Unbezweifelbare Wahrheitserkenntnis - Josef Seifert - E-Book

Unbezweifelbare Wahrheitserkenntnis E-Book

Josef Seifert

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Beschreibung

Die Suche nach der Wahrheit stellt eine der ältesten Disziplinen der Philosophie dar. Doch was ist wahr? Alles, was wir sehen, hören, riechen und schmecken können? Ist das, was wir wahrnehmen, am Ende auch tatsächlich wahr? Oder ist es möglich, dass unsere Wahrnehmung manchmal getrübt ist und nicht der Wahrheit entspricht? Nicht nur Kant vertrat die Auffassung, dass dem menschlichen Geist das Wissen um das objektiv Seiende, die wahre Essenz der Dinge, verwehrt bleibt. Josef Seifert, Gründungsrektor der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, widerspricht dem und weist mittels einer phänomenologischen Analyse der Einsichten des augustinischen Cogito-Arguments nach, dass sowohl die reale Welt als auch in sich notwendige Wesenheiten mit unbezweifelbarer Gewissheit erkannt werden können. Wahrheit und Erkenntnis seien nicht nur Konstrukte, und jeder Relativismus, jede Deutung des Erkennens als Konstruktion, Konstitution oder Schöpfung seiner Gegenstände widersprechen laut Seifert nicht nur sich selbst, sondern auch evidenter Wahrheitserkenntnis. Dem frühen Husserl, Reinach, Edith Stein, Dietrich von Hildebrand und vielen anderen Denkern verbunden, vollzieht Seifert als einer der bedeutendsten lebenden Vertreter des phänomenologischen Realismus einen Schritt, der vielen Relativisten unmöglich schien: eine Rückkehr zu den »Sachen selbst«, zur Person und zur philosophischen Gotteserkenntnis.

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Impressum

 

Copyright © 2015

Patrimonium-Verlag

In der Verlagsgruppe Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

 

Erschienen in der Edition »Patrimonium Philosophicum«

 

 

Patrimonium-Verlagsbüro Abtei Mariawald

52396 Heimbach/Eifel

www.patrimonium-verlag.de

 

Gestaltung, Druck und Herstellung:

Druck & Verlagshaus Mainz GmbH

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

 

Abbildungsnachweis Umschlag:

Unter Verwendung von » treerelfect3«, morguefile.com/archive/

display/850059, treerelfect3.jpg, by pippalou

 

 

 

 

 

ISBN: 978-3-86417-067-6

 

Zu diesem Buch

 

»Können wir objektive Wahrheit erkennen und wie weit reicht die Erkennbarkeit objektiver Wahrheit?« – Um diese Fragen des Philosophen, ja jedes Menschen, geht es in diesem Buch.1 Ausgehend von der Erschütterung, die H. v. Kleist erlebte, als er an aller objektiven Wahrheit verzweifelte, wird die Möglichkeit einer unbezweifelbaren Erkenntnis objektiver Wirklichkeit inklusive des von Kant für unerkennbar erklärten »Dinges an sich« und damit objektiver Wahrheit über das in sich selber Seiende aufgezeigt.

Die Kernfrage dieses Buches, ob der Mensch das »Gefängnis der eigenen Gedankenspinngewebe« transzendieren und die Wirklichkeit so erkennen kann, wie sie an sich ist, ist ja zugleich letztlich eins mit der Frage nach der Erkennbarkeit objektiver Wahrheit. Denn Wahrheit liegt in der recht zu verstehenden Übereinstimmung eines Urteils mit der Wirklichkeit, noch präziser, in dem Zusammentreffen der im Urteil vollzogenen behauptenden Setzung in bezug auf einen Sachverhalt mit dem Selbstverhalten dieses Sachverhalts. Wahrheit besteht also weder in der Brauchbarkeit eines Urteils, noch in seiner macht- und lebensfördernden Wirkung, noch in seiner logischen Widerspruchsfreiheit im Gesamtzusammenhang eines Systems. Sie besteht erst recht nicht in der Beziehung zu einem Menschen, vielen Zeitgenossen oder auch sämtlichen Menschen, die dieses Urteil für wahr halten – sondern Wahrheit eines Urteils besteht einzig und allein darin, dass der in einem Urteil behauptete Sachverhalt wirklich besteht, dass er unabhängig von irgendeiner Meinung darüber unserem Bewusstsein transzendent ist.

Eine sowohl für alle Erkenntnis und Wissenschaft als auch für das persönliche Leben grundlegendere und existentiellere Frage als die nach der Erkennbarkeit objektiver Wahrheit kann es wohl nicht geben. Und für die Metaphysik ist es ebenfalls eine Schicksalsfrage, ob wir an sich existierende Seiende und allgemeine und notwendige Sachverhalte, die Gesetze für das Sein selbst sind, erkennen können, bzw. worin diese gründen.

Und so unzeitgemäß es ist, den Menschen das zu sagen, was viele in unvorstellbarem Ausmaß nicht hören wollen, so zeitgerecht ist es andererseits, das darzulegen, was der heutige Mensch besonders braucht und worauf jeder Mensch als auf seine geistige Lebensquelle zugeordnet ist: objektive Wahrheit.

 

 

 

1 Das vorliegende Buch stellt eine wesentlich gekürzte Fassung von »Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis« dar, meines ersten Buches, das ich 1969 als Doktorarbeit, mit dem späteren Untertitel als Haupttitel, geschrieben und hernach in zweimal überarbeiteter Form (1972, 1976) publiziert habe, aber hinter dessen Inhalt ich jetzt, nach sechsundvierzig Jahren, noch ganz stehe, weshalb ich einer Neuveröffentlichung gerne zugestimmt habe. Der Text wird hier in leicht überarbeiteter und aktualisierter sowie, den Wünschen des Verlags entsprechend, über weit mehr als die Hälfte gekürzter Fassung vorgelegt. Genaue bibliographische Angaben entnehme man dem Literaturnachweis.

Einleitung

 

Die Bedrohung der Erkenntnis durch den Immanentismus

 

In einem 1873 verfassten Aufsatz »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn« sagt Nietzsche, die Tatsache, dass wir immer dieselbe geordnete Welt wahrnehmen, ebenso wie die Tatsache, dass sich unsere Auffassung von der äußeren Welt durch die verschiedenen Sinneswahrnehmungen gegenseitig bestätige, beweise nichts für die Behauptung, dass die Dinge objektiv so seien, wie sie uns zu sein scheinen. Es sei dies ebenso, »wie ein Traum, ewig wiederholt, durchaus als Wirklichkeit empfunden und beurteilt werden würde«.

Dann fährt Nietzsche so fort:

»[…] Alles Wunderbare […], das wir gerade an den Naturgesetzen anstaunen, das unsere Erklärung fordert und uns zum Misstrauen gegen den Idealismus verführen könnte, liegt gerade und ganz allein nur in der mathematischen Strenge und Unverbrüchlichkeit der Zeit- und Raumvorstellungen. Diese aber produzieren wir in uns und aus uns mit jener Notwendigkeit, mit der die Spinne spinnt«;2

»Nur […] dadurch, dass der Mensch sich als Subjekt, und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit, Konsequenz: wenn er einen Augenblick nur aus den Gefängniswänden dieses Glaubens heraus könnte, so wäre es sofort mit seinem ›Selbstbewusstsein‹ vorbei.«3

»[…] die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind,«4

Diese Nietzsche-Zitate, in denen sich die das Denken unserer Zeit weithin beherrschenden Grundanschauungen besonders drastisch aussprechen, machen es deutlich, welche zentrale Rolle dem Problem der Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis zukommt. Es ist nicht ein Randproblem, sondern hat eine Schlüsselstellung für das ganze Reich der Erkenntnis inne. Wo die Transzendenz der Erkenntnis geleugnet wird, da ist der Mensch grundsätzlich in sich selber eingeschlossen. Wo diese Auffassung herrscht, kann man von »Immanentismus« sprechen. Besonders seit Hume und Kant ist der Immanentismus im abendländischen Denken weitgehend herrschend geworden.5Dass Relativismus und Nihilismus die im Grund unausweichlichen Folgen des Immanentismus sind, sei hier nur angedeutet.6

Achtundzwanzig Jahre nach Erscheinen von Nietzsches »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn« zu einer Zeit der Hochblüte des Immanentismus hat Edmund Husserl in seinem Werk Logische Untersuchungen jeden erkenntnistheoretischen Immanentismus und Relativismus unter der Form des schon in der Kantischen Philosophie grundgelegten »Psychologismus« bekämpft, der alle Seinsgesetze und logischen Gesetze auf Denkgesetze zurückführt.7

Im Augenblick, da ich mit Kant leugne, dass sich der Mensch im Erkennen selbst überschreitet und mit der Wirklichkeit, wie sie in sich ist, geistig in Berührung tritt, im Augenblick, da ich leugne, dass der Mensch im Erkennen das Seiende »empfängt« und behaupte, der Mensch sei im Erkennen ein spontan-tätiges, künstlerisch schaffendes Subjekt, befreie ich ihn nicht, wie es scheinen mag, sondern sperre ihn in jenes immanentistische Gefängnis der eigenen »Gedankenspinngewebe« ein, von dem Nietzsche spricht.

Dieser »Verlust der Transzendenz«, der die Neuere Philosophie bis zur Gegenwart hin weitgehend kennzeichnet,8tritt besonders mit der »Kopernikanischen Wende« Kants hervor.

Bestünde die »Erkenntnis« wirklich darin, dass der Mensch seine eigenen Anschauungs- und Denkformen auf die ihm in ihrem Sein an sich unbekannten Dinge anwendet, könnte der Mensch wirklich nur den aus einem »Chaos der Sinnesempfindung« durch seine Anschauungsformen und Kategorien geschaffenen Gegenstand erkennen – so wäre der Mensch rettungslos vom Sein abgeschnitten. Infolge dieser Umkehrung der Erkenntnis-Ding-Beziehung in der »Kopernikanischen Wende« rettet Kant nur scheinbar notwendige und allgemeingültige Wahrheiten, begründet aber in Wirklichkeit mit seinem transzendentalen Idealismus höchstens notwendig und allgemein in der »Spezies Mensch« gründende Irrtümer.

Es soll später gezeigt werden, dass unter den Kantischen Voraussetzungen Nietzsche wirklich damit recht hätte, dass »die Wahrheiten Illusionen sind, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind.«9

Die immanentistischen und zum Relativismus führenden Konsequenzen der »Kopernikanischen Wende« hat Nietzsche in der Unzeitgemäßen Betrachtung: »Schopenhauer als Erzieher« besonders klar ausgesprochen (nach seiner eigenen Erklärung hat Nietzsche diesen ebenfalls 1873 verfassten Aufsatz im Grunde über seine eigene Entwicklung geschrieben):

»Das war die erste Gefahr, in deren Schatten Schopenhauer heranwuchs. Vereinsamung. Die zweite heißt: Verzweiflung an der Wahrheit. Diese Gefahr begleitet jeden Denker, welcher von der Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt, vorausgesetzt, daß er ein kräftiger und ganzer Mensch in Leiden und Begehren sei und nicht nur eine klappernde Denk- und Rechenmaschine. Nun wissen wir aber alle recht wohl, was es gerade mit dieser Voraussetzung für eine beschämende Bewandtnis hat, ja es scheint mir, als ob überhaupt nur bei den wenigsten Menschen Kant lebendig eingegriffen und Blut und Säfte umgestaltet habe. Zwar soll, wie man überall lesen kann, seit der Tat dieses stillen Gelehrten auf allen geistigen Gebieten eine Revolution ausgebrochen sein; aber ich kann es nicht glauben. Denn ich sehe es den Menschen nicht deutlich an, als welche vor allem selbst revolutioniert sein müßten, bevor irgendwelche ganze Gebiete es sein könnten. Sobald aber Kant anfangen sollte, eine populäre Wirkung auszuüben, so werden wir diese in der Form eines zernagenden und zerbröckelnden Skeptizismus und Relativismus gewahr werden; und nur bei den tätigsten und edelsten Geistern, die es niemals im Zweifel ausgehalten haben, würde an seiner Stelle jene Erschütterung und Verzweiflung in aller Wahrheit eintreten, wie sie z. B. Heinrich von Kleist als Wirkung der Kantischen Philosophie erlebte. ›Vor kurzem‹, schreibt er einmal in seiner ergreifenden Art, ›wurde ich mit der Kantischen Philosophie bekannt – und dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird als mich. – Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint. Ist’s das Letztere, so ist die Wahrheit die wir hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr, und alles Bestreben, ein Eigentum zu erwerben, das uns auch noch in das Grab folgt, ist vergeblich. – Wenn die Spitze dieses Gedankens dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe keines mehr.‹ Ja, wann werden die Menschen wieder dergestalt Kleistisch-natürlich empfinden, wann lernen sie den Sinn einer Philosophie erst wieder an ihrem ›heiligsten Innern‹ messen?«10

Was Nietzsche hier mit Kleist das »heiligste Innere« nennt, ist jene tiefe Wirklichkeit im Menschen, in der sich seine existentielle Beziehung zur Wahrheit konstituiert. Es gibt ein Zentrum in der Seele des Menschen, das wahre Lebenszentrum des Geistes, in dem der Mensch so auf die Wahrheit und auf die Wirklichkeit in der Fülle ihrer in sich ruhenden Bedeutsamkeit und Kostbarkeit zugeordnet ist, dass er im Innersten getroffen wird, wenn er zurÜberzeugung kommt, niemals die objektive Wahrheit und objektive Werte erkennen zu können. Lebt der Mensch in und aus diesem auf die Wahrheit gerichteten, wertantwortenden11Zentrum, so treibt ihn die Verzweiflung an der Wahrheit in die Verzweiflung schlechthin. Dann ist der Augenblick »sein Tod«, in dem ihm verkündet würde: »Alle Güter und Personen, auf die antwortend du glücklich bist, alle Wahrheit, die du zu erkennen glaubtest, Gott selbst – all dies ist nicht unabhängig von dir; all dies wird mit dem Tode »nichts« mehr sein. Denn es »lebt« nur von Gnaden deiner selbst, deiner Natur, deiner Konstitution.»

Dieser Augenblick bedeutet dann seine Verzweiflung, aus der nichts, nichtsihn erretten kann und soll außer derWahrheit selbst. Nur sie, die befreiende Wahrheit, die dieses Verzweiflung bringende Wort Lügen straft, kann uns aus dieser Verzweiflung retten – Flucht, Verdrängung, Unernst sind keine Rettung, auch wenn sie uns die Verzweiflung vergessen machen.12

Die Erkenntnis der Wahrheit über die wichtigstenWirklichkeiten, die Beziehung zu einer Wahrheit, die unabhängig vom menschlichen Geist wahr ist, die er erkennen kann, indem er sich selbst transzendiert, das ist der Lebensnerv der Person. Wenn wir in und aus dieser von jedem Menschen geforderten Beziehung zur Wahrheit leben, verstehen wir die Verzweiflung, die die gebührende Antwort auf die »Gefängniswände unseres illusionshaften Glaubens« wäre, der niemals die Wirklichkeit an sich erreichen würde. Wenn also jene Wirklichkeiten nicht »an sich« wären, die entweder von uns unabhängig oder ein bloßer Schein sind, wie die Werte hoher Güter, andere Personen, die Wahrheit, Gott – dann müssten wir wie Kleist empfinden:

»Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande […]«13

»[…] Der Gedanke, daß wir hienieden nichts, gar nichts von der Wahrheit wissen, daß das, was wir hierWahrheit nennen, nach dem Tode ganz anders heißt […] dieser Gedanke hat mich in dem Heiligtum meiner Seele erschüttert. Mein einziges und höchstes Ziel ist gesunken, ich habe keines mehr. Seitdem ekelt mich vor den Büchern, ich lege die Hände in den Schoß, und ich suche ein neues Ziel, dem mein Geist, froh-beschäftigt, von neuem entgegenschreiten könnte. Aber ich finde es nicht, und eine innerliche Unruhe treibt mich umher, ich laufe auf Kaffeehäuser und Tabagien, in Konzerte und Schauspiele, ich begehe, um mich zu zersträuen und zu betäuben, Torheiten, die ich mich schäme aufzuschreiben und doch ist der einzige Gedanke, den in diesem äußeren Tumulte meine Seele unaufhörlich mit glühender Angst bearbeitet, dieser: dein einziges und höchstes Ziel ist gesunken […] Ich kann nicht einen Schritt tun, ohne mir deutlich bewußt zu sein, wohin ich will […]«14

Das Tragische in der geistigen Situation der Gegenwart scheint nun darin zu liegen, dass wir schon sosehr abgestumpft sind, dass uns die Leugnung der Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis schon gar nicht mehr erschüttert – vielleicht weil wir uns von einem Fatum dem jetzigen geschichtlichen Zustand des Denkens ausgeliefert fühlen, so dass es schon ganz »altmodisch« oder »anmaßend« erscheint, grundlegende Irrtümer in Kants Philosophie finden zu wollen. »Wir können hinter so große Denker nicht mehr zurück […] wir müssen an unserem Ort im Fluß der Geschichte denken […] die Wahrheit ist eben geschichtlich bedingt«, so und ähnlich heißen die Äußerungen, in denen sich nicht nur Hegels Geschichtsphilosophie, sondern auch jene Entmutigung an der Wahrheitserkenntnis auswirkt, die Nietzsche als eine Folge der Kantischen Philosophie voraussah.

