Liebe und andere Heimlichkeiten - Michaela Küpper - E-Book

Liebe und andere Heimlichkeiten E-Book

Michaela Küpper

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Beschreibung

Berührender Familienroman auf zwei Zeitebenen Was bedeutet Freiheit für die Liebe? In ihrem Frauenroman »Liebe und andere Heimlichkeiten« erzählt Michaela Küpper von den mutigen Entscheidungen zweier Ehefrauen und einer Lebenslüge, die ihre Geschichten verbindet. Gehen oder bleiben? Diese Frage stellt sich Kerstin nach fast dreißig Jahren Ehe, als sie sich in einen anderen Mann verliebt. Aber zählt diese junge Liebe wirklich mehr als jahrzehntealte Verbundenheit? Und ist es klug, für einen Traum alle Wurzeln zu kappen? Ganz ähnlich geht es Evelyn Ende der 50er-Jahre. Sie ist hin- und hergerissen zwischen dem Pflichtgefühl ihrem Mann und ihren Kindern gegenüber und ihrer Sehnsucht nach persönlichem Glück. Trotz der sechs Jahrzehnte, die sie trennen, und ihrer unterschiedlichen Lebensalter ist der innere Kampf von Evelyn und Kerstin derselbe. Während Kerstin sich mit Evelyns Geschichte auseinandersetzt, gewinnt sie nicht nur Klarheit über ihre Gefühle – sie deckt auch eine Lebenslüge auf, die ihre eigene Familie betrifft. Einfühlsames Portrait eines Frauenlebens – heute und Ende der 50er-Jahre Mit viel Fingerspitzengefühl geht Michaela Küppers Familienroman der Frage nach, welche Herausforderungen uns Liebe und Familie im Lauf der Jahre stellen. Entdecken Sie auch die historischen Romane von Michaela Küpper: - Und trotzdem leben wir (Nachkriegszeit am Mittelrhein) - Die Edelweißpiratin (Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Köln) - Der Kinderzug (Kinderlandverschickung im 2. Weltkrieg)

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Seitenzahl: 353

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Michaela Küpper

Liebe und andere Heimlichkeiten

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Gehen oder bleiben?

Diese Frage stellt sich Kerstin nach über dreißig Jahren Ehe, als sie sich in einen anderen Mann verliebt. Aber zählt diese junge Liebe wirklich mehr als jahrzehntealte Verbundenheit? Und ist es klug, für einen Traum alle Wurzeln zu kappen? Ganz ähnlich geht es Evelyn Ende der 50er-Jahre. Sie ist hin- und hergerissen zwischen dem Pflichtgefühl ihrem Mann und ihren Kindern gegenüber und ihrer Sehnsucht nach Glück. Trotz der sechs Jahrzehnte, die sie trennen, und ihrer unterschiedlichen Lebensalter ist der innere Kampf von Kerstin derselbe wie Evelyns damals.

»Spannend bis zur letzten Seite und von hoher literarischer Qualität, die auf einen weiteren Roman dieser Autorin hoffen lässt.« versalia.de über Kaltenbruch

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

1. Kapitel

MARTHA

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

MARTHA

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

MARTHA

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

MARTHA

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

MARTHA

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

MARTHA

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

MARTHA

33. Kapitel

MARTHA

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

MARTHA

38. Kapitel

MARTHA

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

MARTHA

53. Kapitel

MARTHA

54. Kapitel

MARTHA

55. Kapitel

56. Kapitel

MARTHA

57. Kapitel

58. Kapitel

1.

EVELYN, 1959

An jenem frühsommerlichen Maimorgen sieht Evelyn Friedrichs Opel Admiral über den schmalen, ungeteerten Zufahrtsweg davonrollen, sieht sein winziges Blinklicht flackern, bevor er in die Landstraße einbiegt. Dann ist er fort.

Es ist das erste Mal, dass sie allein ist, seit … Seit wann genau? Sie weiß es nicht mehr. Es muss mindestens zwei oder drei Jahre her sein.

Eine Weile steht sie da, als gäbe es noch irgendetwas zu sehen. Doch da ist nichts. Nichts jedenfalls, was sonst nicht auch da wäre: die Zufahrt, auf die sich der aufgewirbelte Staub langsam wieder herabsenkt, die ungemähte Wiese mit dem einsamen Apfelbaum daneben. Margeriten, Mohn, Schafgarbe und Wilde Möhre tummeln sich hier und werden zum Bachlauf hin von einem breiten Saum wild wuchernder Brennnesseln abgelöst. Gegenüber dem Weg die Brombeerhecke, die von Jahr zu Jahr mächtiger wird, weil ihr niemand zu Leibe rückt. Bei Sonnenuntergang fallen hier Schwärme von Staren ein, um sich mit lautem Getöse vom Tag zu verabschieden.

Hinter den Brombeeren die Gruppe schlanker, schnell aufgeschossener Ahornbäume mit ihrem fingrigen Blattgrün, durch das glimmernd das Morgenlicht bricht. Eigentlich mag sie all das. Eigentlich hat sie nie etwas anderes gewollt. Eigentlich.

Evelyn atmet tief durch. Das Atmen fühlt sich leicht an, wie eine Befreiung. Für einen Moment schließt sie die Augen, öffnet sie wieder, geht dann zurück ins Haus. Noch immer spürt sie dieses leise Kribbeln, als erwarteten sie allerlei köstliche Geheimnisse. Aber falls es sie gibt, so kennt sie sie nicht.

 

Sie erledigt den Abwasch vom Frühstück, macht die Betten, schafft im Kinderzimmer Ordnung, hebt seufzend ein schwarzes, noch unbeschriebenes Heft vom Boden auf, das sich jetzt vermutlich im Schulranzen ihrer Tochter Martha befinden sollte, hockt sich dann zu ihrem kleinen Sohn Kai und stapelt Türme aus Bauklötzen, die dieser wonnevoll einstürzen lässt.

Sie räumt die Bauklötze fort, schält Kartoffeln fürs Mittagessen, bettet Kai zum Mittagsschlaf und ist gerade auf dem Weg nach draußen, um einen Korb Wäsche zum Trocknen aufzuhängen, als sie einen Mann auf einem Damenfahrrad in den Hof einbiegen sieht.

»Einen schönen guten Tag!« Der Fremde hebt kurz die Hand zum Gruß, bremst dann ab und kommt vor den Stufen des Hauses zum Stehen. »Prima Wetter heute.« Evelyn sagt nichts darauf, beäugt ihn nur misstrauisch. Wahrscheinlich will er betteln. Oder ihr irgendetwas verkaufen. »Sind Sie Frau Wagner?« Er blinzelt gegen die Sonne an.

»Ja, bin ich. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich würde gern Ihren Mann sprechen.«

»Der ist nicht da.«

»Oh! Wann kommt er denn wieder?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Können Sie nicht oder wollen Sie nicht?«

»Wie?«

»Entschuldigung, das war nur ein dummer Scherz.« Der Fremde lacht gutmütig. »Ich werde ein andermal wiederkommen. Dann habe ich hoffentlich mehr Glück.« Er tippt sich an den nicht vorhandenen Hut, wendet sein Rad und tritt in die Pedale.

