Herz sucht Zuhause - Kristina Moninger - E-Book
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Herz sucht Zuhause E-Book

Kristina Moninger

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Beschreibung

Wenn die Liebe mit einem Schwindel beginnt. Wenn man das Leben einer anderen lebt … Dann braucht es Mut. Und verdammt viel Glück.  Charly wollte immer schon so selbstsicher und mutig sein wie ihre beste Freundin. Als Mia sie bittet, während ihres Urlaubs ein paar Dinge für sie zu erledigen, springt Charly, hilfsbereit wie immer, ein. Ohne zu wissen, worauf sie sich da einlässt. Denn ein paar Missverständnisse später findet sie sich nicht nur in der neuen Wohnung der Freundin am Starnberger See wieder, sondern mitten in deren Leben. Inklusive Traumjob in den Bavaria-Filmstudios. Aus Charly wird Mia. Und obwohl es nur für kurze Zeit ist, fühlt es sich verdammt gut an. Doch dann begegnet sie Sebastian. Er ist Stuntman und verliebt sich in Charly - in ihrer Rolle als lebenshungrige Mia. Was soll jetzt aus all den überwältigenden Gefühlen werden, wenn das Leben nur geborgt ist? Eine romantische Komödie mit Tiefgang − von einer sehr beliebten deutschen Autorin.

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Seitenzahl: 480

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Kristina Moninger

Herz sucht Zuhause

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Liebe stand nicht im Drehbuch.

Charly wollte immer schon so selbstsicher und mutig sein wie ihre beste Freundin. Als Mia sie bittet, während ihres Urlaubs ein paar Dinge für sie zu erledigen, springt Charly, hilfsbereit wie immer, ein. Ohne zu wissen, worauf sie sich da einlässt. Denn ein paar Missverständnisse später findet sie sich nicht nur in der neuen Wohnung der Freundin am Starnberger See wieder, sondern mitten in deren Leben. Inklusive Traumjob in den Bavaria-Filmstudios. Aus Charly wird Mia. Und obwohl es nur für kurze Zeit ist, fühlt es sich verdammt gut an. Doch dann begegnet sie Sebastian. Er ist Stuntman und verliebt sich in Charly - in ihrer Rolle als lebenshungrige Mia. Was soll jetzt aus all den überwältigenden Gefühlen werden, wenn das Leben nur geborgt ist?

 

«Temporeich, amüsant und liebenswert - einfach ideal für kurzweilige Lesestunden.» Kira Mohn

Für Julia

Und mir ist nicht egal,

Wie gut du mich kennst.

Und mir ist nicht egal,

Wie du mich nennst.

 

Auszug aus dem Song «Pocahontas» von AnnenMayKantereit

PrologCharlys Notizbuch

Ich wäre gerne die Frau aus dem Buch, das ich neulich gelesen habe. Die, die an den richtigen Stellen laut und an den richtigen Stellen leise ist. Die, in die sich ein Mann auf den ersten Blick verliebt und auch auf den zweiten nicht aufhört damit.

Ich wäre auch gern die Frau, die in meinem Lieblingsbuchladen mit ihrer wunderschönen Handschrift Empfehlungen auf Karteikarten schreibt und immer den richtigen Ton findet.

Ich wäre gerne Sibylle Berg, einfach, weil sie Sibylle Berg ist.

Ich wäre gerne die Umweltaktivistin mit dem vollen, dicken Haar, das man sich einmal um den Kopf flechten kann wie einen Hefezopf.

Ich wäre gern Alice Schwarzer, weil sie immer sagen kann, was sie denkt, und man das, anders als bei anderen Frauen, sogar von ihr erwartet.

Ich wäre gerne eine stolze Löwin. Keine Antilope oder gar eine Maus.

Ich wäre gerne eine dieser superschlanken, bildschönen Schauspielerinnen, die lächelnd erklären, dass sie ganz verrückt nach Essen sind und es einfach nur Zufall ist, dass sie so schlank sind.

Ich wäre gerne Shonda Rhimes, Schöpferin unendlich vieler toller Geschichten, die auf Leinwand gebannt wurden.

Ich wäre gerne Bastian Schweinsteiger in weiblich. Oder zumindest Marta.

Ich wäre gerne Ruth Bader Ginsburg gewesen, Richterin am Supreme Court und Vorkämpferin für Gleichberechtigung.

Ich wäre gerne eine FFF, eine Fun Fearless Female-Cosmofrau. Sie hat Spaß im Leben, ist furchtlos, selbstbewusst und geht aufs Ganze, vergisst aber dabei nie ihre Weiblichkeit.

Ich wäre gerne meine Freundin Mia. Weil sie Pippi ist und ich Annika. Weil sie sich traut, Fäden durchzuschneiden, wo ich noch einen Extraknoten mache.

Nun bin ich aber Charlotte, genannt Charly. That’s it. Ich wäre ja gerne ich. Nur leider habe ich keine Ahnung, wie das geht, ohne damit ständig latent unzufrieden zu sein. Ich wüsste gerne, wer ich bin. Aber ich finde, das ist viel schwerer herauszufinden, als davon zu träumen, wer man stattdessen sein könnte.

Ich weiß zwar, dass man sein Leben selbst in der Hand hat – und es muss ja auch nicht gleich ein Umzug nach Hollywood sein –, aber da gibt es dieses Komfortzonenproblem. Ich meine, wer steigt schon freiwillig von einem Boxspringbett auf eine Jömna-Matratze von Ikea um? Wer gibt sein sicheres bayerisches Dorfleben auf, um in den indopazifischen Tropen für den Erhalt des Regenwaldes zu kämpfen? Und wer schlüpft aus seiner Hülle, um nachzusehen, ob es anderswo noch eine gibt, die vielleicht besser passt? Niemand.

Oder?

Kapitel 1

Das ist nicht dein Ernst, Charly!» Mia rührt ihre Latte so schnell durch, dass in Kürze nichts mehr von dem schönen Schaum übrig sein wird. Ich dagegen löffele vorsichtig meinen Milchcafé und gönne mir einen Extralöffel Zucker.

Durch die breiten Fenster des Cafés kann man raus auf den Markt von Altobernstadt sehen, der Regen tropft in dicken Bindfäden auf die unbesetzten Metalltische und angelehnten Stühle. Ich schaudere und ziehe die Schultern unter meinem Hoodie zusammen. Wäre das hier eine meiner geliebten Serien, dann würde ich keinen Hoodie tragen, sondern wäre in eleganten High Heels unbeeindruckt über das nasse Kopfsteinpflaster gehuscht und würde trotzdem mit perfekter Frisur vor Mia sitzen.

Selten hat sich meine kleine Heimatstadt so trüb und grau angefühlt wie in den ersten, verregneten Tagen dieses Aprils. Es ist, als müsste der Himmel all seine Reserven loswerden, um für den Sommer gewappnet zu sein. Einen, der so lang und heiß und trocken ausfallen könnte wie der vorige.

Mia sieht mich fragend an und erinnert mich daran, dass ich ihr noch eine Antwort schuldig bin. Doch bevor ich auch nur nicken kann, beugt sie sich vor und donnert ihre spitzen Ellbogen auf die Tischplatte, dass der Salzstreuer wackelt. «Und warum? Erklär es mir, ich hab es immer noch nicht verstanden. Ist es das Helfersyndrom?» Ihre Stimme klingt nicht anklagend, eher besorgt. Sie streckt den Arm aus und streichelt meine Hand.

Wir führen diese Diskussion ständig. Eigentlich alle drei Monate, wenn wir uns hier treffen, weil Mia in ihrem Heimatort «ein paar Bankgeschichten zu erledigen hat» – was übersetzt bedeutet, dass ihre Eltern sie finanziell unterstützen und sie ihnen dafür einen Besuch abstattet. Heute allerdings ist sie noch fahriger als sonst.

Seufzend sehe ich in ihr bildschönes Gesicht, leicht gebräunt, dezent geschminkt, die dunklen Haare fallen links und rechts ihres Ponys in hübschen Wellen über ihre Schultern. Von Weitem könnte man uns für Schwestern halten. Haarfarbe, Größe, Figur und sogar unsere Nasen haben erstaunliche Ähnlichkeit. Aus der Nähe wird schnell klar: Was bei Mia zur Perfektion gereicht hat, ist bei mir unteres Mittelmaß geblieben. Eine Hauskatze macht eben noch keine Löwin (da kann sie sich noch so herausputzen). Das dunkelgrüne Kleid steht ihr super. An mir wirkt Grün immer, als wäre ich aus Versehen in einem Prospekt für Tarnkleidung gelandet. Elegant ist anders.

«Ich habe kein Helfersyndrom», erkläre ich, «das nennt man Familie, Mia. Meine Mutter braucht mich, Katja und die anderen brauchen mich. Ich kann nicht einfach wegziehen, wenn zu Hause die Bude brennt. Außerdem habe ich meine Arbeit bei Edelbert & Ardenbaum!»