Denn wer – außer er ist dergestalt entmutigt – würde sich nicht an die Erschütterung Kleists darüber, »daß alle Wahrheit, die wir hienieden sammeln, nach dem Tode nichts mehr ist«, erinnern, wenn er in M. Heideggers Sein und Zeit liest:

»Der Selbstmörder […], sofern er ist und sich in diesem Sein verstanden hat, hat in der Verzweiflung des Selbstmordes das Dasein und damit die Wahrheit ausgelöscht […]«15

Es gibt zahlreiche Briefe und Notizen aus jenem Kreis von Schülern, die sich in Göttingen um E. Husserl versammelten, aus denen hervorgeht, dass sie sich angesichts des Deutschen Idealismus, wie er von der »Kopernikanischen Wendung« ausgeht und angesichts der von ihm getragenen Richtungen, nach denen alle Seins- und Wesensgesetze auf Denkgesetze reduziert werden – in einer ähnlichen inneren Verzweiflung befanden, wie Heinrich von Kleist.16 Und so gingen sie nach Göttingen, um unter der Führung E. Husserls aus dem Gefängnis des Immanentismus und Relativismus auszubrechen; und in der Tat bedeuten dieLogischen Untersuchungen eine klassische Widerlegung des erkenntnistheoretischen Immanentismus und Relativismus, den E. Husserl dort unter dem Namen des »Psychologismus« bekämpft. Mit Recht sahen die meisten Schüler Husserls in dessen Hauptwerk einen Durchbruch zur vollen Transzendenz der Erkenntnis, zu den »Sachen selbst«, zu den nicht nur dem Einzelnen, sondern jedem menschlichen Geiste transzendenten, notwendigen Wesenheiten, in denen jene veritates aeternae gründen, die endgültig seit Kant verloren zu sein schienen.17Dieser Durchbruch zur Transzendenz, und zugleich die Besinnung auf das Wesen der philosophischen Methode als der Einsicht in notwendige, unzurückführbare Urgegebenheiten, Wesenheiten und Wesenssachverhalte wurde von den bedeutendsten Schülern des frühen Husserl fortgeführt und durch viele neue Erkenntnisse bereichert.18

Husserl selbst aber hat sich schon sehr früh, vor allem mit seinen Ideen zu einer reinenPhänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913)19von diesem von ihm neu beschrittenen Weg »zu den Sachen selbst«, von diesem Durchbruch zur Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, völlig losgelöst. Das hat dazu geführt, dass viele seiner Schüler und ihm nahestehende Philosophen sich von seiner Philosophie abwandten, da sie seine wichtigsten Erkenntnisse von ihm preisgegeben sahen.20Es ist eine unerklärliche und tragische Tatsache, dass derjenige Denker, der die »verlorene Transzendenz« des Menschen in der Erkenntnis am klarsten wieder entdeckt hatte, in seinen Spätschriften in einen so radikalen Idealismus und Immanentismus geraten ist, der seinen Ausgangspunkt ganz ins Gegenteil verkehrt hat. Diese Entwicklung des Vaters der Phänomenologie hat übrigens zu einer vollkommenen Verwirrung des von vornherein unglücklich gewählten und so belasteten Terminus »Phänomenologie« geführt. Daher möchte ich diesen Terminus für die ursprünglich damit gemeinte und gereinigte Form der klassischen und bei allen echten philosophischen Einsichten aller Zeiten angewandten philosophischen Methode nicht mehr verwenden, zumindest nicht ohne von »realistischer Phänomenologie« zu sprechen, die eine neue Gestalt der philosophia perennis ist. Diese hat die unbedingte Rückkehr zu den Sachen und der Person selbst, die sich von sich selbst her zeigen, zu ihrem einzigen Grundprinzip erkoren und setzt die Epoché als Hilfsmittel philosophischer Erkenntnis nur in dem Sinne und Maße ein, indem sie dieser Rückkehr dient.21 Eine solche Form des Philosophierens, in dem Maß, in dem sie einzig nach dem Erkennen der Dinge, wie sie wirklich sind, trachtet und alle Vorurteile und sonstigen Hindernisse auf diesem Weg zu vermeiden sucht, ist die einzige reale Phänomenologie, die den Husserl‘schen Idealen Zurück zu den Sachen selbst und einer streng wissenschaftlichen und kritischen Philosophie treu bleiben kann. Sie muss sich von allen Unklarheiten und Widersprüchen der Transzendentalphilosophie ebenso wie von allen sophistischen Tricks und Sprachspielen anderer Phänomenologen freihalten und das Ideal verwirklichen, alle Wahrheit zu lieben und sie in allem zu lieben.22 Eine solche reine und realistische Phänomenologie ist auch den tiefsten Einsichten der besten klassischen, mittelalterlichen und modernen Philosophen eng verbunden.23

Jeder, der die letzte Bedeutung der in dieser Einleitung angedeuteten Fragen sieht, und sich der Bedrohung der Transzendenz der menschlichen Erkenntnis durch den Immanentismus bewusst ist, wird erfassen wie wichtig es ist, sich wieder einmal von neuem »den Sachen selbst« zuzuwenden und das Wesen und die Stufen der Transzendenz des Menschen zu erforschen. Dies kann – bei möglichster Beschränkung auf das Wesentliche – nur durch eine systematische Behandlung dieses Problems geschehen, in Auseinandersetzung mit den Grundformen des erkenntnistheoretischen Immanentismus.

 

 

Was heißt Transzendenz?

 

Es geht in dieser Arbeit um die Frage nach der Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis. Bevor man diese Frage stellt, muss man sich jedoch kurz klarmachen, in welchem Sinne überhaupt von »Transzendenz« gesprochen werden kann.Denn der Begriff »Transzendenz« hat so viele und grundsätzlich verschiedene, ja z. T. sogar einander entgegengesetzte Bedeutungen, dass es nötig erscheint, ihn zu klären.

Das aus dem Lateinischen kommende Wort »Transzendenz« weist immer auf ein »Überschreiten« bzw. ein »Darüberhinausliegen« hin. Einerseits kann es bedeuten, dass eine Wirklichkeit jenseits einer Grenze oder jenseits einer anderen Wirklichkeit liegt; dann erhält der Begriff »Transzendenz« seine spezielle Bedeutung jeweils durch die Art der Grenze, jenseits der etwas liegt bzw. durch die beiden Wirklichkeiten, deren eine jenseits der anderen liegt.Diese Grenze ist dabei nicht eine rein räumliche oder eine unbedeutend geistige. Andererseits kann mit »Transzendenz« auf einen Akt des Überschreitens hingewiesen werden, und dann handelt es sich um eine spezifisch personale Fähigkeit. So spricht man nicht von »Transzendenz«, wenn ein Reh eine Baumgrenze überschreitet oder wenn ein Kind ein anderes an Intelligenz übertrifft. Die überschrittene Grenze muss einen geistigen und wesentlichen Charakter haben. Bleiben wir zunächst ein wenig bei der Bedeutung von Transzendieren als Akt der Person.

Ausschließlich eine Person, die sich bewusst selbst besitzt, kann in dieser ihrer bewussten Beziehung zur Wirklichkeit sich selbst und andere »Grenzen« »aktiv« überschreiten. Je nachdem, was die Person dabei in sich überschreitet oder über welche Grenzen sie hinausgeht, sprechen wir auch dort noch in ganz verschiedenem Sinne von Transzendenz.

Um einen Überblick zu gewinnen, sollen hier nur einige Fragen nach verschiedenen Formen der Transzendenz angedeutet werden.

Zunächst kann man sich fragen, ob der Mensch in seinen eigenen Bewusstseinszuständen eingeschlossen und absolut von der jenseits seines Bewusstseins liegenden Wirklichkeit abgeschnitten ist oder ob er in der Erkenntnis sich selbst überschreiten und mit der Wirklichkeit, wie sie jenseits seines eigenen Seins ist, in Berührung treten könne. Im ersten Fall wäre der Mensch ins Gefängnis seiner Immanenz eingeschlossen, im zweiten kann er sich transzendieren. Die Grenze, die er damit überschritte, wäre sein eigenes, bewusstes Sein, die Wirklichkeit jenseits dieser Grenze jenes Sein, mit dem er in Berührung träte.

Falls wir zeigen können, dass der Mensch nicht nur faktisch und zufällig Seiendes jenseits seiner selbst erkennen kann, sondern auch ewige, wesensnotwendige Wahrheiten, so ist klar, dass er nicht nur sich selbst, sondern auch das historisch sich Wandelnde, das Gefängnis des Augenblicks, die Leere des Zufälligen transzendiert.

In der absoluten Gewissheit und Evidenz, mit der uns diese Wahrheiten gegeben sind, überschreiten wir auch jene Meinungen, die der Zweifel stets annagen kann, und überwinden den Immanentismus des Relativismus, Historismus, Soziologismus, Psychologismus und transzendentalen Idealismus – dies hoffe ich im zweiten Teile dieser Arbeit zu zeigen.

Schließlich liegt auch in der Wesenserkenntnis, wenn man sie künstlich isoliert, noch ein Eingeschlossensein in sich selbst, solange wir nicht auch mit der konkreten, aktuell existierenden Wirklichkeit, der eigenen und jener der Außenwelt und vor allem anderer Personen in Beziehung treten können. Es soll erwiesen werden, dass der Mensch über sich hinaus auch zur vollen, konkreten, substantiellen Wirklichkeit und zu anderen Personen gelangen kann und welch einzigartige Transzendenz gerade darin liegt.

Doch die Frage, ob wir Seiendes jenseits unserer selbst erkennen können, tritt noch deutlicher in ihrer Bedeutung hervor, wenn wir uns fragen, ob vielleicht alle Kostbarkeit der Dinge und Personen, die diese in sich zu besitzen scheinen, nur Illusionen sind.Ein solcher Wertrelativismus24würde den Menschen in die Wüste einer absurden, in sich vollkommen wert- und sinnlosen Welt einschließen. Einem solchen Nihilismus gegenüber versuche ich, besonders im Anschluss an Dietrich von Hildebrand, die Transzendenz des Menschen in der Werterkenntnis darzulegen, in der der Mensch eine solche neutrale Welt durchbricht und zu objektiven Werten gelangt.

Es bedarf wohl keiner längeren Erklärung, um zu sehen, was schon »auf den ersten Blick« einleuchtet: Die Leugnung jener Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, die darin liegt, dass er die Wirklichkeit, wie sie in sich selbst ist, erkennen kann (und also nicht auf bloße »Phänomene« beschränkt ist), führt auch zu einem Immanentismus bezüglich der entscheidendsten Frage nach der Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, der Frage nach der Gotteserkenntnis. Wenn wir also die Fähigkeit des Menschen und ihre Dimensionen zu voller philosophischer Bewusstheit gebracht haben, in der Erkenntnis sich selbst und die eigenen Bewusstseinszustände und Veranlagungen oder immanenten Aktvollzüge zu transzendieren und die Wirklichkeit so zu erkennen, wie sie in sich selber ist – dann haben wir damit jenen elementaren Immanentismus überwunden, der von vornherein jede Möglichkeit einer Gotteserkenntnis ausschließt. Andererseits haben wir damit noch nicht die allerentscheidendste Frage nach der Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis beantwortet: Ist der Mensch in seiner Erkenntnis auf das endliche, kontingente Seiende beschränkt, oder kann er auch dieses erkennend überschreiten und etwas vom Sein selbst, vom Absoluten, von Gott erkennen?25

In eine grundsätzlich neue Richtung geht die Frage, die man als die nach der Transzendenz des Menschen in der Wertantwort26bezeichnen kann. Ist der Mensch in sein immanentes Lust- und Glücksstreben eingekerkert, und vermag er alle Wirklichkeit nur unter dem Gesichtspunkt seiner eigenen Entelechie zu betrachten – oder kann der einem Gute innewohnende Wert, z. B. die Kostbarkeit, die eine andere Person in sich besitzt, als solche seinen Willen und sein Herz motivieren? Kann der Mensch »Antworten« geben, einfach weil sie einem Gut gebühren,27Handlungen setzen, einfach damit etwas Gutes realisiert werde? Die Grenze, die der Mensch damit überschritte, wären jene immanenten Strebungen des Eigenlebens,28die der Hedonismus oder Eudämonismus als einzige Grundmotive des Menschen betrachtet. Die sittlich gute Antwort wäre die höchste Form dieser Wertantwort, in der der Mensch sich selbst transzendiert. Besitzt der Mensch Freiheit, so kann er ferner jene Gesetze seiner physiologischen Konstitution und psychischen Anlagen, jene Umstände des Milieus und Zeitgeistes transzendieren, von denen der Determinismus in seinen verschiedenen Spielarten behauptet, dass sie ihn gänzlich bestimmen. Dieser stellt daher eine ganz elementare Form des Immanentismus dar, da er die Freiheit leugnet, die die Person überhaupt erst zur Person macht und die in allen Dimensionen personaler Transzendenz, besonders aber in der sittlichen Wertantwort vorausgesetzt ist.

In einem radikal neuen Sinn sprechen wir von Transzendenz als Unsterblichkeit. Die Frage ist hier: Gibt es ein Leben jenseits der Grenze des Todes? Da ferner ein einfachhin endlos verlängertes menschliches Leben seines eigentlichen Sinnes beraubt wäre, müssen wir weiterfragen: Gibt es ein unsterbliches Leben in der vollen Erkenntnis der Wahrheit und Gottes, das dann nicht nur ein Überschreiten der Grenze des Todes wäre, sondern auch alles Bruchstückhafte und Endliche unserer jetzigen Erkenntnis überstiege und überdies in Richtung auf die wertantwortende Hingabe von unendlicher Transzendenz wäre? Hier gipfeln alle Fragen nach der Transzendenz, und hier allein fände das Wort Pascals seine Erfüllung: »L’homme passe infiniment l’homme.«29–»Der Mensch übersteigt unendlich den Menschen.« Diese Frage nach der Transzendenz als ewigem Lebenaber lässt sich letztlich von der menschlichen Erkenntnis her nicht endgültig und vollkommen beantworten,30 und so taucht hier eine ganz neue Bedeutung von Transzendenz auf: nämlich einerseits als ein die Grenzen der menschlichen Erkenntnis transzendierender Glaube und andererseits als das Licht der Offenbarung, das alle natürlichen Erfahrungen transzendiert, und der Einbruch, die »Erscheinung« des absoluten, transzendenten Gottes in die Immanenz der Welt ist.31 – Diese letzte Frage nach der Transzendenz des Menschen übersteigt aber schon die philosophische Erkenntnis.

 

 

Transzendenz als objektives Verhältnis zweier Wirklichkeiten

 

In einem ganz anderen Sinne versteht man unter »Transzendenz« nicht mehr eine Fähigkeit der Person, ein über Grenzen Hinausschreiten, sondern vielmehr die objektive Tatsache, dass eine Wirklichkeit jenseits des Seins und der Grenzen einer andern Wirklichkeit ist.

In diesem Sinn transzendiert der Mensch alle materiellen und animalischen Gebilde; er steht in seinen personalen Akten »jenseits« der ihnen immanenten Gesetze.

Vor allem meinen wir »Transzendenz« in diesem objektiven Sinn, wenn wir sagen: »Gott ist (der Welt) transzendent.« Die Frage, ob es jenseits dieser Welt und der Geschichte ein absolutes Sein gibt, was der Atheismus, Historismus oder Pantheismus in allen seinen Formen leugnet, ist die Frage nach der Transzendenz Gottes in diesem Sinne, die der hl. Augustinus in die Worte fasst: »Die Ursache der Dinge, die er schafft, nicht wird, ist Gott»32

 

 

Transzendenz als das Sein jenseits der menschlichen Erkenntnis

 

Zu den beiden ersten Grundbedeutungen des Wortes »Transzendenz« tritt noch eine dritte hinzu: Man kann damit jenes Sein meinen, das jenseits der menschlichen Erkenntnisgrenze liegt. Solange man darunter nur die relative und zufällige Erkenntnisgrenze versteht, die sich sowohl beim Individuum als auch bei der Menschheit ständig verschiebt, so kann man alles (etwa das naturwissenschaftlicher Forschung noch offenstehende) Seiende, das der Mensch de facto noch nicht erkannt hat, »transzendent« nennen, was aber nicht sinnvoll scheint.

Im jetzigen Zusammenhang meine ich mit dem Transzendenzbegriff daher nur jenes Sein, das dem Menschen in seiner Erfahrungswelt prinzipiell nicht gegeben ist, die Fülle jenes Seins, das der Mensch auf Grund der Grenzen seiner natürlichen Erkenntniskräfte niemals unmittelbar voll berührt.

Gibt es also, so können wir uns fragen, eine Wirklichkeit, die nicht nur faktisch vom Menschen noch nicht erforscht ist, sondern die prinzipiell jenseits seiner Erkenntnis- und Erfahrungsgrenze liegt?

Dass es ein solches prinzipiell menschlicher Erkenntnis transzendentes Sein gibt, wäre sicher, nachdem wir eindeutig zu einer philosophischen Gotteserkenntnis gelangt wären. Damit hätten wir mit Gewissheit die Existenz eines unendlichen Wesens erkannt, das uns in der jetzigen Erfahrung nicht unmittelbar selbst gegenwärtig und gegeben ist, wie uns andere Menschen oder die Welt gegeben sind. Dass ein solches Sein existiert und damit die prinzipiellen »Grenzen« menschlicher Erkenntnis bezüglich dieses »transzendenten Seins« können wir also erst sehen, wenn wir auch die Größe der Erkenntnis des Menschen begreifen,33die ihn dazu befähigt, die Existenz und gewisse Wesenseigenschaften eines unendlichen Seins zu erfassen, das prinzipiell unsere menschliche Erkenntnis übersteigt.34

 

Die Verkündung der »absoluten Transzendenz«

als Immanentismus

 

Und hier stoßen wir auf die heute so verbreitete eigentümliche Begriffsverschiebung, die darauf hinausläuft, dass »Trans­zendenz« bedeutet, dass man den Menschen vollkommen in seine Immanenz einsperrt.

Wir meinen jenen Begriff der »absoluten Transzendenz«, wie er bei Karl Jaspers und vielen modernen Philosophen und Theologen verwendet wird. Wenn man nämlich die radikale Unerkennbarkeit der »Dinge an sich«, der Wirklichkeit in sich selbst – oder auch wenn man die gänzliche Unerkennbarkeit Gottes behauptet, dann erhalten die Ausdrücke »absolute Transzendenz der Wahrheit« oder »absolute Transzendenz Gottes« einen Charakter, der nur scheinbar mit dem letztgenannten zusammenfällt, in Wirklichkeit ihm entgegengesetzt ist.35

Man meint hier nämlich nicht das absolute Sein, das durch seine absolute Fülle unsere Erkenntnis unendlich übersteigt (dessen Existenz und gewisse Wesenseigenschaften wir aber erkennen können, durch welche Größe unserer Erkenntnis wir eben wissen, dass dieses Sein alle unsere jetzige Erfahrung unendlich übersteigt), sondern einfachhin ein uns schlechthin Unbekanntes, das ebensogut das Nichts als Gott sein könnte. Absolute Transzendenz der Wahrheit heißt hier einfach Agnostizismus, und das ist radikales Eingesperrtsein in unsere Immanenz.

Eine große Verwirrung ist dadurch verbreitet worden, dass sich hinter dem heute meist verbreiteten Transzendenzbegriff36die Leugnung jeder Transzendenz des Menschen verbirgt.

Wieder ist es F. Nietzsche, der diese Auffassung des Menschen als den radikalen Immanentismus aufdeckt, den sie darstellt:

»Metaphysische Welt. – Es ist wahr, es könnte eine metaphysische Welt geben; die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen. Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden; während doch die Frage übrigbleibt, was von der Welt noch da wäre, wenn man ihn doch abgeschnitten hätte.«

»[…] Dann bleibe immer noch jene Möglichkeit übrig; aber mit ihr kann man gar nichts anfangen, geschweige denn, daß man Glück, Heil und Leben von den Spinnenfäden einer solchen Möglichkeit abhängen lassen dürfte. – Denn man könnte von dieser metaphysischen Welt gar nichts aussagen als ein Anderssein, ein uns unzugängliches, unbegreifliches Anderssein; es wäre ein Ding mit negativen Eigenschaften. – Wäre die Existenz einer solchen Welt auch noch so gut bewiesen, so stünde doch fest, daß die gleichgültigste aller Erkenntnisse eben ihre Erkenntnis wäre: noch gleichgültiger als dem Schiffer in Sturmesgefahr die Erkenntnis von der chemischen Analyse des Wassers sein muß.«37

 

Phänomenologischer Realismus als Transzendenzphilosophie

 

Die vorliegende Arbeit ist also sowohl erkenntnistheoretisch als auch metaphysisch. Gegenüber jeder Beschränkung auf eine Beschreibung von »bloßen Phänomenen« zielt sie vielmehr auf möglichst durchgeklärte Einsichten in das letzte, metaphysische Wesen der Erkenntnis und grundlegender Gegenstände der Erkenntnis ab.

In diesen Untersuchungen gehe ich von dem uns eindeutig gegebenen bewusstenAkt des Erkennens aus und wende mich eben jener Transzendenz zu, die in unserem bewussten, erkennenden Berühren eines Gegenstandes liegt. Denn die Person istzugleich allem andern Seienden gegenüber etwas radikal Neues und zugleich der Höhepunkt der Wirklichkeit, der eigentlichste Gegenstand der Metaphysik, und deshalb kann man sich nicht genug gerade dem spezifischen Wesen des bewussten, personalen Seins zuwenden, um wirklich das »wahre« Sein zu erkennen und sich dem »höchsten Sein« zu nähern. Statt die intelligiblen Wesenszüge des Erkennens zu erforschen, dieses wesenhaft bewussten Aktes, der sich nicht nur von allen mechanischen und physiologischen Vorgängen, sondern auch von allem Unbewussten, von aller jenseits des bewussten Seins liegenden »Gesetzlichkeit«, von allen impersonal-geistigen Gebilden durch eine Welt unterscheidet, versäumt man es oft, sich in einer eingehenden Untersuchung dem Wesen dieses Aktes zuzuwenden, der ja gerade in der bewussten, ausdrücklichen Beziehung der Person zur Welt besteht; man springt sofort in eine keineswegs gegebene Sphäre über, aus der man die Erkenntnis »erklären« möchte. Man sucht ihr Wesen »hinter« dem bewussten Akt, entweder in einer personalen »Geiststruktur« oder in einem unbewussten Teil der menschlichen Seele, oder auch in physiologischen Prozessen, die mit den Erkenntnisakten in Beziehung stehen. Man wendet sich dem Wesen des bewusst erlebten Erkennens gar nicht zu, reduziert es sofort auf etwas anderes und sagt, es sei »nichts als« ein Epiphänomen eines physiologischen Prozesses, es sei »nur« das »Zu-sich-Kommen« eines (impersonalen) »objektiven Geistes«, es sei »nichts als« die »Synthesis« einer nicht gegebenen »transzendentalen Apperzeption« usw. Der bewussteAkt wird ganz umgedeutet und bestenfalls als ein sekundärer, untergeordneter »Aspekt« betrachtet.

Demgegenüber soll im Folgenden der bewusste, personale Akt des Erkennens voll ernst genommen und gezeigt werden, dass er eine intelligible Wesenheit besitzt, deren Merkmale zunächst analysiert werden sollen, wie sie sich allgemein in jedem Erkennen finden.

Die erwähnten entscheidendsten Fragen jeder Erkenntnislehre und Metaphysik können nur dann eine Antwort finden, wenn man schon jene Urform der Transzendenz und die Elemente verstanden hat, die in jeglicher Erkenntnis eingeschlossen sind; ja allein dann können jene Fragen nach der Transzendenz unserer Erkenntnis im metaphysischen Sinn überhaupt erst richtig gestellt werden.

Wenn also im ersten Teil diejenige Form der Transzendenz betrachtet wird, die schon der Wahrnehmung eines Hauses oder seiner Farbe eigen ist, so wird doch durch diese Untersuchungen viel Licht auf jene Transzendenz metaphysischer Erkenntnis fallen, die im II. Teil behandelt werden soll. Denn die Wesenszüge jeglichen Erkennens, wie die Rezeptivität oder die Intentionalität, sind ja auch Wesenszüge der »metaphysischen« Erkenntnis, die man daher niemals verstehen kann, solange man die allgemeinen Wesensmerkmale jeglichen Erkennens missversteht. Und damit ist der vielleicht wichtigste Grund für die Untersuchungen des I. Teils schon berührt.

Im Laufe der Geschichte der Philosophie und besonders im gegenwärtigen chaotischen Zustand, in dem sich die Philosophie weithin befindet, werden gerade für die philosophische, für die metaphysische Erkenntnis jene Wesenszüge geleugnet, die für alle Erkenntnis entscheidend sind und die die Erkenntnis überhaupt erst zur Erkenntnis machen. DieIntentionalität und Rezeptivität der Sinneswahrnehmung wurde noch leichter anerkannt als der empfangende Grundzug der Wesenseinsichten. Gerade hier, wo die empfangende, intentionale Beziehung des Geistes zum Gegenstand ihren Höhepunkt erreicht, wo die Erkenntnis nicht nur vom Schaffen verschieden ist (wie überall), sondern wo jegliches Schaffen, Setzen, Konstituieren oder Konstruieren (sei es bewusst oderunbewusst) vom Erkennen völlig ausgeschlossen ist, leugnet man das rezeptive, seinsentdeckende Wesen des Erkennens. Da jedoch der wichtigste Gegenstand philosophischer Erkenntnis in sich notwendig ist und als Seinsbereich jede »Zufälligkeit« und »Erfindbarkeit« ausschließt, die für alle Phantasie, Konstitution, Konstruktion und Schöpfung vorausgesetzt sind, kann philosophische Erkenntnis am wenigsten von aller Erkenntnis ihren Gegenstand erzeugen. Denn sie wendet sich nicht jenem Seinsbereich zu, dem etwa die Wahrnehmung und alle Arten von empirischer wissenschaftlicher Realkonstatierung zugeordnet sind. Gerade hier also, inMetaphysik und Philosophie, wo jeder Anflug schöpferischer Tätigkeit Erkennen verhindert, leugnen fast alle neueren Philosophen den rezeptiven Grundcharakter der Erkenntnis und deuten ihn in einen schöpferischen, spontanen um. (Dies gilt für Kant und Kantianer ebenso wie für Hume und die meisten empiristischen und neopositivistischen Philosophen, Konstruktivisten, zahlreiche analytische und zahllose andere Philosophen). In Wirklichkeit aber lassen ausschließlich philosophischeIrrtümer eine spontan-schöpferische Tätigkeit bezüglich ihres Gegenstandes zu, philosophische Erkenntnis aber ist mehr als alle übrige empfangend.

