie Bd. 4, H 3, 1988, 180–202; ders., »Texts and Things«, in: Annual ACPA Proceedings (1999), Vol. LXXII, 41–68.

9 Nicht zuletzt dieser Aspekt führte zur Gründung einer Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, wo sich in Professoren und Studenten eine Vielfalt von nationalen Charakteren einander befruchtend begegnen.

10 Ich denke dabei etwa an die heroische Tat der Liechtensteiner, die dem Druck stalinistischer Auslieferungsgesuche und des unmittelbaren Auslands standhielten und über 500 russische, weißrussische und ukarainische Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg aufnahmen. Vgl. Alexander Solschenizyn, Macht und Moral zu Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts, hrsg. v. Rocco Buttiglione und Josef Seifert, Internationale Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, Akademie-Reden (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1994). Zum Wesen dessen, was wir Nation nennen, vgl. auch Dietrich von Hildebrand, Metaphysik der Gemeinschaft. Untersuchungen über Wesen und Wert der Gemeinschaft, 3., vom Verf. durchgesehene Aufl., Dietrich von Hildebrand, Gesammelte Werke IV (Regensburg: J. Habbel, 1975), S. 205–209.

11 die von Bernard Bolzano, Edmund Husserl, Franz Brentano und anderen Philosophen der Donaumonarchie ausging.

12 Ich denke besonders an Adolf Reinach und Dietrich von Hildebrand. Der letzte allerdings betrachtete – neben Italien – Wien (und zwar als Verkörperung des Österreichischen) als seine eigentliche geistige Heimat, wie aus seinen unveröffentlichten Memoiren und vielen Gesprächen und Vorträgen hervorgeht.

13 Vgl. Rocco Buttiglione, op. zit., S. 12 ff.

14 Auch dieser britische Philosoph, der jetzt in Buffalo, NY, einige Jahre aber an der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein gelehrt hat, hat wohl nicht zufällig eine große Zuneigung zum Österreichischen. Vgl. Barry Smith, Austrian Philosophy, The Legacy of Franz Brentano (Chicago/LaSalle: Open Court, 1995).

15 Friedrich Hölderlin weist in seinem Hyperion auf die spezifisch deutsche Gefahr einer Einseitigkeit, Zerstückelung und eines daraus erwachsenden Fanatismus hin:

So kam ich unter die Deutschen. Ich foderte nicht

viel und war gefaßt, noch weniger zu finden. Demütig

kam ich, wie der heimatlose blinde Oedipus zum Tore

von Athen, wo ihn der Götterhain empfing; und schöne Seelen ihm begegneten –

Wie anders ging es mir!

Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes – das, mein Bellarmin! waren meine Tröster.

Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?

[Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland, S. 230. Digitale Bibliothek, S. 44730 (vgl. Hölderlin-KSA Bd. 3, S. 159–160)].

So viele fanatische und ähnlich »zerstückelte« Österreicher es auch geben mag, und so viele Deutsche von dieser Beschreibung abweichen, so ist doch der Österreicher an sich dem Fanatismus und einer solchen »Zerstückelung«, wie Hölderlin sie in seiner Kritik besonderer deutscher Gefahren (die freilich dem wahren Genius der deutschen Nation widersprechen) in besonderer Weise abhold.

16 So beschreibt Grillparzer Land und Leute seiner Heimat Österreich:

Mit hellem Wiesengrün und Saatengold,

Von Lein und Safran gelb und blau gestickt,

Von Blumen süß durchwürzt und edlem Kraut,

Schweift es in breitgestreckten Tälern hin –

Ein voller Blumenstrauß, soweit es reicht,

Vom Silberband der Donau rings umwunden! –

Hebt sichs empor zu Hügeln voller Wein,

Wo auf und auf die goldne Traube hängt

Und schwellend reift in Gottes Sonnenglanze;

Der dunkle Wald voll Jagdlust krönt das Ganze.

Und Gottes lauer Hauch schwebt drüber hin,

Und wärmt und reift, und macht die Pulse schlagen,

Wie nie ein Puls auf kalten Steppen schlägt.

Drum ist der Österreicher froh und frank,

Trägt seinen Fehl, trägt offen seine Freuden,

Beneidet nicht, läßt lieber sich beneiden!

Und was er tut, ist frohen Muts getan.

‘s ist möglich, daß in Sachsen und beim Rhein

Es Leute gibt, die mehr in Büchern lasen;

Allein, was nottut und was Gott gefällt,

Der klare Blick, der offne, richtge Sinn,

Da tritt der Österreicher hin vor jeden,

Denkt sich sein Teil und läßt die andern reden!

O gutes Land! o Vaterland! Inmitten

Dem Kind Italien und dem Manne Deutschland,

Liegst du, der wangenrote Jüngling, da:

Erhalte Gott dir deinen Jugendsinn, …

[Grillparzer: König Ottokars Glück und Ende, S. 103. Digitale Bibliothek, S. 32631 (vgl. Grillparzer-SW Bd. 1, S. 1036–1037)].

17 Freilich wird es hier mehr als gerechtfertigt sein, von einer Qualität des österreichisch-süddeutschen Barock zu sprechen, der sich weit über die heutigen Landesgrenzen hinaus in Bayern, Böhmen oder der Slowakei und Mähren, usf. findet.

18 Bei Ferdinand Raimund begegnet uns das spezifisch Österreichische in der Komödie in noch poetisch-märchenhafter Form und ganz ohne die sarkastisch-zynischen Elemente im Schaffen Nestroys.

19 Einige Zeitgenossen Nestroys werfen dies auch dem Schauspieler Nestroy vor.

20 Auch diesbezüglich finden sich interessante Beiträge bei Moore, Stroll und Smith.

21 Johann Wolfgang von Goethe, Goethes Gespräche mit Eckermann (Leibzig: Insel-Verlag, 1921) S. 448.

Vgl. auch J.W. von Goethe, Zur Farbenlehre. Didaktischer Theil. Der Farbenlehre. polemischer Theil. Geschichte der Farbenlehre. Nachträge zur Farbenlehre. Johann Wolfgang von Goethe, Sämmtliche Werke in 40 Bänden (Stuttgart and Tübingen: J.G. Cotta’scher Verlag, 1840), vls 37–40. Farbenlehre, II. Abtheilung, Nr. 177, Bd. 37, S. 68:

Wäre denn aber auch ein solches Urphänomen gefunden, so bleibt immer noch das Uebel, daß man es nicht als ein solches anerkennen will, daß wir hinter ihm und über ihm noch etwas Weiteres aufsuchen, da wir doch hier die Gränze des Schauens eingestehen sollten.

Farbenlehre, ibid., Nr. 177, Bd. 37, S. 68:

Der Naturforscher lasse die Urphänomene in ihrer ewigen Ruhe und Herrlichkeit dastehen, der Philosoph nehme sie in seine Region auf ...

Gespräche mit Eckermann, ibid., S. 639):

Ein einfaches Urphänomen aufzunehmen, es in seiner hohen Bedeutung zu erkennen und damit zu wirken, erfordert einen produktiven Geist, der vieles zu übersehen vermag, und ist eine seltene Gabe, die sich nur bei ganz vorzüglichen Naturen findet.

(Vgl. auch ebd., S. 432, 514, 567, 591.)

Vgl. auch Farbenlehre, ebd., Einleitung, Bd. 37, S. 9: