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Kommissar Merana muss sich auf dem Christkindlmarkt eines Christkinds mit Pistole erwehren ("Maroni, Mord und Hallelujah"). In einer Dorfgemeinschaft trifft die hinzugezogene Karen auf Anfeindungen und Misstrauen und bringt auf der Suche nach der Wahrheit Dinge zutage, die besser verbogen blieben … ("Wintermorgenrot"). Und in "Stille Nacht, grausige Nacht" wird es richtig gruselig: Reporterin Trisha liest beim Übernachten in einem einsamen Hotel ihre eigene Geschichte, die mit einer schrecklichen Drohung endet: Noch heute Nacht wirst du sterben!
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Seitenzahl: 937
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Manfred Baumann * Michaela Küpper * Friederike Schmöe
Herbei, o ihr Morde
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Katja Ernst
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung der Fotos: ©bit.it / photocase.de; Illustrationen: Simone Hölsch, unter Verwendung von: © Can Stock Photo Inc. / iaRada, © Can Stock Photo Inc. / Kamensky Maroni, Mord und Hallelujah, erstmals erschienen 2014); © bit.it / photocase.de (Stille Nacht, grausige Nacht, erstmals erschienen 2015); Simone Hölsch unter Verwendung von © sanne84/photocase.de (Wintermorgenrot, erstmals erschienen 2015)
Zusammenführung: Simone Hölsch unter Verwendung von © bit.it / photocase.de
ISBN 978-3-7349-9454-8
Manfred Baumann
Maroni, Mord und Hallelujah
Michaela Küpper
Wintermorgenrot
Friederike Schmöe
Stille Nacht, grausige Nacht
In dem Augenblick, als Martin Merana nach dem heißen Glühweinbecher griff, um mit seinen beiden Mitarbeitern Carola Salman und Otmar Braunberger anzustoßen, passierte zweierlei: Der Klang von Posaunen setzte ein, und es begann zu schneien. Das ist ja wie inszeniert!, dachte Merana. Die Bläser spielen Leise rieselt der Schnee, und der beginnt tatsächlich zu rieseln. Das fühlt sich an wie großes Weihnachtstheater. Er reckte das Gesicht zum Himmel, ließ die dicken Schneeflocken auf sein Gesicht gleiten, auf Stirn, Augen, Wangen, Nase. Er öffnete den Mund, spürte die kleinen weißen Schneekristalle, die sacht auf seiner Zunge landeten. Er fühlte sich um Jahrzehnte zurückversetzt, in seine Kindheit. Da hatte er es auch geliebt, sich die Flocken ins Gesicht tropfen zu lassen wie zarte, kitzelnde, erfrischende Küsse.
… freue dich, ’s Christkind kommt bald.
Merana reckte den Hals. Er konnte nicht genau ausmachen, woher die Musik kam, das Gedränge rings um den Glühweinstand war zu dicht. Vermutlich waren die Musiker irgendwo unter den Dombögen postiert, vielleicht auch auf den Eingangsstufen der Kathedrale. Jedenfalls breitete sich der Klang der mehrstimmigen Bläserweise wie eine feine Decke über dem Platz aus. Merana hatte sich vor zwei Stunden gewundert, dass seine Stellvertreterin, Chefinspektorin Carola Salman, in sein Büro gekommen war, um ihn zu einem spontanen Besuch des Christkindlmarktes in der Salzburger Altstadt zu überreden. Das war sonst gar nicht ihre Art. Er hatte gezögert, hatte erwidert, wenn schon, dann wolle er lieber zum Adventmarkt nach Hellbrunn. Aber dann war auch noch Otmar Braunberger dazu gestoßen, der meinte: »In Hellbrunn bist du ohnehin oft genug, Martin, lass uns in die Stadt gehen!« Und so stand er eben jetzt mit seinen zwei engsten Mitarbeitern vor der Glühweinhütte in der Mitte des Domplatzes, eingepfercht zwischen Weihnachtsengeln, Krippenfiguren, Lichterketten, Christbaumkugeln, duftenden Bratwürsten und Tausenden Besuchern, mit tanzenden Schneeflocken vor den Augen, und lauschte den Klängen des Bläserquartetts, das nun den Anfang von Süßer die Glocken nie klingen intonierte. Das Lachen, das an sein linkes Ohr drang, klang auch süß. Es kam von zwei Italienerinnen, die hellauf glucksten und an ihren Gläsern mit ›Aperolpunsch‹ nippten. Dieses Gebräu war zur Zeit das absolute In-Getränk auf dem Salzburger Christkindlmarkt.
Wenn er sich recht erinnerte, dann gab es dieses vorweihnachtliche geschäftige Treiben rund um den Dom schon sehr lange. Und als hätte Abteilungsinspektor Otmar Braunberger Meranas Gedanken erraten, sagte er unvermittelt: »Was man bei den alten Weibern für schöne Sachen zu kaufen finden kann.« Der Kommissar wusste mit dieser Bemerkung seines Mitarbeiters nicht so recht etwas anzufangen. Auch die Chefinspektorin blickte leicht verwundert drein. »Keine Angst, Carola, das mit den alten Weibern ist keine Respektlosigkeit gegenüber der Damenwelt hier im weiten Rund, sondern ein Zitat aus dem 15. Jahrhundert.« Der Abteilungsinspektor lachte und hob seinen Glühweinbecher. Die Angesprochene verstand immer noch nicht, was Otmar Braunberger meinte. »Also gut, dann muss ich den beiden Chefermittlern eine kurze Einführung in die Geschichte des Salzburger Christkindlmarktes geben.« Bevor er dieses Vorhaben in die Tat umsetzte, wandte der Abteilungsinspektor sich kurz um und fragte den pausbäckigen Mann in der Glühweinhütte, ob er vielleicht ein kleines Bier haben könnte. Der Glühwein sei zwar sicher von edler Qualität, fügte Braunberger hinzu, und die raffinierte Gewürzmischung gewiss über alle Maßen zu loben, aber ein herzhaftes Hopfengetränk wäre ihm jetzt doch lieber. Der Pausbäckige grinste, langte unter die Schank, holte eine kleine Flasche hervor und reichte sie dem Polizisten. Der öffnete den Drehverschluss, nahm einen ausgiebigen Schluck und ließ im Ausatmen einen Ausdruck des Wohlwollens vernehmen.
»Also, meine Lieben, dann darf ich kurz ausholen. Die alten Weiber, bei denen man schöne Sachen zu kaufen findet, wie es in einem überlieferten Lied heißt, bezieht sich auf die Standlerinnen des alten Tandlmarktes, der schon im Mittelalter hier rings um den Dom abgehalten wurde. Daraus wurde allmählich ein beliebter und viel besuchter Vorweihnachtsmarkt, der im 17. Jahrhundert in den Chroniken als Nikolaimarkt auftaucht.«
»Das heißt, der Markt hatte damals nicht das Christkind im Namen, sondern den Heiligen Nikolaus.«
Der Abteilungsinspektor prostete Merana zu. »Wunderbar kombiniert, Martin. Man merkt halt doch, dass du der Chef bist.« Er zwinkerte dem Kommissar zu und lachte feixend.
Der Chef der Salzburger Kriminalpolizei boxte seinem Abteilungsinspektor freundschaftlich gegen den Oberarm. »Verarschen kann ich mich selber. Und du musst mir auch nicht erzählen, dass viele Jahrhunderte lang der Nikolaustag, also der 6. Dezember beziehungsweise der Vorabend, der eigentliche Gabentag in der Weihnachtszeit war. Einander Geschenke am 24. und 25. Dezember zu überreichen, ist eine viel jüngere Tradition.«
Braunberger hob erneut anerkennend die Flasche, ersparte sich aber jegliche Bemerkung. Carola prostete mit. Sie hatte einen Aperolpunsch gewählt, Merana war lieber beim guten alten Glühwein geblieben. Inzwischen waren die Bläser in der Ferne bei Alle Jahre wieder angekommen. Der Schneefall nahm zu. Auf den schwarzen Locken der immer noch glucksenden Italienerinnen bildeten sich weiße Flockenkronen. Merana blickte sich um. Ein vielstimmiges fröhliches Geschnatter, untermalt von Posaunenklang und Lachen, drang an sein Ohr. Fast eine Million Besucher aus der ganzen Welt kam jedes Jahr hierher, um in das funkelnde Glitzerreich des berühmten Salzburger Christkindlmarktes einzutauchen. »Also Martin, auf einen weiterhin schönen Abend!« Seine Stellvertreterin hob erneut ihr Punschglas. Während sie behutsam einen Schluck nahm, richtete sie ihren Blick auf den Kommissar. Es blitzte kurz in den grauen Augen auf, und ein seltsames Lächeln stahl sich in ihr Gesicht. So kam es Merana zumindest vor. Aber vielleicht waren es auch nur die Lichter der hell erleuchteten Stände der Umgebung, die sich auf dem Gesicht der Chefinspektorin spiegelten. Merana spürte, wie ihm plötzlich warm wurde. Kam das vom Glühwein? Gut, dass er nicht mit dem Auto in die Stadt gefahren war. Er würde wohl auch für die Heimfahrt ein Taxi nehmen und seinen Wagen in der Polizeidirektion stehen lassen. Er blickte hoch. Obwohl es in dicken Flocken auf sie herabschneite, und man den Eindruck hatte, eine weiße Decke schwebe über ihnen, gab es trotzdem einen Sternenhimmel auszumachen. Über ihnen schimmerten die vielen Lichter der großen sternförmig gespannten Girlanden, die sich über den gesamten Markt zogen. Ein Lichtermeer vor der hell erleuchteten Fassade des Doms. Das ist so kitschig, dass es schon wieder schön ist, dachte Merana. Und die weißen Mauern der Festung Hohensalzburg, die in der Entfernung hoch über ihnen von Scheinwerfern bestrahlt aus dem Schneeflockennachthimmel geschält wurden, verstärkten noch den märchenhaften Eindruck. Merana löste seinen Blick von Lichterketten und Festungszinnen. Gut, beschloss er für sich, einen Becher Glühwein noch, dann ist Schluss. Noch ehe er seine Bestellung äußern konnte, drückte ihm seine Stellvertreterin schon die dampfende, frisch gefüllte Keramikschale in die Hand. Wieder konnte er dieses schwer zu deutende Lächeln in Carolas Blick erkennen. Das verwirrte ihn. Wenn er es nicht aufgrund ihrer über die Jahre gewachsenen Freundschaft besser wüsste, würde er annehmen, sie versuchte mit ihm zu flirten. Er beugte sich vor und drückte der Chefinspektorin einen Kuss auf die Wange. Dabei mussten sich seine Lippen durch ein paar Schneeflocken auf Carolas Haut ihren Weg bahnen. »Mille grazie für den alkoholischen Nachschub, Frau Kollegin. Diesen einen Becher noch, dann lass ich es für heute genug sein.«
Er nahm vorsichtig einen Schluck, verbrannte sich dennoch leicht die Zunge. Und noch einmal vermeinte er, dieses seltsame Lächeln in Carolas Augen wahrzunehmen. Doch er kam nicht dazu, sich weiter Gedanken darüber zu machen, denn er spürte plötzlich einen heftigen Stoß im Rücken. Er drehte sich um, und konnte mit der freien Hand gerade noch verhindern, dass ein Mann mit dunkler Jacke und Umhängetasche zu Boden stürzte.