So ist auch jene Erkenntnis, in der wir das notwendige Wesen jeglicher Erkenntnis erkennen, jene Erforschung letztlich intelligibler Wesensunterschiede, wie zwischen Erkenntnis und Irrtum, die wir im ersten Teil vornehmen, metaphysischer Natur. Denn sie bezieht sich 1. auf etwas, das niemals ein bloß für den Menschen sich konstituierender Aspekt der Wirklichkeit sein kann, sondern auf das, was Erkenntnis an sich ist und 2. auf eine intelligible Wesenheit, die uns mit einer über alle Täuschungsmöglichkeit erhabenen Gewissheit gegeben ist. Nicht jegliche Erkenntnis, wohl aber die Erkenntnis des Wesens jeglicher Erkenntnis hat also einen Gegenstand, der sich uns in seinem notwendigen, an sich seienden Sein erschließt. Im II. Teil wird dann diese Art von Erkenntnis, die wir im I. Teil anwandten, zum Thema der Untersuchungen erhoben werden.

 

Die Methode dieser Arbeit

 

Die Grundmethode der philosophischen Erkenntnis wird dort ausführlich behandelt werden: Es ist die Einsicht in notwendige und intelligible Wesenheiten der Dinge und die in ihnen gründenden Sachverhalte.38 Wie schon oftmals seit Platon und Aristoteles dargelegt wurde, ist kein deduktiver Beweis sicherer als die (nicht immer weiter beweisbaren) ihm zugrundeliegenden Prinzipien und Deduktionsgesetze, die ausschließlich in einer originären Einsicht gegeben sein können. Und selbst ein Positivismus, der nur empirische Realkonstatierung und Induktion, bzw. Falsifikation von Hypothesen, anerkennen möchte, setzt nicht empirisch nachweisbare, sondern letztlich durch sich selbst evidente Prinzipien der Induktion voraus. Dies nachzuweisen ist hier nicht der Ort. Hauptsächlicher Gegenstand der Philosophie sind intelligible, notwendige Wesenheiten, die nur in der philosophischen Urmethode der Wesenseinsicht oder Wesensschau erfasst werden können, wie sie im II. Teil der Arbeit breit behandelt wird. Dass es sich bei den in solchen Einsichten erfassten Wahrheiten keineswegs um bloße Behauptungen handelt, die grundlos wären und nicht vielmehr auf Grund ihrer Evidenz keiner weiteren Begründung bedürftig oder fähig sind, kann nur sehr indirekt auf drei Wegen gezeigt werden, die ich soweit als möglich beschreiten werde.

Erstenskönnen die behandelten Sachverhalte dadurch zu deutlicher und allgemein anzuerkennender Gegebenheit gebracht werden, dass die Unterscheidung zusammenhängender, aber verschiedener Wirklichkeiten klar durchgeführt wird, indem man die Merkmale anführt, die dann wohl unbestreitbar auf eine, nicht aber auf eine andere der erforschten Wirklichkeiten zutreffen.

Zweitens kann bei vielen Wahrheiten gezeigt werden, dass ihre Leugnung sie notwendig wieder stillschweigend voraussetzt.

Drittens kann oft nachgewiesen werden – eine Methode, die Platon in seinen Dialogen häufig verwendet – dass ein Philosoph das, was er an einer Stelle leugnet, an einer andern selbst sieht oder zugibt.

Das alles sind sicherlich nur indirekte Hinweise darauf, dass es sich in der Philosophie nicht um blinde Behauptungen, sondern um evidente Sachverhalte und Wesenszusammenhänge handelt, die auf Grund ihres unableitbaren Gehaltes nur unmittelbar eingesehen werden können. So gewissenhaft auch die Arbeit sein muss, die zu einer Herausarbeitung und systematischen Darstellung dieser evidenten Sachverhalte führt, so kann sie dem Leser doch nur den Weg zu diesen durch nichts ersetzbaren eigenen Einsichten weisen. Dass es unabhängig von diesen Einsichten kein äußeres »Wahrheitskriterium« gibt, ist nicht ein Mangel, sondern gründet vielmehr in der Würde der Wesenseinsicht, die auch im Leben die zentrale Urform der Erkenntnis ist und für die das Wort Spinozas zutrifft, dass die Wahrheit sowohl sich selbst als auch das Falsche offenbart.39

Es muss schon hier betont werden, dass unsere primäre Methode im Grunde ein schlichtes Erfassen in sich notwendiger, intelligibler Wesenheiten und Sachverhalte ist und keinerlei subjektives Interpretieren bzw. Spekulieren. Die in Wahrheit bestehenden und mit Evidenz eingesehenen Sachverhalte sollen in ihren Zusammenhängen zu solcher Klarheit gebracht werden, dass ihre innere Intelligibilität offenbar wird. Dabei weiß jeder, der es einmal versucht hat, welch sorgfältige Prüfung, welch mühsame Arbeit, welch unausgesetztes Auf-der-Hut-Sein vor vorschnellen Urteilen nötig ist, um die wirklich notwendigen, eindeutig gegebenen Wesenssachverhalte ohne Verwechslungen und Irrtümer herauszuarbeiten. So einleuchtend und »einfach« auch diese Wesenssachverhalte sind, so schwierig ist es, sie bis zu eindeutiger Gegebenheit aufzuklären.

Es ist aber ein weitverbreitetes Vorurteil, diese große philosophische Arbeit der durchgehenden Klärung von Wesenssachverhalten zu verkennen und zugleich zu meinen, das »Sehen« des Gegebenen, die »Phänomenologie« der Erkenntnis, die als »Beschreibung« von »Erscheinungen« missverstanden wird, bedürfe nachträglich einer »Theorie«, d. h. zur Erklärung des Erschauten herangetragener Hypothesen. Diese etwa von N. Hartmann vertretene Auffassung werden wir später zurückweisen.

Selbst an den wenigen Punkten, wo wir Sachverhalte untersuchen werden, die uns nicht vollständig gegeben und nicht in sich evident sind (etwa gewisse Sachverhalte bezüglich der objektiven Existenz der Außenwelt), ist kein konstruktives Spekulieren erlaubt, sondern vielmehr ein »Sehen« dessen erfordert, was die unmittelbar gegebenen Sachverhalte uns eindeutig verbürgen. Es ist das Erkennen »im Spiegel des unmittelbar Gegebenen« und nur in diesem klassischen Sinn »Spekulation«, zu der wir jedoch in dieser Arbeit nur an ganz wenigen Stellen Zuflucht nehmen müssen.

 

 

2 Ne. We. Bd. III, S. 317/18: »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn«, 1. Abschnitt (Schluss). Die Hervorhebungen stammen von mir. Die zitierten Werke werden in den Anmerkungen oder im Text nur per Titel zitiert. Die bibliographischen Angaben entnehme man dem Verzeichnis der zitierten Werke am Ende des Buches.

3 A. a. O., S. 316.

4 A. a. O., S. 314.

5 B. Schwarz nennt in seinem Aufsatz »Wahrheit und Wissenschaft« dieses »geistesgeschichtliche Phänomen von gewaltigem Ausmaß« den »Kampf der Philosophie gegen die Wahrheit« (a. a. O., S. 99 ff).

6 In einer Arbeit über »Wahrheit und Irrtum bei Friedrich Nietzsche« versuchte ich, in die Gründe für den »Umschlag« einzudringen, in dem Nietzsche zunächst den Relativismus und den Nihilismus als entsetzlich erlebt – und dann plötzlich als den »großen Befreier, jenen Gedanken, daß das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe« (Die fröhliche Wissenschaft, IV. Buch n. 324, Ne. We. Bd. II, S. 187).