Mia zieht die dicker werdende Falte zwischen ihren Augen zusammen. Sie denkt jetzt sicher an ihre letzten Jobs. An die aufregende Zeit in Frankfurt oder die bei Vienna Voices in Wien. Die Zwischenstation als Reiseleiterin auf einem Kreuzfahrtschiff. Oder an das Jahr in Paris, als sie sich eine der sehr begehrten Festanstellungen bei der französischen Synchronfirma gesichert hatte. Gedankenverloren zwirbelt sie ihre Haare um den Finger und sieht aus, als wäre ihr gerade eine Idee gekommen, über die es dringend nachzudenken gilt. Mia ist wie eine dieser Zaubertafeln, die wir als Kinder so geliebt haben. Sie malt und schreibt ihr Leben immer wieder neu und hat kein Problem damit, einfach über die Tafel zu wischen. Ich dagegen bin mehr der Typ in Stein gemeißelte Wahrheit.

Hinter uns räumt die Kellnerin geräuschvoll einen der verlassenen Tische ab, während ich zu einer Erklärung ansetze. «Ich muss keine Miete zahlen, ich kann Veronika und Georg helfen, und Jo ist ja auch noch da.»

«Verschon mich mit Jo!» Mia stöhnt und wechselt lieber das Thema. «Wie geht es Katja? Ich hab sie so lange nicht gesehen. Wenn man überlegt, wie dick wir mal miteinander waren …»

Ich erinnere mich daran, wie Katja, Mia und ich früher am Bachlauf unter der Trauerweide Staudämme gebaut haben und uns vorstellten, an Lianen durch den Dschungel zu schwingen. Wie Mia damals schon konkrete Pläne schmiedete, nach der Schule in den echten Amazonas zu fliegen. Pläne, in denen ich ein fester Bestandteil war. Pläne, die Mia in die Tat umgesetzt und ich auf die lange Bank geschoben habe, bis sie heruntergepurzelt sind und festgetrampelt wurden.

«Katja? Geht so, sie verkraftet die Trennung von Tobias nicht besonders. Seit ein paar Wochen wohnt sie wieder bei uns. Und damit hat das liebevolle Chaos Einzug gehalten.»

Mia versucht, verständnisvoll zu gucken, aber ich weiß schon, dass sie es nicht wirklich versteht. Wie auch. Mia ist Einzelkind und nicht wie ich in einer Pflegefamilie groß geworden. Und deshalb musste sie nie daran zweifeln, wer sie ist. Vielleicht wachsen Flügel überproportional groß, wenn man starke Wurzeln hat und genau weiß, wo man herkommt. Vielleicht fürchtet man sich dann auch nicht so sehr, die Flügel weit auszustrecken und Wurzeln Wurzeln sein zu lassen.

Obwohl wir uns sehr nah sind und unsere gesamte Kindheit zusammen verbracht haben, steckt Mia eben nicht in meiner Haut, in einem Körper aus Genen, von deren Herkunft ich keine Ahnung habe. Ich weiß nur, dass meine Mutter mich nicht wollte und mich im Alter von dreizehn Monaten in einem Kinderheim abgegeben hat.

Ich bin froh, als Mia meine Gedanken unterbricht und fragt: «Aber zwischen dir und Jo läuft es gut? Ich meine, selbst nach dieser grauenvollen Aktion?»

«Geht schon», erwidere ich ausweichend. «Er hat es doch nicht böse gemeint.» Und so grauenvoll war es gar nicht, füge ich in Gedanken hinzu. Bestimmt gibt es auch Leute, die fänden es sogar witzig, wenn der eigene Freund ein Computerspiel programmiert, in dem man selbst die Antagonistin in Zombieform ist. Ein Spiel, das noch dazu so erfolgreich ist, dass es jeder kennt. Meine Lippen fühlen sich plötzlich furchtbar trocken an, ich lecke darüber, obwohl ich weiß, wie kontraproduktiv das ist. Ich habe doch anfangs selbst über die Idee gelacht. Ohne zu wissen, dass es ihm ernst damit war, mich zur Vorlage für die ultimative böse Zombiebraut zu machen. Jo hat mich seine Gamer-Muse genannt. Das war zu einem Zeitpunkt, als er mich noch liebevoll auf die Nasenspitze geküsst hat. Als ich es cool fand, wie locker wir miteinander sind, und stolz darauf war, wie wichtig ihm meine Meinung zu allen Dingen in seinem Leben ist. Und als ich es spannend fand, in diese Welt der Computernerds und Gamefreaks einzutauchen.

Inzwischen finde ich es schon ziemlich lange kindisch. Und eher dumm.

«Jetzt programmiert er ein Reality Suburbian Adventure», erkläre ich. «Schauplatz ist Altobernstadt.»

Ich bemühe mich, völlig ernst zu bleiben. Aber als ich in Mias Gesicht blicke, das gerade zusehends an Spannung verliert, muss ich doch lachen. Auch wenn es sich etwas bitter anfühlt. Sie fällt einfach nie auf mich rein.

Etwas leiser sage ich: «Vielleicht zieht er demnächst zu mir.»

Das ist vermutlich die größte Lüge, die ich Mia je aufgetischt habe, aber ich kann diesen Blick kaum aushalten. Mia ist eine Klammer, die sich ausschließlich um sich selbst schließt. Und das ist absolut positiv gemeint. Mia braucht niemanden, der sie liebt, sie liebt sich selbst genug. Ich dagegen brauche Bestätigung, weil ich von Jahr zu Jahr weniger Ahnung habe, wer ich eigentlich bin.

Mia lässt ungeniert ihren Kopf auf die Tischplatte sinken. Direkt neben ihre schaumlose Latte. Es gibt einen dumpfen Knall, sodass uns die Frau am Nebentisch einen vorwurfsvollen Blick zuwirft, und ich verkrieche mich automatisch noch ein wenig tiefer in meinen Hoodie.

Mia wiederholt meine Worte ungläubig: «Altobernstadt und … Suburbian?»

«Das heißt Vorort», erkläre ich unnötigerweise.

«Finde den Fehler, Charly! Finde den Fehler!», keucht sie und schaut unter ihrem dunklen Pony wieder zu mir hoch. «Dieses Kaff ist nicht einmal ein Vorort. Es ist die komplette Einöde. Die Pampa, der Arsch der Welt, die Walachei, der Hinterhof von Hintertupfingen, der Kaffeesatz von Bayern … Wie sagt man dazu noch mal auf Englisch?»

«Zum Kaffeesatz?», hake ich nach.

«Du weißt genau, was ich meine. Wie ist der Ausdruck für einen unwirtlichen, unterbevölkerten, ereignisarmen und sterbenslangweiligen Ort?»

«Po-dunk», sage ich.

Mias braune Augen unter den dichten, dunklen Wimpern funkeln. «Genau, du bist direkt nach dem Studium nach fucking Podunk zurückgekehrt und lebst immer noch da!»

«Du vergisst dabei, dass du selbst aus fucking Podunk stammst.»

Ich schiebe das komische Bauchgefühl auf den starken Kaffee. Nicht, weil Mia meinen Lebensentwurf nicht mag, sondern weil ich weiß, wie recht sie damit hat. Ich benutze meinen On-and-off-Freund, meine Familie, meine Geschwister, die Arbeit im Restaurant als Entschuldigung, um mich selbst vor der Welt da draußen zu schützen. Es ist pure Angst.

Ich beuge mich zu ihr vor und stoße mir dabei die Oberschenkel an der zu niedrigen Platte an.

«Bei dir hört sich das immer so an, als würde ich nie hier rauskommen», sage ich leise.

Während Mia wieder ihre Latte quirlt, verraten mir ihre Augen, dass sie genau das befürchtet. Sie selbst hat den Mut, ihre Wohnorte so häufig zu wechseln wie andere ihre Unterhosen. Ich dagegen hänge im Einmaleins meiner Geschwister fest. Freiwillig, aber trotzdem immer ein wenig unzufrieden damit. Zugleich unfähig, etwas zu ändern.

Ich tätschele die perfekt gebräunte Haut an ihrem Unterarm und sage: «Der Kaffeesatz findet sich am Boden, Mia, und wenn du mit deiner Latte so weitermachst, dann bist du da bald angekommen. Sieh es als Metapher. Du kannst jederzeit zu mir rausfahren und dich von der Großstadt erholen.»

Sie beugt sich über den Tisch und starrt mir in die Augen. «Ich muss mich nicht von der Stadt erholen, ich gehöre da hin. Asphalt und der Duft der großen weiten Welt, da blühe ich erst richtig auf», dröhnt sie theatralisch. Dann zwinkert sie mir zu und zieht mich an sich. Einen Moment lang wirkt es, als wolle sie mir etwas ins Ohr flüstern, aber sie bleibt stumm.

«Ja, ist gut, mein wunderschönes Betonpflänzchen», kichere ich und drücke meine Nase in ihre Haare. Erdbeershampoo. Die teure Flasche aus dem Naturkosmetikladen, die ich ihr zum letzten Geburtstag geschenkt habe. «Aber vielleicht muss sich die Welt da draußen ja auch einmal von dir erholen», füge ich hinzu.

Sie reckt das Kinn und drückt mich an den Schultern sanft ein Stück zurück. Prüfend sieht sie mich an. «Könnte sein, dass ich …» Ihre Augen glänzen verdächtig.

«Was?», hake ich nach.

«Wer weiß, vielleicht mache ich bald etwas völlig anderes», sagt sie geheimnisvoll.

«Was denn? Eine Weltreise auf einem Einhandsegler?», scherze ich. «Oder hast du am Ende tatsächlich vor, sesshaft zu werden, baust ein Haus im Neubaugebiet und heiratest einen Altobernstädter?»

Mia schaut an mir vorbei und neigt den Kopf von links nach rechts. Dann schmunzelt sie. «Wer weiß … Die Frage ist doch viel mehr: Was ist mit dir? Willst DU nicht mal einen Einhandsegler fahren oder aus der Sesshaftigkeit etwas Aufregendes machen? Du könntest einen heißen Surferboy in Australien aufreißen, auf einer Kaffeeplantage in Kolumbien anheuern oder …»

Jetzt geht das schon wieder los! Unwillig und etwas trotzig unterbreche ich sie: «Ich mag den Kaffee hier. Und ich habe Jo!»

Lächelnd deutet sie auf meine Tasse mit dem Milchkaffe und verkündet: «Ich könnte wetten, die halten Coldbrew für eine Biermarke. Und Jo, na, dazu sage ich besser nichts mehr. Ist schon okay, du magst es eben hier.» In ihrem letzten Satz liegt eine Mischung aus Resignation und … ja, Mitleid.

Eine Weile ist es still zwischen uns, und ich kämpfe mit dem Gefühl, mich verteidigen zu müssen. Da ist dieser kleine Hauch Wut darüber, dass sie mir gar nicht zutraut, mehr aus meinem Leben zu machen. Und nicht nur Mia, niemand. Ich bin nun mal Charly aus Altobernstadt, das war’s.

Kapitel 2Sebastian

Waren das alle?» Adam stellt den letzten Karton aus dem Lieferwagen ab, stützt die Hände in gespielter Erschöpfung auf seinen Oberschenkeln ab und erklärt: «Mensch, Basti, das ersetzt mir glatt das Work-out von heute Abend.» Er grinst breit und deutet auf seinen nicht sehr ausgeprägten Bizeps.

Ich schaue auf die klägliche Ansammlung von einem Dutzend Kartons und einem Koffer. Nichts davon war wirklich schwer. Und bis auf den, den ich gerade wie einen Karton roher Eier auf dem Arm balanciere, ist mir auch keiner wichtig. Ein paar Klamotten, ein paar Bücher, Kleinkram, Erinnerungen an frühere Sets, viel mehr hatte ich während meiner Abwesenheit auch gar nicht eingelagert.

«Im Ernst», fährt Adam fort, «dein ganzes Leben steckt in diesen Kartons?» Schnell fügt er hinzu: «Ich beneide dich.»

«Du beneidest mich nicht, mein Freund!», brumme ich. «Du hast eine Frau und zwei zuckersüße Kinder, lebst in einem Haus mit Möbeln statt aus Kartons und arbeitest in einem normalen Job. Menschen wie du beneiden Menschen wie mich nicht, sie bemitleiden sie.»

Er rollt mit den Augen. «Gib her, ich nehm dir deinen Karton ab, du brichst unter deinen ganzen Altlasten ja gleich zusammen», stichelt Adam weiter. Vielleicht tut er das auch aus Verlegenheit darüber, dass ich ins Schwarze getroffen habe. Er will mir den Karton aus der Hand nehmen, aber ich zucke zurück.

«Nicht anfassen!», fauche ich. Da drinnen sind Flos Heiligtümer. Die jetzt auch meine Heiligtümer sind. Wie seine Lucky Luke-Comics, um die wir uns als Kinder immer geprügelt haben, oder die verbeulten und ungültigen Nummernschilder seines ersten Autos, die Originalkarten für das Stones-Konzert in New York, ein Foto von uns beiden bei unserer Alpenüberquerung vor acht Jahren, sein Lieblingshoodie und natürlich der Warmwasser-Atemregler mit dem gesprungenen Display.

«Sag mal, warum dreht ihr jetzt eigentlich in München und nicht mehr in Portugal?», will Adam wissen. Er weiß genau, wann er bei mir das Thema wechseln muss.

«Die Außenszenen sind im Kasten – der Rest ist im Studio günstiger», sage ich knapp und lächele ihn schief an. Zum Glück nimmt Adam mir auch so kurze, heftige Ausbrüche wie eben nicht krumm.

«Und daher jetzt also Starnberg.» Er schaut sich interessiert in der Wohnung um und meint anerkennend: «Schick hier. Deine Schwester scheint ganz gut zu verdienen mit ihrem Coachingkram.»

Ich zucke mit den Achseln, weil ich keine Lust habe, meinem besten Freund zu erklären, dass es egal ist, womit Julia ihr Geld verdient oder nicht verdient. Die Villa in Starnberg mit eigenem Seezugang hat ihr Mann gekauft. Es ist nett, dass sie mich hier übernachten lässt. Das Wort «wohnen» fällt sogar beim Denken irgendwie schwer.

«Mann, ich muss los. Den Kleinen von der Kita holen.» Adam schaut auf seine Uhr und verzieht das Gesicht. «Aber ich könnte heute Abend mit Wolfi auf ein Bierchen vorbeikommen, und du erzählst von Lissabon, den heißen Portugiesinnen. Oder wir gehen in München was trinken.»

«Ich bin verabredet», sage ich ausweichend.

«Aaaah!», macht Adam, und ich wette, er freut sich schon auf den Moment, Anni, seiner Frau, zu erzählen, dass der arme Sebastian jetzt endlich wieder eine Frau am Start hat.

«Sie ist blond, blutjung und kommt heute Abend zum Serienmarathon bei mir vorbei», seufze ich, wohl wissend, dass Adam mich sofort durchschauen wird.

Adams Gesichtszüge sacken ab. «Jenna?», fragt er. «Deine Nichte?»

Ich nicke.

«Wie schlimm?», will er dann wissen, und er muss die Frage gar nicht weiter ausführen. Ich weiß auch so, wie sie weitergehen würde: Wie schlimm ist es, wieder hier zu sein? Zum ersten Mal seit … An dieser Stelle würde Adam stocken, und die richtigen Worte würden ihm fehlen, weshalb er letztlich nur noch eine Handbewegung machen würde, die alles umschließt, was in den letzten sechs Jahren passiert ist.

Was er meint, ist: Wie schlimm ist es, mit den Erinnerungen konfrontiert zu werden? Wie schlimm, nicht mehr ruhelos umherzuziehen, von Job zu Job, sondern tatsächlich längere Zeit in München drehen zu müssen?

Ich zucke die Achseln und schaue an ihm vorbei. Bis Adam seinen untrainierten, aber mitfühlenden Bizeps hebt und mir die Hand auf die Schulter legt. «So schlimm?»

Kapitel 3

Hast du nicht manchmal Lust, das alles hier hinter dir zu lassen?», fragt Katja nachdenklich. Sie stemmt die langen, dünnen Arme in die Seiten. «Also von wegen aus deiner Haut rauskommen und so?»

«Geht nicht, die ist angewachsen», kontere ich und strecke mich in Richtung Decke. Ein Bein auf der vorletzten Stufe der Leiter, eines auf der letzten. Zum wiederholten Male nehme ich mir vor, die Lichterketten einfach hängen zu lassen. Den Saal im Seitenflügel des Restaurants zu dekorieren, ist immer eine halsbrecherische Angelegenheit.

Katjas nackte Füße patschen ungeduldig auf den kalten Bodenfliesen. Sie stöhnt: «Och Mann, Charly. Du müsstest doch verstehen, dass ich das rein metaphorisch meine.»

Lächelnd schüttele ich den Kopf, drehe mich zu ihr um und fange ihren Blick auf. Sie hat den Kopf leicht in den Nacken gelegt, und die Sonnenstrahlen schreiben ein schattiges Muster auf ihr Gesicht. Flirrende Staubpartikel schweben wie lautlose Fliegen durch die Luft. Die Blumenarrangements, die wir auf einem der Tische in der Ecke des Gastraums versammelt haben, verbreiten einen schweren, süßen Duft. Mein Blick schweift über den großen Saal mit den imposanten Deckenbalken, den schnörkellosen Wänden aus unverputztem Fachwerk und den bodentiefen Fenstern, die die Sicht auf den Weiher freigeben, in dem wir von März bis weit in den Oktober hinein schwimmen gehen. Ich puste mir ein paar Strähnen aus der Stirn und mache mich wieder daran, die Lichterkette zu entdröseln.

Eine Weile ist meine Schwester still und sieht mir zu, wie ich mich mit der Lichterkette abmühe, dann stampft sie mit dem Fuß auf, sodass es ein schmatzendes Geräusch gibt, und legt eine Hand an die Leiter. «Ich kann das doch für dich übernehmen!», erklärt sie.

«Kannst du nicht», sage ich knapp und versuche, die Lichterkette durch die Deckenöse zu schieben.

Katja schmollt und fährt sich mit der rechten Hand durch den blonden Pagenkopf. Ihre hohen Wangenknochen drücken sich förmlich durch die helle Haut, die in wenigen Wochen von Sommersprossen übersät sein wird. Als wir Kinder waren, haben wir sie gezählt, und ich habe behauptet, es wären Wunschpunkte. Wie beim Sams. Katja ist zwar sechs Jahre älter als ich, aber genau genommen trennen uns nur wenige Monate, die sie länger bei unseren Eltern lebt als ich. Wir sind vollkommen unterschiedlich und doch durch unsere Vergangenheit vereint. Ein bisschen wie Minus und Plus. Antonyme, deren Gegensätzlichkeit uns gleicher macht, als unsere Charaktere es vermuten lassen.

«Sei mir nicht böse, Katja, aber hast du nicht irgendetwas anderes zu tun, als mich von der Arbeit abzuhalten?»

Wie erwartet bleibt meine Schwester unbeeindruckt von meinem Versuch, sie wegzuschicken. «Ich könnte Servietten falten.»

«Das gibt bei dir nur faltige Knoten», erwidere ich und schwäche die Feststellung mit einem kleinen Augenzwinkern etwas ab.

Als Katja laut seufzt, biete ich an: «Wie wär’s mit Bestecktaschen? Die konntest du doch immer gut.»

Das ist zwar reichlich übertrieben, selbst die einfachsten Faltmuster geraten bei Katja zu abstrakt geformten Unikaten. Aber das kurze Leuchten in ihren Augen ist die kleine Notlüge allemal wert.

«Na also», sagt sie froh und lässt sich auf einen der Tische fallen. Mit einer Hand zieht sie den Karton mit den Stoffservietten zu sich und greift hinein. «Wenn ich es nicht besser wissen würde, könnte man fast meinen, du bist mit unserer Mutter verwandt. Die gibt auch immer nach.»

Worte wie diese verfehlen ihre Wirkung nie. Katja macht solche Bemerkungen ständig. Ganz nonchalant, völlig unbeeindruckt, als würde sie sagen: Hey, wir hatten gestern Pizza zum Abendessen.

Bei mir verursacht es ein seltsames Herzklopfen, daran erinnert zu werden, dass Katja und ich zwar gemeinsam aufgewachsen sind, aber kein einziges Gen teilen. Als könnten Worte mir die Existenz rauben.

«Jetzt, da ich wieder hier bin», beginnt sie erneut, «könntest du doch ein bisschen kürzertreten im Restaurant. Immer denkst du nur an andere, nie an dich. Jetzt bin ich an der Reihe, das Zepter zu übernehmen», verkündet Katja und klingt dabei, als wäre sie Vorstandsvorsitzende eines Dax-Konzerns und keine Mittdreißigerin, die es bisher in keinem Job länger als sechs Monate ausgehalten hat. Als würden zwei halbwegs vernünftig gefaltete Servietten sie dafür qualifizieren, eine Wirtschaft zu leiten. Aber Katja ist noch nicht fertig. «Du hast doch bei Edelbert & Ardenbaum genug mit deinen Verträgen und deinen Hieroglyphen zu tun.» Sie macht eine gewichtige Pause, und ich verkneife es mir, sie daran zu erinnern, dass ich als Englisch- und Italienischübersetzerin arbeite, nicht als Ägyptologin.

«Schau mal, das ist doch eine Eins-a-Variante einer Bestecktasche!» Katja hält eine Serviette hoch und lächelt mich an, bevor sie eine neue aus der Verpackung zieht. «Was macht eigentlich Mia? Wie war euer Treffen gestern?»

«Alles beim Alten. Mia eben – überall auf der Welt zu Hause, nur nicht in Altobernstadt.»

«Du bewunderst sie immer noch für alles, was sie tut, oder?», erwidert Katja und legt die Stirn in akkuratere Falten als jede Serviette.

«Stimmt doch gar nicht!»

Dabei stimmt es sehr wohl, wenn ich ehrlich bin. Mia ist eben wie eine Schlange, die sich regelmäßig häutet und neu erfindet. Eine Powerbank und ich nur die Back-up-Software, um es mit Jos Worten zu sagen.

«Was würden wir nur alle ohne dich machen?», sagt Katja. «Gut, dass du hier so verwurzelt bist wie eine alte Eiche.»

Vielleicht ist es dieser Satz, der das Fremdheitsgefühl verstärkt, das ich seit einiger Zeit habe. Vielleicht aber auch der Zeitungsausschnitt, den meine Mutter mir vor ein paar Wochen stumm überreicht hat und der seitdem in meinem alten, zerfledderten Notizbuch liegt wie eine Anklageschrift. Dieses lederne Buch, dessen karierte Seiten nur mit einem roten Gummi zusammengehalten werden und das seit Jahren mein ständiger Begleiter ist und all meine zusammenhängenden und zusammenhanglosen Gedanken enthält. Vielleicht ist es Mias schlecht verhohlenes Mitleid. Oder Katjas treffende Kommentare. Oder eine Mischung aus allem. Ich kann vielleicht eine Lichterkette entdröseln, aber um das Geheimnis meiner Herkunft zu entwirren, ist es jetzt zu spät. Ich habe zu lange gewartet, zu lange gedacht, es müsse alles so bleiben, wie es ist. Ohne Antworten auf Fragen.

Einen Moment lang stolpert mein Herz und fragt sich, was und wer ich geworden wäre, wenn ich nicht vor über dreißig Jahren in diese Familie gekommen wäre. Und gleichzeitig, noch während es den richtigen Takt wiederfindet, keimt da etwas in ihm. Etwas, das sagt: Wann genau hast du eigentlich beschlossen, eine Eiche zu sein, Charly?

Kapitel 4

Mein Büro bei Edelbert & Ardenbaum, das diese Bezeichnung so wenig verdient wie ein Bahnhofsklo das Attribut «Wellnessoase», liegt am Ende eines langen Ganges, in dem Bereich, der noch nicht renoviert wurde. Genau genommen ist es eine Kammer ohne Tageslicht, dafür mit greller Neonröhre und einem verblassten Sonnenuntergangsposter aus den Achtzigerjahren. Aus einer Zeit, in der es angesagt war, sich ganze Wände mit diversen Dämmerungsszenarien zu tapezieren, und in der sich Work-Life-Balance noch mehr nach Margarine als nach einem ernst zu nehmenden Lebensstil angehört hat. Hier bei Edelbert & Ardenbaum heißt das Work-Work, ganz ohne Scham.

Auf meinem linken Bildschirm zähle ich einunddreißig neue E-Mails in Outlook, fünfzehn mit Eilt-Vermerk. Darunter eine Mahnung der Personalabteilung, meinen Alturlaub endlich zu nehmen: «Vierundzwanzig Tage aus dem Vorjahr und dreißig neue, Frau Reinhardt, Sie müssen dringend Urlaub abbauen.» Außerdem eine Einladung zum Betriebsgrillen und einmal Werbung für ein Sextoy mit Hasenzähnen und dem klangvollen Namen Superlatte: «Nutzen sie auch in Büro, 100 percent Garanti für nicht laute Lautstärke. Rückgabe okay wenn Unzufriedenheit wegen Diskretionen.»

Unwillkürlich muss ich an Jo denken. Aus dem romantischen Abend, den ich mir bei seinem letzten Besuch vor drei Wochen erhofft hatte, wurde nichts, außer hektischem Sex ohne Vorspiel. Ich schlucke und versuche, nicht im Nachgang noch enttäuscht zu sein. So ist das eben manchmal. Dabei ist Jo meistens sehr zärtlich. Nicht wie Micha, sein Vorgänger, der von der weiblichen Anatomie so wenig Ahnung hatte wie Katja vom Serviettenfalten. Und Jo ist auch keiner, der ständig eine andere vögeln muss wie Dominik, der Typ vor Micha. Wahrscheinlich ist es ganz normal, dass im Laufe einer Beziehung die romantischen Sätze Platz machen für die praktischen. Da kann aus «Schatz, du siehst fantastisch aus» schon mal ein «Hast du meinen zweiten Socken gesehen?» werden.

Jo ist eigentlich einer von den Guten. Und auch er darf mal einen schlechten Tag haben. Vielleicht braucht er einfach noch Zeit, um mich als seine Freundin anzusehen.

Zwei Jahre, Charly!? Es sind zwei Jahre, in denen er sich bereits dreimal von dir getrennt hat, ohne den Beziehungsstatus überhaupt verifiziert zu haben … flüstert mir eine Stimme zu, die ich gekonnt ignoriere. Es wird besser werden, wenn … Ja, wann eigentlich?

Schnell lösche ich die Sextoy-Mail, lese die anderen, seriösen Nachrichten und stürze mich dann in die Arbeit. Eine halbe Stunde später steckt meine Kollegin Sandra ihren Kopf durch die Tür und hält mir einen dampfenden Becher Kaffee hin.

«Zweimal Zucker, einmal Schaum», ruft sie gut gelaunt. «Sag mal, hast du auch diese komische Werbung mit dem Sexspielzeug bekommen?»

«Ja, zwei waren im Angebot – ich hab schon bestellt und du?», antworte ich und ernte einen verwirrten Blick.

Am liebsten würde ich mir auf die Zunge beißen. Allerdings kommt der Bremsbeschleuniger zu spät. Wie so oft.

«War ein Scherz», erkläre ich schnell.

Sandra grinst schief, stellt die Tasse auf meinem Tisch ab und wendet sich schon wieder zum Gehen.

«Danke!», rufe ich ihr hinterher.

Seufzend lehne ich mich zurück und nehme einen Schluck Kaffee. Die Übersetzung der neuen Produktbeschreibungen für Dosieranlagen ins Italienische hat es in sich. Kollege Schmitt hat sie mir mit den Worten geschickt: «Ich bin in Urlaub, aber du bist ja da – könntest du das übernehmen?» Außerdem muss noch die Mitarbeiterzeitung für die Angestellten in UK und USA ins Englische übertragen werden – damit die auch mitkriegen, was bei uns nicht los ist, denke ich. Denn Edelbert & Ardenbaum ist als Arbeitgeber ungefähr so aufregend wie der Klappentext eines Wörterbuchs.

Natürlich habe ich mir nach der Uni vorgestellt, schöne Literatur zu übersetzen. Wer nicht? Nun sind es eben trockene Verträge geworden statt spritziger Dialoge. Man kann nicht alles haben. Auch wenn Mia das Gegenteil behaupten würde.

Mia und ich haben gemeinsam in Frankfurt Sprachen studiert. Mia, weil sie in die Welt hinauswollte. Ich, weil ich Worte finden wollte – für mich, für andere, für das Leben, für all die Dinge, die ich bis heute nicht begriffen habe. Vielleicht aber auch, weil ich mir mit Wörtern eine Welt schaffen wollte, in der ich mich verkriechen kann.

Als mein Telefon klingelt, schrecke ich hoch und klicke schnell das Bedienmanual der Dosieranlage auf. Als könnte man durch den Hörer sehen, dass ich trüben Gedanken nachhänge, statt zu arbeiten. Aber seit die Geschäftsleitung letztes Jahr veranlasst hat, diese monströsen Rauchmelder zu installieren, fühle ich mich immer irgendwie beobachtet.

«Charly?», tönt es durch den Hörer.

Einen Moment lang brauche ich, bis ich die Stimme erkenne, so verzerrt klingt sie durch den Apparat.

«Mia?», frage ich. «Bist du das?»

«Ha! Du glaubst nicht, wo ich gerade bin!»

Sie klingt dumpf und weit entfernt, es kratzt und knarzt im Hörer. Vermutlich hat sie mal wieder auf Lautsprecher gestellt und macht nebenbei tausend andere Sachen.

«Keine Ahnung, vielleicht …»

«Ich bin in Französisch-Polynesien! Mit Sören, diesem Aussteigertyp, von dem ich dir neulich im Café erzählt habe», sagt sie.

Ich erinnere mich an keinen Sören. Aber das muss nichts bedeuten. Im Namenswirrwarr von Mias ständig wechselnden Bekanntschaften kann auch mal jemand untergehen.

«In welchem Arrondissement von Paris liegt Französisch-Polynesien denn?», witzele ich.

Mia lacht schallend. «Geografie war noch nie deins, Charly», erwidert sie. Und ein wenig klingt es, als wolle sie sagen: Wer sich die Welt nur in Filmen ansieht, kann ja auch keine Ahnung von ihr haben. «Ich wiederhole mich ja ungern, aber du wärst auch mal reif für einen Tapetenwechsel.»

Gedankenverloren schaue ich auf den papiernen Sonnenuntergang und verspüre plötzlich den unbändigen Drang, das Ding von der Wand zu reißen. Als würden sich dahinter die Top Five der hippsten Arbeitgeber verbergen und nicht die blanke Wand von Edelbert & Ardenbaum.

«Das ist Raufaser, die geht ganz schlecht ab», sage ich.

«Was? Ich kann …» In der Leitung ist es plötzlich still. Dann kracht es wieder kurz. «Was hast du gesagt? Ich …» Mia wird von einem weiterem Rauschen unterbrochen.

«Nicht so wichtig. Erzähl mir, wie es dich in den Pazifik verschlagen hat!», erwidere ich.

Normalerweise tut Mia das sehr bereitwillig. Sie hat dieses Talent, jeden ihrer Sätze wie einen Abenteuerroman klingen zu lassen, während ich mit meinem ereignisarmen Leben noch nicht einmal die Klatschspalte auf der letzten Seite unten links fülle. Ich könnte höchstens von Katja erzählen, die ihr Interesse an der Gastronomie inzwischen mit einem Crashkurs zum Thema «vegetarisch-basische Ernährung» an der Volkshochschule untermauert. Oder von Pepe, einem meiner Geschwister, der zwei riesige Milchzähne verschluckt hat und mich beim Fußballspielen in Grund und Boden dribbelt.

«Ah, lange Geschichte …», erklärt Mia. «… Empfang zu schlecht … erzähl ich dir, wenn ich zurück bin …» Jetzt verkommt Mias Stimme zu einem verzerrten Laut. Als ich sie wieder höre, sagt sie: «… Flugzeug in Richtung Deutschland, aber nun sitzen wir hier fest … wegen … Sturm … heftigster seit Jahren … hurricane season …»

Ich lausche zwar aufmerksam, aber die schlechte Verbindung verschluckt Mias Worte und Sätze und nimmt dem Ganzen etwas den Zusammenhang.

«Und da kommst du ins Spiel!», ruft sie schließlich durch den Hörer. Die Verbindung ist wieder klar. «Sag mal, kannst du dir ein paar Tage freinehmen?»

Ich sehe mich schon aus dem Flieger steigen, während Mia mir in einem Baströckchen auf dem Rollfeld eine Blumenkette zur Begrüßung umlegt. Den Hurrikan ignoriert mein Tagtraum geflissentlich.

«Also die Personalleitung sitzt mir zwar schon im Nacken», plappere ich eifrig drauflos, «weil ich vierundzwanzig Tage aus dem letzten Jahr und noch die dreißig Tage …»

«Gut», unterbricht sie mich, und ich sehe Baströckchen und Blumenkette schon wieder schwinden. «Es ist auch keine große Sache. Du müsstest nur ein paar Tage lang ich sein.»

Dann kichert sie.

«Das ist doch genau das, was du immer wolltest, oder?»

Kapitel 5Sebastian

Vor mir steht eine nervös giggelnde Horde von acht Frauen in Outdoorklamotten und beäugt misstrauisch die frisch geputzten Quads auf dem Schotterparkplatz vor dem stillgelegten Steinbruch. Ich hätte gerne darauf verzichtet, den Indiana Jones zu spielen. Aber Job ist eben Job, und dazu gehört leider auch, nicht nur selbst Adrenalin zu inhalieren, sondern es auch bestmöglich an den Mann – oder heute an die Frau – zu bringen.

Ich lächele gequält und mustere die Mischung aus Münchner Oberschichttöchtern und Möchtegernschickeria. Berit sticht angenehm hervor, mit ihrer zerrissenen Jeans und dem alten Männerpullover. Einen Moment lang schlucke ich, weil ich glaube, genau dieses alte Wollteil von Florian zu kennen. Gut möglich, dass es seines ist. Berit ist zu pragmatisch, um solche Dinge zu entsorgen. Ihre Freundinnen sehen dagegen so aus, als hätten sie ein Exklusivsponsoring von Fjällräven gewonnen. Ich rolle innerlich mit den Augen und freue mich schon auf den Moment, in dem ihnen die Matschbrocken um die Ohren fliegen.

Was Berit mit diesen aufgebrezelten Tussis will, ist mir ein Rätsel, dafür kann ich mir meine eigene Ex erstaunlich gut unter ihnen vorstellen.

Ich lächele Berit an, und es wird sogar ein ehrliches Lächeln draus. Ich mag sie – um ein Haar wäre sie meine Schwägerin geworden. Und es passt zu ihr, dass sie ihren Junggesellinnenabschied selbst organisiert. Ich schätze, sie tut das, um nicht mit einem Bauchladen voller Tangas und Schnapsfläschchen durch die Münchner Innenstadt geschickt zu werden.

«Können wir loslegen?», frage ich in die Runde.

Berit nickt eifrig, während die anderen noch etwas verhalten wirken.

«Aber du erklärst uns das schon ganz genau, oder? Mit diesen Dingern …»

Die Brünette deutet auf die Quads, und ich überlege, ob ich Berit nicht doch von Paintball, Wanderreiten, einem Segeltörn mit Brunchen oder einer Alpakawanderung hätte überzeugen sollen. Allerdings waren die «Abenteuer» unter der Kategorie «Frauen aus unserem Katalog» Berit alle nicht actionreich genug. «Das ist mein Mädchen», würde Flo sagen. Einen Moment lang ist es, als stünde er neben mir und würde Berit durch die hellbraunen Löckchen wuscheln. Dann fällt mir wieder ein, dass sie hier ist, weil sie einen anderen heiraten wird. Und die Blockade in meinem Innern lässt nicht zu, dass ich mir vorstellen kann, was Flo davon halten würde.

Ich schalte auf Professionalität und erkläre die Bedienung der Quads, gebe Sicherheitshinweise und zeige den Mädels nach einer kurzen Einführrunde auf dem Vorplatz im Schneckentempo die Highlights der Strecke: das Schlammbecken, die Sanddünen, die steile Rampe runter in den Baggersee.

Zwei der Frauen sehen jetzt schon aus, als würden sie gerne sofort absteigen. Aber Berit kann es nicht abwarten, und die anderen fügen sich mehr oder weniger begeistert in ihr Schicksal.

«Und merkt euch», sage ich und zwinkere. «Am Limit lenkt der Zufall.»

Berit streckt den Daumen nach oben und ruft: «Ich fahr dir nach.»

Ich stülpe den Helm über und drücke auf den Daumenhebel fürs Gas – und so habe ich in den folgenden eineinhalb Stunden wirklich Spaß mit meiner Beinahe-Schwägerin. Wie immer, wenn Geschwindigkeit und Adrenalin das Denken abschalten und ich einfach nur sein kann. Dafür werde ich Flo immer dankbar sein: Am Limit lenkt der Zufall und nicht mehr mein Kopf. Am Limit bin ich frei.

Die Mädchen sind unter ihrer Gesichtsbemalung deutlich erblasst, Berit dagegen strahlt mit roten Wangen. Die Freundinnen haben sich um die beiden Stehtische vor dem Bauwagen versammelt, und Berit bugsiert mich immer wieder geschickt in Richtung der Brünetten mit dem netten Lächeln. Madeleine heißt sie. Hübsch, nett. Aber ich bin nicht interessiert.

«Du könntest mit Madeleine zu unserer Hochzeit kommen», flüstert Berit. So leicht gibt sie nicht auf. «Du hast für zwei zugesagt und nachdem du und Sabia …» Sie bricht ab. «Madeleine hat auch noch keine Begleitung.»

«Ich hab schon ein Date», lüge ich. Madeleine wäre bestenfalls ein One-Night-Stand. Und davon habe ich genug. Ich will nicht mehr neben einer Frau aufwachen, für die ich nichts empfinde. Mein eigentliches Problem aber ist: Ich will gar nichts empfinden.

«Willst du Jenna immer noch als Brautjungfer?», frage ich, um vom Thema abzulenken.

«Klar, ich liebe deine Nichte. Sie ist zuckersüß!», erklärt Berit.

Zuckersüß? Ich bin mir nicht sicher, ob wir von der gleichen Nichte sprechen. Allerdings kann Jenna als Brautjungfer in einem schicken Kleidchen vermutlich weniger Schaden anrichten denn als Blumenmädchen, Fürbittensprecherin oder Ringträgerin. (Von Stinkbomben in den Streublumen über Lösegeldforderungen für die Freilassung des Priesters aus dem Beichtstuhl bis zu einem Furzkissen unter den Eheringen traue ich ihr alles zu.)

«Sie wird anständig sein bei meiner Hochzeit.» Berit nickt mir zuversichtlich zu. «Immerhin habe ich Jenna an ihrem Geburtstag kein Schreiben von Hogwarts zukommen und sie eiskalt gegen einen Betonpfosten an der Haltestelle Großhadern laufen lassen. Ich schätze, mein Lieber, deine Nichte hat in dir ihren besten Lehrmeister gefunden.»

«Sie läuft gerade zu neuer Form auf. Hat einen Blog gefunden, auf dem ähnlich verrückte Kids ihre neuesten pranks teilen», brumme ich.

Berit will etwas entgegnen, aber ihre Freundinnen verlangen nach ihr.

«Komm, Berit», ruft Madeleine, «jetzt trinken wir erst mal ein Sektchen!»

Verzweifelter Blick von Berit. «Ich hätte lieber Bier.»

Tja, das hast du dir selbst eingebrockt.

«Du auch einen?», bietet mir eines der Fjällräven-Models an.

«Nein, danke. Ich fahr die Quads jetzt in die Reifenwaschanlage.» Ich wende mich wieder zu Berit und klopfe ihr aufmunternd die Schulter.

«Dann füge ich mich wohl in mein Schicksal.» Sie zieht eine Grimasse und fährt dann mit gedämpfter Stimme fort: «Überleg dir das mit Madeleine doch noch mal. Sie ist wirklich lieb. Wusstest du, dass sie als Kinderpsychologin arbeitet und einen Hund hat?» Sie nickt eifrig, als könne sie mir ihre Freundin dadurch noch schmackhafter machen.

Aber was soll das? Wenn mich diese Madeleine psychisch nicht zurechtbiegen kann, bleibt der Vierbeiner?

«Schön, das freut mich für die Kinder und den Hund», seufze ich.

Ich muss dringend hier weg, sonst schafft Berit es noch und dreht mir eine von diesen Influencerinnen für Outdoorklamotten an. Gut, dass das erst einmal der letzte Auftrag für die Eventagentur war. Ab morgen wird wieder gedreht. Dann kann Lehmann hier den Abenteuerzirkus übernehmen.

Kapitel 6

Ein Teil von mir hat immer gedacht, man hätte die Berge da reinretuschiert in die Idylle auf all den Postern, Postkarten und Reiseführern über das Münchner Umland, aber sie sind wirklich so nah und so imposant. Der Anblick ist fast zu schön, um wahr zu sein.

Dass ich in Starnberg bin, habe ich Mia zu verdanken. Ich soll ihren Umzug überwachen und ein paar Dinge für sie erledigen, und deshalb darf ich jetzt die nächsten beiden Wochen in einer der schönsten Regionen Deutschlands verbringen.

Jo kann meine Aufregung gar nicht verstehen. Als ich ihm verkündet habe, für zwei Wochen wegziehen zu wollen, meinte er nur: «Man zieht nirgendwohin, wenn man nur für zwei Wochen weg ist.» In einem Anfall von Übermut habe ich daraufhin verkündet, vielleicht gar nicht wiederzukommen, und seine Antwort darauf lautete in gehässigem Tonfall: «Du und nicht wiederkommen?» Und wenn ich ehrlich bin, bin ich auch deswegen jetzt hier. Weil es doch wirklich nicht sein kann, dass mir niemand zutraut, ein anderes Leben zu führen. Wenigstens zwei Wochen lang werde ich es aushalten.

Ich starre auf die spiegelnden Flächen des Wohnkomplexes, in dem Mias neues Apartment liegt. «Heilige Scheiße!», murmele ich. Das elegante Haus ist vierstöckig und fast ein wenig protzig, auch weil auf dem letzten Geschoss ein weißer Kubus mit einer umlaufenden Dachterrasse sitzt. Ich fühle mich, als wäre ich in einem Reisejournal ausgestiegen. Neubauvillen mit viel Glas und Beton, dazu geschniegelte Grünflächen und schicke Autos so weit das Auge reicht. Akkurat getrimmte Pflanzen in riesigen Töpfen zieren die Außenbereiche wie Artefakte einer Kunstaustellung – von Wäscheleinen, Bolzplatz oder einem netten kleinen Kugelgrill keine Spur. Wer hier wohnt, lässt seine Merinowollpullis und Seidenblüschen bestimmt in einer Reinigung säubern. Und das Grillen übernimmt vermutlich der hippe Caterer aus Schwabing. In meinem Jeanskleid mit den Schweißrändern, dem Billigkoffer von Aldi unterm Arm und meinen ausgelatschten beigen Birkenstocks fühle ich mich im wahrsten Sinne des Wortes fehl am Platz. Als hätte man mich im falschen Outfit direkt in einer Neuauflage von Melrose Place ausgespuckt.

«Freitag, der zwanzigste April, fünfzehn Uhr vierunddreißig», murmele ich leise vor mich hin. «Charlotte Reinhardt steht vor einer scheinbar unlösbaren Aufgabe: Sie soll zwei Wochen lang in einem der schicken Wohnhäuser der Possenhofener Straße so tun, als ob sie genau hierher gehört. In die erste Reihe, mit Seeblick.»

Ich brauche einen Moment, bis ich mich so weit gefasst habe, mich von der Aussicht loszureißen. Dann gebe ich mir einen Ruck und laufe mit langen, eiligen Schritten zu dem Wohnhaus mit der Nummer fünfzehn. Dritter Stock, Apartment 2 a. Vor der edlen Mahagoniwohnungstür muss ich lächeln, denn dort steht ein Strauß Frühlingsblumen, umwickelt mit hellgrünem Papier und dem Aufkleber einer Münchner Floristin. In dem beigelegten Umschlag liegt ein Zettel: «1000 Dank – und viel Spaß!»

Ich gebe den Code für die Tür ein, den Mia mir per WhatsApp geschickt hat. «Weitere Anweisungen findest du in diesem Link, damit kannst du dich in mein Postfach einwählen», lautete die weitere Nachricht.

