Himmel - Herrgott - Sakrament - Rainer M. Schießler - E-Book
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Rainer M. Schießler

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Beschreibung

Verfilmt von Kult-Regisseur Franz Xaver Bogner: 6-teilige Serie ab Oktober 2023 in der ARD

»Auftreten statt austreten« – lautet der Appell von Rainer Maria Schießler. In einer Zeit, in der so viele Menschen wie nie die katholische Kirche verlassen, gelingt es dem bundesweit bekannten Münchner Stadtpfarrer, dass seine Gemeinde wächst und sich für den Gottesdienst begeistert. Sein Rezept heißt Klartext. Oft werden seine Predigten zu Ökumene und Zölibat beklatscht. Er pflegt eben einen ganz eigenen Stil: Im Frühjahr segnet der leidenschaftliche Motorradfahrer in der Gemeinde die Maschinen der Väter und die Bobby-cars der Kleinsten, an Heiligabend lässt er einen DJ auflegen und schenkt Sekt aus – schließlich wird der Geburtstag Jesu gefeiert. Will die Kirche sprachfähig und glaubwürdig sein, dann braucht sie Temperamente wie Rainer Maria Schießler. Sein Buch steht unter dem Baldachin seiner Osterbotschaft von 2015 »Mut zur Veränderung« und benennt die heiklen Themen innerhalb der katholischen Kirche, die seiner Meinung nach zu einem Glaubwürdigkeitsverlust geführt haben.

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Seitenzahl: 439

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Über das Buch

In einer Zeit, in der so viele Menschen wie nie die katholische Kirche verlassen, gelingt es dem bundesweit bekannten Münchner Stadtpfarrer, seine Gemeinde für den Glauben zu begeistern. Sein Rezept heißt Klartext. Seine Gottesdienste finden vor vollem Haus statt und seine leidenschaftlichen Predigten werden oft spontan beklatscht. Er pflegt einen ganz eigenen Stil indem er beispielsweise an Heiligabend Sekt ausschenkt und einen DJ auflegen lässt – schließlich wird der Geburtstag Jesu gefeiert. Will die Kirche sprachfähig und glaubwürdig sein, dann braucht sie Temperamente wie Rainer Maria Schießler. Sein Buch steht unter dem »Motto« seiner Osterbotschaft von 2015 »Mut zur Veränderung« und benennt die heiklen Themen innerhalb der katholischen Kirche, die seiner Meinung nach zu einem Glaubwürdigkeitsverlust geführt haben.

Rainer Maria Schießler ist katholischer Pfarrer. Schießler gilt durch unkonventionelle Seelsorge und teilweise medienwirksamen Aktionen als »einer der bekanntesten Kirchenmänner« in Bayern und wird als »Münchens bekanntester Pfarrer« bezeichnet. Seit 1993 ist er Pfarrer in St. Maximilian in München und seit 2011 ist er auch für die Münchner Heilig Geist Gemeinde am Viktualienmarkt zuständig. Von 2006 bis 2012 arbeitete Schießler jedes Jahr im Schottenhammel-Zelt des Münchner Oktoberfestes als Bedienung; das verdiente Geld spendete er für einen wohltätigen Zweck. 2015 fing er wieder an, im Schottenhammel zu bedienen.

Rainer M. Schießler

Himmel, Herrgott, Sakrament

Auftreten statt austreten

Unter Mitarbeit von Stefan Linde

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2016 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlag: Weiss Werkstatt München Umschlagmotiv: Alessandra Schellnegger ISBN: 978-3-641-19124-5V006www.koesel.de

Inhalt

Vorwort

Morgenläuten

Mittagsläuten

Abendläuten

Epilog

Vorwort

Jetzt flucht er auch noch! Oder was soll »Himmel, Herrgott, Sakrament« bitte sonst bedeuten? Na ja, passt irgendwie zu ihm. So hemdsärmelig wie er dasteht und auftritt.

Nein, ich bin nicht böse, wenn das die erste Reaktion des Lesers sein sollte. Wer sollte es ihm verdenken, hat sich die Aufzählung dieser drei heiligen Worte doch als der Fluch schlechthin gerade in bayerischen Dialekten durchgesetzt.

Jedoch nicht bei mir! Es war ja so was von verboten, überhaupt nur irgendwie zu fluchen bei uns zu Hause. In einer 3-Zimmer- und 56 qm großen Wohnung braucht es sehr viel Disziplin und Selbstkontrolle in einer vierköpfigen Familie, um nicht ständig in sozialen Stress zu geraten. Fluchen ist da das absolut falsche Rezept gewesen!

Nein, es ist kein Fluch, sondern schlichtweg die Aneinanderreihung dessen, was mir seit Kindesbeinen Kirche bedeutet. Sie vermittelt ein Gefühl von dem, was HIMMEL unter uns Menschen sein kann. Wir sind einander immer gegenseitig Himmel oder Hölle, sagt Jean-Paul Sartre. Ich bin ein so glücklicher Mensch, denn man hat mir Kirche als Himmel angeboten. Und da war immer die Rede von einem liebenden, den Menschen umsorgenden, mich behütenden HERRGOTT! Der Liebhaber des Lebens – immer an meiner Seite! Was für ein Evangelium! Das kann einem regelrecht unter die Haut gehen, so wie man wohlriechendes, duftendes Salböl spürt, riecht und einwirken lässt, wenn man es bei den SAKRAMENTEN empfängt. Da wird Himmel und Herrgott greifbar. Da nimmt Kirche Gestalt an.

Jetzt wissen Sie um die Bedeutung des Titels und das Anliegen des Buches für alle, die mit der Kirche hadern, aus welchen Gründen auch immer. Irgendwo ist da vielleicht auch nur ein winziger Rest an liebender Erinnerung an eine solche Kirche in deren Leben. Ein kirchliches Fest, Weihnachten, Ostern, Firmung oder was auch immer, was einfach nur schön war. Ein Nikolausbesuch, der ein freudiges Ereignis sein durfte und kein Erziehungsmandat. Irgendeinen Rest dieser Art, sofern es ihn gibt, den möchte ich in Erinnerung rufen. Möge es mir gelingen!

Morgenläuten

Am Mittag hatten sie angerufen, dass ihr Vater im Sterben liegt. Viel zu jung. Viel zu früh. Aber das denkt man immer. Ich erlebe ganz selten, dass jemand sagt, der Tod sei gerecht gewesen und auch zur rechten Zeit gekommen. Jetzt war es bei ihm so weit. Seine Familie hatte mich gebeten, ob ich zu ihnen rauskommen würde, dem Vater die Krankensalbung zu geben. Eine gute Familie. Eine gute Ehe. Drei erwachsene Kinder. Du kannst nichts mitnehmen. Ihr Haus – das Ergebnis eines fleißigen, arbeitsreichen Lebens – lag weit draußen vor den Toren Münchens in einem der schönsten Landstriche Oberbayerns. Weit jenseits meiner Gemeindegrenze. Eine fremde Pfarrgemeinde. Nicht meine Zuständigkeit. Aber sollte ich diese Familie enttäuschen, mit der mich einiges an Erinnerungen verband? Wie oft waren sie zu mir in den Gottesdienst nach München gekommen, alle zusammen, weil sie sich von dem, was ich predige, berührt und verstanden fühlten? Mehr als in ihrem Heimatort, wo sie sich von ihrer Gemeinde entfremdet und zurückgezogen hatten? Ich kenne viele solcher Geschichten der Entfremdung und der Abwendung von meiner Kirche. Die meisten der Gläubigen in meinen Gottesdiensten kommen aus dem ganzen Münchner Stadtgebiet und darüber hinaus. Sie wollen eine andere Form der Verkündigung des Evangeliums und sind unzufrieden mit der Art, wie es in ihrer Heimatgemeinde geschieht. Dass sie wie Fremde einem seltsamen Ritus beiwohnen, der sie nicht länger berührt. Ich weiß genau, was sie meinen. Sakramente musst du spüren. Du musst es wieder in dir fühlen. Deinen Glauben. Aus dieser Sehnsucht kommen sie zu mir. Sie wollen, dass ich sie verheirate und ihre Kinder taufe, dann Kommunion und Firmung und schließlich ihre Angehörigen beerdige. Ich frage mich oft, was passiert da zu Hause in euren Gemeinden, warum nehmt ihr den weiten Weg auf euch und kommt ausgerechnet zu mir, Rainer Maria Schießler, dem Pfarrer von Sankt Maximilian und Heilig Geist. Was läuft da schief?

An diesem Morgen waren die neuesten Hochrechnungen zu den Kirchenaustritten in Deutschland für das Jahr 2014 veröffentlicht worden. Die Nachrichten sprachen von einem dramatischen Anstieg. Die evangelische Kirche verzeichnete nach EKD – Angaben im Jahr 2014 einen Rückgang von 410 000 Mitgliedern. Für meine katholische Kirche schien es nicht besser auszusehen. Nach den von der Deutschen Bischofskonferenz und den 27 (Erz-)Diözesen veröffentlichten »Eckdaten des Kirchlichen Lebens in den Bistümern Deutschlands« ist die Zahl der Kirchenaustritte 2014 damit erneut drastisch angestiegen: von 178 805 in 2013 auf 217 716 in 2014. Das ist deutlich mehr als in den beiden vorangegangenen Jahren. Jedes Jahr eine ganze Stadt von der Größe Augsburgs – oder die drei Städte Bayreuth, Bamberg und Ingolstadt zusammengenommen – wären leer, immer gemessen an ihrer Bevölkerungszahl. Ebenso Lübeck, Halle – oder Wiesbaden oder Bonn. 217 216 Gläubige, die meiner Kirche den Rücken zuwenden. Das sind 290 voll besetzte ICEs mit 750 Plätzen und knapp zwei Drittel der Menschen, die jeden Tag bundesweit im Fernverkehr der Bahn unterwegs sind. Und jeder weiß, wie überfüllt die Züge sind.

Jahrelang haben die Kirchenoberen es als Erfolg verzeichnet, wenn in einem Jahr mal ein paar Menschen weniger austreten. Ein Erfolg aber wäre erst da, würde die Austrittswelle überhaupt mal zu stoppen sein oder wenn die Zahl der Kircheneintritte erstmals wieder größer wäre als die der Austritte. Aber diesen »Turnaround« schaffe selbst ich nicht in meiner höchst lebendigen und munteren Gemeinde mit der höchsten Zahl an Kirchenneueintritten oder Wiedereintritten innerhalb einer Pfarrei deutschlandweit. Unser Rekord in Sankt Max: zwischen 40 bis 60 Menschen treten jährlich neu ein. Unsere Niederlage: 120 treten gleichzeitig aus! Wenn ich das arithmetisch durchrechne, dann haben wir in 75 Jahren das Problem, dass hier in Sankt Max keine Christen mehr sind. Abgereist mit unbekanntem Ziel in einem der 290 ICE – Züge. Der letzte macht das Licht aus. Ich werde zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben sein. Was geht mich das an? Wir schaffen das schon … irgendwie … und so. Was aber, wenn es noch schneller geht? Dann ist mein Lebensabend in Gefahr. Denn beim Schnitt von 120 Kirchenaustritten pro Jahr bleibt es nur, wenn nicht wieder ein großer Missbrauchsskandal eingeläutet wird. Oder so ein, wie ich sage, »Tebartz van Elst«-Jahr der angeblichen Verschwendung von Kirchengeldern – egal ob mit Doppelbadewanne oder ohne. Oder ein Jahr wie 2015, als meine Kirche – ohne es den Gläubigen ausreichend zu vermitteln – zum 1. Januar plötzlich den Direkteinzug der Kirchensteuer auf Kapitalerträge durch Banken und Versicherungen vollziehen ließ. Keine neue Steuer zwar, nur eine neue, direkte Art des Geldabgriffs mit dem ganz großen Klingelbeutel, doch viele Kirchensteuerzahler empfanden es als Gier und traten in Scharen aus. Das Kirchenvolk wunderte sich angesichts immer knapperer Mittel in den Haushaltskassen der Familien, wenn sie dann im SPIEGEL lesen, das Bistum Paderborn würde seine Vermögenswerte mit ca. 4 Milliarden Euro beziffern – sogar rund 660 Millionen Euro mehr, als der bisherige Rekordhalter, das Erzbistum Köln, mit ca. 4,7 Milliarden Euro Vermögen aufruft – ein Großteil davon Wertpapierbesitz und Immobilien. Ein »Tebartz«-Jahr, das haut rein. 2014 war so ein Jahr. 2013 auch. Nicht zu vergessen 2012 … und 2010, einem der schwärzesten Jahre der Kirchengeschichte überhaupt, als jeden Tag mehr die Umrisse eines gigantischen Missbrauchsskandals aus einem Nebel des Schweigens und Vertuschens auftauchten. In so einem Skandaljahr können es leicht doppelt und dreifach so viele Austritte werden. Damals kam es zu gewaltigen, bisher nie da gewesenen Massenaustritten. Fünf Jahre später hoffte man, Derartiges werde sich nie wiederholen und alles würde langsam in Vergessenheit geraten, wie schon so oft vorher. Ich habe da eine andere Einstellung: Wir haben den Missbrauchsskandal erst dann überwunden, wenn das letzte lebende Opfer sagen kann, ich habe dieser Kirche verziehen. Das zu bestimmen ist aber Sache der Opfer – und nicht der Kirche. Solange da auch nur einer übrig bleibt, den ich nicht in Liebe für mich gewinnen kann, ist und bleibt der Missbrauchsskandal nicht aufgearbeitet. Und genau deshalb ist der Missbrauch bei den Gläubigen nicht vergessen und wirkt in vielen anderen Bereichen nach bei jedem neuen Vorfall, der kommt. Die vielen Skandale haben das Vertrauen der Menschen und das Ansehen der Kirche nachhaltig erschüttert. Für viele war das der Startschuss für den endgültigen Bruch mit der Kirche – nach einer längst vollzogenen inneren Abkehr. Sie fliehen in Scharen und lassen etwas im Stich, dessen Wert sie nicht mehr erkennen – für sich selbst nicht und für ihre Mitmenschen in den Gemeinden und für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Wir befinden uns mitten in einem »Basejump«, mitten im freien Fall, und tasten ängstlich, wo wir die Reißleine suchen sollen für den Schirm, der den Aufprall verhindert. Natürlich kenne ich auch die Bilder der begeisterten Massen beim Weltkirchentag, bei den Open-Air-Gottesdiensten des Papstes. Natürlich weiß ich, dass die Gesamtzahl der Priester 2014 nur gering geschrumpft ist – um ca. hundert auf 12 219 (2013: 12 336). Natürlich habe ich auch gelesen, dass die Zahl der Pastoralreferenten und – assistenten um 31 auf 3171 (2013: 3140) gestiegen ist, ebenso die Zahl der Gemeindereferenten um sagenhafte 56 auf 4526 (2013: 4470). Auch gab es bei der Sakramentenspendung im Vergleich zum Jahr 2013 leichte Zuwächse bei den Trauungen mit 44 158 (2013: 43 728) und Taufen mit 164 833 (2013: 164 664). Im vergangenen Jahr konnte die katholische Kirche in Deutschland 2809 Eintritte und 6314 Wiederaufnahmen verzeichnen. Bleibt ein statistisches Minus von 208 093 Abgängen. Die Statistik 2014 hält, so die Autoren der Statistik, für die katholische Kirche auch einen kleinen Lichtblick bereit: Ihre Sonntagsgottesdienste würden wieder besser besucht. Der Anteil der Teilnehmer an der sonntäglichen Messe stieg von 10,8 auf 10,9 – also um null Komma eins Prozent. Wow! Aber null Komma eins Prozent wovon? Sicher nicht von den knapp 24 Millionen Katholiken, die in Deutschland immer noch 29,5 Prozent der Bevölkerung stellen.

Wie viele dieser knapp 24 Millionen der katholischen Kirche fiskalisch zugeordneten Menschen sind denn in ihren Gemeinden tatsächlich täglich noch in der Eucharistie aktiv? Beteiligen sich, bringen sich ein, gehen in den Gottesdienst? Und wie viele von ihnen sind nur noch zahlende Karteileichen, von denen jeder Verein gut lebt? Die Wahrheit: Es ist nur ein Bruchteil, ein in Zahlen kaum messbarer Zuwachs. Der Kirche geht es längst ähnlich wie den SPD – Ortsvereinen in Bayern: In der Fläche herrscht gähnende Leere – stellenweise ist das tägliche Gemeindeleben zum Erliegen gekommen. Wenn ich da 0,1 Prozent Zuwachs als »Erfolg« verbuche, dann ist das eine sehr überschaubare Menge.

Mein »Oberhirte« Kardinal Reinhard Marx, fasste die Statistik 2014 in einer Pressemeldung so zusammen: »Die heute veröffentlichte Statistik zeigt, dass Kirche vielgestaltig ist und eine missionarische Kraft hat, auch wenn uns die hohe Zahl von Kirchenaustritten schmerzlich bewusst macht, dass wir Menschen mit unserer Botschaft nicht erreichen. Hinter der Zahl der Kirchenaustritte stehen persönliche Lebensentscheidungen, die wir in jedem einzelnen Fall zutiefst bedauern, aber auch als freie Entscheidung respektieren. Wir werden uns weiter bemühen, unseren Auftrag glaubwürdig so zu erfüllen, dass wir die Freude des Evangeliums verkünden können und viele Menschen in der Gemeinschaft der Kirche Heimat finden oder auch wiederfinden.« Aber wie?

Über all das dachte ich nach, während ich das Eisengitter zu meinem Pfarrbüro abschloss und in den vierten Stock zu meiner Dienstwohnung im Pfarrhaus hinaufstieg. Tatsache bleibt: Meine Kirche ist alt und unbeweglich geworden. Die Jugend flieht vor dieser erstarrten und mit sich selbst beschäftigten Kirche. Ich schaue auf diesen Zerfall, seit ich vor 28 Jahren Priester geworden bin. Es ist eine Kirche, an der ich oft verzweifle, die mich in vielem scheitern lässt und zu der ich immer wieder Ja sage, selbst wenn ich besonders hart über sie schimpfe. Denn das bin ich selbst, den ich da anklage. Ich bin diese Kirche. Mit jeder Faser meines Herzens. Nicht nur ein Teil von mir. Ich muss meine Kirche neu entdecken und wiederbeleben, wie eine langjährige Ehe, in der Gewohnheit und schlechte Angewohnheiten das zerstört haben, was einen verbunden hat. Ich will meine Kirche bewahren und retten. Denn das bedeutet, mich selbst zu retten und alles, woran ich glaube. Das ist der Kern meiner täglichen Arbeit und meine Motivation. Wenn wir den weiteren Niedergang meiner Kirche verhindern wollen, dann muss sie dahin, wo ich hergekommen bin, damals, als ich mich entschieden habe, Priester zu werden. An die Basis, in die Gemeinden, zu den Gläubigen. Ich habe erkannt, dass Rettung nicht aus Rom kommt, nicht im Vatikan beginnt, nicht in der Kurie, nicht bei den Kardinälen, Bischöfen – nicht in der erstarrten Struktur der Ordinariate – sondern ganz, ganz weit unten, bei den Menschen direkt vor der Haustür meiner Pfarrei. Meine Kirche müsste all dem, was die Menschen bewegt, was sie denken, fühlen und im Alltag ihrer Lebenswirklichkeiten erleben, endlich wieder näher kommen. Doch was ich tatsächlich überall sehe, ist zunehmende Entfernung: zwischen Glauben und Kirche, zwischen der Verwaltung des Glaubens und sich verwaltet fühlenden Gläubigen, zwischen Gemeinden und einem Priestertum, von dem sich die Gläubigen in weiten Teilen entfremdet haben – und den Priestern, die zwischen Gläubigen und Kirche stehen und sich zunehmend unverstanden fühlen. Mir ist im Laufe meiner Geschichte klar geworden, dass ich den Stein nicht alleine den Berg hochrollen kann. Dass die Struktur zu schwer und zu mächtig ist, als dass ich sie verändern könnte – dass ich mich anpassen und mitschwimmen muss. Aber kann ich das? Die Antwort ist: Ich habe es nie gekonnt. Aus meiner Ablehnung heraus und dem, was mir immer wertvoll an meinem Glauben erschienen ist, habe ich für mich beschlossen: Ich muss wieder ganz weit zurück, zu meinen Anfängen. Dorthin, wo man die Sakramente noch spüren kann. Und weil ich erkannt habe, dass ich zurückmuss, um meine Kirche und damit auch mich zu retten und alles, was mir wertvoll ist im Leben: meinen Glauben.

Ich habe mich daher schon sehr früh auf meinem Weg als Priester für eine Karriere nach unten entschieden. Ich muss nicht Karriere machen, Domprobst, Bischof, Kardinal in Rom werden, im Purpur zeitlos über jahrhundertealten Marmorböden schweben, antichambrieren, intrigieren, Netzwerke aufbauen, diplomatisch und verwinkelt sein und mich durch Synoden kämpfen. Nein, ich muss geradeaus dahin zurück, wo ich hergekommen bin. Ich muss zurück zu meinen Wurzeln, nach den Felsen graben, auf denen die Fundamente meines Glaubens ruhen, ganz weit zurück zu mir und meiner Geschichte. Ich weiß, es ist der einzige Weg, der auch meine Kirche wieder direkt und auf dem kürzesten Weg dorthin führt, wo sie wieder hinmuss – zu den Herzen der Menschen, zu unserem Glauben, zum Leben, zu Gott. Die Nachricht über die niederschmetternden Zahlen der Kirchenaustritte und der bevorstehende Besuch bei einem Sterbenden lösten an diesem Morgen eine Kaskade von Gedanken und Erinnerungen aus. Es gibt so Tage im Leben, an denen einen mitten im Arbeitsstress, in einer Konferenz, beim Bäcker, im Wartezimmer oder im Bus in völlig banalen Situationen scheinbar völlig unpassend plötzlich eine Flut von Erinnerungen anspringen, die einen zwingen, sich mit seinem Leben, dem, was war und kommen soll, auseinanderzusetzen. Das heute war ein solcher Tag.

Wo ist meine Kirche in 30, 40, 50 Jahren? Wenn man mich nach der Zukunft der katholischen Kirche als Institution fragt, rede ich mir nichts mehr schön, sondern sage: ich weiß es nicht – ich weiß nur, wir schrumpfen weiter. Ich bin eine von den verbliebenen 10 911 Pfarreien, seit 28 Jahren Pfarrer der Gemeinde Sankt Maximilian und Heilig Geist, in einem der spannendsten und buntesten Stadtviertel von Bayerns Landeshauptstadt München. Das heutige Pfarrgebiet von Sankt Max, wie wir liebevoll sagen, umfasst das sogenannte Glockenbachviertel und reicht östlich bis an die Isar, im Norden bis zum Gärtnerplatz, westlich zum Sendlingertorplatz und im Süden bis zum Baldeplatz. Weiter bin ich für Heilig Geist verantwortlich, eine der ältesten Kirchengründungen in München aus dem Jahr 1208, jener barocken Kirche, die im Osten direkt im Zentrum an den Viktualienmarkt, das Rathaus und Münchens älteste Gasthäuser grenzt. Wie unter einem Brennglas steht Kirche hier im Spannungsfeld einer sich ständig verändernden modernen Lebenswirklichkeit. Dieses Viertel übt eine magische Anziehung gerade auf junge Menschen aus – steht aber eben auch für die Unbehaustheit einer stark wechselnden Einwohnerschaft. In diese »volatile« Gegend entlang der Isar strömen Künstler, Kreative, Hipster, junge Familien und Immigranten – die Geburtenrate ist eine der höchsten in Deutschland. Nirgendwo sonst im Süden Deutschlands gibt es so viele Schwulen-Lokale – in denen Freddy Mercury, Queen, Rainer Werner Fassbinder einst exzessiv Party feierten. Aber das ist Geschichte. Heute ist es so, dass sich das Glockenbachviertel in den letzten Jahren vom einstigen Insider-Treffpunkt der Homosexuellen-Szene zum »In«-Viertel der Stadt entwickelt und sehr viele Kneipen, Boutiquen, Edel-Restaurants, Architekturbüros, Goldschmieden und Werbeagenturen entstanden sind, mit einem Publikum, welches das Erscheinungsbild in den Straßen deutlich jünger aussehen lässt. In der Folge dieser Gentrifizierung sind die Wohnungen und Gewerberäume mittlerweile so teuer, dass viele angestammte Handwerksbetriebe und vor allem Rentner und junge Familien mit Kindern sich das Leben hier nicht mehr leisten können. Dabei ist die Durchmischung von Alt und Jung, die Vielfalt des Viertels immer dessen größter Reiz gewesen.

In meinen Gottesdiensten verwandelt sich das in den Straßen sichtbare junge, hippe Publikum ins Gegenteil. Bei einem durchschnittlichen Kirchenbesuch von 3 % aller meiner Gemeinde zugeordneten Menschen katholischen Glaubens bleibt der Anteil an älteren Menschen im Gottesdienst bestimmend. Während die Menschen in den Straßen immer jünger werden – sterben sie mir in der Kirche aus. Meine Kirche ist überaltert und seit Jahrzehnten am Schrumpfen – mit immer größerer Geschwindigkeit.

Papst Franziskus hat jüngst erst dazu aufgerufen: »Geht an die Ränder!« Früher, als die Theologie der Befreiung aufkam, hieß es, man müsse das Evangelium aus der Sicht der Armen verkünden. Da waren also die Armen die Ränder. Heute bin ich es – mit meiner Kirche. Zum Beispiel hatten wir neulich eine Hochzeit. Von der über hundertköpfigen Gesellschaft sind gerade noch die ersten beiden Reihen zur Kommunion gegangen, der Rest blieb desinteressiert in den Bänken sitzen und hätte lieber den Hochzeitsschmaus den gesegneten Oblaten vorgezogen. Oder unsere Firmlinge: nach ihrer Beziehung zur Kirche gefragt sagen die meisten: In die Kirche gehe ich sonst nie. Im Sommer 2009 hat eine Umfrage ergeben, dass nur für acht Prozent der Bayern zwischen 15 und 25 Jahren Kirche und Religion noch eine Rolle spielen. Heute, sechs Jahre später, werden sich diese Zahlen dramatisch verschlechtert haben. Wir verlieren eine ganze Generation und scheinbar beunruhigt das keinen so richtig in der Amtskirche. »Wir schaffen das!« ist überall. Scheinoptimismus statt Konzepten, die greifen.

Habe ich selbst welche? Ich könnte mich entspannt zurücklehnen: Meine Pfarrgottesdienste sind auch wochentags gut besucht – an Feiertagen brechend voll. Sankt Max scheint auf den ersten Blick wie ein blühender Gegenbeweis, dass es der Kirche schlecht geht. Doch das wird mich nicht über die tatsächliche Grundströmung hinwegtäuschen – sie ist erschreckend stark und negativ: Es geht stetig bergab und ich kann diese Entwicklung nur zu genau an den Zahlen meiner Gemeindemitglieder ablesen. Als ich vor 28 Jahren in Sankt Max angefangen habe, zählte die Gemeinde 7500 Leute. Ich war ein Großstadtpfarrer. Heute sind es auf dem Papier noch 4500 als katholisch eingetragene Kirchensteuerzahler, von denen vielleicht 4,5 Prozent – das wären nur noch 200 Menschen – regelmäßig meinen Gottesdienst besuchen. Dreitausend weniger, fast schon halbiert in nur 28 Jahren. Habe ich etwa versagt? Ich kann doch nicht dreitausend Menschen weggeekelt haben? Wenn es nur an mir läge, würde ich mich auf die Knie werfen und um Verzeihung bitten, von heute auf morgen das Handtuch schmeißen, mit dem Motorrad durch die Lande fahren und an Autobahnraststätten predigen.

Ich will keine Fehler übertünchen. Nichts verharmlosen, was es an Fehlentwicklungen in meiner Kirche gibt. Aber es sind auch die Zeiten, die sich ändern. Das wird besonders deutlich, wenn ich einen längeren Zeitraum in der Entwicklung meiner Gemeinde betrachte, wie etwa die vergangenen 122 Jahre Geschichte von Sankt Max, die ich für unsere Homepage zusammengestellt habe. In seinem Hirtenbrief vom 20. November 1883 wies der damalige Münchener Erzbischof Anton v. Steichele darauf hin, dass durch das schnelle Wachstum der Stadt München »dringendst« drei neue Kirchen benötigt würden: St. Benno in der Maxvorstadt, St. Paul an der Theresienwiese und – St. Maximilian hier im Glockenbachviertel. Neubauten wohlgemerkt: »dringendst!« Explosives Bevölkerungswachstum. Geburtenüberschuss. Die alten Kirchen reichten nicht einmal mehr für den Schulgottesdienst aus. Allein die Mutterpfarrei Hl. Geist umfasste damals noch über 50 000 Seelen! Am 26. April 1895 war der erste Spatenstich – und am 6. Oktober 1901, nach vielen Baustopps wegen Geldmangels und explodierender Baukosten, die feierliche Kirchenweihe. 50 000 Seelen um 1900 – gegen meine 4500 heute, Anno Domini 2015 – ein Verlust von über 90 Prozent.

Die Bevölkerung ist nicht nur hier im Glockenbachviertel, sondern bundesweit nicht mehr homogen, geschweige denn ausnahmslos katholisch wie in Bayern vor 100 Jahren. Zugehörigkeiten zu Beruf, Stand, Familie, Religion, Wohnort haben sich früher das ganze Leben über nur selten geändert. Heute ist alles fließend. Zugehörigkeiten wechseln mehrfach im Leben. Die Biografien der Menschen heute verzeichnen gravierende Brüche und Wendepunkte – und nur noch selten Kontinuität. Familien zerfallen und fügen sich neu zusammen. Berufsbilder verändern sich, mit dramatischen Wechseln in immer kürzeren Abständen. In meinem Stadtviertel herrscht eine derart große Fluktuation allein schon wegen der ständig steigenden Mieten, wegen fehlender Einkünfte wegen der unsteten Beschäftigungen einer jungen, der aktuellen Wirtschaftsdynamik voll ausgelieferten Bevölkerung. Das ganze Leben hat viel von seiner früheren Gemächlichkeit verloren. Der soziale Zusammenhalt in den Nachbarschaften, in der Gemeinde hat sich aufgelöst. Die wenigsten Zugezogenen im Viertel sind noch katholisch. Gehören anderen Religionsgemeinschaften und anderen Ethnien an. Viele der jungen Leute lehnen Kirche grundsätzlich ab. Oder basteln sich im Baukastensystem eigene Glaubensvorstellungen. Die Jungen haben gelernt, ihr Selbstwertgefühl nicht länger aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zu gewinnen, sondern aus sich selbst heraus: Aus dem, was sie können, was sie wollen, was sie ablehnen, setzen sie eigene Wertesysteme zusammen. Sie wollen nichts Fremdbestimmtes. Die Konfessionsgrenzen werden zukünftig noch bedeutungsloser und die einzelnen Gemeinschaften werden informeller sein, sich in sozialen Netzwerken im Internet abspielen, einfacher, aber eben auch sozial ärmer sein. Alles verändert sich fast täglich, rasend schnell. Wir verzeichnen einen dramatischen Abbruch der Kirchenbindung einer ganzen Generation. Die Jungen sind weg. Kaum mehr zu erreichen. Die Alten sterben weg. Und dazu kommen in der Altersgruppe 30 bis 50 die Austritte. Erosion an allen Ecken und Enden. Selbst wenn diese »Restgläubigen« alle auf einmal kämen, wären in einer so großen Kirche wie Sankt Max gerade mal die ersten Bankreihen voll. Zynisch betrachtet könnte man sagen, »Gottseidank«, dass gleichzeitig das Personal und der Priesternachwuchs mitschrumpfen – dann gibt es wenigstens keine arbeitslosen Priester, die auf der Straße oder vor dem Arbeitsamt gegen Hartz IV predigen. Wäre doch furchtbar, wenn sich die Pfarrer zukünftig gegenseitig auf die Füße treten würden, weil Pfarreien mangels Nachfrage und Geld geschlossen werden und leer stehende Kirchen, wie in Frankreich jetzt gefordert wird, in Moscheen umgewandelt werden. Vielleicht ist das auch das künftige Schicksal so überdimensionierter Kirchen wie Sankt Max und Heilig Geist? Eventuell greift ja noch der Denkmalschutz und die Kirchen werden nicht abgerissen oder entweiht – sondern umgewandelt zu musealen Stätten der Erinnerung an eine Kirche, die verschwunden ist? Wenn ich, jetzt wo ich diese Zeilen schreibe, Nachrichten aus dem Vatikan von den dortigen Grabenkämpfen im Umfeld der 2015 stattfindenden Familiensynode höre, die Gerüchte, die gestreut werden, beschleicht mich manchmal die Angst, dass eher die Urheber dieser Gerüchte einen »schwarzen, dunklen Fleck« im Gehirn haben und die meisten Würdenträger der Synode immer noch nicht verinnerlicht haben, dass die Kirche aufhören muss, um sich selbst zu kreisen, sich selbst zu zerstören und sich an Themen totzulaufen, die draußen kaum noch interessieren. Während Antworten auf die drängenden Fragen ausbleiben.

Sollen wir uns hier an der Basis, in unseren Kirchen verstecken, tatenlos zusehen und warten, bis niemand mehr kommt und der Letzte gegangen ist? Müssen wir nicht vielmehr raus aus den Kirchen, unsere Gläubigen wiederfinden – und die Kirche in die Räume tragen, wo die Menschen heute stehen, damit sie und ihre Kinder und deren Kinder nicht vollends die Berührung mit der Eucharistie verlieren und für immer verloren sind? Es reicht nicht aus, die Kirchenaustritte und den Verlust an Substanz zu beklagen – die Kirche muss sich aus ihrer Erstarrung lösen, sich von Grund auf erneuern, sich bewegen, um die Gläubigen zu bewegen – damit Kirche nicht zum Auslaufmodell wird. Die Apologeten des Gestrigen und der angeblich reinen Lehre raunen immer, die katholische Kirche müsse aufpassen, dass ihr Anspruch auf absolute Wahrheit nicht verwässert wird. Aber es gibt keine absolute Wahrheit, die Menschen aufstellen könnten! Wir Katholiken müssen lernen, dass wir nur ein Versuch, ein Weg von vielen sind – auch wenn die Botschaft der Liebe vermutlich eine der stärksten ist und mehr gebraucht wird im Wertekanon denn je. Aber wird sie noch gehört? Die ganze Welt ist im Umbruch. Uns fehlen Antworten auf die drängenden Probleme, die die Menschen beschäftigen. Vom grassierenden Manchesterkapitalismus, der Ausbeutung von Mensch und Natur, der drohenden Klimakatastrophe, der Verarmung und Zersplitterung unserer Gesellschaft, bis hin zu einem friedlichen Zusammenleben mit einem sich immer dynamischer und oftmals auch aggressiv auftretenden Islam. Jetzt, da die soziale Balance verloren zu gehen droht, sehe ich meine Kirche gefordert, wo immer es geht, Heimat zu erhalten und neue Räume für Heimat zu erschließen – und damit meine ich auch eine spirituelle Heimat. Die Institution Kirche kann sonst zerfallen, weil sich die Menschen andere Formen des Glaubens prägen werden, wenn die alten nicht mehr die Lebenswirklichkeit tragen. Genauso, wie das Christentum die nicht mehr zeitgemäßen Götter im Römischen Reich verdrängt hat. Die Art der Glaubensausübung unterliegt Moden und Machtverhältnissen. Nur der Glaube selbst fällt nie aus der Zeit – weil der Mensch immer ein religiöser Mensch bleibt. Christus war der Allerletzte, der an die Gründung einer Amtskirche oder die Formulierung eines Katechismus oder an Enzykliken und Synoden gedacht hätte. Er war »ganz unten«, ganz dicht bei den Gläubigen. Darüber sollte die Amtskirche sehr intensiv nachdenken. Das tut sie nur widerwillig. Das Denken in dieser Institution geht immer noch superselbstgefällig in die Richtung, es ginge nicht ohne sie. Die Kirche sei für die Ewigkeit. Dass es die katholische Kirche automatisch ewig geben muss, nur weil sie schon seit über 2000 Jahren in der Welt ist, sozusagen zum Inventar gehört, halte ich für einen folgenschweren Irrtum. Es könnte auch sein, dass die Menschen finden, 2000 Jahre seien genug.

Es sind diese hellen, klaren Momente, in denen an einem eigentlich unbedeutenden Beispiel klar wird, was schiefläuft. Als ich Priester wurde, wollte ich Mitarbeiter in einem florierenden, expandierenden Premiumunternehmen sein. Ich identifizierte mich völlig mit diesem »Unternehmen« Kirche und hatte die Vorstellung, so zu dienen, dass die Leute sagen würden, wow, das ist klasse, was der macht – da will ich auch hin. Immer wieder Paulus: Fragt nicht die Leute, welchen Glauben sie haben – lebt so, dass die Leute euch fragen, welchen Glauben ihr habt. Ich bin gerne auf der Siegerseite. Ich bin gerne bei Ferrari, weil der Vettel wieder siegt. Ich bin gerne bei BMW – weil das ein Aushängeschild der deutschen Wirtschaft ist, die ihre Abgaswerte vielleicht nicht manipulieren. Ich wollte stolz sein, für das Unternehmen Kirche und Gott zu arbeiten. Anstatt wie Anton Schlecker zu sehen, wie meine Läden immer leerer und meine Firma auf den wirtschaftlichen und moralischen Konkurs zutreibt, weil ich nicht modernisiert und meine Angestellten mit Niedriglöhnen ausgebeutet habe. Dieses Gefühl, plötzlich auf der Verliererseite zu sein, hatte ich zum ersten Mal auf dem Höhepunkt der Missbrauchskrise. Und dann noch einmal, als sich ein Kardinal eine Designer-Doppelbadewanne aus Kirchengeldern in seine Privatgemächer bauen ließ. Und zum dritten Mal, wenn ich miterleben muss, wie viele Menschen meine Kirche einfach aufgeben! Seit dreißig Jahren erlebe ich nun, wie mein Unternehmen immer schneller an Zustimmung verliert. Alles nimmt ab. Die Kundschaft nimmt ab. Das Personal nimmt ab. Die Bereitschaft, sich mit meiner Firma zu identifizieren, nimmt ab. Mir wäre eine Kirche lieber, die blüht, die lebt. Ich habe mir den folgenden Niedergang nie träumen lassen. »Nie hätte ich geglaubt, einmal miterleben zu müssen, wie das Fernsehen stirbt«, hat mir vor Kurzem ein bekannter bayerischer Film- und Fernsehregisseur bekannt. »Aber mir geht’s doch oft genug genauso mit meiner Kirche!«, antwortete ich ihm. Warum hatte ich mich auf diesen Irrsinn eingelassen? Es hatte doch alles so gut begonnen. Ich fiel in den Sog meiner Erinnerungen. Ich fiel tief zurück. Menschen, Gespräche, Situationen, die an mir vorüberzogen. Und plötzlich stand er wieder vor mir, dieser Mensch, der mit einem Satz alles gerettet hat, was verloren schien, von dem Rettung kam, als du keine Rettung mehr erwartet hast, der aber nie etwas anderes hätte tun wollen, als eben dich, nur dich in diesem Moment zurückzuholen. Da war er wieder, der entscheidende Moment, der mein Leben mitgeprägt hat. Wäre dieser Mensch nicht gewesen, das Leben hätte mich in eine völlig andere Bahn geschossen, weit, weit weg von der Kirche. Aber er hat mich zurückgeholt.

Es war in den 1970er-Jahren, Wirtschaftswunderland, anschwellender Wohlstand allerorten. Wir lebten in einer Siedlung in München-Laim, wo nach meiner Erinnerung wirklich alle katholisch waren – auch wir Kinder. Es gab nichts anderes. Wie selbstverständlich fand sich die ganze Nachbarschaft zum Gottesdienst ein. Ich war zehn Jahre alt und gerade aus der Volksschule auf das Wittelsbacher Gymnasium gewechselt. Es war nach einem Sonntagsgottesdienst im Oktober 1970. Ich weiß das noch wie heute. Wir, mein Bruder und ich, kamen nach Hause und ich sagte zur Überraschung aller Anwesenden, zu meinen Eltern, vor allem zur Mama: »Ruf morgen bitte in der Pfarrei an – ich möchte Ministrant werden.« Irgendwas war geschehen, aber ich weiß nicht, was. Kein übernatürliches Zeichen von oben, einfach ein Einfall, ein Klick, einfach so! Vielleicht waren es nur die anderen Ministranten, ihre Feierlichkeit und Würde, ihr Herausgehobensein, die sanfte Musik – es ergriff mich so, dass ich dachte, das möchtest du auch machen. Ich möchte Teil werden all dessen, was ich heute erlebt habe, möchte die Messe mitgestalten. Damit zu tun haben, vorne am Altar – nicht nur Zuschauer sein, sondern aktiv mit gestalten, darum ging es mir. Meine Mama hat mein Ansinnen damals entschieden abgelehnt. »Nein, da rufe ich nicht an!« »Ja, warum nicht?« »Du kannst dich nie richtig ruhig halten. Zu Hause nicht. In der Schule nicht. In der Kirche nicht. Als Ministrant schon gar nicht!« Wenn man sich meine heutigen Predigten anschaut, meine ausladenden Gesten und meine Dynamik im Improvisieren – andere würden sagen meine Begeisterung –, dann war meine Mama nicht weit entfernt von der Wahrheit. Aber ganz weit entfernt von dem, was ich mir in den Kopf gesetzt hatte. Einige Zuschauer haben in den Zuschriften nach meinem ersten ZDF – Fernsehgottesdienst im Mai 2015 mein angebliches »Herumgehampel« ähnlich kritisch vermerkt. Andere wiederum haben ihre Anerkennung kundgetan, weil da keine Sprechpuppe im Talar einfach Psalmen und Einstudiertes runterraspelt – sondern jemand aus innerer Bewegung heraus predigt, also glaubhaft ist in dem, was er sagt. Das überträgt sich – auf die meisten. Im Übrigen habe ich aufgehört, das einstellen zu wollen. Ich kann nicht gegen meine dynamische Natur. Und die sollte damals verhindern, dass ich Ministrant werde? Ich rief laut: »Doch, Mama! Ich versprech’s dir – ich verhalte mich ganz ruhig!« Die nächsten Tage habe ich gequengelt, gebeten, gebettelt. Und dann hat sie angerufen. Meine Mama. So begann alles. Ich trat in den Dienst meines Kaplans Johann Hagel – »Jonny Haytschäl«, wie wir ihn später liebevoll anglisierten – und bin achtkantig gleich wieder rausgeflogen. Aber der Reihe nach. Zunächst musste ich an Proben teilnehmen. Ministranten müssen fromm aussehen. Dürfen nicht grinsen. Herumalbern. Aufrechte Körperhaltung. Andacht im Gesicht. Hände falten. Knie beugen. Knicks. Die Eucharistie verlangt einen genauen Ablauf und jeder Ministrant muss wissen, was er zu tun hat – damit nicht alle alles verkehrt machen, wenn der Oberministrant pennt. Bei den Proben sollten einem die Abläufe in Fleisch und Blut übergehen. Wer ist wann für welche Tätigkeit zuständig. Rangfolge. Reihenfolge. Oberministrant, Ministrant. Auftritt. Abgang. Und am Ende der Kette ich, der Neuling.

Die Proben verliefen vielversprechend. Ich brannte für meine neue Aufgabe und war peinlichst darauf bedacht, mir alles einzuprägen, keine Fehler zu machen – und mich still zu verhalten. Ich würde meiner Mutter schon zeigen, wie sehr sie irrte. Die ersten Wochen durfte ich jedoch nur am Samstagabend beim Rosenkranz knien, neben dem Altar – musste mich ruhig verhalten und mit gefalteten Händen fromm die Augen niederschlagen. Eine halbe Stunde lang. Auf einem kalten, harten Kirchenboden. »Maria voll der Gnaden …« Da beginnst du im Winter ohne Fußbodenheizung automatisch mitzubeten. Ministrieren durfte ich noch nicht und ich begann mich schon zu fragen, ob ich irgendwo Missfallen erregt oder mich unbewusst fehlverhalten hätte – oder eben doch zu unruhig war? Eines Sonntags dann, es war der dritte Advent 1971, saß ich kurz vor Beginn des Gottesdienstes wie gewohnt nur als Zuschauer mit meinen Spezln zusammen in unserer Kirchenbank, als sich plötzlich die Tür zur Sakristei öffnete und der Mesner auf mich zuschoss. Ein Mensch, der mich bei den Proben schon immer so böse angeschaut hatte und den ich bereits als »Verhinderer« meiner Karriere im Verdacht hatte. Jetzt zischte er mir auf Bayrisch zu und nickte mit dem Kopf Richtung Sakristei: »Ziag di o – da fehlt oaner!« Zieh dich an. Ein Ministrant war krank geworden. Und jetzt war ich dran, seine zweite Wahl.

Ich hatte noch nie ministriert bei einer Messe. Es traf mich gänzlich unvorbereitet. Die Kirche war rammelvoll und zum ersten Mal spürte ich Lampenfieber, bei dem sich der Magen nach ganz weit hinten zusammenkrampft. Starr vor Schreck bin ich in die Sakristei und habe das Ministrantengewand übergezogen. Dort stand der Priester, ein gewisser Elmar Gruber, der frei tätig war in unserer Gemeinde – aber aus unserer Pfarrei stammte. Der kannte weder mich noch meine Eltern. Ich starrte ihn an, wie er so würdevoll dastand in seinem Messgewand. Er dagegen schien mich nicht zu beachten, so vertieft war er in seine Vorbereitung. Bei diesem Priester habe ich dann zum ersten Mal ministriert. Unter solcher Anspannung, mit derartiger Konzentration, peinlichst bedacht, keinen Fehler zu machen, Mamas Stimme über mir, mich ruhig zu verhalten – mit Tunnelblick, ohne Wahrnehmung, was im Kirchenraum sonst noch vor sich ging. Da waren alle Gefühle auf einmal in mir drin. Von Angst über Euphorie bis Stolz, es endlich geschafft zu haben, ein Ministrant zu sein. Eine solche Aufregung. Ein solcher innerer Aufruhr – und dennoch: es lief gut. Ich habe alles richtig gemacht. Kannte den Ablauf. Stand immer richtig. Noch nie war ich während einer Messe so nah am Altar gewesen. Und, mein Gott, wie war das schön hier oben. Ich durchlebe heute noch dieses Gefühl wie im Traum. Ich kann das auf Knopfdruck abrufen. Sehe meine Freunde, wie sie atemlos zu mir aufschauten. Wie der Gottesdienst in der voll besetzten Kirche seinem Höhepunkt zustrebte, der Mahlfeier. »Meine« Gabenbereitung war einfach nur perfekt. Formvollendete Bewegungen. Elmar Gruber hatte schon den Leib Christi und die Blicke in den Himmel gehoben, spricht die Wandlungsworte – und ich – ich hätte eigentlich läuten müssen. Stattdessen bin ich ballettmäßig einen kleinen Schritt für die Menschheit, einen entscheidenden für mich nach vorne getreten, habe mich leicht verbeugt wie im Theater und im hohen Bogen unaufhaltsam alles herausgekotzt, was in meinem kleinen, von Aufregung und Angst durchgewalkten Magen vorhanden war. Das ganze Frühstück. Die ganze Anspannung. In einer gewaltigen Eruption einfach alles weggekotzt. Vor die Füße der Leute und meiner Spezln in der ersten Bank. Das ist die Altarstufen runtergeronnen, wie die Paradiesströme in Jerusalem. Die anderen Ministranten sind noch um den Altar gestanden und haben fassungslos geschaut. Der ganze Saal hat fassungslos geschaut. Und der Mesner hat mich schon in der Sakristei erwartet und schön weitergemacht mit der Demütigung, bayerisch derb hat er geflucht und mich beschimpft: »Ja, kannst du net früher reinkommen? Den ganzen Tempel hast mir zugespeit. Das Gewand nimmst mit zum Reinigen, sag deiner Mutter, was du angerichtet hast, sie muss es für dich richten …« Ich bin völlig niedergeschmettert nach Hause geschlichen. So ungefähr habe ich mir später immer das Kriegsende vorgestellt. Kapitulation. Zug der Gefangenen. Vollkommene Leere und Kraftlosigkeit. Was für eine Niederlage! Erst so erhöht, endlich Ministrant. Und dann so tief gefallen. Erniedrigt vor allen. Ich habe gewusst, das war die kürzeste Karriere eines Ministrantenlebens in der ganzen Kirchengeschichte. Dauer ca. zwanzig Minuten. Und ich der bekannteste: mein Name würde noch Jahre später die Runde machen in der »Hall of Shame«. Die Pfarrei würde mich nie wieder in den Kreis der Erlesenen zurückholen. Der Mesner, rotes Wutgesicht, zwei Hörner, langer Schwanz und Schwefelgeruch, wie hieß er gleich? – würde das zu verhindern wissen. Ich kotze denen ja doch nur wieder »den Tempel voll«, würde er sagen. Meine Darbietung war einfach zu spektakulär. Und jeder würde sich lustig machen über mein Unglück. Zunächst am Montag in der Schule. Dann immer weiter. Für Jahrzehnte. Ende. Aus. Und Amen.

Ich war an dem Punkt, wo erwachsene Menschen ans Auswandern nach Australien oder über plastische Gesichtsoperationen nachdenken. Ich bin zu Hause zur Tür reingeschlichen. Habe meiner Mama tränenüberströmt von meinem Schicksal berichtet. Sie war zu meiner Überraschung gar nicht böse, eher besorgt und verständnisvoll und machte sich, praktisch, wie sie war, gleich an die Reinigung des Ministrantenkittels. Mit einem Kamillentee versorgt lag ich wenig später auf der Couch in unserem Wohnzimmer und versuchte zu sterben. Innerlich war ich schon tot. Du weißt, du kannst es nicht ungeschehen machen. Du weißt, die Folgen deines Sturzes würden unabsehbar sein. Wie auch sollte ich das je wieder gutmachen? Für mich war eine Welt zusammengebrochen. Und in diesem Zustand der Zerrüttung liegst du da mit deinen zehn Jahren Unschuld, als plötzlich das Telefon die Stille durchschneidet. Ich war elektrisiert und sah die nächste Stufe der Vernichtung auf mich zukommen. Jetzt würde der Mesner zu Hause Meldung machen, seine Wut rausbrüllen und alles würde noch schlimmer. Ich lauschte, wie meine Mutter mit einem Unbekannten telefonierte, erst leise zuhörend, dann bestätigend, dann einmal lachend. Und wie sie das Gespräch mit einem freundlichen Gruß beendete. Einen Moment später setzte sie sich neben mich auf die Couch und sagte: »Du, da hat jetzt der Pfarrer Gruber angerufen, dem du die Messe geschmissen hast.« »Und?«, rutschte ich tiefer ins Sofa. »Er hat gefragt, wie es dir geht.« »Was?« »Und ich soll dir ausrichten, er ist stolz auf dich!« »Wie bitte? Wie kann der stolz auf mich sein?« »Er hat es so ausgedrückt: Weil du heute der Einzige in der gesamten Messe gewesen bist, der wirklich, aber auch wirklich alles gegeben hat.« Ich habe den Wortwitz erst nicht kapiert. Diese Doppeldeutigkeit. »… er hat wirklich alles gegeben.« Aber diese Art Humor war typisch für den Elmar Gruber – mit Worten zu spielen. Er bat meine Mutter, mich zum nächsten Gottesdienst zu schicken. Er würde mich selbstverständlich wieder ministrieren lassen. Der ganze Skandal mag für Erwachsene nichtig erscheinen – und die Haltung Elmar Grubers aus pädagogischer Sicht vollkommen selbstverständlich. Für mich war es das prägendste Erlebnis meines Lebens, es war, als wäre mir Jesus Christus höchstpersönlich erschienen, hätte seine Arme ausgebreitet und mich zurückgenommen. Elmar Grubers vorbehaltlose Barmherzigkeit war für einen Gefallenen wie mich, der eben noch geglaubt hatte, er sei in Ewigkeit verstoßen, die vollkommene Erschütterung, so unerwartet traf es mich. Ich hatte alles gegeben – und alles bekommen. So blöd es klingt, aber vom Gefühl her habe ich nie wieder in meinem Leben so derart intensiv erfahren, was »Liebe deinen Nächsten« und bedingungslose Barmherzigkeit wirklich ist. Ich war von etwas sehr Großem, einem sehr schönen Gefühl vollkommen ausgefüllt. Niemand hat mir danach noch einmal irgendetwas aus dem Wirken von Jesus Christus erklären müssen. Wer das mal erlebt hat, braucht keine fünf Jahre Theologie studieren, um ein guter Seelsorger zu werden – oder andersherum: Wer das Prinzip der Nächstenliebe nicht mit jeder Faser seines Seins in sich aufgesogen hat, der sollte niemals Priester werden.

Dieses Zusammentreffen hatte Folgen für mein ganzes weiteres Leben. Ich bin mit zehn Jahren Ministrant geworden und war mit vierzehn begeistert Oberministrant. Danach setzte ich meine Arbeit in der Gemeinde fort, Jugendgruppen, Gruppenleiter, Mädchen für alles – ja, die Gemeinde wurde bis zu meinem Abitur mein Lebensmittelpunkt und Priester wie Elmar Gruber meine Vorbilder. Ich bin in der Gemeindearbeit völlig aufgegangen. Neben Elmar war da Herbert Krist – Christ – aber geschrieben mit K. Der war zwei Jahre Kaplan in unserer Pfarrei. Und danach zwei Jahre studierender Priester. Ich war vierzehn Jahre, als er kam. Und siebzehn, als er gegangen ist. Einer, der ebenfalls so viel Weiteres in mir ausgelöst hat, bis er später mein »Spiritual« im Priesterseminar geworden ist. Krist hat mich später in meiner priesterlichen Existenz herausgefordert und geformt. Es war die unprätentiöse Art und die große Ernsthaftigkeit und Spiritualität, mit der Priester wie Gruber, Krist und Hagel täglich ihre Arbeit auf sich nahmen. Ich habe in dieser Zeit wunderbare Menschen erlebt, die mir ein Christentum vorgelebt haben, das so einfach und zutiefst menschlich und liebevoll war, dass ich Priester werden wollte. Und weil mir das in meiner heutigen Arbeit so wichtig ist: Nicht nur Priester, also Männer, waren meine Vorbilder, sondern auch Frauen. Meinen Kommunionunterricht – fast fünfzig Jahre ist das her, hatte eine Frau geleitet, die bis heute jeden Montag um 9:30 in meiner Messe in Heilig Geist ist. Frau Richter! Ich bin vor Kurzem mal zu ihr hin, eine kleine, resolute Dame, ehemalige Volkschullehrerin, und habe erfreut angehoben zu sagen: »Frau Richter, das ehrt mich aber, dass sie jeden Montag hier zu mir in den Gottesdienst …« Sie fiel mir ins Wort: »Ich komme doch nicht wegen Ihnen. Ich komme wegen Christus.« Sie ging jeden Tag in ihre Kirche im angestammten Stadtteil Sendling. Nur eben am Montag nicht – weil an diesem Tag dort keine Messe gehalten wurde. Nur deshalb saß sie in Heilig Geist – nicht wegen mir – wegen Christus. An dem nachfolgenden Montag habe ich das Evangelium vom Brotwunder und der Speisung der fünftausend vorgelesen, wo Jesus sagt: »Gebt ihr ihnen zu essen …« Nach dem Ende der Lesung bin ich auf die Seite getreten, habe zu Frau Richter hingedeutet und gesagt: »Frau Richter, kommen Sie doch mal vor zu mir!« Sie, Hand auf’s Herz, sich umschauend, wer gemeint sein könnte. Ich wieder: »Ja, Sie – nur Sie heißen hier Richter – niemand sonst!« Und dann habe ich den Besuchern der Messe meine Frau Richter vorgestellt: »Diese Frau hat mich vor über 45 Jahren zur Kommunion geführt. Sie hat mich im Kommunionunterricht gelehrt, was dieser Satz Jesu bedeutet: ›Gebt ihr ihnen zu essen!‹ Es ist die Aufforderung, Eucharistie zu teilen. Damals waren wir über hundert Kommunionkinder – das sind Zahlen, von denen die Kirche heute nur noch träumen kann. Wir saßen in einem übervollen Raum und Frau Richter, Kriegsgeneration, zeigte uns Kindern, wie man richtig Brot isst. Wir bekamen ein kleines Stück alte Semmel und mussten es schweigend essen. Es gab nichts zu trinken. Sie wollte, dass wir den Geschmack spüren, dass wir begreifen, was Brot ist und die Kommunion bedeutet – das gelebte Gleichnis des Brotwunders. Wir saßen da, wir Kinder, haben gekaut und gekaut, bis die Kaumuskeln versagten, und haben das kleine Stück Semmel nicht runterbekommen. Trotzdem waren wir satt. Das Brotwunder!« Die Leute in meiner Messe haben das sofort verstanden. Sie applaudierten und meine liebe Frau Richter neben mir hatte vor Freude Tränen in den Augen. Natürlich spielte eine Rolle, dass ein Stück Brot bis in die Siebzigerjahre bei den Erinnerungen an vergangene Notzeiten fast alle älteren Menschen in diesem Gottesdienst miteinander teilten, noch eine ganz andere Wertigkeit besaß als heute, wo wir im Überfluss leben und die Discounter, Supermärkte und Privathaushalte es tonnenweise ungenutzt in den Müll kippen.