7 Husserl, Logische Untersuchungen Bd. I, § 38 ff.; ebd., Kap. 7, S. 124: »Jede Lehre, welche die rein logischen Gesetze entweder nach Art der Empiristen als empirisch-psychologische Gesetze faßt oder sie nach Art der Aprioristen mehr oder minder mythisch zurückführt auf gewisse ›ursprüngliche Formen‹ oder ›Funktionsweisen‹ des (menschlichen) Verstandes, auf das ›Bewußtsein überhaupt‹ als (menschliche) ›Gattungsvernunft‹, auf die ›psychophysische Konstitution‹ des Menschen, auf den ›intellectus ipse‹, der als angeborene (allgemein menschliche) Anlage dem faktischen Denken und aller Erfahrung vorhergeht u. dgl. – ist eo ipso relativistisch, und zwar von der Art des spezifischen Relativismus.« In extenso behandelt Husserl Wesen und Begriff des Psychologismus im 4. und 5. Kapitel des ersten Bandes, a. a. O.

8 Vgl. Logische Untersuchungen I, Kap. 7, wo Husserl die Unterscheidung zwischen individuellem Relativismus und spezifischem Relativismus, bzw. Anthropologismus durchführt, der die Wahrheit nicht auf den einzelnen Menschen, sondern auf »die Spezies Mensch« relativ setzt. »Können wir bei dem Subjektivismus (individuellem Relativismus) zweifeln, ob er je in vollem Ernste vertreten worden sei, so neigt im Gegenteil die neuere und neueste Philosophie dem spezifischen Relativismus, und näher dem Anthropologismus, in einem Maße zu, daß wir nur ausnahmsweise einem Denker begegnen, der sich von den Irrtümern dieser Lehre ganz rein zu erhalten wußte.« (A. a. O., S. 116. Vgl. auch S. 117 ff.)

9 Ne. W. Bd. III, S. 314.

10 Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen III, 3, in: Ne. We. Bd. 1, S. 302-3.Die zitierte Kleist-Stelle stammt aus einem Brief vom 22. III. 1801. Vgl. Heinrich von Kleist, dtv Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 163.

11 Das Wesen der »Wertantwort« hat Dietrich von Hildebrand erstmalig zu voller philosophischer Gegebenheit gebracht und damit jene »Antwort« des Willens oder des Herzens bezeichnet, die der Mensch, einem werttragenden Gut um jener Bedeutsamkeit und Kostbarkeit willen gibt, die es in sich besitzt, jene Antwort, die ihm auf Grund seines Wertes gebührt. Vgl. D. von Hildebrand, Ethik, Kap. 1–3; 17–18. Wir werden auf diesen Begriff, den D. von Hildebrand geprägt hat und der ein Zentralbegriff für die gesamte Ethik ist, in geeignetem Zusammenhang zurückkommen. Vgl. dazu auch B. Wenisch, Der Wert – eine an D. von Hildebrand orientierte Auseinandersetzung mit Max Scheler.

12 Vgl. S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, S. 39 ff., S. 47 ff., Anm., S. 48 ff.

13 Vgl. H. Von Kleist, Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. 6, S. 163. An diese Stelle schließt die von Nietzsche zitierte mit den Worten an: »Wir können nicht entscheiden […]« Anschließend in demselben Brief (a. a. O., S. 164) schildert Kleist, wie seine Freunde diese seine Erschütterung nicht verstanden und versuchten, ihn mit einer harmlosen philosophischen Lektüre zu »beruhigen«, die auf die über den Sinn unseres Lebens entscheidende Frage, ob wir nämlich eine absolute Wahrheit erkennen können, keine Antwort gibt.

14 Brief vom 23. März 1801. A. a. O., S. 165.

15 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, § 44c, S. 229.

16 Vgl. dazu etwa eine Tagebuchaufzeichnung Edith Steins (1913) in: Sr. Teresia Renata a. Sp. S. Edith Stein, S. 30. Vgl. auch Sr. Teresia a. M. D., Edith Stein, S. 40.

17 Obwohl er historisch zunächst vergessen wurde, darf man den großartigen Durchbruch zur vollen Transzendenz der Erkenntnis hier nicht unerwähnt lassen, den »der böhmische Leibniz« Bernhard Bolzano, schon 1837 in seiner Wissenschaftslehre leistete. Husserl selbst betont, von welcher Größe dieses Werk sei und wieviel er Bolzano verdanke.

18 Vgl. Adolf Reinach, Zur Phänomenologie des Rechtes; »Über Phänomenologie«, und »Zur Theorie des negativen Urteils«, S. 56, an Alexander Pfänder, besonders an seine erkenntnistheoretischen Erwägungen in seiner Logik; an Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?, Kap. 4, »Das Cogito und die Erkenntnis der realen Welt«. Vgl. auch Josef Seifert, Discours des Méthodes.

19 Vgl. HUA a. a. O., Bd. III, IV, V.

20 Husserls Wende zum Transzendentalismus, dessen Überwindung viele seiner Schüler und Freunde gerade in den Logischen Untersuchungen (der ersten Fassung von 1900/1) sahen, wurde von Alexander Pfänder vollkommen zurückgewiesen. (Vgl. Herbert Spiegelberg, Alexander Pfänders Phänomenologie, S. 3–4; bes. S. 17–19). Auch Adolf Reinach, der ja die transzendentale Wende Husserls kaum mehr erlebte, hat sie, wie aus seinen Gesammelten Schriften klar hervorgeht, insbesondere aus den nach 1913 auf dem Felde verfassten Schriften und Aufzeichnungen, entschieden abgelehnt. Auch Edith Stein, Hedwig Conrad-Martius u. a. vollzogen diese Wendung nicht mit. Am entschiedensten allerdings hat D. von Hildebrand eine jedem transzendentalen Idealismus entgegengesetzte, diesen weit über die Logischen Untersuchungen hinaus überwindende Erkenntnislehre erarbeitet.

21 Dies habe ich in »Discours des Méthodes« und »Phänomenologie und Philosophie als strenge Wissenschaft« herausgearbeitet.

22 Vgl. Josef Seifert, »Diligere veritatem omnem et in omnibus«, in: Ethos, Nr. 28, 1994, S. 75-76.

23 Vgl. Josef Seifert, Cheikh Mbacké Gueye (Hg.), Anthologie der Realistischen Phänomenologie; vgl. auch D. von Hildebrand, What is Philosophy? S. 222-226. Wegen des irreführenden, vor allem aber zunehmend im Sinne des späten Husserl verstandenen Ausdrucks »Phänomenologie« verwendet auch D. von Hildebrand in seinen späteren Werken diesen früher von ihm (im erwähnten Sinn) gebrauchten Begriff nicht mehr. Allerdings habe ich später den Begriff der realistischen Phänomenologie eingeführt und den so modifizierten Terminus wieder gebraucht. Vgl. Josef Seifert: Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism; Discours des Méthodes. The Methods of Philosophy and Realist Phenomenology.

24 Vgl. Kritik des ethischen Relativismus D. von Hildebrand, Ethik, a. a. O., Kap. 9. Vgl. auch Fritz Wenisch, Die Objektivität der Werte.

25 Diese Frage habe ich inzwischen in mehreren Büchern und Aufsätzen eingehend behandelt. Vgl. Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 10-15; Gott als Gottesbeweis; Erkenntnis des Vollkommenen; Conocimiento de Dios por las vías de la razón y del amor.

26 Diesen von ihm selbst geprägten Begriff hat D. von Hildebrand in Ethik, Kap. 1-3; 17-18, eingehend analysiert und dabei m. E. eine für die gesamte Ethik und Metaphysik der Person fundamentale Wirklichkeit herausgearbeitet.

27 Dietrich von Hildebrand, Ethik, Kap. 18.

28 Vgl. Dietrich von Hildebrand, Das Wesen der Liebe, Kap. 9.

29 Vgl. Blaise Pascal, Œuvres completes, S. 515 (Fr. 131-434).

30 Dass sich diese Frage in einem gewissen Maß auch philosophisch beantworten lässt, habe ich in verschiedenen Werken dargelegt, z.B. in Josef Seifert: »Das Unsterblichkeitsproblem aus der Sicht der philosophischen Ethik und Anthropologie«; Das Leib-Seele Problem und die gegenwärtige philosophische Diskussion; What is Life?; Philosophie, Wahrheit, Unsterblichkeit; »Philosophizing with Plato about the Immortality of the Soul«.

31 Es ist offenkundig, dass nicht nur schon die größten Philosophen der Antike die Unsterblichkeit der Seele erkannten, sondern dass diese Transzendenz als ewiges Leben wesenhaft zu jeder christlichen Lehre gehört. Es sei hier erwähnt, dass an seine Stelle auch bei vielen Theologen eine Auffassung tritt, in der »Transzendenz« nur noch das zukünftige geschichtliche Leben bedeutet im Sinne von Ernst Blochs Prinzip Hoffnung oder im Sinne der Vorstellungen einer »neuen Menschheit« bei Herbert Marcuse. Ist es da nicht beschämend, dass Marcuse solchen Theologen sagen muss, dass diese Auffassung mit jedem Christentum unverträglich ist? (Vgl. »Neues Forum« XV/176-177. August/September 1968). Vgl. auch D. von Hildebrand, Das trojanische Pferd in der Stadt Gottes, Kap. 19.

32 Augustinus, De Civitate Dei, V, X.

33 »Die Größe und das Elend des Menschen« ist ja deshalb der in tiefer gegenseitiger Beziehung stehende Doppelaspekt des Menschen, der im Mittelpunkt der Philosophie Pascals steht. Vgl. Blaise Pascal, Œuvres completes, S. 506-528. (fr. 53-202).

34 Das Wesen der philosophischen Gotteserkenntnis und der zentralen Gegebenheiten der »Analogie« habe ich in mehreren Büchern und Aufsätzen eingehend behandelt, etwa in Josef Seifert: Essere e persona, Kap. 5; 7; 10-15. Gott als Gottesbeweis; Erkenntnis des Vollkommenen; Conocimiento de Dios por las vías de la razón y del amor.

35 In dem hier gemeinten Sinn verwendet etwa K. Jaspers sehr oft den Transzendenzbegriff. Vgl. etwa den III. Bd. seiner dreibändigen Philosophie, S. 2 ff., S. 6 R., S. 41 f., S. 43 ff., wo sich der Versuch findet, das Sein als Transzendenz, als jenseits von Subjekt und Objekt, von Sein und Nichts, als letztlich völlig unerkennbar zu bestimmen. Vgl. etwa auch dasselbe in Jaspers, Nietzsche, Kap. 2. Vor allem S. 194 ff.

36 Außer diesem gibt es heute, wie schon erwähnt, einen wohl ebenso verbreiteten »Transzendenz«-Begriff, hinter dem sich eine Form des Immanentismus verbirgt: die historisch zukünftige, die gegenwärtigen Mängel angeblich transzendierende Gesellschaft im Sinne des Marxismus, H. Marcuses oder vieler »Revolutionstheologen«.

37 Friedrich Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches, I. Bd., 9, in: Ne. We. Bd. I, S. 452.

38 Dies entspricht den wichtigsten beiden primären Methoden (im Sinne von Erkenntnisformen) philosophischer Erkenntnis, die ich später (2009) im Discours des Méthodes von einer Reihe anderer philosophischer Erkenntnisformen (Methoden im ersten Sinn) sowie von zwei anderen Arten philosophischer Methoden unterschied. Es gibt nicht eine einzige, sondern eine Mehrheit philosophischer Methoden: Zunächst drei Grundarten von »Methoden«: 1. Erkenntnisformen; 2. Wege, um zu diesen zu gelangen, die zugleich innere Elemente philosophischer Erkenntnisse sind, wie etwa Unterscheidungen von benachbarten und von entgegengesetzten Phänomenen, Antworten auf wirkliche oder mögliche Einwände; 3. Tricks bzw. der Erkenntnis äußere Mittel, um zu philosophischen Erkenntnissen zu gelangen: wie der methodische Zweifel, die epoché, Wortbedeutungsanalyse, etc. Ferner gibt es innerhalb aller drei Arten philosophischer Methoden eine Mehrheit derselben. Daher der Titel des Buches.

39 Die gemeinte Stelle stammt aus der Kurzen Abhandlung und lautet: »Es kann keine andere Klarheit geben, durch welche sie – die klaren Ideen – klargemacht werden könnten. Daraus folgt, dass die Wahrheit sowohl sich selbst als auch die Falschheit offenbart.« II. XV. a. a. O., S. 89.

I. Teil

 

Erkenntnis, Täuschung, Irrtum – die in jedem Erkennen gelegene Transzendenz

 

1. KAPITEL: INTENTIONALITÄT UND REZEPTIVITÄT DER ERKENNTNIS

 

Allgemeine Wesenszüge der Erkenntnis

 

Wie schon aus der Einleitung hervorgeht, wird in diesem Teil erstens auch jene Erkenntnis behandelt, deren Gegenstand ein sich nur als »Objekt« für eine Person konstituierender Aspekt der Wirklichkeit ist, wie es etwa Farben oder Töne sind, die nicht unabhängig vom perzipierenden Subjekt existieren.Der Begriff der Erkenntnis wird zweitens (im Unterschied zum nächsten Teil der Arbeit) hier zunächst insofern in einem weiteren Sinn verstanden, als er auch solche Akte mitumfassen soll, in denen sich Wirkliches unserem Geiste nicht ohne ein über die Erkenntnis im strengen Sinn hinausgehendes Interpretations- bzw. Glaubenselement erschließt; in solchen Akten ist prinzipiell eine Täuschungsmöglichkeit gegeben.

Bevor auf die Versuche eingegangen wird, die Erkenntnis immanentistisch umzudeuten, soll versucht werden, frei von allen Vorurteilen und Konstruktionen das Wesen des bewussten, personalen Aktes der Erkenntnis zu betrachten und jene intelligiblen Wesenszüge zu untersuchen, die in jeder Erkenntnis gefunden werden können, von der schlichten Wahrnehmung eines »rot« bis zu den höchsten Formen der Einsicht und des geistigen Erfassens. Zunächst möchte ich an Hand von Texten Dietrich von Hildebrands einige Wesensmerkmale der Erkenntnis anführen, die dann gegenüber den gegen sie erhobenen immanentistischen Einwänden näher geklärt werden sollen.

 

Erkenntnis lässt sich auf nichts anderes zurückführen oder aus ihm ableiten:

 

»Das Erkennen ist eine jener letzten Gegebenheiten, die sich nicht auf irgend etwas anderes reduzieren lassen, die wir darum nicht ›definieren‹, auf die wir nur indirekt hinweisen können. Das eigentliche Wesen des Erkennens lässt sich nur unmittelbar erfassen […]«40

 

Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt in der Erkenntnis (außer in der unmittelbaren ungegenständlichen inneren Selbsterfahrung, auf die wir zurückkommen werden) ist eine intentionale.

 

»Mit der ganzen reichen Welt, die uns umgibt […], sind wir nicht nur kausal41 verbunden, wie apersonale Gebilde, wie ein Stein, eine Pflanze, ein Tier, sondern auch in dieser ganz einzigartigen Weise eines geistigen Erfassens, jenes intentionalen Teilhabens an ihnen, jenes geistigen Umfassens, wie es die Erkenntnis darstellt.«

 

Das Sein der Person kann nicht ohne (grundsätzliches) Erkenntnisvermögen, und die letztere nicht ohne Person bestehen oder auch nur gedacht werden.

 

»Wenn wir sagen können, dass das Sein der Person nicht gedacht werden kann, ohne ihre Fähigkeit zu erkennen, so kann anderseits auch das Erkennen nicht gedacht werden ohne die geistige Person, ohne das bewusste Sein derselben, ohne ihre intentionale Struktur und ohne ihre Fähigkeit zu transzendieren. Es ist eine völlig einzigartige Berührung, in die ein Seiendes mit einem anderen Seienden tritt, indem es dasselbe erkennt. Sie ist nicht wie eine kausale Berührung bei Gegenständen verschiedenster Art möglich, sondern sie setzt notwendig voraus, dass das eine Seiende ein personales Subjektist, ein bewusst Seiendes.«

Diese These soll weder ausschließen, dass die Person auch zeitweise (oder lebenslang) in einem unbewussten Zustand existieren kann und doch voll Person ist, noch dass es in Tieren ein dem Erkennen analoges Wahrnehmen und Erfahren gibt.

 

Das Erkennen ist eine einseitige Berührung zwischen

Subjekt und Objekt, die keine Identität zwischen erkennendem Subjekt und Erkanntem voraussetzt oder einschließt

 

»Und das Erkennen ist weiterhin eine einseitige Berührung, in der das Objekt von dem Subjekt erfaßt wird, m. a. W. eine Berührung, die nur eine Veränderung im Subjekt, nicht im erkannten Objekt bedeutet. Aber diese Veränderung im Subjekt darf nicht als ein Einbezogenwerden des erkannten Gegenstandes in unser personales Sein umgedeutet werden […] Wenn wir ein Orange sehen, so haben wir an dem Orange in ganz eigenartiger Weise teil. Wir besitzen es geistig, indem wir ein Bewußtsein von ihm haben. Aber diese intentionale Berührung muß völlig von einer realen Seinsteilnahme getrennt werden. Wir ›werden‹ nicht orange, indem wir das Orange sehen. . .

Das Erkennen vollziehen wir, es ist ein realer Bestandteil von uns […], aber das erkannte Objekt ist dadurch, daß wir es erkennen, noch keineswegs ein realer Bestandteil unseres personalen Seins.«