Das Wort Anweisung hat zugegebenermaßen einen etwas unangenehmen Beigeschmack. Unwillkürlich muss ich daran denken, wie ich an der Uni mehr als einmal auf Mias Drängen hin Prüfungen für sie besucht und geschrieben habe – was dank unserer oberflächlichen Ähnlichkeit nie aufgefallen ist. Aber das hier ist ja auch etwas völlig anderes. Schließlich wohne ich die nächsten Wochen kostenlos in einer Luxusanlage mit Seeblick, Kunstrasen und allem möglichen technischen Schnickschnack. Das klingt doch viel mehr nach Fünf-Sterne-Urlaub als nach Arbeit.

Unwillkürlich halte ich die Luft an, als ich die Tür nach innen drücke – und blase sie lautstark wieder aus. Das gestöhnte «Wow» lässt sich auch nicht mehr aufhalten. Durch einen breiten, weiß gestrichenen Flur mit hellem Parkett und eleganten, in die Wand eingelassenen Einbauschränken schaue ich auf einen offenen Ess- und Wohnbereich.

Kurz muss ich an meine kleine Dachgeschosswohnung in Altobernstadt denken, in der es nicht einmal Platz für ein großes Bücherregal gibt, sodass ich in jedem Zimmer mehrere weiß lackierte Obstkisten stehen habe, die randvoll mit Romanen gefüllt sind. Klappentext reiht sich an Klappentext, und ausnahmslos jeder klingt besser, als die paar Zeilen, mit denen ich mein Leben umschreiben könnte:

Charlotte wohnt in dem Dorf Altobernstadt, sie hat einen Freund, der nicht richtig ihr Freund ist, und einen Job, der nicht ihr Traumjob ist, und eine Familie, die auch nicht ihre richtige Familie ist.

Vielleicht rührt sie daher, meine Obsession, alles in Klappentexte zu packen – ich feile noch an dem für mein eigenes Leben.

Ich schüttele mich und versuche, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Die Blumen stelle ich im Flur ab. Auch meinen Koffer lasse ich erst einmal stehen – ein wirklicher Schandfleck in dem ansonsten makellosen Eingangsbereich – und gehe langsam weiter. Die Küche ist in einem hellen Grau gehalten und bereits vollkommen ausgestattet. Es blitzt und blinkt, als wäre sie direkt dem Katalog eines Luxusmöbelherstellers entsprungen. Ess- und Kochbereich vereint eine breite Kochinsel mit Steinplatte. Ich streiche über das teure Material und schaue mich weiter um. Links neben der Insel steht ein langer Esstisch aus massivem Stahl mit antiken Holzbohlen und einer dicken Glasplatte. Die sechs weißen, dreibeinigen Designerstühle sehen fast verloren aus an dem großzügigen Möbel. Dahinter liegt der Balkon, der vielmehr eine Art Loggia ist und auf dem unter durchsichtigen Plastikschützern dunkle Polyrattanmöbel stehen. Ich strecke den Kopf, um schon von hier drinnen über die Baumwipfel des angrenzenden Parks auf den See sehen zu können. Carrie Bradshaws 5th-Avenue-Apartment ist ein Scheiß gegen das hier. Dann drehe ich mich um, zu den beiden grauen Sofas mit blauen Kissen, ein Dreisitzer und ein Zweisitzer, beide dekorativ auf einem dunklen Teppich platziert, auf dem außerdem ein kleiner Glastisch mit drei verschiedenen Höhen und einer Schale mit Äpfeln aus bemaltem Glas steht. In der schmalen Ablage unter dem Tisch liegt eine Broschüre mit dem Titel «Willkommen in Lakeside Living».

Erschlagen lasse ich mich auf die Couch sinken, die genauso bequem wie schick ist.

«Charlotte kann ihr Glück kaum fassen, sie wird zwei Wochen lang in einem Möbelhaus wohnen. Ob es ihr gelingt, die Wohnung unversehrt wieder zu verlassen?», murmele ich vor mich hin.

Allerdings fühlt es sich – anders als im Klappentext meiner aktuellen Situation – gar nicht nach Glück an. So ist das manchmal mit Büchern: Der Umschlag verspricht etwas, was gar nicht drinsteckt. In mir herrscht keine Euphorie, dieser Ort löst Panik in mir aus. Ich bin ein einziges Häuflein Einsamkeit. Was soll ich hier so ganz alleine? Klar, Jo war auch in Altobernstadt nicht häufig da. Aber meine Eltern waren es, meine Geschwister. Ich gehöre doch in diesen Kokon aus Gaststätte, Familie und Büro, vielleicht auch aus Angst, ich könnte das alles verlieren, wenn ich mich erst einmal aus der Verpuppung löse. Zum Glück haben alle meinem spontanen Urlaub zugestimmt.

«Es ist ja auch nur für zwei Wochen, Charlotte, nur zwei kleine Wochen», rede ich mir zu. Dann springe ich entschlossen auf und gehe aus dem Wohn- in das angrenzende Schlafzimmer. Auch hier Chic pur. Das Bett ist zu meinem Erstaunen bereits bezogen, eine blaue Tagesdecke mit goldenen Rändern liegt darüber. Eine Schiebetür führt in ein Ankleidezimmer, das so groß ist wie Wohnzimmer und Küche meiner Dachgeschosswohnung zusammen. Ich überlege, ein Foto zu machen und es Katja zu schicken, aber vielleicht ist es in der aktuellen Situation nicht das Beste, mit Fotos von einem trauten Eigenheim zu kommen. Immerhin hat sie mit Tobias noch keine Regelung für das gemeinsame Haus gefunden.

Stattdessen hole ich meinen Koffer und meine Handtasche und packe alles aus. Ich will das alte Notizbuch mit dem roten Gummi in den Nachttisch räumen, dort, wo es auch in meiner Wohnung liegt, aber es fühlt sich nicht richtig an. Also stecke ich es zurück in meine Handtasche und hänge dann die wenigen Klamotten, die ich mitgebracht habe, in einen der Schränke. Meine Sachen füllen noch nicht einmal ein Prozent des Volumens. Es sieht aus wie bei Ikea in der Pax-Abteilung, wo ein einziges weißes Hemd dafür sorgt, dass man denkt, der Schrank wäre unendlich groß. Nur dass das hier ganz sicher nicht Ikea-Ware ist und es Mia mühelos gelingen wird, die Tiefen dieser Schränke zu füllen, da bin ich mir sicher.

Kurz darauf sinke ich mit meinem Laptop auf dem Schoß auf die Couch. Ich klappe das alte Ding auf und tippe den WLAN-Code ein, den ich in der Willkommensbroschüre gesehen habe. Keine zwei Sekunden später bin ich mit dem Internet verbunden und ziehe beim Gedanken an Jo eine traurig-sehnsuchtsvolle Grimasse. «Das ist Internet,Charly», würde er sagen.

Mias Link führt mich auf geradem Weg in ihr E-Mail-Postfach. Einen Moment lang stocke ich beim Blick auf den Bildschirm. Damit habe ich nicht gerechnet. Vielmehr mit einer netten Mail mit ein paar praktischen Hinweisen, einem Datum für den Möbelwagen und vielleicht ein, zwei Kommentaren, was in der Wohnung noch gemacht werden muss, bis Mia zurückkommt. Stattdessen hat sie mir eine Liste angefertigt, die für ihre Verhältnisse verdammt strukturiert ist. Und lang.

Umzug

Im Posteingang findest du eine Aufforderung der Umzugsfirma, mit der du den Termin für diese Woche bestätigen müsstest. Wärst du so lieb, das bis Samstag, 9 Uhr morgens, zu erledigen? Und leite das dann bitte kurz an meinen Vater weiter und schreib ihm, dass ich, also du, gut angekommen bin in fucking Starnberg.

Hausverwalterversammlung

Die Versammlung findet am 28. April um 19 Uhr im Gemeinschaftsraum in Nr. 13 statt. Du musst nicht teilnehmen. Weil ich dich aber kenne und du auf so einen Scheiß stehst, bitte, bitte, bitte: Lass dich (also mich) auf keinen Fall zum Beirat oder so wählen!

Job

Bei «TonAb München» müsstest du meine restlichen Bewerbungsunterlagen abgeben. Digital reicht denen nicht. Ganz schön spießig, wenn du mich fragst. Die Zeugnisse findest du in meinen Umzugskartons. In irgendeinem Ordner, ich glaube, es war der blaue. Die kennen nur meinen Namen, mach dir also keine Gedanken. Es ist aber wichtig, dass du persönlich hingehst. Je früher, desto besser.

Auto

Mein neuer SL wurde Anfang des Monats vom Autohaus angeliefert. Den Schlüssel findest du in einem Umschlag auf dem Küchentresen. Viel Spaß mit dem Wägelchen – gib mal ordentlich Gas, Charly! Das Teil hat über 200 PS unter der Haube.

Klamotten

In meinen Kartons findest du ein paar neue Outfits, die ich mir für die Arbeit habe schicken lassen. Zieh an, was immer du möchtest. Und wenn dir was besonders gut gefällt, dann behalte es einfach.

Reservierungen

Mein Vater will unbedingt am 2. Mai um 18 Uhr mit mir essen gehen. Reservierst du uns da bitte einen Tisch im Atelier?

Ach ja, und in der 15 wohnt ein ziemlich heißer Typ, den ich bei Tinder ausgecheckt habe! Ich leihe ihn dir!

Viel Spaß, Charly, du bist die Beste!

Den letzten Punkt der Liste meint sie hoffentlich nicht ernst. Ich habe ja Jo … (der sich genau genommen mich ausleiht, wenn es ihm passt).

«Also, an die Arbeit, Charlotte!», ermahne ich mich und verbringe die nächste halbe Stunde damit, für Mia die Sekretärin zu spielen. Was mich seltsam glücklich macht.

Irgendwann stehe ich auf und öffne die breiten Türen zur Loggia. Mit der erstaunlich warmen Aprilluft wabert ein unterschwellig frischer Wind herein. Wie zur Bestätigung, dass es eben doch erst Frühling ist. Die grünen Baumkronen versprechen nicht zu viel, bereits jetzt sind sie in satte Farbe getaucht und tarnen sich als Vorgarten für das große Blau dahinter: Der Starnberger See streckt und reckt sich. Sein Wasser wirkt fast schon greifbar. Es glitzert tiefblau und sorgt dafür, dass mein Grinsen noch breiter wird. In der Ferne sehe ich die weißen Spitzen der Segelboote und dahinter die noch schneebedeckten Bergspitzen.

Ich ziehe mein Handy hervor und knipse und knipse, stelle verschiedene Filter ein, benutze andere Perspektiven, aber das Ergebnis ist trotzdem nicht befriedigend. Er lässt sich einfach nicht einfangen, dieser magische Ausblick, der einhergeht mit einem neuen, warmen Gefühl. Ein Gefühl, das sich in meinem Innern breitmacht und gehört werden will. Es füllt meine Brust, flutet meine Venen und macht mich ganz kribbelig. Wie nach zu viel Espresso ist dieser Ausblick ein Unruhestifter, der mich gleichzeitig seltsam glücklich macht. Dabei habe ich mit Starnberg so wenig gemein wie Mia mit Altobernstadt. Wir sind einfach beide an Orten geboren, an die wir nicht gehören. Und vielleicht sind wir auch in Familien geboren, in die wir nicht gehören. Die unangepasste Mia passt nicht zu ihrem Vater, dem Schickeria-Emporkömmling, und ich passe zwar irgendwie zu meiner Pflegefamilie, aber gehöre ich auch zu ihr?

Schnell verscheuche ich die Gedanken und gebe nur der Stimme Raum, die «Urlaub» wispert. Zwei Wochen, sage ich mir. Zwei Wochen, dann bin ich wieder weg. Und was soll in zwei Wochen schon groß geschehen?

Kapitel 7Sebastian

Lehman fixiert mich mit Blicken wie Reißnägeln.

«Ich mache es nicht, okay!» Ich sehe ihm fest in seine blauen Augen. Das können wir beide. Wenn es sein muss, gibt keiner von uns beiden nach. Dann wird das Bier vor uns auf dem wackeligen Biergartentisch eben schal und warm, und dann sitzen wir hier so lange, bis die Kampfschreie vom Wickie-Set längst verklungen sind und Lothar und sein Hausmeisterteam uns vom Gelände schmeißen. Mir doch egal. Ich mache es ganz einfach nicht.

Hinter uns klappert die Bedienung mit den Gläsern. Lehmann scharrt mit den Füßen im Kies.

«Was ist denn da dabei?», will er zum fünften Mal wissen.

Lockerlassen ist nicht so sein Ding. Trotzdem habe ich keine Lust, ihm schon wieder zu erklären, warum ich zwar ungesichert auf Gletscher klettere, mit Motorrädern über Holzstapel fliege, ich mich an einem Seil einen Hubschrauber herunterbaumeln lasse und von mir aus auch als Artist in ein Latexkostüm schlüpfe, das mir die Hoden auf Größe von Kolibri-Eiern zusammenquetscht – ich aber auf keinen Fall für eine Filmszene tauchen gehe.

Lehmann schüttelt den Kopf. «Ich verstehe dich echt nicht.»

«Kein Problem, das geht mir auch manchmal so», antworte ich pampig.

Lehmann ist schon so lange mein Geschäftspartner, wie er mein Freund ist. So lange, dass ich fast vergessen habe, dass er auch einen Vornamen hat. Andreas. Aber ich habe seit Jahren niemanden gehört, der ihn so genannt hätte.

Während ich nach dem Sportstudium für die Krankenkasse Reha-Kurse für Unfallopfer gegeben habe, war Lehmann schon gefragter Stuntman und gerade dabei, sich in internationalen Produktionen einen Namen zu machen. Als er dann bei mir auf der Behandlungsliege lag und sich von einem schweren Sturz vom Pferd berappelte, hat er mich davon überzeugt, seinen Beruf zu meinem Hobby und wenig später ebenfalls zum Beruf zu machen. Neben der Vermittlung seiner Stuntleute führt er die Eventagentur, für die er mich immer wieder einspannt. Aber Prinzipien bleiben Prinzipien. Und Tauchgänge mache ich nicht. Punkt. Dann doch lieber Babysitter für Möchtegernmodels auf Quads.

«Nimm Haro, oder lass es Melli machen», schlage ich vor. «Oder Andrej, der hat sich doch bei dieser ARD-Produktion so gut angestellt.»

Er winkt entnervt ab. «Ich will dich dafür! Das ist deine Chance! Hast du gehört, wer Regie führt?»

«Und wenn es Fassbinder persönlich wäre, ich mache es nicht, Lehmann!»

«Fassbinder ist tot», stellt er fest, als wüsste ich das nicht selbst.

«Du kleiner Korinthenkacker, du hast die Pointe nicht verstanden. Ich mache es nicht. Und wenn du eine ganze Brigade an Hollywoodschönheiten nackt an meiner Seite schwimmen lässt.»

Lehmann lacht. «Das mit den Nackten ist eine gute Idee», sagt er und legt den linken Zeigefinger an die Schläfe. «Ich rede mal mit dem Drehbuchteam.» Er grinst schief und kratzt sich unter der Wollmütze, die so sehr zu ihm gehört, dass ich vermute, er versucht, ein Markenzeichen daraus zu machen.

Er beugt sich vor. «Und wenn ich dir das Doppelte zahle?»

«O Mann! Wenn sie mich mit vierzig Prozent an dem Scheißfilm beteiligen würden, nicht einmal dann», erwidere ich.

Jetzt gibt er auf. Lehmann kann zwar mit seinen zahlreichen Folgeschäden, die er bei dem Reitunfall damals erlitten hat, nicht mehr selbst als Stuntman tätig sein, aber vom Geschäft versteht er mehr als alle anderen. Und er weiß, wann es Zeit ist, Verhandlungen zu beenden. Bei aller Sturheit.

«Warst du bei Sabia auch so ungnädig?», zischt er.

Ich zucke kurz zusammen, greife nach dem Weizenglas und leere es in einem Zug, ohne Lehmann aus den Augen zu lassen. Ich lese darin, dass er selbst weiß, dass er zu weit gegangen ist.

«Sabia war eine verwöhnte Starnberger Schnepfe, die sich als Tantrayoga-Unterlage für Möchtegernschauspieler buchen lässt», sage ich grantig und nicht ganz wahrheitsgemäß. «So was wie die passiert mir nicht mehr.»

Ich winke der Bedienung, die Betty heißt, sich aber Letty nennen lässt, weil sie auf ihre angebliche Ähnlichkeit mit der berühmten Figur aus The Fast and the Furios verweisen will.

Letty/Betty bringt mir noch ein Bier, und ich wische gedankenverloren über den Schriftzug der Bavaria Filmstudios auf dem Glas. Vom Dreh von Wickie reloaded – die Serie ist nichts mehr zu hören. Jetzt wird sich gleich der Biergarten mit Stuntleuten, unter- oder gar unbezahlten Assistenten und Kameraleuten füllen. Ich muss weg. Also trinke ich schneller und ertrage Lehmanns Gejammer stumm. Er wird schon jemanden finden, der seinen ollen Tauch-Stunt macht. Ab und an gebe ich einen Kommentar ab, brumme oder nicke an der passenden Stelle. Trotzdem schweifen meine Gedanken immer wieder ab. Zu meiner Schwester, die vermutlich schon mein Abendessen in die Mikrowelle gestellt hat, zu Jenna, der ich versprochen habe, morgen nach einer Statistenrolle für sie zu fragen, zu Berit, die mir drei Nachrichten geschrieben hat, um sich für die Quadtour zu bedanken, und dann – obwohl ich dagegen ankämpfe – auch zu Florian, der weder eine Bude einrichten, noch Quadfahren, noch Mikrowellenessen vertilgen, geschweige denn die kleinste Statistenrolle spielen kann. Und am Ende landen meine Gedanken wie immer in dem Pflegezimmer, in dem ich so viele Jahre gesessen habe.

«Hast du nicht was anderes für mich?», frage ich aus einem Impuls heraus. «Viel Action, viel Adrenalin …»

Lehmann hebt den Kopf und will mir mit diesem Hundeblick wohl sagen, dass er Hoffnung geschöpft hat.

«Also, ohne dass ich Aquaman doubeln muss?», füge ich schnell hinzu.

Kapitel 8