»Hey, warten Sie!«, ruft sie ihm nach. »Was wollen Sie denn von ihm?« Der Fremde bremst wieder ab, wendet sein Rad, rollt bis vor die Stufen zurück, schaut abermals zu ihr auf. »Mein Name ist Schulte. Jonas Schulte. Aber alle nennen mich Jonny. Hubert Zaley schickt mich. Er sagte mir, hier gäbe es vielleicht Arbeit.«

»Zaley also.« Sie nickt nachdenklich und mustert den jungen Mann genauer. Er hat ein offenes Gesicht, nicht unsympathisch. Wache Augen. Ein sehr einnehmendes Lächeln. Jetzt kommt er ihr auch nicht mehr ganz so unbekannt vor, sie ist fast sicher, ihn schon ein- oder zweimal im Ort gesehen zu haben.

Jonny Schulte nimmt die Hände vom Lenker, wischt sich den Schweiß von der Stirn. Die kurzen Hemdsärmel geben den Blick auf seine bloßen Unterarme frei. Sie sind sehnig und nahezu unbehaart. Auch er mustert sie jetzt, kaum merklich zwar, aber ihr entgeht das nicht. Sie schaut kurz auf ihre Füße herab. Sie ist barfuß und trägt keine Strümpfe. Wozu auch? Mit Besuch war ja nicht zu rechnen.

»Ganz schön heiß heute.« Ihre Blicke treffen sich, und er lächelt eine Spur verlegen.

»Kann gut sein, dass mein Mann gleich zurück ist«, behauptet Evelyn und deutet mit dem Kinn in Richtung Haustür. »Kommen Sie rein!«

 

»Ich habe sechs Monate lang bei Zaley gearbeitet«, erzählt der Mann. Er sitzt am Küchentisch, auf dem Stuhl mit der hohen Lehne, den sie ihm angeboten hat. Sie steht nahe der Tür, eine Schulter gegen die Wand gelehnt. »Zaley sagte, Sie können ihn anrufen.« Er kramt einen Zettel aus seiner Brusttasche, faltet ihn auseinander, schiebt ihn über die Tischplatte. Ein Abriss aus einem Tageskalender. Treue im Kleinsten macht die Treue dir leicht im Größten, liest sie flüchtig. Dazu eine schräg übers Blatt gekritzelte Telefonnummer. »Zaley will aufhören, wie Sie vielleicht wissen. Ist ja nicht mehr der Jüngste«, sagt dieser Jonny Schulte jetzt. »Leider kann ich seinen Laden nicht übernehmen, dazu fehlt mir das Geld. Aber er war immer zufrieden mit meiner Arbeit. Deshalb hat er mir geraten, mich an Ihren Gatten zu wenden. Der macht ja nicht nur Landmaschinen, sondern auch Pkws.«

»Wir machen alles«, entgegnet sie kühl.

»Im Automobil liegt die Zukunft.« Jonny Schulte grinst breit.

»Ich bezweifle, dass hier die Zukunft liegt«, entfährt es ihr. Wie kann sie so unüberlegt daherreden?

»War nur ein Witz«, beeilt sie sich zu sagen. Sie löst sich von der Wand, greift nach ihren Zigaretten, die auf der Anrichte liegen, klopft eine aus der Packung, hält ihm die Schachtel hin.

»Nein danke, ich rauche nicht.« Er hebt abwehrend die Hände.

Sie zuckt die Achseln, zündet sich selbst eine an, nimmt einen Zug, stößt den Rauch durch die Nase aus. »Selten heutzutage, dass ein Mann nicht raucht. Aber Ihrer Frau wird’s gefallen. Ist billiger.«

»Ich bekomme Kopfschmerzen davon«, erwidert er. »Und eine Frau, die sich darüber freuen würde, habe ich auch nicht.«

»Über Ihre Kopfschmerzen?« Evelyn muss lachen, laut lachen sogar, und er lacht nun auch.

Sie haben Hilfe nötig, das ist offensichtlich. Friedrich benötigt Hilfe. Zumindest für ein paar Tage. Dieser Jonny Schulte könnte ihre Rettung sein.

»Möglicherweise brauchen wir tatsächlich jemanden«, räumt sie wie beiläufig ein. »Aber das müssten Sie mit meinem Mann besprechen.«

»Natürlich.«

»Es wäre auch nur vorübergehend.«

»Kein Problem. Ich wollte hier nicht festwachsen.« Wieder dieses Lächeln, wieder treffen sich ihre Blicke. Dann Stille. Die Wanduhr tickt. Eine Fliege löst sich von der Decke und fliegt surrend durch den Raum.

»Ich komme gern noch einmal vorbei, wenn Ihr Mann wieder da ist«, sagt Jonny Schulte schließlich, schiebt seinen Stuhl zurück und steht auf.

»Mein Mann kommt nicht zurück«, entgegnet sie, den Blick auf die rote Glut ihrer Zigarette gerichtet. »Zumindest nicht heute oder morgen. Er ist verreist«, sagt sie und schiebt sicherheitshalber nach: »... aus beruflichen Gründen.« Ihr unverhoffter Gast sagt nichts darauf. »Wir haben Kinder«, ergänzt sie, wieder aufschauend. »Deshalb bin ich nicht mitgefahren. Jemand muss sich ja kümmern.«

»Ja, natürlich.« Jonny Schulte nickt milde lächelnd. Da ist etwas Weiches an ihm. Etwas Einfühlsames, geradezu Weibliches. Eine Art Verletzlichkeit.

»Schon ein komischer Zufall, dass Zaley Sie ausgerechnet jetzt schickt.«

»Kein Zufall«, räumt Jonny freimütig ein. »Er wusste, dass Ihr Mann zu tun hat.« Hat die Sache also bereits die Runde gemacht.

»Ein paar Tage könnten wir natürlich schon überbrücken«, behauptet sie mit gespielter Gleichmut. »Aber wozu Aufträge verlieren?« Sie zwinkert ihrem Gast komplizenhaft zu. »Viel zahlen können wir allerdings nicht. Was Sie verdienen, hängt davon ab, was reinkommt. Ein besseres Geschäft kann ich Ihnen im Moment nicht anbieten.« Sie drückt ihre Zigarette im Aschenbecher aus, schaut ihm in die Augen, beginnt innerlich zu zählen.

»In Ordnung«, sagt er bei drei. »Ich komme morgen um acht, wenn es Ihnen recht ist. Dann sehen wir weiter.« Er streckt ihr die Hand hin, und sie ergreift sie. Sie führt ihn hinaus, sieht zu, wie er aufs Rad steigt und mit klappernden Schutzblechen die Zufahrt hinunterrollt. Bevor er in die Landstraße einbiegt, lässt er noch einmal die Fahrradklingel schrillen. Dann ist er weg.

Was bleibt, ist dieses leise Kribbeln, das ihr vom Nacken ausgehend den Rücken hinabrieselt. Sie muss unwillkürlich lächeln. Lächeln ohne Grund.