Ich schloss die Tür zu meiner Dienstwohnung auf, was ich selten mit Freude, sondern fast immer mit einer gewissen Beklemmung tue – denn diese Wohnung ist nicht der Ort, wo ich jemals Heimat gefunden habe, seit ich 1993 in Sankt Max die Pfarrstelle übernommen habe. Sie ist mir immer fremd geblieben. Das hat viel damit zu tun, dass ich in den Anfangsjahren in Sankt Max in dieser Wohnung schwierige Zeiten durchzustehen hatte mit sehr wenig und sehr unruhigem Schlaf und vielen unguten Gefühlen. Ich bin dieser Wohnung nie mit Liebe begegnet – und die Wohnung gibt mir bis heute dieses Mordsgefühl zurück, »ein ewig Rätsel will ich bleiben«. Drinnen erwartete mich wie gewohnt eine Unordnung, wie man sie von den seltsamerweise stets zölibatär lebenden Tatortkommissaren kennt und die ich mit dem Wort »unbehaust« umschreiben würde. Nur dass bei mir alles echt und keine Requisite ist. Ich war wegen meines überquellenden Terminkalenders wieder mal seit Tagen nur zum Schlafen hergekommen, nachts sehr spät, und morgens ganz früh wieder raus. Entsprechend groß war das Chaos, das sich wie schon so oft in ungeordneten Schichten auszubreiten begann. Schichten, in denen ich nach 24 Jahren Dienst in dieser Wohnung wie Dendrologen in den Jahresringen eines Baumes lesen kann. Ein Tagebuch meiner vergangenen Tätigkeiten, das dicker und dicker wird, je länger ich diese Wohnung als das nutze, was sie für mich ist: eine ungeliebte, unpersönliche, ungemütliche Schlafstätte, um meinem Körper ein paar Stunden Ruhe zu geben, die er für den kommenden Tag braucht, damit es weitergehen kann. Meine Dienstwohnung ist die Geschichte einer Ablehnung. Das ist keine Wohnung, die mir Behaglichkeit und Heimat schenkt, die sagt: »schön, dass du nach Hause kommst, Feierabend – wie war dein Tag?« Keine Wohnung eben, auf die man sich freut. Eher Lockenwickler und Kippe im Mund. Das Chaos war an diesem Tag besonders schlimm. Ich würde länger suchen müssen, um meine Motorradutensilien zu finden. Was ich für die Letzte Ölung brauchen würde, Weihwasser und Krankenöl, sind immer griffbereit. Natürlich hatte ich alle Termine für den Nachmittag abgesagt, um der Bitte der Familie zu entsprechen, ihrem Vater diesen letzten Dienst zu erweisen. Die Krankensalbung ist etwas Elementares. Der Tod ist etwas sehr Elementares. Nur der Priester darf das Sakrament der Krankensalbung spenden – weil dessen »Vollmacht« für die Vergebung der Sünden notwendig ist – genau wie beim Sakrament der Buße. Ärzte oder Krankenpflegepersonal dürfen von sich aus den Priester nicht zur Krankensalbung rufen. Nur der Kranke selbst oder seine nächsten Angehörigen. Das hat auch damit zu tun, dass das Erscheinen des Priesters leider immer noch das Signal auslöst, dass es zu Ende geht und man als »Ersatzsensenmann« kommt – dabei geht es um Beistand und Hilfe. Nur wenn Gefahr im Verzug ist – bei Unfällen zum Beispiel –, wird der Priester auch von den Rettungskräften gerufen und auf »Verdacht« und ungefragt gesalbt – weil man nicht immer weiß, ob das Opfer katholisch ist. Ich wusste nicht, wo ich die Tasche mit den Motorradklamotten abgelegt hatte. Ich hatte nicht einmal die Chance, jemandem die Schuld in die Schuhe zu schieben, er hätte meine Sachen verräumt. Im Zölibat ist da niemand, der auf dich wartet. Da ist keine Wärme. Spätabends stehe ich manchmal einfach so im Zimmer und höre dem Rauschen des Verkehrs zu. Dann kommt diese Bitterkeit. Dreiundzwanzig Jahre Einsamkeit in dieser Wohnung – so lange währt jetzt die Zwangsehe mit dieser Dienstwohnung. Und mit diesem Gefühl setze ich vermutlich die Tradition meiner Vorgänger fort, die hier nichts anderes empfunden haben können als ich: Leere. Der fensterlose Innenflur ist düster, obwohl ich ihn vor ein paar Jahren orange gestrichen habe. Rechts vom Eingang befindet sich das funktionale Dienstklo mit der Normtür, wie man es auf einem Finanzamt findet. Das Bad Marke AOK – Altenheim, genauso funktional in Weiß gekachelt wie mein Finanzamtsklo. Der Weg zur Küche ist für Außenstehende nicht zu finden. Er führt durch einen Raum, der früher mal ein Esszimmer für mehrere Personen war, das ich aber nicht benötige. Jetzt stehen hier drei deckenhohe Wandschränke im Funktionsdesign, die ich mal geschenkt bekam und die nun meine paar Habseligkeiten beherbergen.

Drei Kurven später gelangt man endlich in eine Art Küche, die im 50er-Jahre Design ohne jeden Charme diese gewisse Resopal-Funktionalität ausstrahlt. Wer es bis in diese Küche schafft, dem wird sofort klar, dass hier keine opulenten Abendessen entstehen – sondern der Dosenöffner Koch und das Tiefkühlfach sein Frische-Paradies ist. Das Prunkstück dieser Dienstwohnung ist das sogenannte Kaminzimmer. Mein Vorgänger hat – entweder aus Verzweiflung oder um etwas Behaglichkeit zu schaffen – aus drei Räumen einen riesigen Salon gemacht und im Rustikal-Stil eine monströse Feuerstelle errichtet, mit der man im Mittelalter einen ganzen Rittersaal hätte wärmen können. Dieser Kamin entsprang sicher der Idee, mit knisternder Wärme die atmosphärische Kälte dieser Wohnung zu bekämpfen. Für seine einsamen Stunden nach Feierabend, wenn wie für so viele meiner Priesterkollegen die Wohnung zum Kerker der Einsamkeit wird. Ich habe diese Feuerstelle nur wenige Male angeheizt und jedes Mal war es ein Desaster. Entweder, ich saß nach dem Anzünden binnen Sekunden in einer Räucherkammer – oder es loderten Höllenfeuer, die mich im tiefsten Winter zwangen, sämtliche vier Fenster des Raumes zu öffnen, um die Hitze zu vertreiben. Vorne Glut, Hintern kalt. Danke. Ich werde nie mehr warm mit meiner Dienstwohnung. Heute verbrenne ich dort manchmal noch Briefe, die man schreibt, Bauanträge und Nachfragen ans Ordinariat, die man besser nicht abschickt, sondern noch mal sachlicher abfasst, nachdem man eine Nacht drüber geschlafen hat. In dem einen der Schläuche hinter dem alles dominierenden Kamin steht ein langer Esstisch, wie man ihn aus italienischen Filmen kennt. Mit dem kleinen Unterschied, dass er nicht aus edlem Olivenholz – sondern aus dem furnierten Pressspan eines Funktionstisches ist. Eine Abendgesellschaft von zehn Gästen hätte hier locker Platz – trotzdem ist hier nur selten getafelt worden. Und wenn, waren es Dienstessen. Sonst sind Tisch und Stühle Ablageflächen für Talare, Akten, Unterlagen – mit einem einzigen freien Eck, wo mein Laptop steht. Mein privater Arbeitsplatz. Hier jedenfalls werde ich meine Motorradsachen nicht finden.