»Hallo, was ist mit Ihnen los? Ist Ihnen schlecht?«
Der Mann stöhnte. Seine Beine gaben nach, und er sackte in den Schnee. Merana vermochte ihn nicht zu halten. Ein paar der Umstehenden hatten die Szene mitbekommen. Rufe des Erschreckens wurden laut.
»Was ist denn mit dem los? Hat der zu viel gesoffen?«, kreischte eine Frau im orangefarbenen Anorak. Merana reichte Otmar seinen Becher und ging in die Hocke. Carola hatte sich ebenfalls hinuntergebeugt und versuchte, den Mann an der Jacke zu fassen, um ihm aufzuhelfen. Das Stöhnen wurde lauter. Die Chefinspektorin zog erschrocken die Hand zurück. Rote Flecken zeigten sich auf ihren Fingern.
»Blut. Der Mann ist schwer verletzt.« Nun war kein Lächeln mehr in ihrem Gesicht, nur Verwirrung. Merana richtete sich auf. Ist ein Arzt hier?, wollte er rufen, doch was er in diesem Augenblick sah, ließ ihn innehalten. Vor ihm stand das Christkind. Das wäre an sich noch nicht verwunderlich gewesen auf dem Salzburger Christkindlmarkt. Aber das Christkind hatte eine Pistole in der Hand. Und diese Pistole zielte auf den Kommissar.
»Gehen Sie von dem Mann weg!«, rief das Christkind. Die dunkle, fast rauchige Mezzosopranstimme passte so gar nicht zum goldenen Gewand, dem blondgelockten Haar und den weißen Engelsflügeln der Person. Merana hätte eine glockenhelle Stimme erwartet, mehr kindlich oder mädchenhaft.
»Zurück, oder ich schieße!« Die Mezzosopranstimme wechselte in eine höhere Lage.
Bin ich in einer total durchgeknallten Traumsequenz?, hallte es in Meranas vom Glühwein leicht diffusem Kopf. Sitze ich gleich schweißgebadet in meinem Bett, froh, dass alles nur ein Traum ist? Aber die Pistole in der Hand des Christkindes war echt. Daran bestand kein Zweifel. Eine Glock 20, Kaliber 10 Millimeter. Und die Waffe war auf ihn gerichtet. Das machte ihm Angst. Er spürte, wie sich in seinem Magen etwas zusammenschnürte wie ein schweres, nasses Bündel von Tannenzweigen.
»Komm, Martin, die meint es ernst.« Carola packte ihn am Arm und zog ihn zurück, weg von dem Mann, der immer noch röchelnd vor ihnen im Schnee kauerte. Merana konnte nicht fassen, was sich hier seinen Augen bot, mitten auf dem Salzburger Christkindlmarkt, über dessen lichterhell geschmückten Ständen weiterhin der Klang der Posaunen schwebte. Vom Himmel hoch, da komm ich her. Von dort kam diese merkwürdige Gestalt mit den großen Engelsflügeln sicher nicht. Die Frau im Christkindkostüm, die mit einem Revolver auf ihn zielte, wirkte total irdisch. Was machte sie hier? Was hatte sie mit dem verwundeten Mann auf dem Boden zu tun? Hatte sie ihn angeschossen? Die Gedanken in Meranas Kopf begannen sich zu drehen wie ein Engelskarussel, angetrieben von der aufsteigenden Hitze, entflammt durch Kerzen. Inzwischen waren auch die meisten der Umstehenden auf die absonderliche Szene aufmerksam geworden. Das aufgekratzte Geplauder erstarb allmählich. Alles starrte auf die Erscheinung im goldenen Gewand mit den Engelsflügeln, auf das Christkind, das mit weit nach vor gestreckten Armen eine Pistole in den Händen hielt.
»Is des iatzt a neuer Brauch da in Salzburg, von dem mia no nix wissen?«, rief ein dicklicher Mann in Trachtenjoppe, dem Akzent nach unzweifelhaft ein Bayer. Er machte einen entschlossenen Schritt auf das Christkind zu. »He du, Dirndl, willst uns du da für bled verkafa …?« Weiter kam der Bayer nicht, denn in diesem Augenblick erschallte ein vielstimmiges Halleee! Halleee! Hallehelluuujah! Eine Schar kleiner Gestalten stürmte aus der Gasse zwischen Glühweinhütte und Duftkerzenstand, gekleidet in bunte Joppen und Schaffelljacken, mit Hirtenstöcken und Musikinstrumenten. Es hat sich halt eröffnet das himmlische Tor!, sangen die Hirtenkinder und drückten den Leuten vor den Ständen kleine Päckchen in die Hände. Die Engalan, die kugalan ganz haufenweis hervor …! Gleich hinter den Hirtenkindern tauchten weitere Gestalten auf, riesig, zottelig, furchteinflößend, als wären sie einem Fantasyfilm entsprungen. Die Perchten aus dem Gasteinertal. Sie machten mit ihren umgeschnallten riesigen Kuhglocken einen Höllenlärm. Merana hatte gelesen, dass die finsteren Gestalten aus Gastein heute ihren Auftritt am Salzburger Christkindlmarkt hätten. Aber er hätte sich nicht träumen lassen, dass er plötzlich mitten unter ihnen war. Schellengeläute und wildes Rufen erfüllten den Platz, dazwischen gellte das Gekreische erschrockener Besucher, und die Kinder hüpften weiterhin fröhlich zwischen den Leuten herum und sangen Halleee! Halleee! Hallehelluuujahn!
Hoffentlich dreht die Frau mit der Pistole jetzt nicht durch. Wenn die ihre Nerven wegschmeißt und in diesem undurchsichtigen Tumult zu schießen anfängt, dann gibt das ein Massaker. Meranas Angst wuchs. Das Bündel nasser sticheliger Tannenzweige in seinem Magen schwoll an, blähte sich auf. Er spürte seinen Herzschlag im Hals. Die Hirtenkinder und die Zottelperchten drängten die Menschen auf dem Platz auseinander, schoben sich weiterhin mit Gesang und Gebrüll zwischen die Leute. Auch Merana und Carola wurden von einem Zweimeterwesen mit weiß-braunem Fell und beeindruckend mächtigen gedrehten Hörnern auf dem Kopf gegen die Frontwand der Glühweinhütte gedrückt. Der gesamte Auftritt dauerte keine halbe Minute, dann war die wilde Schar schon an ihnen vorbei und stapfte weiter in Richtung Franziskanerkirche. Die Besucher an der Glühweinhütte waren ganz benommen vom eben erlebten Spektaktel. Die Italienerinnen hatten sich erschrocken beim breitschultrigen Bayern untergehakt. Sie zitterten am ganzen Leib.
»Wo ist die Frau mit der Waffe?«
Merana sah sich um. Das Christkind war weg! Keine Spur von der Blondgelockten mit der Glock 20. Und zu seiner totalen Verwunderung musste der Kommissar feststellen: Auch der verletzte Mann war verschwunden!
»Habt ihr etwas gesehen?« Merana musste schreien, um den Lärmpegel rings um sie zu übertönen. Alle riefen durcheinander. Carola und Otmar schüttelten die Köpfe, blickten hektisch nach allen Seiten. »Das darf es doch nicht geben. Wo ist die Frau hin? Und was ist mit dem Verletzten?«
Im zertrampelten Schnee lag nur mehr die Umhängetasche, die der Verwundete bei sich gehabt hatte. Merana bückte sich danach. Neben der Tasche entdeckte er eine kleine Papiertüte. Er hob die Tasche auf. Sie war aus schwarzem Stoff. Auf der Vorderseite prangte ein großes Peace-Zeichen in schrillem Rot. In der Tasche fand er einige Folder mit der Ankündigung zu einem Adventsingen und fünf kleine Kugeln in Silberpapier.
»Mozartkugeln.«
»Das sind dieselben wie in den Päckchen der Hirtenkinder.« Carola deutete auf das kleine Präsent, das ihr eines der vorbeistürmenden Kinder in die Hand gedrückt hatte. Eine Einladung zum Adventsingen, samt Tannenzweig und Original Salzburger Mozartkugel.
»Und da sind Maroni drin.« Otmar Braunberger hatte die Papiertüte, die neben der Tasche gelegen war, geöffnet. Merana starrte in die Gesichter seiner Mitarbeiter. Sie waren ähnlich verwirrt wie er selbst. Was war hier eben passiert? Ein Mann war gegen ihn gestürzt, zusammengebrochen, offenbar schwer verletzt. Keine zwei Sekunden später stand plötzlich eine Frau im Christkindkostüm vor ihnen, bewaffnet mit einer Glock 20 Halbautomatik. Und wer weiß, was die Kostümierte mit dem einschreitenden Mann aus Bayern angerichtet hätte, wären nicht gleich darauf wild gewordene Hirtenkinder und Perchten über den Platz gestürmt. Und nun waren alle verschwunden: Zottelperchten, Kinder und vor allem der Verwundete und das bewaffnete Christkind.
»Ich kümmere mich um Verstärkung. Wir müssen die Verrückte einfangen.« Otmar hatte schon sein Handy gezückt. Merana nickte. Sie mussten die Frau finden, die Waffe sicherstellen. Aber die Frage, die ihn mindestens genauso beschäftigte: Wer war der schwer verletzte Mann, und wo war er hingekommen?
»Komm, Carola. Wir suchen den Maronistand auf. Vielleicht kann sich jemand an den Mann mit der Umhängetasche erinnern.« Er rannte los, die Chefinspektorin folgte ihm. Sich am Maronistand zu erkundigen, war nur ein schwacher Versuch, Licht in diesen rätselhaften Vorfall zu bekommen, aber sie mussten etwas unternehmen. Die Tüte mit den gebratenen Kastanien konnte auch jemand anderer verloren haben. Es war schwierig, sich einen Weg durch die Massen der Besucher zu bahnen. Allerlei Gerüche erreichten Meranas Nase: Punscharomen, der Duft von Würsten und gebrannten Mandeln. Eine Frau im Pelzmantel versperrte dem Kommissar den Weg. Sie hielt mit leuchtendem Gesicht zwei große mundgeblasene Glaskugeln hoch, Christbaumschmuck von besonders feiner Ausführung, die sie eben an einem der Kunsthandwerksstände erworben hatte. Sie kreischte auf, als Merana keine fünf Zentimeter vor ihr abbremste. Vor Schreck öffnete sie die linke Hand, ließ das rote Band los. Merana tauchte ab in die Hocke und konnte die Glaskugel gerade noch auffangen, bevor sie auf dem Boden zerbarst. Die Frau war völlig verdattert, stotterte ein »Thank you, Sir« mit britischem Akzent heraus, als der Kommissar ihr die Kugel samt Band wieder in die Hand legte. Dann stürmte er weiter. Carola war ihm bereits einige Meter voraus. Sie erreichten die Dombögen, umkurvten einen Mann mit Trachtenhut, der einen zusammengeschnürten Christbaum durch die Menge balancierte, wandten ihre Schritte nach links und drängten sich durch eine Gruppe kichernder Asiaten. Was soll das bedeuten? intonierten nun die Posaunen vor der Kathedrale, die Melodie eines alten Weihnachtsliedes aus Schlesien. Ja, was soll das alles bedeuten?, fragte sich auch Merana, als sie endlich beim Maronibrater ankamen. Doch zu dem schaufelbewehrten Mann durchzukommen, der mit routinierten Bewegungen Papiertüten mit gerösteten Kastanien füllte, war nicht einfach. An die 20 Personen standen dichtgedrängt vor dem heißen Ofen. Die Unmutsäußerungen, die Merana und der Chefinspektorin entgegen schlugen, waren vielsprachig: salzburgisch, wienerisch, sächsisch, tschechisch, japanisch. Doch die beiden Ermittler hatten keine Zeit, sich um Völkerverständigung zu kümmern.
»Herr Kommissar!«, rief der Mann mit der Maronischaufel aufgeregt, als Merana es bis zu ihm geschafft hatte. Trotz der Hitze, die der Maroniofen ausstrahlte, trug der Maronibrater eine rote Zipfelmütze. »Guat, dass Sie daherkommen, schauen S’ amoi!« Der Mann fasste in die große Tasche seiner blauen Schürze und hielt dem Kommissar einen länglichen dunklen Gegenstand vors Gesicht, in der Größe eines Handy. Aber das war kein Handy. Das war eindeutig das Stangenmagazin einer Glock-Pistole, passend für 15 Patronen. Merana war verwirrt.
»Woher kennen Sie mich?«, fragte er den Mann hinter dem Maroniofen überrascht. Der starrte ihn kurz an, dann schaute er auf die Chefinspektorin, die sich eben an einer Frau im gelben Anorak vorbeigedrängt hatte. »Woher ich Sie kenne …?« Carola wurde unwirsch. »Das spielt doch jetzt keine Rolle. Wahrscheinlich aus der Zeitung. Wo haben Sie dieses Magazin her?«
Der Zipfelmützenträger griff sich an den Kopf. »Genau, aus der Zeitung kenn i Eahna. Von irgend so einem Mord …« Dann rief er laut: »Dieses Glumpert da hat die Gundi verloren, als sie vor drei Minuten an meinem Stand vorbeig’rauscht ist wia a Raketenengel.«
»Welche Gundi?« Merana spähte schnell nach allen Seiten. Ringsum nur Leute, dichtgedrängt, mit neugierigen Gesichtern. Das vielsprachige Fluchen hatte aufgehört, die Verwunderung über die überraschend dargebotene Szene am Maronistand war ringsum gewachsen. »Ja die Silberberger Gundi, unser Christkindlmarkt-Christkindl. Die hat doch heuer des Casting gwonnen. Des war ein super Finale, sag i Eahna. Die Gundi und zwei andere, die eine aus St. Gilgen, die andere direkt aus der Stadt …«
Merana machte eine energische Handbewegung. Was ihn jetzt garantiert nicht interessierte, waren Klatschgeschichten über Castingausscheidungen am Christkindlmarkt.
»In welche Richtung ist diese Gundi gelaufen?«
Der Mann fuchtelte mit der Hand. »I woaß net genau. Da umi, Richtung Residenzplatz. Aber ob sie dann zum Mozartplatz weiter is oder nach links zum Alten Markt hab i nimmer gsehn.« Merana wandte sich an die Leute hinter ihm. »Hat von Ihnen jemand etwas gesehen? Haben Sie die Frau bemerkt, die in einem Christkindkostüm hier vorbeigerannt ist?« Er blickte in verdutzte japanische Gesichter, registrierte geschüttelte einheimische Köpfe. Carola fischte ihr Handy aus der Tasche. »Ich verständige Otmar, der soll die Kollegen informieren. Sie sollen die Suche ausdehnen: Alter Markt Richtung Getreidegasse, und Mozartplatz Richtung Kaigasse und Salzachufer.«
Merana zückte ein Taschentuch, nahm dem Maronibrater das Magazin ab und wickelte es ein. Dann hielt er ihm die mitgebrachte Umhängetasche unter die Nase. »War vorhin ein Mann an Ihrem Stand, der diese Tasche bei sich trug?«
Der Angesprochene nickte, ein Leuchten schlich über sein stoppelbärtiges Gesicht.
»Klar! Die g’hört dem Raphael vom Adventsingen. Der kauft immer bei mir Maroni. Vor einer halben Stunde war er da. Mia ham noch a bissl diskutiert, ob es heuer bei die Besucherzahlen auch wieder einen neuen Rekord …«
»Sie meinen den Raphael Weiser?« Carola hatte ihr Telefonat beendet und mischte sich ins Gespräch. »Der beim Echten Salzburger Adventsingen den Erzengel Gabriel spielt?«
»Aber nein!« Der Mann schüttelte heftig den Kopf, die Zipfelmütze wackelte bedrohlich. »Sie ham ja keine Ahnung nicht! Dort ist der Raphael ja heuer gar nicht mehr. Der hat doch die Seite gewechselt. Der ist jetzt bei der Konkurrenz, beim Ganz Echten Salzburger Adventsingen. Darum streiten die Adventsinger heuer noch mehr als sonst, weil der Raphael sozusagen ein Abtrünniger geworden ist.«
Dieser Zwist war Merana bekannt. Jedes Jahr im Advent das selbe Theater. Zwei einander befetzende Veranstalter beim weihnachtlichen Spiel um Frieden und Harmonie.
»Haben Sie den Raphael Weiser danach noch einmal gesehen?«
»Naa, der war ja schon auf dem Weg zur Vorstellung, der hat doch glei Auftritt.«
Nein, dachte Merana, der wird heute wohl nicht mehr auftreten. Der läuft mit einer blutenden Wunde durch das sich immer wilder gebärdende Schneetreiben. Falls er überhaupt noch laufen konnte. Carola Salmann blickte ihren Chef an.
»Otmar hat 20 Kollegen angefordert, die treffen gleich ein. Er koordinert die Suche. Was machen wir, Martin? Was schlägst du vor?«
»Wir suchen den angeschossenen Erzengel.«
»Was?« Der Aufschrei wurde begleitet von einem Scheppern. Dem erschrockenen Maronibrater war die Metallschaufel aus der Hand gefallen. Seine Augen waren weit aufgerissen. »Angeschossen? … Aber doch net der Raphael, oder?« Merana hatte keine Zeit für Erklärungen. »Komm, Carola.« Er drängte sich durch die Umstehenden, die verblüfft, aber nicht mehr unfreundlich, rasch eine Gasse bildeten.
»Auf, zum Echten Salzburger Adventsingen!« Abrupt bremste er ab. Der schmale, aber voll durchtrainierte Körper seiner Stellvertreterin knallte gegen seinen Rücken.
»Entschuldige, Carola! Jetzt hätte ich es fast durcheinander gebracht. Wir müssen nicht zum Echten sondern zum Ganz Echten Salzburger Adventsingen.« Er setzte sich wieder in Bewegung. Echtes, Ganz Echtes … wer konnte das schon auseinander halten. Aber im Grund war es egal, beide Veranstaltungen lagen von hier aus gesehen in derselben Richtung. Wieder war es nicht so einfach, vorwärts zu kommen. Es war Freitagabend, und die Altstadt war gerammelt voll mit Menschen. Keiner wollte sich diesen winterlich verschneiten Glitzerabend samt Christkindlmarktambiente entgehen lassen. Erneut drehte sich der Gedankenkreisel in Meranas Kopf. Das darf doch alles nicht wahr sein!, hämmerte es in seinem Schädel. Er hatte sich einen geruhsamen Adventabend erwartet, ein paar nette Stunden mit den beiden von ihm geschätzten Kollegen. Eine lockere Plauderei am Glühweinstand, ein wenig die Atmosphäre genießen. Vor zwei Wochen hatten sie, wie immer vor Weihnachten, ihre Wichtel-Geschenke-Adressaten gezogen. Er hatte dieses Mal Carola erwischt. Im vergangenen Jahr war es der Chef gewesen. Und er hatte beim Wichtelziehen mit seinen Mitarbeitern noch gescherzt, dass nun wieder die für Kriminalisten langweiligen Tage anfingen. Wo allenfalls Taschendiebe und Christbaumstehler auf Beutetour waren. Aber erfahrungsgemäß kein Verbrechen passierte, das eine Ermittlertruppe ihres Kalibers brauchte. Und jetzt rannte er mit seiner Kollegin durchs nächtliche Schneegestöber und suchte einen angeschossenen Erzengel! Und irgendwo unter den vielen Menschen, die zwischen Lichterketten, Punsch und Glühwein ihren Spaß hatten, irrte auch noch ein Christkind herum. In der Hand eine Knarre. Einfach absurd.
»Herr Kommissar! Warten Sie!«
Der Ruf ereilte sie knapp vor dem Ausgang in Richtung Franziskanerkirche. Merana und Carola drehten sich um. Aus dem Flockenvorhang des Schneetreibens schälten sich die Umrisse von zwei uniformierten Beamten. Das Licht, das von den Girlanden über ihnen und von den Verkaufsbuden der Christkindlmarkthütten auf sie fiel, tauchte die beiden Gestalten in einen nahezu überirdischen Schein. Der ältere von beiden tippte sich mit der Hand an die verschneite Dienstkappe, als sie den Kommissar und die Chefinspektorin erreicht hatten. Merana kannte die beiden Kollegen vom Sehen. Sie waren von der Polizeiinspektion Rathaus, die gleich in der Nähe lag. Aus dem Funkgerät des Jüngeren ertönten abgehackte Kommandos. Merana erkannte zwischendurch Otmars Stimme, der offenbar mit den einzelnen Suchtrupps in Verbindung stand.
»Herr Kommissar, wir waren zufällig in der Nähe, Kontrollrundgang am Kapitelplatz, als uns die Anweisung unseres Dienststellenleiters erreichte.« Gartlberger heißt der ältere Kollege, fiel Merana plötzlich ein. Der Mann war etwas mehr außer Atem als der jüngere. Der streckte ihnen die geöffnete Hand hin. Mit der anderen deutete er nach hinten zu einer der Verkaufshütten, die handgeschnitzte Krippenfiguren aus Lindenholz anbot. »Dort hat eben ein Mädchen das hier vom Boden aus dem Schnee aufgehoben.« Auf der ausgestreckten Hand des Beamten lag ein kleines unförmiges Gebilde in Silber und Blau. Merana nahm den Gegenstand in die Hand. Das Objekt war allem Anschein nach eine Mozartkugel, ziemlich flach gedrückt. Offenbar war jemand auf die Schokoladensüßigkeit getreten. Das leicht deformierte Konterfei des Komponisten auf der silbrigen Hülle war von einem dicken roten Fleck überzogen. Merana tupfte mit dem Zeigefinger dagegen, nahm etwas von der Farbe auf und steckte die Fingerkuppe in den Mund. Kein Zweifel, das war Blut.
»Hat das Mädchen beobachtet, wer die Kugel verloren hat?« Die beiden Beamten schüttelten den Kopf. Der jüngere so heftig, dass ihm eine kleine Schneelawine vom Kappenrand ins Gesicht rutschte. »Nein, hat sie nicht. Wir wollten noch die Standler befragen, aber da haben wir Sie und die Chefinspektorin gesehen.« Es knackte im Funkgerät. Eine Stimme, die Merana nicht kannte, beorderte alle Einsatzkräfte zum Mozartplatz. »Das ist unser Dienststellenleiter, wir müssen weiter.« Merana nickte und bedankte sich bei den Kollegen. Vielleicht hatten Otmar und die übrigen Einsatzkräfte eine Spur vom pistolenschwingenden Christkind. Sie würden sich wieder auf die Suche nach dem verletzten Erzengel machen. Die blutverschmierte Mozartkugel bestärkte die Zuversicht, dass der Mann hier mit großer Wahrscheinlichkeit vorbeigekommen war. Merana wollte die plattgedrückte Süßigkeit in ein weiteres Taschentuch wickeln, als ihm auf der Rückseite etwas auffiel.
»Wofür würdest du das halten, Carola?« Er rückte näher an eine der Laternen, damit sie mehr Licht hatten. Die Chefinspektorin wischte behutsam die Schneeflocken ab, die sich auf die zerdrückte Kugel in Meranas Hand gelegt hatten.
»Schaut aus wie aufgemalte Buchstaben …«
»Ja, das könnte ein A sein … und das eventuell ein L …« Er rückte noch näher an die Laterne, versuchte mit der anderen Hand, die Silberfolie der zerquetschten Schokoladenkugel halbwegs in die ursprüngliche Form zu bringen.
»Nein, Carola, das ist kein L. Das schaut eher aus wie ein C.« Er blickte sie an. Die Chefinspektorin zuckte mit den Schultern. Sie konnte sich offenbar keinen Reim darauf machen. Merana auch nicht. »Wieso schreibt jemand ein A und ein C auf eine Mozartkugel?« Die Ratlosigkeit in Carola Salmans Gesicht glich jener in seinem eigenen. »Und warum trägt ausgerechnet ein Erzengel-Darsteller diese Kugel bei sich?« Erzengel-Darsteller! Merana spähte auf seine Uhr. Die Unterbrechung durch die beiden Beamten hatte sie mehr als fünf Minuten gekostet. Sie mussten weiter. Schnell. Er steckte die deformierte Mozartkugel vorsichtig in die Tasche und drängte sich rasch durch die dichten Besucherreihen. Die Chefinspektorin versuchte, ihm auf den Fersen zu bleiben. Sie passierten die Franziskanerkirche. Im dichten Schneetreiben war kaum das Eingangstor zu erkennen.
Merana versuchte, die Absurdität, die dieser Verfolgungsjagd zugrunde lag, aus seinen Gedanken zu verdrängen. Er wollte sich darauf konzentrieren, was er beobachtet hatte und was an spärlichen Fakten vorlag. Ein Mann war vor ihren Augen zusammengebrochen. Der Mann blutete, war verletzt. Er hatte eine Tasche bei sich. Diese war vom Maronibrater als Eigentum von Raphael Weiser identifiziert worden. Und der war Darsteller des Erzengels Gabriel. Sollte tatsächlich der Streit der Adventsingen-Betreiber hinter den rätselhaften Vorgängen stecken? Das Christkind als Auftragskiller, um den abtrünnigen Erzengel, der übergelaufen war, zu bestrafen? Merana konnte sich das beim besten Willen nicht vorstellen. Aber er kannte auch die Hintergründe nicht gut genug. Er wusste nur, es gab einerseits das Echte Salzburger Adventsingen und dazu das Ganz Echte Salzburger Adventsingen. Und jeder Veranstalter behauptete für sich, das einzig wahre und traditionelle Adventsingen in Salzburg auf die Bühne zu bringen. Der Konkurrenzdruck war offenbar groß. Zumindest die Schlagzeilen in den Medien unterstrichen diesen Eindruck. Dabei waren das bei Weitem nicht die einzigen Adventveranstaltungen in Salzburg. Manchmal hatte man den Eindruck, es gebe gefühlte 1000 solcher Events in der Vorweihnachtszeit. Kein Konzertsaal, keine Theaterbühne, kein Kirchenraum, kein Pfarrsaal, kein Schulfoyer, wo sich nicht Adventsänger, Hirtendarsteller oder Weihnachtschöre tummelten. Und die Besucher wurden großteils busweise herangekarrt. Sicher kein schlechtes Geschäft.
Sie erreichten die Statue des ›Wilden Mannes‹ auf dem Max Reinhardt Platz. Carola blieb abrupt stehen, sie atmete heftig.
»Ich muss kurz verschnaufen, Martin.« Merana wunderte sich. Seine Stellvertreterin hatte normalerweise eine ausgezeichnete Kondition. Vielleicht hatte ihr die vor Kurzem überstandene Grippe doch mehr zugesetzt, als sie zugeben wollte. An der Einfassung des Brunnens mit der Statue lehnte ein junger bärtiger Mann, der im dichten Schneetreiben mit klammen Fingern auf einer Gitarre zupfte. Dazu sang er mit krächzender Stimme.
Bald ist heilige Nacht
Chor der Engel erwacht
Stimm in das Singen mit ein:
Freue dich am schönen Schein!
Der Melodie nach könnte das Leise rieselt der Schnee sein, vermutete Merana, die zweite oder dritte Strophe. Aber so falsch hatte er schon lange niemanden mehr singen gehört. Da würde jeder auch noch so wohlgesinnte Engel Reißaus nehmen.
»Geht schon wieder. Komm weiter.« Carola klopfte dem Kommissar auf die Schulter.
Sie erreichten den Veranstaltungsort, zeigten den Leuten am Eingang ihre Dienstausweise. Als sie im Foyer zu den Stufen der Aufgänge eilten, setzte im Inneren des Saales deutlich hörbar die Musik ein. Ein Mann kam ihnen entgegen. Merana kannte ihn. Das war einer der Veranstalter. Er konnte sich nur nie merken, ob vom Echten oder vom Ganz Echten Salzburger Adventsingen.
Der Mann kannte ihn offenbar auch. »Herr Kommissar!« Seine Stimme überschlug sich ein wenig. »Was bin ich froh, dass die Polizei schon da ist! Das ging ja schnell. Wir haben gerade erst angerufen.«
»Wie angerufen? Warum?«
»Ja weil sie hier irgendwo durchs Haus irrt!«
»Wer?«
»Na die Gundula vom Christkindlmarkt. Habe ich doch am Telefon erklärt. Und sie hat eine Pistole.«
Carola hob die Hand. »Ich verständige sofort Otmar.«
Merana blickte sein Gegenüber an. »Hat diese Gundula gesagt, was sie will?«
Der Veranstalter schluckte heftig. Seine Stimme zitterte. »Ich weiß es nicht genau. Sie richtete dauernd die Pistole auf mich. Hat mir gedroht, sie würde sofort schießen, wenn ihr irgend jemand folgen sollte. Ich habe sie gefragt, was sie hier will. Und dann hat sie etwas sehr Merkwürdiges gesagt …«
Die Augen des Mannes wurden groß, Schrecken machte sich in den Pupillen breit, als stünde die Christkinddarstellerin noch immer mit angelegter Waffe vor ihm.
»Wenn ich es richtig verstanden habe, Herr Kommissar, dann murmelte sie etwas wie Ich muss die Sache mit dem Erzengel zu Ende bringen.«
Was sollte das heißen? Ein Schwall von Fragen formierte sich in Meranas Hirn.
Die Sache mit dem Erzengel zu Ende bringen …? Welche Sache? Was steckte dahinter? Eine persönliche Angelegenheit zwischen Gundula Silberberger und Raphael Weiser? Oder zog da jemand im Hintergrund an unsichtbaren Fäden? Jemand, dem es nicht passte, dass der Erzengeldarsteller die Fronten gewechselt hatte? Wie viel wusste der Mann, der da vor ihm stand? Egal, ob das nun der Veranstalter des Echten oder des Ganz Echten Salzburger Adventsingens war. Doch es blieb keine Zeit für Fragen. Und keine für Antworten. Es galt jetzt zuallererst, das amoklaufende Christkind einzufangen.
»Wo ist sie hin, diese Gundula?«
Der Mann im Trachtenanzug zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Sie hat mir befohlen, mich umzudrehen und die Augen zu schließen. Als ich mich dann doch nachzuschauen traute, war sie verschwunden. Einfach in Luft aufgelöst. Als sei sie tatsächlich das Christkind.«
Merana starrte den Mann an, fragte sich, ob der noch alle Sinne in der richtigen Reihenfolge beisammen hätte, oder ob das ständige Andachtsjodeln dessen Wahrnehmung vernebelte. In Luft aufgelöst.
»Daraufhin habe ich sofort die Polizei verständigt, und kaum hatte ich das Handy eingesteckt, sind Sie schon aufgetaucht. Respekt, Herr Kommissar. Dass die Salzburger Polizei schnell zur Stelle ist, weiß man ja. Aber das riecht verdammt nach Weltrekord. Übrigens, ich kenne da jemand aus der Guiness-Redaktion. Besucht jedes Jahr unsere Veranstaltung. Mit dem könnte ich da einmal reden …«
Merana schnaubte wie ein Stier. Wovon quatschte der Trachtentyp da? Guinessbuch, Weltrekord! War dem Kerl die Dramatik der Situation nicht klar? Diese Gundula lief hier mit einer geladenen Waffe herum!
»Die Kollegen treffen gleich ein.« Carola Salman steckte ihr Handy ein.
»Was ist mit Ihrem Erzengeldarsteller?« Die Chefinspektorin wandte sich an den Veranstalter. Der schaute sie mit großen Augen an. »Was soll mit dem sein? Der muss gleich auf die Bühne. Auftritt mit der ersten Gruppe der Hirtenkinder.«
Was faselte der Kerl jetzt wieder daher? Auftritt? Meranas Stimme schwoll an. »Aber der Mann kann doch nicht auf die Bühne, der ist schwer verwundet.«
»Verwundet?«
Die Augen des Veranstalters wurden noch eine Spur größer. »Aber davon weiß ich ja gar nichts.«
In Meranas Kopf tauchte ein Bild auf. Die Kulisse des Adventspiels. Ein wankender verletzter Erzengel, der pflichtbewusst seine vertragliche Mission erfüllt und mit Hirtenkindern auf die Bühne stolpert. Aus einer Seitengasse tritt Gundula Silberberger mit hoch erhobener Glock 20. Ein großer Saal voll mit Menschen. In der Szenerie Sänger, Musiker, Schauspieler, Kinder …
»Wir müssen auf die Bühne!« Der Trachtenanzugträger hielt den Kommissar zurück. »Sie können doch nicht einfach in die Vorstellung platzen. Das gibt eine Panik!«
»Komm, Martin!« Carola fasste Merana am Arm. »Wir versuchen es hinter der Bühne. Ich kenne mich hier aus. Vielleicht erwischen wir ihn noch vor dem Auftritt.«
Sie lief voran. Der Kommissar folgte ihr, drehte im Laufen noch einmal den Kopf zum Eingang. Wo blieben nur die Kollegen?
Heißa Buama, steht’s gschwind auf, es will Tag schon werden!, ertönte es vom Bühnenraum, als sie sich der linken hinteren Kulissengasse näherten.
Tummelts euch fei hurtig drauf …
Merana überholte Carola und erreichte die Hinterbühne. Das Licht war gedämpft. Aber der Kommissar konnte im Halbdunkel dennoch die Gestalt mit den großen weißen Flügeln ausmachen, die sich eben anschickte, langsam durch die Gasse auf die Bühne zu treten. Merana verkniff es sich, laut ›Halt‹ zu rufen. Falls diese Gundula hier irgendwo steckte, wollte er jetzt nicht die Aufmerksamkeit der Frau mit der Pistole auf sich lenken. Er schaffte es auch so. Er erreichte die Gestalt gerade noch rechtzeitig, fasste sie an der flügelbewehrten Schulter und riss sie zurück.
»Sie dürfen da nicht hinaus!« keuchte Merana mit halb erstickter Stimme.
Die taumelnde Gestalt im Engelskostüm drehte ihm erschrocken das Gesicht zu. Verwundert. Die Augen erstaunt weit aufgerissen. Aber Meranas Verwunderung war noch größer.
Das war nicht der Mann vom Christkindlmarkt!
»Wer sind Sie?«
Die hochgewachsene Gestalt mit der Engelhaarperücke befreite sich energisch von Meranas Hand. »Ich bin der Erzengel Gabriel«, zischte er. »Und ich muss auf der Stelle da hinaus.« Und schon rauschte er davon, eilte auf die Bühne, wo ihn die Hirtenkinder schon sehnsüchtig erwarteten.
Merana fühlte sich wie vom himmlischen Donner gerührt. Er lugte durch die Kulissengasse. Keine Spur von dieser Gundula. Auch nicht auf der anderen Bühnenseite. Alles was er sah, waren kleine Gestalten mit Hüten, Stöcken, umgeschnallten Schaffellen, die sich langsam vom Boden erhoben. Einige rieben sich die Augen, andere deuteten auf die heranschreitende Engelsgestalt. Irgendwo auf der anderen Seite der Bühne, die Merana nicht einsehen konnte, setzte eine Musikgruppe ein, Hackbrett, Geige, Kontrabass, Flöten …
Sag eahm, dass er gschwind hoamspringt
und sei alte Bassgeign nimmt!
Und i nimm den Dudldudlsack,
dudl mir auf den ganzen Tag …
Jemand klopfte dem Kommissar behutsam auf die Schulter. Ein Mann mit Bart stand hinter Merana. In einer Wolljacke. Er hielt ein kleines Schaf auf dem Arm.
»Sie können doch da nicht einfach unser Spiel durcheinanderbringen.« Der Mann schüttelte sein bärtiges Haupt. Aber er schien nicht missmutig. Sein Gesichtsausdruck war eher leicht belustigt. Mit der Linken streichelte er dem Schaf sanft über den Rücken. Die Augen schauten ein wenig verwundert auf die Hand des Kommissars. Merana folgte dem Blick. Eine Feder. Merana hielt tatsächlich eine lange weiße Feder in der Hand. Die musste vom Kostüm des Engels sein.
»Wer ist der Engeldarsteller?« Merana deutete zur Bühne.
»Das ist der Michael Thaler.«
Michael Thaler?
»Ich dachte, Raphael Weiser spielt den Erzengel?« Unruhe befiel Merana. Sein Herz pochte. Mein Gott, waren sie zum falschen Adventsingen gelaufen? Hatte sich auch Gundula Silberberger beirren lassen? War sie ebenfalls hier aufgetaucht, hatte dann das Versehen bemerkt und war nun schon auf dem Weg zur richtigen Veranstaltung? Die Glock 20 im Anschlag?
»Das stimmt schon«, entgegnete der Mann leise. »Aber wir haben zwei Erzengeldarsteller. Der Raphael hat heute die Nachmittagsvorstellung gespielt, jetzt ist der Michael dran. Die beiden haben getauscht.«
Getauscht?
In Meranas Kopf begann es wieder fieberhaft zu arbeiten. Was hatte das zu bedeuten? Seine Gedanken purzelten durcheinander, versuchten, sich zu formieren wie aus dem Schlaf hochschreckende Hirtenkinder, die halbblind vor sich hintappend den richtigen Weg zum Stall suchten.
»Da steht es ja.«
Der Mann löste kurz die Hand vom Schafrücken und klopfte mit dem Finger auf ein Blatt Papier, das an einem schwarzen Brett neben der Kulissenrückwand angebracht war. »Bei unserer Vorführung hat alles seine Richtigkeit.«
Tatsächlich. Merana sah es. Auf der Besetzungsliste mit dem heutigen Datum war der Name Raphael Weiser durchgestrichen und handschriftlich durch Michael Thaler ersetzt. Sie waren bei der richtigen Vorstellung. Aber der Engel war der falsche. Wo war der andere? Und wo war das Christkind mit der Pistole?
»Wann wurde dieser Tausch beschlossen?«
Das Schaf blökte leise, als der Mann etwas schwerfällig die Schultern hob.
»Weiß ich leider nicht. Kann aber nicht lange her sein, sonst wäre die Liste ja nicht mit der Hand ausgebessert, sondern schon mit den richtigen Namen ausgedruckt. Unsere Verwaltung ist da im Grunde sehr ordentlich. Da fehlt kein Glied in der Kette.«
Wieder ließ das Schaf ein schwaches Blöken hören. Merana hielt irritiert inne. Nicht des Schafes wegen. Sondern wegen dem, was er eben vernommen hatte. Er starrte den bärtigen Hirten verblüfft an. Dort, wo in seinem Kopf eben noch die Gedanken gepurzelt waren, herrschte mit einem Mal Stillstand. Als würde man die Bilder eines laufenden Filmes verlangsamen und einfrieren.
»Was haben Sie gesagt?«
Der Alte sah ihn großäugig an. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen?« Merana wischte mit einer fahrigen Handbewegung durch die Luft. Das Schaf erschrak und begann wieder zu blöken. Der alte Mann versuchte, das Tier zu beruhigen. »Jetzt haben Sie Hannah ganz erschreckt.«
Merana hörte ihm gar nicht mehr zu. Er konzentrierte sich darauf, aus dem Nebel in seinem Gehirn die Satzfetzen ihres Gespräches herauszufischen.
Bei unserer Vorführung hat alles seine Richtigkeit. Das hatte auch etwas zu bedeuten. Merana konnte nur noch nicht erfassen, was. Alles war noch schemenhaft.
Unsere Verwaltung ist da im Grunde sehr ordentlich. Da fehlt kein Glied in der Kette.
Das war es! Er griff wie in Trance nach seiner Jackentasche und holte vorsichtig die zerdrückte Schokoladenkugel im Silberpapier hervor. Das Schaf hatte sich wieder beruhigt, hob seinen Kopf und begann zu schnuppern. Vielleicht erwartete es, gefüttert zu werden. Der alte Mann verzog keine Miene. Er beobachtete den Kommissar mit ruhigen Augen. Merana trat entschlossen zwei Schritte zurück und betrachtete die Szene vor ihm. Da standen ein Hirte und sein Schaf. Das passte. Auf der Bühne draußen, keine 20 Meter entfernt, tummelten sich Hirtenkinder, Dudelsackbläser und ein Erzengel. Das passte auch. Alles sehr weihnachtlich. In seiner Hand hielt der Kommissar eine zerdrückte Salzburger Mozartkugel. An sich hatte diese beliebte Süßigkeit jederzeit Saison, war also kein spezielles weihnachtliches Phänomen. Aber das hier war nicht irgendeine Mozartkugel, das war eine Original Salzburger Mozartkugel, die ihm die beiden Kollegen im Schneetreiben auf dem Christkindlmarkt in die Hand gedrückt hatten. Und die Original Salzburger Mozartkugel hatte der Salzburger Konditor Paul Fürst als Erster kreiert. Und zwar im Jahr 1890. Der Nebel in Meranas Kopf begann sich zu lichten. Aus Schemen wurden behutsam Konturen. Merana drehte die deformierte Schokoladenkugel um. Sein Blick fiel auf die Hülle. Jetzt wusste er auch, was die Buchstaben A und C bedeuteten. Erneut blökte das wuschelige Lamm und versuchte, mit der Schnauze das Silberpapier zu erreichen. Merana lächelte. Die bisher halbblind durcheinander tappenden Hirtenkinder in seinen Gedankengängen hörten auf zu krabbeln. Sie formierten sich. Das Knäuel in Meranas Kopf löste sich. In der Ferne schimmerte ein Licht. Was heißt schimmerte. Es begann immer stärker zu leuchten. Wie der Stern über dem Stall von Bethlehem.
Mein Gott, die Lösung war tatsächlich so einfach!
Für eine Sekunde schwindelte ihm. Der Kommissar hielt sich an der Kulissenverstrebung fest, dann steckte er die Mozartkugel zurück in die Jackentasche. Von der Bühne her schallten aufgeweckte Kinderstimmen, unterstützt von einem himmlisch klingenden Chor.
Heißa Buama, lobet Gott,
weil er ist geboren …
Merana sah dem Mann mit dem Schaf direkt ins Gesicht.
»Und was sind Sie in dieser Vorstellung? Ein Hirte?«
Der Bärtige nickte zustimmend.
»Ein echter?«
Meranas Gegenüber hielt kurz inne. Das Lächeln, das er dann aufsetzte, war verschmitzt.
»Nein. Echt sind bei uns nur die Schafe. Alles andere wird gespielt.«
Er widmete sich wieder dem kleinen Herdentier in seinem Arm, begann erneut das weiche Fell des Schafes zu streicheln. Merana blickte sich um. Carola war nicht mehr hier. Vielleicht wartete sie schon am Ausgang. Der Kommissar legte dem Hirtendarsteller die Hand auf die Schulter, streichelte dem Schaf behutsam über den Kopf und wandte sich zum Gehen.
Es gab tatsächlich jemanden, der im Hintergrund die Fäden zog!
Und diese Fäden waren immer sichtbar gewesen. Aber er hatte sehr lange gebraucht, sie zu sehen. Er machte sich auf den Weg. Er fühlte sich wie ein Hirte, der endlich sein Ziel kannte. Er ging darauf zu. In der linken Hand hielt er immer noch die Feder aus dem Flügel eines Bühnenerzengels.
Merana verließ den Bereich hinter den Kulissen, nahm die Treppe und erreichte das Foyer. Die Halle war leer. Keine Spur vom Veranstalter im Trachtenanzug. Auch Carola war verschwunden. Merana öffnete eine der großen Eingangstüren und trat auf die Straße. Ein Polizeiauto parkte keine fünf Schritte vor ihm. Merana hatte so etwas Ähnliches erwartet.
»Guten Abend, Herr Kommissar«, rief der uniformierte Beamte am Steuer, als Merana die Tür öffnete.
»Ich nehme an, Herr Kollege, Sie wissen wo es hin geht?«
Statt einer Antwort lachte der Fahrer nur und startete den Motor. Merana setzte sich auf die Rückbank. Sie fuhren los. Der Beamte lenkte den Wagen in Richtung Pferdeschwemme. Noch immer fielen dicke Flocken aus dem Nachthimmel. Der Scheibenwischer des Dienstfahrzeuges hatte ordentlich zu tun. Bald darauf hatten sie die Salzach erreicht. Am gegenüber liegenden Ufer glänzten die Lichter der Hotels und Bürgerhäuser. Das dunkle Wasser des Flusses warf den Lichterschein der weihnachtlich geschmückten Staatsbrücke schimmernd zurück. Auf den großen Laternen hatten sich kleine Schneehauben gebildet.
Merana lehnte sich zurück und ließ noch einmal die sich überschlagenden Ereignisse der letzten Stunde Revue passieren. Alles passte nun nahtlos zusammen. Der Maronihändler. Die Hirtenkinder. Das plötzlich aufgetauchte und wieder verschwundene Christkind. Das zurückgelassene Magazin der Glock 20. Der Sänger mit der Gitarre am Wilden-Mann-Brunnen. Der Diensttausch der Erzengel. Die Mozartkugel in der Tasche. Die wilden Perchten, die ihn zur Seite drängten. Die Bläser, die Was soll das bedeuten spielten.
Er richtete sich ein wenig auf und versuchte, das Gesicht des Fahrers im Rückspiegel auszumachen. Würde er an dessen Miene etwas ablesen können? Nein. Der Mann starrte hoch konzentriert durch die Windschutzscheibe nach draußen, als gälte es, ein Räumungsfahrzeug durch einen kanadischen Blizzard zu steuern und nicht ein gut geheiztes und bequemes Dienstauto durch die verschneite Salzburger Innenstadt. Merana blickte weiterhin von seiner hinteren Bank aus auf den Rückspiegel. Schließlich bemerkte der Fahrer den Blick des Kommissars. Ein Hauch von einem Lächeln huschte über sein noch junges Gesicht. Er löste die Rechte vom Lenkrad und betätigte eine Taste am Armaturenbrett. Der Klang von Musik breitete sich aus. Eine dunkle Stimme erfüllte das Wageninnere.
Driving home for Christmas
Oh, I cant’t wait to see the faces …
Das war Chris Rea. Berühmter Song. Das Lied passte. Ja, er konnte es auch kaum mehr erwarten, die Gesichter zu sehen …
Merana war sich klar darüber, dass er schon viel früher auf die richtige Lösung hätte kommen können. Schon am Stand des Maronibraters. Spätestens beim falschen Text der dritten Strophe von Leise rieselt der Schnee.
Bald ist heilige Nacht
Chor der Engel erwacht …
… hatte der Mann am Brunnen gesungen. Bis dahin stimmte alles. Doch dann hätte es richtigerweise heißen müssen:
Horch nur, wie lieblich es schallt.
Freue dich, ’s Christkind kommt bald
Aber der Mann mit der Gitarre hatte gesungen:
Stimm in das Singen mit ein:
Freue dich am schönen Schein!
Falscher Text, aber richtige Spur! Schöner Schein. Das war das Schlüsselwort.
Fünf Minuten später waren sie am Ziel. Merana hatte schon vermutet, dass sie die Polizeidirektion in der Alpenstraße ansteuern würden.
»Bitte sehr, Herr Kommissar.«
Der uniformierte Kollege grinste bis unter den Ansatz der Dienstkappe und öffnete mit übertriebener Geste die Wagentür. »Und frohe Weihnachten!«
Tatsächlich, sie waren alle da!
Die Kantine der Polizeidirektion war voll mit Menschen. Jubel brandete auf, als Merana eintrat. Gleich am Eingang stand der Maronihändler vom Christkindlmarkt mit hell aufglucksendem Lachen und einem prall gefüllten Maronimaß. Das Christkind tauchte plötzlich wie aus dem Nichts auf, schenkte Merana einen himmlischen Augenaufschlag und hauchte ihm mit kirschroten Engelslippen einen Kuss auf die Wange, in der Hand immer noch die Glock 20.