»Vielleicht«, sagt sie laut und weiß selbst nicht recht, wie der Satz enden soll. Vielleicht ändern sich die Dinge nun. Vielleicht geht es ja doch voran, irgendwie.

MARTHA

Fräulein Secklich hat jedem ein Heft geschenkt

wir sollen alle schönen Sachen aufschreiben sagt sie zur Übung

Papa ist in Italien weil sie da tolle Autos bauen vielleicht kriegen wir auch welche sagt Mama

ich schreibe gern in mein neues Heft

das Papier riecht so gut.

 

***

2.

EVELYN

Evelyn fährt zusammen. Sie erschrickt immer, wenn das Telefon spätabends noch schrillt. Gute Nachrichten können bis zum Morgen warten, schlechte nicht. Noch immer hat sie die Stimme ihres Onkels Rudolf im Ohr, der ihr seltsam unterkühlt, wie ein Nachrichtensprecher im Rundfunk, mitgeteilt hatte, dass ihr Vetter Karl bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Über ein Jahr ist das nun schon her, doch beim beim Läuten des Telefons überkommt sie erneut dieses seltsame Gefühl, als würde die furchtbare Nachricht sie erst im folgenden Augenblick ereilen. Oder als wartete eine andere Schreckensmeldung auf ihr Gehör.

Sie hält kurz den Atem an, ergreift mit zittriger Hand den Hörer. Es ist nicht der Onkel, natürlich nicht. Auch kein Arzt oder eine Krankenschwester. Es ist Friedrich. Gott sei Dank. Er ist jetzt bereits vier Tage fort, aber sie hat noch nichts von ihm gehört.

»Friedrich! Wie geht es dir?«

»Leidlich.«

»Wie war die Fahrt?«

»Hat ewig gedauert. Der Pass war zwar schon offen, aber über den Gotthard ist mir der Motor heiß gelaufen. Und die Itaker mögen ja anständige Autos bauen, aber fahren können sie nicht.«

Dazu weiß sie nichts zu sagen. »Bist du gut untergekommen?«, fragt sie stattdessen.

»Ja, die Pension ist in Ordnung.«

»Und das Essen?«

»Auch gut so weit. Aber Kartoffeln kennen sie hier nicht.«

»Sie kennen keine Kartoffeln?«, fragt Evelyn verwundert. »Was essen sie denn dann?«

»Nudeln. Allzeit Nudeln«, antwortet Friedrich. Auch dazu fällt ihr nichts Rechtes ein.

»Hat sich denn schon etwas ergeben?«, wagt sie schließlich zu fragen.

»Nichts Konkretes. Ich muss mir wohl jemanden besorgen, der übersetzen kann.«

»Übersetzen? Aber dieser Herr Giordano hat doch deutsch mit dir gesprochen.«

»Ja, der!« Friedrich lacht leise auf. »Aber Giordano ist noch unterwegs.. Er trifft wohl erst übermorgen ein oder, falls er es bis dahin nicht schafft, erst nach dem Wochenende.«

Herrje. Evelyn packt die Sorge. Das alles klingt nicht gut. Hatte sie nicht gleich ein schlechtes Gefühl bei der Sache? Friedrich hat diesen Herrn Giordano vor Wochen hier in der Werkstatt kennengelernt, wegen einer gerissenen Windschutzscheibe an seinem Wagen. Man war ins Gespräch gekommen, und dieser hatte gefragt, ob Friedrich sich nicht vorstellen könne, Vertragshändler der Marke Fiat zu werden, und ihn zu sich nach Turin eingeladen. Seitdem hatte Friedrich von kaum etwas anderem gesprochen. Aber wenn dieser Herr Giordano ernsthaft an dem Geschäft interessiert wäre, dann hätte er doch da sein müssen, oder?

Friedrich spürt ihre schweigsame Zurückhaltung.

»Es ist komplizierter, als ich dachte«, räumt er ein, und sie hört, wie er Münzen nachwirft. »Aber hier gehen sie die Dinge eben etwas gemächlicher an, als wir das kennen. Hier braucht man für alles Geduld.«

In Evelyn keimt ein neuerliches Fünkchen Hoffnung auf. Wenn etwas kompliziert ist, ist es immerhin nicht aussichtslos. Auch darf sie ihren Mann nicht mit Vorbehalten entmutigen. Er kann sehr empfindlich sein. »Und das Wetter?«, erkundigt sie sich daher.

»Warm. Sehr warm.«

»Wie schön. Hier aber auch.«

»Na, siehst du! Wozu also verreisen?«, fragt Friedrich scheinbar leichthin. Dabei hätte Evelyn ihn gern begleitet, sie hätte gern einmal den Gotthard überquert und Italien mit eigenen Augen gesehen – Rom wäre ihr absoluter Traum –, aber Friedrich hat ihr klargemacht, dass eine Geschäftsreise keine Urlaubsreise sei und eine Strapaze für die Kinder dazu. Außerdem müsse jemand daheim die Stellung halten. So sei es nun einmal.

»Was macht der Nachwuchs?«, erkundigt er sich.

»Martha ist der zweite Eckzahn ausgefallen«, weiß sie zu berichten. »Sie findet’s gut, weil sie angeblich besser pfeifen kann.« Evelyn lacht ein wenig.

»Und Kai?«

»Er will dauernd in die Werkstatt rüber. Ich glaube, er vermisst dich.«

»Aha.« Es knistert in der Leitung. »Sonst was Neues?«

Es gäbe durchaus weitere Neuigkeiten zu berichten, aber Evelyn weiß nicht recht, wie sie die Sache angehen soll. »Meine Mutter will uns übermorgen besuchen kommen«, erzählt sie ausweichend. »Ilse hat angeboten, sie zu fahren.«

»Oha! Die alte Giftspritze.«

»Sprich nicht so über Ilse.«

»Du sprichst doch auch so über sie.«

Schweigen.

»Hat Großmann sich gemeldet?«, erkundigt sich Friedrich jetzt.

»Ja, hat er.«

»Und?«

»Er meint, es gibt nichts, was nicht ein paar Tage Zeit hätte.« Das hat Großmann wirklich gesagt. Allerdings hat er auch gesagt, dass die Ballenpresse bis zum Wochenende ans Laufen kommen muss. Das gute Wetter hält nicht ewig, das Heu muss eingefahren werden. Jonny Schulte hat sich den Schaden besehen: Eine Kette ist übergesprungen, und der Kolben hat die Rafferzinken zerstört. Er ist zuversichtlich, die Sache in den Griff zu bekommen. Evelyn ist drauf und dran, Friedrich doch noch von Schulte zu erzählen, lässt es aber dann. Es würde ihm nicht passen, das weiß sie. Sie braucht einen Plan, wie sie ihrem Mann die neue Situation schmackhaft machen kann, und den hat sie noch nicht.

Es war von Anfang an schwer, die Werkstatt allein zu führen, aber Friedrich hat es so gewollt. Für Mitarbeiter sei kein Geld da, hieß es immer. Außerdem habe er keine Lust, irgendeinen Stümper fürs Faulenzen und Krankfeiern zu bezahlen. Seine Worte. Tatsächlich hat er eine Zeit lang jemanden gehabt, der ihm zur Hand ging. Eberhard. Aber der hat mehr Schaden angerichtet, als er von Nutzen war, so Friedrich. Das müsse nicht heißen, es gäbe nicht jemanden, mit dem er mehr Glück haben könne, hat Evelyn ihn zu überzeugen versucht, aber davon wollte er nichts wissen. Also blieb es bei seinem Einmannbetrieb, und wenn der Mann ausfällt, ist es ein Kein-Mann-Betrieb. Friedrich weiß das, aber er spricht nicht darüber. Lieber beißt er die Zähne zusammen und steht von früh bis spät in der Werkstatt. Kein freier Tag, kein freies Wochenende. Wenn es doch nur klappen würde in Italien! Wenn seine Pläne sich doch nur in die Tat umsetzen ließen!

Wieder knistert es in der Leitung. »Ich muss Schluss machen, die Telefoniererei kostet ein Vermögen«, hört sie ihn sagen. Wieder dieses Knistern. Friedrich ergänzt noch etwas, einen Gruß an die Kinder vielleicht. So recht versteht sie ihn nicht mehr. Erneutes Knacken.

»Friedrich?« Aber die Leitung ist tot.

3.

KERSTIN, 2022

Es gibt ein Lied von einer Band, deren Sängerin auch eine begnadete Texterin ist. Intelligent und humorvoll beschreibt sie das Dilemma, sich unsterblich in einen Schweiger vor dem Herrn zu verknallen.

Es lief heute Morgen im Radio, unmittelbar nach dem Aufstehen, und ließ mich nicht mehr los. Melodien und Gerüche haben ja die magische Fähigkeit, dich durch Zeit und Raum zu katapultieren und vor langer Zeit Erlebtes wieder fühlbar zu machen.

Der Song ist alt, doch Uwe und ich sind noch älter. Als er herauskam, waren wir bereits zehn Jahre zusammen und verheiratet. Voller Begeisterung darüber, dass jemand so schön in Worte fasste, was meinen Mann für mich so anziehend gemacht hatte, kaufte ich die CD, um sie ihm vorzuspielen. Aber Uwe verstand nicht recht, was dieses Lied mit ihm zu tun haben sollte. Er erkannte sich nicht wieder, im Gegenteil.

»Ich? Schweigsam? Weiß nicht. Es kann ja immer nur einer reden, und das bist gewöhnlich du, Kerstin.« Was ich nicht abstreiten konnte und kann. »Außerdem warst du doch die Anstifterin«, schob er damals mit einem Grinsen hinterher, und auch das stimmte. Ich hatte meine Freundin Ina überredet, Uwe zu ihrer Geburtstagsfete einzuladen – wir sagen immer noch Fete, ein Ausdruck, der bei unserer Tochter Jule mitleidsvolles Stirnrunzeln hervorruft. Wie dem auch sei, wäre ich zuvor nicht bereits über Uwes Zeltschnüre gestolpert, hätte ich Ina nicht gebeten, ihn einzuladen. Und ich hätte mich nicht dazu entschlossen, André zu verlassen. Ina und André konnten einander nicht ausstehen, weshalb an jenem Abend keine Gefahr bestand, dass er bei ihr aufkreuzte. Freie Bahn sozusagen. Volle Kraft voraus. Die guten Startbedingungen an jenem Abend wusste ich zu nutzen. Seitdem waren Uwe und ich ein Paar.

Enttäuscht darüber, dass Uwe das Kompliment, das ich ihm mit der CD eigentlich hatte machen wollen, nicht recht annahm, ließ ich das Thema fallen. Ein Songtext war nicht das Leben, die Metaphern erschienen mir plötzlich überspannt. Wenn wir unterwegs waren und das Stück gerade im Radio lief – die Sender spielten es noch jahrelang –, wurde mir das gemeinsame Hören sogar ein bisschen peinlich; wir sprachen nicht mehr darüber, ignorierten es quasi.

Dabei mochte ich den Song nach wie vor, schon allein weil er gewisse Erinnerungen in mir wachrief. Zu jener Zeit war unsere Beziehung bereits in ein Stadium getreten, in dem es manchmal notwendig wurde, sich die Gründe für unser Zusammensein in Erinnerung zu rufen.

Anfangs hat mir das nichts ausgemacht, dass Uwe kein großer Redner war, im Gegenteil. Es war ein angenehmes Schweigen, das ihn umgab, weder von Schüchternheit herrührend noch von allgemeiner Maulfaulheit, vielmehr schien es Ausdruck seiner gefestigten Persönlichkeit zu sein, seines In-sich-Ruhens, das nicht vieler Worte bedurfte. So kam es mir zumindest vor.

Heute denke ich anders über dieses Schweigen. Wenn mit den Jahren die freundliche Zugewandtheit nachlässt, mit der junge Paare einander bedenken, wenn sich dazu ein Quäntchen allgemeiner Unmut gesellt, dann wächst sich das Schweigen schnell zur Verstocktheit aus. Es wirkt abweisend und kalt und macht einsam. Da hilft alles Gegenreden nicht. Stille Wasser müssen nicht unbedingt tief sein. Trotzdem kann man drin ersaufen.

Merkwürdig, dass dieses Lied ausgerechnet jetzt wieder gespielt wurde. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht liegt die Merkwürdigkeit eher darin, dass es mich so traurig gemacht hat.

 

Halb drei Uhr nachmittags. Ich habe der Arbeit im Büro gerade den Rücken gekehrt und den häuslichen Kram noch vor der Brust, als es an der Tür klingelt.

Es klingelt immer, wenn ich mich gerade mit vollem Wäschekorb ins Obergeschoss hinaufgeschleppt habe. Also wieder runter.

Draußen steht ein Mann. Mittelgroß, mittelalt, schlanke Figur, breites Lächeln. Ich kenne ihn nicht.

»Guten Tag. Wohnt hier Kai-Uwe Wagner?«

»Jawohl.«

»Das freut mich.« Der Mann lächelt wieder, schüttelt dann den Kopf über sich selbst. »Unsinn! Ich meinte, dass es mich freut, die richtige Adresse gefunden zu haben. Mein Name ist Alexander Hild.«

Ich sage nichts darauf. Gleich wird er mir erklären, er habe übers Internet einen Harley-Davidson-Lenker, ein Getriebe, einen Auspuff oder was auch immer bei Uwe gekauft. Das Übliche. Normalerweise sind die, die hier vor der Tür stehen, weniger höflich und weniger umständlich, aber auch unter Bikern gibt es solche und solche.

Und dafür renne ich extra die Treppe runter, denke ich ärgerlich und fasse mir an die schmerzende Hüfte.

Jetzt kann ich das von Uwe verscherbelte Zeug auch noch suchen gehen und herschleppen. Wann kümmert er sich endlich selbst um seinen Kram?

Aber Alexander Hild sagt nichts dergleichen, druckst nur ein wenig herum. »Wie soll ich anfangen?«, fragt er mit treuherzigem Augenaufschlag. »Am besten kurz und bündig, nicht wahr?«

»Ich bitte darum.«

»Also gut. Höchstwahrscheinlich bin ich ein Cousin Ihres Mannes.«

Ich horche auf. »Höchstwahrscheinlich?«

Er nickt. »Allerhöchstwahrscheinlich. Das heißt, ich bin mir sogar ziemlich sicher.«

»Hild? Alexander Hild, sagen Sie?« Ich mustere ihn noch ein bisschen genauer. »Tut mir leid, ich kann mich nicht erinnern, dass mein Mann Ihren Namen schon einmal erwähnt hätte.«

»Das glaube ich gern«, räumt dieser Alexander Hild bereitwillig ein. »Er kennt mich nämlich nicht. Oder allenfalls vom Hörensagen. Möglicherweise weiß er auch nicht einmal, dass es mich gibt.« Wieder dieses Lächeln, entschuldigend diesmal. »Sicher hört sich das jetzt alles recht merkwürdig an für Sie.«

Kann man durchaus so sagen.

»Ich fände es jedenfalls merkwürdig«, ergänzt er. »Aber wenn ich mit Ihrem Mann sprechen dürfte, würde sich die Sache sicher klären.«

»Mein Mann ist nicht da.«

»Ach so. Tja, schade.« Dieser Alexander Hild wirkt ehrlich enttäuscht. Er könnte ein Trickbetrüger sein, so sympathisch und offen, wie er rüberkommt. Schon fast zu sympathisch. Womöglich will er uns um Geld anpumpen, von wegen Verwandtschaft.

»Soll ich meinem Mann etwas ausrichten?«, biete ich an und kann mir Uwes Reaktion auf den angeblichen Cousin bereits lebhaft vorstellen. Alexander wer? Nie gehört, nie gesehen. Du hast ihn doch hoffentlich nicht reingelassen?

»Vielleicht komme ich einfach ein andermal wieder«, sagt Alexander Hild, und plötzlich bin ich diejenige, die es schade fände, wenn er einfach so wieder gehen würde. Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass er ein Betrüger ist. Ins Haus lasse ich ihn trotzdem nicht. Allerdings ist das Wetter schön. »Wir können uns einen Moment setzen«, schlage ich vor. »Draußen. Auf der Terrasse. Das wollte ich zumindest gerade tun.« Wollte ich nicht. Ich wollte Wäsche einsortieren, aber die kann warten.

»Sehr gern.« Alexander Hild folgt mir um die Hausecke herum durch unseren handtuchgroßen Garten hin zur Sitzgruppe unter dem Sonnenschirm.

»Bitte sehr.« Ich weise auf den erstbesten Stuhl, zertifiziertes Teakholz. Halten hundert Jahre, entsprechende Pflege vorausgesetzt, so der Verkäufer aus der Gartenabteilung. Dann werden sie uns sicher überleben, habe ich gescherzt, und er hat pflichtschuldig gelacht.

»Bin gleich wieder da.« Die Terrassentür steht offen. Ich durchquere das Wohnzimmer, gehe in die Küche, setze den Kaffeeautomaten in Gang. Vom Fenster aus kann ich meinen Gast draußen sitzen sehen. Er hockt still da, verändert dann ein wenig seine Position, hält wieder still. Zwei Tassen, zwei Löffel, Milchtüte, Zucker, Tablett. Bitte sehr.

Alexander Hild bedient sich, rührt in seiner Tasse, legt mit einer grazilen Bewegung den Löffel zur Seite. Hände wie ein Klavierspieler, fährt es mir durch den Sinn. Und keine Ölränder unter den Nägeln.

»Vielleicht lege ich einfach mal los.« Er führt die Fingerkuppen zusammen, schenkt mir wieder dieses sanfte Lächeln. »Wie gesagt, ich bin Alexander Hild. Meine Mutter war Ilse Hild, geborene Schoops. Ilse wiederum war die Schwester von Evelyn Schoops, spätere Wagner. Die Mutter Ihres Mannes also.« Ich nicke zum Zeichen, dass ich ihm bis hierher folgen kann. »Meine Mutter ist vor einem halben Jahr gestorben«, erzählt er dann.

»Das tut mir leid.«

»Kannten Sie sie vielleicht doch?«, fragt er hoffnungsvoll.

»Nein. Der Name sagt mir nichts. Trotzdem. Es ist traurig, wenn die Mutter stirbt.«

Er nickt und presst dabei die Lippen aufeinander, ohne dass sich sein Lächeln gänzlich verliert. »Ja, es ist traurig, wenn die Eltern sterben. Aber so ist der Lauf der Dinge, nicht wahr? Mein Vater ist schon lange tot, jetzt bin ich sozusagen ein Waisenkind. Genauer gesagt: ein verwaistes Einzelkind. Das wiegt noch mal ein bisschen schwerer.« Wieder nickt er versonnen.

Ich denke kurz über seine Worte nach, empfinde sie als sehr treffend. Auch ich bin ein Einzelkind. Nach dem Tod meiner Eltern – erst der Vater, dann die Mutter, wie bei ihm – habe ich mich sehr einsam gefühlt. Und bin es noch.

»So als frischgebackenes Waisenkind fiel mir auf, dass ich herzlich wenig über meine Familie weiß«, erzählt der Mann, der angeblich Uwes Cousin ist, und lächelt sanft dabei. Er hält kurz inne, schaut mich an. »Wissen Sie, im Nachhinein kann ich selbst kaum glauben, dass ich nie genauer nachgefragt habe. Aber so war es, und nun ist es nicht mehr zu ändern. Also habe ich zu recherchieren begonnen und bin dabei auf Ihren Mann gestoßen. Ich hatte gehofft, wir könnten uns einmal unterhalten. Ein bisschen austauschen. Vielleicht erinnert er sich an Dinge, Situationen, Menschen … keine Ahnung. Deshalb bin ich hier«, endet er und atmet hörbar ein und aus, als hätte er eine große Anstrengung hinter sich gebracht.

»Okay«, sage ich, noch immer überrascht und leicht verwirrt über das, was mir dieser Mensch soeben erzählt hat. »Uwe kann Sie ja anrufen.« Ich trinke einen Schluck, stelle meine Tasse ab. »Ach was. Kommen Sie einfach am Sonntag um drei, wenn Sie Zeit und Lust haben. Dann setzen wir uns zusammen und reden ein bisschen.« Alexander Hild schaut mich an, hebt fragend die Augenbrauen. Ich nicke bestätigend. Es ist mir ernst.

»Super!« Er hebt den Daumen und sieht glücklich aus. Wie leicht manche Menschen doch zufriedenzustellen sind.

 

»Wie kommst du bitte dazu, ihn einfach einzuladen – ohne mich vorher zu fragen?« Uwe lässt sein Besteck sinken und funkelt mich ärgerlich an.

»Ich weiß auch nicht«, antworte ich wahrheitsgemäß. »Er war einfach nett, und ich dachte, es könnte ganz interessant für dich werden.«

»Ich bin dem Kerl nie begegnet.«

»Das streitet er auch gar nicht ab.«

»Ich bin mit Buzz verabredet.«

Klar. Das hätte ich mir denken können. »Du bist ständig mit Buzz verabredet«, sage ich. »Kannst du das nicht mal verschieben?«

»Verschieben?« Uwes Mundwinkel wandern nach unten. »Wenn wir den Bock nicht sauber ans Laufen kriegen, geht er nicht durch den TÜV. Dann können wir unsere Tour vergessen.«

Das leuchtet ein. Das geht nicht.

Jedes Jahr, wirklich jedes verdammte einzelne Jahr seit Anbeginn aller Tage, macht Uwe eine Motorradtour mit seinem Kumpel Buzz, und bevor es losgeht, gibt es immer eine Menge zu tun, schon x Wochen vorher. Da bleibt für nichts anderes Zeit.

In mir steigt der altbekannte Ärger hoch. Es ärgert mich, dass Uwe sich einfach so absetzt. Allerdings muss ich mich jetzt fragen, ob meine Reaktion nicht nur ein Automatismus ist. Stört es mich wirklich noch, dass er mit seinem Freund auf Tour geht? Warum sollte er nicht hin und wieder allein verreisen? Das habe ich auch schon getan. Eigentlich bin ich sogar ganz froh, das Haus ein paar Tage lang für mich zu haben, meinen eigenen Gedanken nachzuhängen, meine Musik aufzudrehen, den Online-Yogakurs auf dem Wohnzimmerteppich fortzusetzen, ohne mich der Lächerlichkeit preiszugeben. Aber was ist es dann, was mich so triggert?

Es ist die wie in Stein gemeißelte Selbstverständlichkeit seines Tuns. Diese Vorhersehbarkeit, das sture Festhalten an Ritualen.

Uwe und Buzz gehen auf Tour. Amen.

»Ruf ihn an und sag ab«, fordert mein Mann mich auf und schiebt seinen Teller von sich.

Ich habe bereits gegessen und bin gerade dabei, den Topf abzutrocknen, in dem ich die Nudeln gekocht habe. Für uns zwei lohnt es sich oft nicht mehr, die Spülmaschine einzuschalten.

Beleidigtes Innehalten. Luft holen. »Okay, dann lade ich ihn eben wieder aus«, lenke ich ein und registriere im selben Moment, dass ich dazu keineswegs bereit bin. Ich habe diesem Alexander Hild zugesagt, und ich will ihm nicht wieder absagen müssen. Aber vor allem will ich ihn wiedersehen. Unbedingt. Der Gedanke erschreckt mich selbst, ich kann das damit verbundene Gefühl nicht recht einordnen, aber es ist da, und es ist stark und will sich nicht wegschieben lassen. »Mir fällt ein, dass ich keine Handynummer von ihm habe«, behaupte ich.

»Er hat dir keine Handynummer dagelassen?«, fragt Uwe ungläubig. »Auch kein Festnetz, nichts? Also, das allein schon hätte mir zu denken gegeben.« Er wirft mir diesen Blick zu, den ich allzu gut kenne: genervt und mitleidig zugleich.

»Vielleicht einfach eine Nachlässigkeit.« Ich zucke die Achseln. »Wahrscheinlich kommt er auch gar nicht. Aber falls doch: Kannst du nicht wenigstens kurz mit ihm reden?«

»Nein, kann ich nicht«, antwortet Uwe kurz angebunden.

Ich ziehe einen Flunsch, klimpere mit den Wimpern, bettele mit Kleinmädchenstimme: »Ach, bitte!«

»Nein«, wiederholt er stur. »Du hast dir die Suppe eingebrockt, also löffele sie auch aus.« Ich setze eine noch leidendere Miene auf. »Schick ihn weg!«, wiederholt Uwe gereizt. »Sag ihm, es passt nicht. Wir haben kein Interesse.« Er steht auf, will sich schon abwenden, tritt dann aber noch einmal ganz nah an mich heran, umfasst mein Gesicht mit beiden Händen und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. »Schatz, ich weiß, du meinst es gut. Entschuldige, war nicht mein Tag heute.«

»Offensichtlich nicht.«

Er lässt mich los, will nun zum Trockentuch greifen, doch ich schnappe es ihm vor der Nase weg, hole damit aus und lasse es auf seinen Hintern klatschen.

»Hey, was soll das?« Uwe springt zur Seite, um einem zweiten Hieb zu entgehen, lacht und ist weg.

4.

EVELYN

Besuch im Anmarsch. Evelyn weiß wieder einmal nicht, ob sie sich freuen oder fürchten soll, als der blaue Ford Taunus in den Hof rollt.

Ihre Schwester Ilse hat im vorigen Jahr den Führerschein gemacht, und jetzt kutschiert sie Mutti durch die Lande, wenn der Vater keine Zeit oder Lust hat. Sehr praktisch. Auch für Evelyn, wie sie einräumen muss. Ilse hat angeboten, sie für die jährliche Routineuntersuchung zur weit entfernten gynäkologischen Praxis zu fahren, die mit dem Bus nur schwer zu erreichen ist.

Der Wagen hält, der Motor erstirbt. Evelyn geht und öffnet die Beifahrertür, um ihrer Mutter beim Aussteigen behilflich zu sein. »Mutti, Ilse! Wie schön, dass ihr gekommen seid.«

»Was bleibt uns übrig, wenn wir die Kinder mal zu Gesicht kriegen wollen?«, spöttelt Ilse, während sie sich aus dem Fahrersitz schält.

»Du lässt dich ja gar nicht mehr blicken«, skandiert die Mutter. Die zwei sind ein eingespieltes Team – insbesondere wenn es darum geht, sich auf Evelyn einzuschießen.

»Es tut mir leid, aber immer wenn ich euch besuchen will, ist irgendwas.« Sie seufzt. Zu nennen wären da beispielsweise diverse Kinderkrankheiten wie Marthas Scharlachinfektion oder Kais Windpocken oder jetzt eben Friedrichs Abwesenheit. Evelyn fürchtet schon, die Liste wird sich bis in alle Ewigkeit fortsetzen.

»Ja, ja«, flötet Ilse, »heute dies, morgen das.« Sie schlägt die Wagentür zu und schaut sich neugierig um. Erste optische Bestandsaufnahme: die Werkstatt noch immer nicht verputzt; der asphaltierte Hof voller Ölflecke und Schlaglöcher; das Wohnhaus in einem beklagenswerten Zustand – oder falls nicht gerade beklagenswert, so doch zumindest dringend renovierungsbedürftig. Die Renovierung obläge eigentlich Schönefeld, dem Vermieter, doch der denkt nicht dran. Früher hat er das Haus an Flüchtlinge aus dem Osten vermietet, Generationen von Flüchtlingen, bis auch die wohl Besseres gefunden hatten. Danach hat er es angeblich eine Weile selbst bewohnt, bevor er endgültig zu seiner Tochter gezogen ist – in jedem Fall aber hat er es genutzt, um seinen gesamten Hausstand darin einzulagern. ›Möbliert‹ hat er es genannt und Evelyn und Friedrich eingeschärft, pfleglich mit den Dingen umzugehen, für die er selbst offenbar keine Verwendung mehr hatte. Die Eigennützigkeit wusste er allerdings gut zu verbergen und hat sie ihnen sogar als einen Akt der Wohlfahrt verkauft. Ein gemachtes Nest, in das sich die junge Familie nur zu setzen brauche. Und das stimmte sogar anfangs, sie hatten ja nichts. Aber die Möbel sind hässlich und alt, keine Spur von einer modernen, zeitgemäßen Einrichtung, wie Evelyn sie sich inzwischen wünschen würde. Leider ist dafür kein Geld da.

Der eigentliche Grund für Friedrichs Entscheidung, den Hof zu mieten, war aber weder das Haus noch die Werkstatt, sondern die Wiese daneben. Er hat sie auf Kredit erworben – was sie allerdings erst viel später erfuhr. Friedrich nannte das Grundstück auch nicht einfach Wiese, sondern »Bauerwartungsland« und wurde nie müde, diesen Umstand zu betonen. In einigen Jahren, schneller womöglich, als Evelyn sich das vorstellen könne, würde hier ein Gewerbegebiet entstehen. Hallen, Werkstätten, Handwerksbetriebe. Die ideale Umgebung für sein Autohaus. Sie würde sehen.

Bis heute ist die Wiese eine Wiese geblieben, genauso wie die Wiesen drum herum. Und heimlich ist sie ganz froh, nicht auch noch inmitten qualmender Schornsteine, Sägengekreisch und des Lärms an- und abfahrender Lastwagen leben zu müssen. Nur eben dieses heruntergekommene Haus; seine Schäbigkeit offenbart sich ihr immer ausgerechnet dann am deutlichsten, wenn Besuch da ist.

»Wenn Sie’s schöner haben wollen, kaufen Sie den Schuppen«, sagt Schönefeld immer.

Kaufen – ja, die Idee gab es mal. Evelyn beschleicht das altvertraute Schamgefühl. Ihr eigener Vater und ihr Schwager Günther – Ilses Mann – haben gerade gemeinsam einen Neubau hochgezogen, drüben in Torbenau, ihrer alten Heimat. Jetzt wohnen Mutti und Vati oben, Ilse und Günther unten, und wenn die Eltern mal nicht mehr so können, wird getauscht.

»Den Garten haben wir jetzt auch fertig«, verkündet Ilse mit Blick auf die struppige Wiese. »Zierrasen und Rosenbeet. Sehr hübsch, oder was sagst du, Mutti?« Die Mutter nickt zustimmend. »Hinterm Haus hat Günther eine Mauer gezogen, damit man nicht so auf Vatis Karnickelställe guckt, und auf die Klärgrube hat er einen Kübel gestellt. Sieht aus, als wäre er aus tonnenschwerem Stein, aber in Wahrheit ist es … Was ist es noch mal, Mutti? Egal, jedenfalls macht der Kübel was her, und man kann ihn trotzdem einfach wegheben, wenn der Jauchewagen kommt. Sehr praktisch. Ich hab Begonien reingepflanzt, bin gespannt, ob die was werden.«

»Kommt erst mal rein. Wir müssen doch nicht hier draußen rumstehen.« Evelyn führt Mutter und Schwester in die Küche. Immer noch das olle Küchenbüfett und der uralte Herd, immer noch die alten Stühle. Immer noch keine modernen Elektrogeräte, wie Ilse sie hat. Dabei ist es nicht einmal so, dass Evelyn mit ihrer Schwester würde tauschen wollen. Mit Mutti unter einem Dach zu leben – unvorstellbar. Aber gegen etwas mehr Komfort und ein bisschen was zum Herzeigen hätte sie jetzt nichts einzuwenden.

Die Miene der Mutter schwankt zwischen Mitleid und leiser Verachtung, und ihre Gedanken sind ihr von der Stirn abzulesen: So sieht’s also aus im Hause Wagner – und was hat der Mann früher getönt! »Wirst sehen, demnächst kommt hier alles neu, das Haus, die Werkstatt, die Verkaufshalle. Wir bauen das erste moderne Autohaus weit und breit. Opel Wagner – Qualität zum soliden Preis.« Das waren Friedrichs Worte, schon vor Jahren an die Schwiegermutter gerichtet. Aus Opel ist dann Fiat geworden. Man müsse eben mit der Zeit gehen. Ebenfalls Friedrichs Worte. Doch in diesem Haus scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Für den Moment nimmt auch Evelyn wie unter einem Brennglas jede Schramme, jeden Kratzer, jeden Schmutzrand wahr – die ganze Schäbigkeit des in die Jahre gekommenen Mobiliars. Nur der Esstisch entzieht sich jeder Kritik. Seine Flecken und Wasserkränze hat sie nach dem Kinderfrühstück mit einer blütenweißen Tischdecke kaschiert.

»Bei euch geht’s ja vornehm zu«, sagt die Mutter prompt und setzt sich.

Evelyn kocht Kaffee, deckt den Tisch ein. Die Mutter dreht ihre Tasse um und begutachtet die Porzellanmarke, wie immer. Das Service ist ein Erbstück von Friedrichs Großmutter, immerhin etwas, das ihm von seiner Familie noch zugeflossen ist.

»Sehr hübsch, diese Tassen«, lobt die Mutter wieder einmal, und wie immer bedankt sich Evelyn. Sie schenkt Kaffee ein, stellt Milch und Zucker bereit. Aus der Werkstatt dringt Lärm herüber.

Sofort horcht Ilse auf, macht runde Augen. »Nanu, hat Friedrich nun doch jemanden eingestellt?«

Evelyn zögert. »Ja. Das heißt nein. Es ist nur vorübergehend. Auf Empfehlung von jemandem aus dem Dorf.«

Ilse mustert Evelyn prüfend. »Aber Friedrich weiß davon, oder?« Sie hatte schon immer ein Talent, den Finger direkt in die Wunde zu legen. Evelyn sagt nichts dazu. »Keine Antwort ist auch eine Antwort!« Ilse lacht, hebt ihren Zeigefinger und lässt ihn mahnend hin und her wippen. »Na, du traust dich was!«

»Das Geld muss irgendwie reinkommen«, erwidert Evelyn knapp, und in diesem Moment klopft jemand von draußen an die Scheibe. Sie springt auf, zieht die Gardine zurück, öffnet das Fenster. Die Brüstung ist so niedrig, dass sie Martha oft als Verkaufstheke für ihren imaginären Kaufladen dient, über die sie ihrer Kundschaft mit wichtiger Miene dann das Gewünschte nach draußen reicht: ein kleines Glas Marmelade, eine aus einem Rundholz gesägte Jagdwurst, eine Tüte Äpfel, eine Minipackung Reis. Da in der unmittelbaren Umgebung keine Kinder leben, eigentlich sonst überhaupt niemand wohnt, ist Evelyn meist die einzige Kundin. Jetzt steht Jonny Schulte draußen.

Ihr Herz tut einen Extraschlag, sie spürt es deutlich. Es ist verrückt. Sie weiß doch, dass er dort drüben arbeitet, nur einen Steinwurf entfernt. Kein Grund also zu erschrecken, wenn er sich hin und wieder zeigt. Kein Grund zur Aufregung. Und doch bebt sie innerlich. Sie fühlt sich ertappt, und zugleich ist da so etwas wie Stolz. Sie hat Jonny Schulte eingestellt. Er arbeitet für sie, Evelyn, für sie ganz allein, auch wenn sie den anderen – und allen voran sich selbst, wie sie sich eingestehen muss – weismachen will, er täte es für Friedrich. Umso wichtiger, vor Mutti und Ilse die Form zu wahren und sie von der Normalität der Dinge zu überzeugen.

»Was gibt’s?«, erkundigt sie sich in geschäftsmäßigem Tonfall.

»Entschuldigen Sie bitte, ich möchte nicht stören. Aber wir müssten noch die Ersatzteilbestellungen durchgehen.«

»Kein Problem, bin in ein paar Minuten da.« Evelyn spürt die neugierigen Blicke ihrer Familie in ihrem Rücken und entscheidet sich, die Flucht nach vorn anzutreten. »Ilse, Mutti, das ist Jonny Schulte. Herr Schulte – meine Mutter und meine Schwester Ilse.«

»Freut mich!« Jonny nickt den Damen freundlich zu. Auf seiner Wange zeichnet sich ein schwarzer Ölstriemen ab, der seine blauen Augen umso mehr funkeln lässt.

Evelyn entgeht nicht, dass er Ilses Interesse geweckt hat: ihre leicht geschürzten Lippen, der intensive Blick, mit dem sie ihn mustert.

»Soso«, sagt sie gedehnt. »Da wird Friedrich sich freuen, dass er jetzt eine so tüchtige Hilfe hat.«

Jonny Schulte neigt ein klein wenig den Kopf, schenkt ihr ein gewinnendes Lächeln.

»Ich komme rüber«, bekräftigt Evelyn und schließt eilig das Fenster. Dann schaut sie Ilse und die Mutter an. »Kann ich euch einen Moment allein lassen?«

Ilse nickt. »Nun geh schon, damit wir aufbrechen können. Ich habe keine Lust, auf der Rückfahrt in den Berufsverkehr zu geraten.«

»Ich dachte, ich soll hier auf meine Enkel aufpassen«, schaltet die Mutter sich mit lauter Stimme ein. »Wollen sie ihre Oma nicht mal langsam begrüßen?« In diesem Moment fliegt die Tür auf.

»Buh!«, macht Martha und stürmt herein, ihren kleinen Bruder wie ein ungelenkes Stofftier hinter sich herschleifend.

»Du meine Güte!« Evelyns Mutter presst ihre Hand gegen die Brust. »Ist das etwa eine Begrüßung für die eigene Großmutter, Martha?«

»Großmutter, ach, Großmutter, was hast du für scharfe Zähne?«, kräht Martha. »Damit ich dich besser fressen kann!« Sie stößt ein keckerndes Lachen aus.

»Martha, benimm dich!«, mahnt Evelyn scharf und fasst Kai bei der Hand. »Komm, Junge! Sagen wir der Oma Guten Tag.«

Endlich ist alles besprochen und geregelt, sind die Kinder versorgt, sitzen Evelyn und Ilse im Wagen.

Ilse ist eine routinierte Fahrerin, die einen ebenso flotten wie umsichtigen Fahrstil pflegt.

»Du solltest dir auch einen Führerschein zulegen, dann bist du unabhängig, gerade hier auf dem Land«, rät sie und setzt den Blinker, um einen Traktor zu überholen.

»Ich würde ja gern«, antwortet Evelyn. »Aber wohin mit den Kindern? Martha wäre zwar morgens in der Schule, aber ich kann Kai nicht allein lassen.«

»Tja, da beißt sich die Katze in den Schwanz.« Ilse schaltet in einen höheren Gang und gibt Gas. »Hättest du einen Führerschein, könntest du ihn zu Mutti bringen. Sie würde sicher gern ab und zu auf ihn aufpassen.«

Evelyn sagt nichts darauf, ihr ist das Thema unangenehm. Das ist das Schöne an langen Autofahrten: Man kann einfach mal den Mund halten.

Sie passieren Wiesen und Felder, dann ein Waldgebiet; schließlich windet sich die Straße in engen Serpentinen talwärts. Als sie den Wald verlassen – von jetzt auf gleich, ohne Übergang, öffnet sich unvermittelt der Blick auf die Rheinebene und die dahinterliegenden Gebirgsketten der Eifel, die sich im Dunst verlieren. Die sich plötzlich auftuende, schier endlose Weite ist atemberaubend. Eigentlich müssten sie anhalten und den Ausblick genießen, denkt Evelyn jedes Mal, wenn sie die Stelle passiert, hat es aber noch nie getan. Nie war Zeit, immer war anderes wichtig. Wie jetzt auch.

Die Fahrt geht weiter bergab, die Serpentinen weiten sich zu Kurven, die Landschaft wird ebener, gefügiger – und urbaner. Sie passieren Gehöfte, Häuserreihen, Werkstätten, Lagerhallen.

»Aber du sagst Friedrich nichts«, mahnt Evelyn, als sie die Innenstadt erreicht haben.

»Du sprichst von deinem Herrn Schulte?«, vergewissert sich Ilse und schüttelt den Kopf. »Evchen, Evchen! Man sollte seinen Ehemann nicht belügen.«

»Ich lüge doch nicht.«

»Du sagst ihm nur nicht die Wahrheit.« Wieder schaut Ilse kurz zu ihr rüber, grinst.

»Das wäre schön«, bekräftigt Evelyn. Noch schöner wäre, es gäbe nichts, was sie vor Friedrich verheimlichen müsste. Aber diesen Gedanken spricht sie nicht aus, zumal sie nicht einmal sicher ist, ob er so stimmt.

5.

KERSTIN

Vielleicht kommt er nicht, denke ich und unterdrücke den Impuls, einen Kuchen zu backen. Wenn ich nervös bin, fange ich oft an zu backen. Entsprechend bescheiden fällt meist das Ergebnis aus. Wieso, zum Kuckuck, bin ich so aufgeregt?

Es steht kein Kindergeburtstag mit zehn Gästen an, keine erste Teenagerfeier mit unabsehbarem Ende. Auch nicht die große Feier zur Silberhochzeit. Das alles liegt bereits hinter uns. Und schon gar nicht geht es darum, Uwes Verwandtschaft unser trautes Heim und Eheglück zu präsentieren, auch wenn ich mir das selbst gern einreden würde. Was also ist los? Ich weiß es selbst nicht genau, da ist nur dieses Gefühl gespannter Erwartung. Die Erwartung von etwas Neuem, Unbekanntem. Eine plötzliche Verwerfung in unserem vorhersehbaren Alltag.

Blödsinn. Ich komme mir albern vor. Ein ganz normaler Sonntagmittag. Uwe geht seinen üblichen Sonntagsbeschäftigungen nach, und zum Kaffee hat sich Besuch angesagt. Schluss, aus. Ich habe keine Zeit zu verplempern, morgen ist das Wochenende rum. Und überhaupt – bestimmt wird dieser Alexander Hild nicht kommen.