Ja, sie waren wirklich alle da.
Der Mann vom Brunnen, der Veranstalter vom Adventsingen, Arm in Arm mit einem zweiten Trachtenanzugträger, die Hirtenkinder, die auf dem Markt Mozartkugeln und Tannenzweige verteilt hatten, vier Männer in zotteligen Perchtenfellen, die zwei Polizisten aus dem Schneetreiben und dazu weitere 30 Kollegen. Und mitten in der Menge seine freudestrahlende Stellvertreterin, Chefinspektorin Carola Salman, die mit funkelnden Augen rief:
»Frohe Weihnachten, Martin!«
Alle hoben lachend ihre Trinkgläser. Plötzlich standen die Bläser vom Christkindlmarkt neben Merana und intonierten auf ihren Posaunen O, du fröhliche …!
Da war auch schon Otmar an der Seite des Kommissars, hielt ihm einen Becher mit Punsch entgegen und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.
Merana war einfach nur überwältigt.
Er trank einen Schluck. Dann gab er Otmar den Becher zurück, nahm seine Stellvertreterin in die Arme und drückte sie fest an sich.
»Sag mir nur eines, Carola, – WARUM? Obwohl ich den Grund schon ahne.«
Sie löste sich aus seiner Umarmung und hob ihr Sektglas.
»Weil du mein Wichtel bist. Und das …«, sie deutete mit dem Arm in die Runde, »… ist mein Wichtelgeschenk für dich.«
»Jawohl!«, brüllte jemand laut in der Menge. Merana erkannte Raphael Weiser. Das war der falsche Erzengel. Oder auch der richtige, je nach Betrachtensweise.
»Jawohl, wir alle sind das Wichtelgeschenk!« Er sprang auf einen Stuhl, riss die Arme in die Höhe und ließ weiße Federn auf die Köpfe der Anwesenden niederregnen. Und wieder brandete Jubel auf in der weihnachtlich geschmückten Polizeikantine.
Merana war immer noch völlig erschlagen. Wie hatte Carola das nur hinbekommen? Wie hatte sie den ganzen Haufen überzeugen können, bei diesem Spektakel mitzuspielen? Und warum hatte sie sich das angetan? Die zarte, aber drahtige Chefinspektorin stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Na, weil ich meinem Lieblings-Vorgesetzten ein ganz besonderes Wichtelgeschenk machen wollte. Weißt du noch, Martin, wie du beim Wichtelziehen gesagt hast, dass nun wieder die für uns Kriminalisten langweiligen Tage anfingen? Wo allenfalls Taschendiebe und Christbaumstehler ihren Auftritt hätten, aber erfahrungsgemäß kein Verbrechen passierte, das eine Ermittlertruppe unseres Kalibers brauchte. Erinnerst du dich?« Ihre grauen Augen blitzten wie die Sterne am Weihnachtshimmel. Merana erinnerte sich nur zu gut. »Na, da wollte ich dem Herrn Kommissar eben einen Fall liefern, wie er ihn noch nie erlebt hat …«
»Mit einem Christkind, das eine Glock 20 in der Hand hält«, ergänzte eine wohltönend dunkle Stimme neben ihnen. Gundula Silberberger hielt ihm lächelnd die Pistole hin. »Bitte sehr, Herr Kommissar. Nehmen Sie. Die Knarre war eh nie geladen.« Sie reichte ihm die Waffe und drehte sich um. Nicht ohne ihm noch mit beiden Augen schelmisch zuzuzwinkern.
»Carola, du hast den Beruf verfehlt. Du hättest Hollywood-Regisseurin werden sollen.« Merana konnte das Geschehen immer noch nicht fassen. Seine Stellvertreterin lachte. »Nein danke, Martin. Einmal so ein Theater reicht mir. Außerdem war es gar nicht so schwer, das Spektakel zu organisieren, wie ich anfangs dachte. Alle, die ich fragte, hatten keine Sekunde gezögert, sondern waren gleich mit Feuereifer dabei. Und alle haben dicht gehalten. Es bereitete jedem Einzelnen eine diebische Freude, den für seinen Spürsinn bekannten Chefermittler der Salzburger Polizei ein wenig hinters Licht zu führen. Ihm eine weihnachtlich duftende Nuss vor die Nase zu halten, an der er ziemlich lange zu knacken hatte.«
Merana hob anerkennend seinen Punschbecher. »Das ist euch in der Tat gelungen. Hätte ich einen Hut, ich würde ihn vor euch allen ziehen.«
»Dann nehmen Sie halt meine Zipfelmütze.« Der Maronimann hatte die letzte Bemerkung des Kommissars gehört und stülpte Merana seine rote Haube über den Kopf. Merana trat einen Schritt zurück, zog mit einer eleganten Bewegung die Kappe vom Kopf, als gälte es, einen Musketierhut zu zücken, und verbeugte sich tief vor seiner Stellvertreterin. Die Umstehenden applaudierten. Der Maronibrater bekam seine Zipfelmütze zurück und hielt sie in die Höhe wie eine Trophäe.
»Seht alle her! Unter dieser Haube war, wenigstens für Sekunden, der klügste Kriminalistenkopf von Salzburg. Was heißt von Salzburg, mindestens von ganz Mitteleuropa! Die bekommt einen Ehrenplatz!«
Erneut wurde heftig geklatscht und gelacht. Einer der Fellmänner kam auf sie zu und bat darum, gemeinsam mit Merana und Carola ein Foto machen zu dürfen. Für die Chronikseite der Gasteiner Perchten. Als die Hirtenkinder das mitbekamen, legten sie schnell die halb verzehrten Würstel zurück auf die Teller und wollten auch aufs Foto. Es wurde eine längere Fotografierei. Vor allem auch, weil nach jedem zweiten Schnappschuss sich immer irgendwer im Raum fand, der den Punschbecher hob und zu einem Toast ansetzte. Nach der Fotosession drückte ihn Carola sanft auf eine der Bänke an den festlich gedeckten Tischen. Kaum saß Merana, hatte er auch schon einen Teller mit wunderbar duftenden Bratwürsten vor sich, mit Sauerkraut und Kartoffeln. Die Chefinspektorin setzte sich neben ihn. Otmar Braunberger nahm ihnen gegenüber Platz und stellte dem Kommissar ein frisch eingeschenktes Glas Bier hin.
»Passt besser zu den Würsten als dein Punsch.«
»Weißt du, was das Schwierigste war, Martin?« Carola griff auch nach einem Bierglas. Merana hob sein Glas, stieß mit seinen beiden liebsten Mitarbeitern an und nahm einen großen Schluck. Dann wischte er sich den Schaum von der Oberlippe und griff nach Messer und Gabel. Unversehens hatte er richtig Hunger bekommen. Er versuchte den ersten Bissen. Die Bratwurst war köstlich. »Lass hören, Frau Kollegin. Mir erschien alles schwierig. Und es ist mir immer noch ein Rätsel, wie ihr das alles hinbekommen habt.«
Ein dröhnendes Lachen kam aus dem Mund des Abteilungsinspektors. »Mir auch. Aber es hat geklappt. Carola hätte uns auch zu klitzekleinen Räuchermännchen verarbeitet, wenn wir gepatzt hätten.« Die Chefinspektorin grinste und ließ ihr Bierglas gegen Otmars Steinkrug krachen. »So ist es. Aber ihr habt euren Job wirklich grandios bewältigt, besonders du, mein geliebter Otmar.« Der Abteilungsinspektor zwinkerte ihr zu und deutete eine Verbeugung an. Carola wandte sich wieder dem Kommissar zu, der mit Heißhunger weiterhin Kartoffeln, Sauerkraut und Wurststücke in sich hineinschaufelte.
»Das Schwierigste, Martin, war das exakte Timing auf dem Christkindlmarkt. Dass die Hirtenkinder und die Perchten sekundengenau aus der Gasse preschen, damit du keine Chance hattest, den angeblich schwerverletzten Mann im Schnee genauer zu untersuchen oder dich gar in einem Anfall von Heldenmut auf das Christkind zu stürzen. Otmar hat das super hingekriegt, während ich mich um das ›Opfer‹ kümmerte. Er gab den Akteuren zum exakt richtigen Zeitpunkt das Zeichen. Für eine Probe war ja verständlicherweise keine Gelegenheit gewesen.«
»Wie hast du das gemacht, Otmar, per Handy?« Merana griff nach seinem Bierglas. »Ich kann mich nicht erinnern, dass du am Glühweinstand telefoniert hast. Aber ich war auch zu abgelenkt.« Der Abteilungsinspektor schüttelte den Kopf. »Dafür wäre keine Zeit gewesen. Es musste alles blitzschnell gehen, nachdem das Christkind mit der Pistole aufgetaucht war. Der Besitzer des Duftkerzenstandes war eingeweiht. Dessen zehnjährige Tochter bekam 20 Euro und hat nichts anderes getan, als ständig mich zu beobachten. Und als ich die Hand in die Höhe riss, schickte sie die schon in der Gasse zwischen den Hütten lauernden Hirtenkinder los.«
Merana konnte sich das Kopfschütteln nicht verkneifen. Er hatte tatsächlich nichts mitbekommen. Er war nur von der Situation völlig überrascht gewesen. Auf dem Boden ein blutender Mann, vor ihnen ein Christkind mit erhobener Pistole und in der nächsten Sekunde die daherstürmenden Kinder, gefolgt von zotteligen Fellwesen.
»War der aufgebrachte Mann aus Bayern auch ein gekaufter Darsteller in eurem Spiel? Vielleicht gar ein Kollege von Interpol?«
Die Chefinspektorin lachte hell auf. »Nein, der war nicht eingeplant. Das wäre um ein Haar schiefgegangen. Und sonst ist auch nicht immer alles exakt nach Drehbuch verlaufen.« Ihr Blick wanderte durch den Raum. Sie zeigte auf den Mann mit der Maronischaufel. »Unser guter Herbert hat sich in seinem Übereifer auch einen gar nicht so kleinen Schnitzer erlaubt.«
»… weil er mich mit ›Herr Kommissar‹ angeredet hat, und ich mir nicht vorstellen konnte, woher er mich kannte.«
Carola nickte. »Genau.«
Herbert Mühlberger, der Maronimann, hatte den letzten Satz mitbekommen, und näherte sich ihrem Tisch.
»Ja, da habe ich meine Rolle ein wenig zu intensiv angelegt. Sie haben es ja nicht bemerkt, Herr Kommissar, aber die Frau Chefinspektorin hat mir zwischendurch einen Blick zugeworfen, der war so eisig, dass mir fast die Glut im Maroniofen ausgegangen wäre. So muss sich ein Kaninchen fühlen, wenn ihm eine gefräßige Leopardin kurz die Zähne zeigt.«
Der Maronimann versuchte den strengen Blick von Carola nachzuahmen. Was dazu führte, dass alle plötzlich aus vollem Hals loslachten. Einige der Umstehenden bekamen die Szene mit und stimmten in das Lachen mit ein.
»Weißt du, Carola,« setzte Merana ihr Gespräch nach heftigem Luftschnappen fort, »das mit dem Maronimann war zwar etwas seltsam, aber ich war zu sehr von den auf mich einprasselnden Vorfällen verwirrt, um mir groß Gedanken darüber zu machen. Weitaus mehr hat mich verwundert, dass meine sportlich topfite Kollegin nach einem doch eher kurzen Lauf plötzlich unbedingt eine Verschnaufpause brauchte. Und das ausgerechnet ein paar Meter vor dem Ziel.«
Carola musste sich erst die Lachtränen aus den Augen wischen, ehe sie antwortete.
»Natürlich musste ich auf eine Pause beharren, Martin. Sonst hättest du ja den Reinhard am Brunnen nicht gehört. Der ist übrigens Gitarrist und Sänger in der Rockband meines Neffen. Und du musstest doch mitbekommen, was der gute Reinhard sang. Es war mir schon wichtig, dir ab und zu einen versteckten Hinweis zu servieren. Damit du zumindest eine minimale Chance hattest, die Lösung dieser grotesken Geschichte zu finden.«
Merana rief sich noch einmal die Szene am Brunnen in Erinnerung.
Freut euch am schönen Schein! hatte Reinhard gesungen. Ja, alles war nur Schein gewesen. Der falsche Text hatte Merana schon bei der Begegnung im Schneetreiben aufhorchen lassen. Aber dennoch hatte er an der Wilden-Mann-Statue die Bedeutung von Schein in dieser Situation noch nicht einzuordnen vermocht. Schein. Welch weihnachtliches Wort. Kerzenschein. Lichterschein. Der Schein in glücklichen Kinderaugen. Und zugleich ein Synonym dafür, dass etwas nur den Anschein hat, als wäre es Wirklichkeit. Ein als ob.
»Endgültig kapiert habe ich es erst, als ich den alten Mann mit seinem Schaf hinter der Bühne traf. Da wurde es auch höchste Zeit. Es hat ja dann nur so gehagelt an Hinweisen.«
Carola kicherte. »Armer Herr Kommissar. Es fiel dir gar nicht auf, dass du alleine an der Bühnengasse angekommen bist. Ich habe noch kurz um die Ecke gelugt, weil ich mir nicht entgehen lassen wollte, wie du den bedauernswerten Erzengel zurück auf die Hinterbühne zerrst.« Wieder traten ihr Lachtränen in die Augen. »Aber dann hat dein Kriminalistenhirn angefangen zu arbeiten.« Für einen Augenblick wurde sie ganz ernst. »Es war nur ein Spiel, Martin. Mein Wichtelgeschenk. Aber ganz ehrlich, ich habe großen Respekt vor dir. Ich glaube nicht, dass ich an deiner Stelle draufgekommen wäre. So viele Hinweise waren es nun auch wieder nicht, und alle waren sehr subtil gestreut. Noch einmal, Hochachtung vor meinem Chef!« Sie hob das Bierglas. Er griff nach ihrer Hand und drückte einen Kuss darauf.
»Stell dein Licht nicht unter den Scheffel, Carola. Ich bin sicher, du hättest es auch gelöst. Und ich bin froh, dass du dem Hirten hinter der Bühne die entscheidenden versteckten Hinweise in dessen Text geschrieben hast. Echt sind bei uns nur die Schafe. Alles andere wird gespielt. Und vor allem: Unsere Verwaltung ist da im Grunde sehr ordentlich. Da fehlt kein Glied in der Kette.«
Er griff in die Tasche und holte die zerdrückte Mozartkugel heraus. Vorsichtig faltete er das Silberpapier auseinander. Dann griff er zum Messer und teilte behutsam die deformierte Schokoladenkugel in drei annähernd gleiche Teile. Mit der Messerspitze hob er das erste Stück hoch und hielt es seiner Stellvertreterin hin. Die lächelte, griff vorsichtig mit zwei Fingern danach und schob es sich in den Mund. Den zweiten Teil bekam Otmar Braunberger, den Rest genehmigte er sich selbst. Dann streifte der Kommissar das Silberpapier glatt.
»Das, liebe Carola, war eines der elegantesten Puzzleteile, raffiniert eingefügt. Eine Mozartkugel, die auf den ersten Blick nichts Weihnachtliches hat. Auch auf den zweiten Blick nicht. Aber die bei genauer Betrachtung viel über die Dramaturgie des Geschehens aussagt. Alles ist Schein.« Die Chefinspektorin hob abwehrend die Hand.
»Dieses Kompliment muss ich mindestens zur Hälfte an unseren verehrten Herrn Kollegen, Abteilungsinspektor Otmar Braunberger, weitergeben. Ich hatte zwar die Mozartkugel eingeplant, aber die zusätzliche Dimension, die sich hier auftat, auf die ist Otmar gekommen.«
Einige der Umstehenden hatten den Dialog am Tisch mitbekommen und waren neugierig auf den Zusammenhang. Denn jeder einzelne hatte sich zwar perfekt auf seine Aufgabe vorbereitet, aber die exakte Vernetzung der verschiedenen Handlungsstränge dieses Spieles war keinem bekannt. Merana hob das nun geglättete Silberpapier hoch, sodass es alle sehen konnten.
»Meine sehr geehrten Damen und Herren, was haben wir hier?« Er war aufgestanden und hatte einen Tonfall angenommen, als stünde er in der Rolle eines Staatsanwaltes vor Gericht, der dabei ist, die lückenlose Beweiskette zu erläutern.
»Das Papier von einer Mozartkugel!«, rief eines der Mädchen mit vollem Mund.
Die Hirtenkinder hatten die Würstel längst hinter sich und waren bei Keksen und Torte angekommen.
»Sehr richtig, junge Dame, aber das ist nicht irgendeine Mozartkugel. Das ist keine der Nachahmungen, wie wir sie von verschiedenen Firmen in den Auslagen von Geschäften weltweit sehen. Das ist eine Original Salzburger Mozartkugel, kreiert nach dem Originalrezept von Paul Fürst. Er hat die Mozartkugel erfunden, die damals noch unter dem Namen Mozart-Bonbon angeboten wurde. Das war im Jahr 1890.«
»Pah, des is aber schon lang her!« Dieses Mal kam der Ruf von einem der Hirtenbuben, einem kleinen Braunhaarigen, der genussvoll in ein Vanillekipferl biss.
»Sehr richtig. Das ist lange her. Aber im Jahr 1890 erblickte nicht nur die Salzburger Mozartkugel das Licht der Welt. Dieses Jahr ist auch ein wichtiges Datum für alle Literaturfreunde, vor allem für Krimifans.«
Er drehte das Silberpapier um und hielt es noch ein Stück höher. »Können alle die beiden Buchstaben erkennen? Das sind ein A und ein C.« Die weiter hinten Stehenden reckten die Hälse. »Was fällt uns dazu ein?« Er drehte sich im Kreis, als hätte er ein Publikum im Gerichtssaal vor sich. Er blickte in ratlose Gesichter. »Na, dämmert nicht da etwas in euren Köpfen, geschätzte Beteiligte?«
»Moment!« Der Ruf kam von der Eingangstür her. Dort stand der Maronibrater. »Wozu habe ich denn meine Mütze, die durch das bloße Berühren mit dem genialen Kriminalistenkopf des berühmten Kommissars Merana zur Denkerhaube wurde?«
Er hielt die rote Zipfelmütze in die Höhe. Einige begannen zu lachen. Herbert Mühlberger stakste langsam in die Mitte des Raumes. Dann setzte er mit theatralischer Bewegung die Haube auf und zog sie vorsichtig bis über die Ohren. Er schloss die Augen. Seine Miene bekam einen hochkonzentrierten Ausdruck. Er begann leise zu summen, wiegte den Oberkörper sachte nach links und rechts. Plötzlich riss er die Augen auf.
»Ja! Es funktioniert!« Er zog sich die Mütze vom Kopf, warf sie in die Höhe, fing sie wieder auf. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, wischte mit der Hand durch die Luft, als gälte es, das aufkommende Lachen zu bremsen. Dann breitete er die Arme aus. »Wir haben ein A und ein C und dazu den Hinweis ›Wichtig für Krimifreunde‹. Das kann nur eines bedeuten: Die Lösung heißt Agatha Christie, geboren 1890!« Er verbeugte sich.
»Großartig!«, schallte es aus dem Mund des Kommissars. Frenetischer Applaus rauschte durch den kleinen Saal der Kantine. Merana setzte seine Ausführungen fort.
»Und das erste Werk, das Agathe Christie veröffentlichte, mit dem zugleich der Meisterdetektiv Hercule Poirot die Bühne der Kriminalliteratur betrat, trägt den Titel Das fehlende Glied in der Kette.« Er zwinkerte seiner Stellvertreterin zu. »Und wenn ich eines beim Lesen von Agatha Christies Geschichten gelernt habe, dann dieses: