Himmel und Hölle - Hera Lind - E-Book

Himmel und Hölle E-Book

Hera Lind

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Beschreibung

Leben wäre eine prima Alternative

Die junge Gynäkologin Dr. Konstanze Kuchenmeister hat gerade ihre Zwillinge zur Welt gebracht, als bei ihr Gebärmutterhalskrebs festgestellt wird. Für die vierfache Mutter bricht eine Welt zusammen. Wie konnten ihr als Expertin die Symptome nicht auffallen? Doch voller Lebenswillen bekämpft sie die Krankheit, stellt sich Operation und Chemotherapie, versorgt ihre vier Kinder, baut sich gleichzeitig eine eigene Praxis auf.

Als sie glaubt, den Krebs besiegt zu haben, diagnostizieren die Ärzte einen Gehirntumor — und wieder nimmt Konstanze den Kampf auf. Sie ist Mutter. Sie hat viele Patientinnen, die an sie glauben. Sie geht durch Himmel und Hölle und überlebt.

Der neue Roman von Hera Lind, erzählt nach einer wahren Geschichte.

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EPUB
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Seitenzahl: 386

Veröffentlichungsjahr: 2011

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HERA LIND IM GESPRÄCH
Frau Lind, Himmel und Hölle beruht auf der wahren Geschichte von Dr. Konstanze Kuchenmeister, einer Frauenärztin, die gerade mal fünfunddreißig Jahre alt ist, als bei ihr Gebärmutterhalskrebs festgestellt wird. Warum haben Sie ein Schicksal, das viele Frauen ereilt, zu einem Roman verarbeitet?
Der unbedingte Lebenswille dieser tapferen jungen Frau hat mich einfach überzeugt. Sie war Mutter von vier kleinen Kindern, als ihr – ausgerechnet ihr, der Frauenärztin! – dieser Schicksalsschlag widerfuhr. Dieses Nicht-Aufgeben, dieses Kämpfen für die Familie, für das Leben, das wollte ich meinen Leserinnen schildern.
 
Menschen in Extremsituationen können wie Dr. Konstanze Kuchenmeister über sich hinauswachsen. Doch sicher verzweifelt man auch manchmal – wie würden Sie reagieren?
Ich denke, das weiß man im Vorhinein nie. Doch Tatsache ist: Es kann jeden treffen, immer, überall. Theoretisch verfügen wir alle über dieses Wissen, doch wir verdrängen es und lassen die kleinen Alltagssorgen Besitz von uns ergreifen. Dieses Buch soll, genau wie schon sein Vorgänger Der Mann, der wirklich liebte, meinen Leserinnen Mut geben. Lebensmut und ein Gefühl der Dankbarkeit. Das jedenfalls hat die Geschichte mir vermittelt, als ich sie aufgeschrieben habe.
 
Heilt Liebe alle Wunden?
ÜBER DIE AUTORIN

Hera Lind

Himmel und Hölle

Roman nach der wahren Geschichteder Dr. Konstanze Kuchenmeister

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Originalausgabe 02/2011
Copyright 2010 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Covergestaltung | t. mutzenbach design, München Covermotiv | © plainpicture/Etsa Herstellung | Helga Schörnig Satz | Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-05348-2V006
www.diana-verlag.de
Vorbemerkung
Dieses Buch erhebt keinen Faktizitätsanspruch. Es basiert zwar zum Teil auf wahren Begebenheiten und behandelt typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gegeben haben könnte. Diese Urbilder wurden jedoch durch künstlerische Gestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerks gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbstständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist.
1
»Nebenan können Sie sich gleich für die Hochzeit frisieren lassen. Ich meine, wenn es dermaßen eilt …« Die Verkäuferin des piekfeinen Brautmodengeschäftes in Hamburg-Blankenese musterte mich kritisch. »Sie wollen wirklich noch heute heiraten?«
»Klar«, sagte ich lässig. »Der Tag ist ja noch lang.«
Zufrieden trat ich vor den riesigen Spiegel und betrachtete meine Erscheinung. So ein champagnerfarbenes bodenlanges Traumkleid aus Seide, Taft und Spitze macht wirklich einen schlanken Fuß. Darin sähe vermutlich jede Frau toll aus! Erfreulicherweise war ich unbeschwerte fünfundzwanzig Jahre jung und hatte kein Gramm Übergewicht. Ohne dass ich es wollte, huschte mir ein kleines Lächeln über das Gesicht. Dieses Wahnsinns-Ding, dieses sündhaft teure Designerkleid war wie für mich gemacht! Für mich, Konstanze Haber! Ich war die perfekte Braut.
Mein Blick ging suchend zu meiner Mutter, die in ihrem feinen dunkelblauen Kostüm auf einem Brokatstuhl saß. Sie hatte die Beine wie siamesische Zwillinge nebeneinanderstehen und nippte an ihrem Tee. Ihr Verhalten war dermaßen distanziert, damenhaft und vornehm, als ginge sie das Ganze hier gar nichts an.
»Wie findest du’s?« Beifall heischend wippte ich in dem bodenlangen Seidenkleid, das meine Füße keck umspielte, auf und ab. Wie ein kleines Mädchen. Am liebsten wäre ich gehüpft!
Mutter nahm einen Schluck Tee und blickte mich prüfend an.
Ihr Gesicht verriet keinerlei Regung: weder Stolz noch Rührung, noch Begeisterung, noch Trauer. Von wegen: Brautmutter war die Eule, nahm Abschied mit Geheule! Nein. Gefühle zeigen war nicht angesagt. In diesem Punkt war meine Mutter durch und durch elitär.
Ich fand das völlig in Ordnung. Man kann auch gemeinsam schweigen, ganz entspannt. Vor allem mit engen Verwandten. Nonverbale Kommunikation sozusagen. Das zeigte nur, wie gut wir uns verstanden, Mutter und ich.
Na ja, natürlich nicht immer. Jetzt, zum Beispiel, gab es schon ein paar Differenzen in Bezug auf meine etwas spontane Lebensplanung. Und auch was die Auswahl meines zukünftigen Gatten betraf, war Mutter vielleicht nicht GANZ so begeistert. Also, sie SCHRIE nicht direkt vor Glück.
Oh Gott, Mutter, jetzt sag doch endlich was! Ich WEISS, es ist das teuerste Kleid. Aber eben auch das schönste. Ich bin doch deine einzige Tochter, und ich heirate ganz bestimmt nur einmal!
Als wäre ich Luft, wandte sich meine Mutter an die Verkäuferin.
»Meine Tochter ist Steinbock«, seufzte sie pikiert. »Wenn die sich mal was in den Kopf gesetzt hat, bringt sie nicht einmal ein Erdbeben oder ein Tornado wieder davon ab.«
»Stefan und ich haben nämlich ziemlich kurzfristig beschlossen, heute in Hamburg zu heiraten. Denn da haben meine Eltern zufällig mal beide Zeit«, erläuterte ich der befremdet dreinblickenden Verkäuferin unsere merkwürdige Familiensituation. »Und Stefans ganze Family ist extra aus Nürnberg angereist.«
Schon bei dem Wort »Family« zog Mutter eine Augenbraue hoch.
»Tja!«, spöttelte die Verkäuferin. »Da fällt Ihnen aber früh ein, dass Sie ein Brautkleid brauchen!«
»Na und?« Ich schenkte der Verkäuferin, die sich meiner Meinung nach völlig unnötig aufregte, einen amüsierten Blick, während ich mich weiterhin zufrieden in dem riesigen Spiegel des exklusiven Ladens betrachtete und mich wie ein Pfau um die eigene Achse drehte. »Passt doch!«
»Zum Glück sind Sie gertenschlank und langbeinig wie ein Model!«, lenkte die stark geschminkte Verkäuferin ein. »Wenn Sie jetzt eine Problemfigur gehabt hätten, hätten wir möglicherweise doch etwas mehr Zeit gebraucht! Die Schneiderin ist schon weg.«
»Habe ich aber nicht!« Weder hatte ich eine Problemfigur noch sonst irgendwelche Probleme! Im Gegenteil! Ich, Konstanze, jung, schön, schlank, gebildet und verliebt, wollte heiraten! Und zwar meinen Traummann!
Ich lächelte mein Spiegelbild hingerissen an. Ich sah aus wie ein Schwan.
»Meine Tochter studiert in Erlangen Medizin«, erklärte Mutter der Verkäuferin. »Und wir haben genau diesen Vormittag für Brautkleidkauf und Friseur eingeplant. Zwischen zehn und dreizehn Uhr.«
»Wissen Sie, meine Mutter hat sich erst heute Morgen dazu durchgerungen, mich auf dieses weiße Friedensfähnchen einzuladen«, scherzte ich. »Und auf diese einmalige Gelegenheit wollte ich natürlich nicht verzichten.«
Die Verkäuferin lächelte gequält. »Darf es noch ein Schleier sein? Oder ein schöner breitkrempiger Hut?«
»Nein, danke«, sagte ich und winkte ab. »Alles Firlefanz. Aber der hier …« Spontan riss ich ein federleichtes Nichts von einem Schleiertraum an mich. »Der schreit förmlich nach mir. Es würde mir das Herz brechen, ihn hierzulassen!«
Jetzt musste die Verkäuferin doch lachen. »Also, wenn ich die gnädige Frau dann zur Kasse begleiten dürfte …«
 
Die gnädige Frau war natürlich meine Mutter. Wenn ich sie mal eben vorstellen darf: Sie war Miteigentümerin des bekannten Spielzeuggeschäftes »Kinderparadies« am Jungfernstieg, also dort, wo die Hautevolee für ihre Sprösslinge die pädagogisch wertvolle, naturbelassene, hölzerne, aber schweineteure Briobahn einkaufte. Es gab Zeiten, da herrschten wirklich paradiesische Zustände in diesem traditionsreichen Geschäft. Generationen von Hamburger Kindern drückten sich die Nasen am Schaufenster platt. Und selbst eine Milliardärin wie Tina Onassis hat sich in Mutterns Kinderparadies zum Kauf eines Schlittens verführen lassen! Der ägyptische Staatschef Mubarak kaufte doch tatsächlich in Anwesenheit seiner bewaffneten Bodyguards für eine fünfstellige Summe Spielzeug für seine Kinder! Er ließ sich dann noch kistenweise Spielzeug für Kinderheime in seiner Heimat einpacken. Auch die berühmte Stargeigerin Anne-Sophie Mutter und Rocksänger Rod Stewart erlagen dem Reiz von Mutterns edlen handbemalten Holztieren, und Hamburgs feinste Gesellschaft gehörte zu Mamas Stammkunden. Lange vor Weihnachten war sie, seit ich denken kann, nicht mehr für mich ansprechbar gewesen. Sie besaß zwar ein »Kinderparadies«, aber ich, ihr einziges Kind, hatte keinen Platz darin.
Trotzdem war ich immer stolz auf meine Mutter. Und meine Mutter war mit Recht stolz auf ihre prominente und zahlungsfreudige Kundschaft. Ob sie auf mich stolz war, weiß ich nicht. Sie ließ sich diesbezüglich nichts anmerken. Sie war eben eine geschätzte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, ganz im Gegensatz zu mir. Und noch dazu eine sehr konservative, bisweilen autoritäre. Samt Kostüm, Goldbrosche und perfekt sitzender Frisur. Und wenn ihre einzige Tochter Konstanze es sich in den eigenwilligen Kopf gesetzt hatte, einen nicht standesgemäßen fränkischen Burschen zu heiraten, der noch nicht mal Kaviar mit dem Perlmuttlöffel essen kann und den sie gerade mal seit zehn Monaten kennt, dann aber BITTE standesgemäß und in Weiß.
»Okay, Mami, danke schon mal«, sagte ich leichthin und wehte mitsamt meinem pompösen Superkleid aus dem Laden. »Ich bin dann nebenan beim Friseur!«
»Lass dir die Haare hochstecken!«, rief meine arme gebeutelte Mami noch hinter mir her, während sie die Kreditkarte aus ihrem Krokohandtäschchen zog. »Ich komm dann gleich, um dich auszulösen!«
Ach, Mami! Wie gern hätte ich dich einmal stürmisch umarmt!
Aber das hätte vielleicht eine Falte in deinen Blusenkragen gemacht.
 
»Grüß Gott«, versuchte ich es bei dem Edel-Coiffeur ganz lässig. Schließlich lebte ich inzwischen in Nürnberg, mitten in Franken, und da grüßt man noch Gott, wenn man einen Laden betritt. Beziehungsweise man fordert sein Gegenüber dazu auf.
Hier in Hamburg-Blankenese war dieser Ton allerdings unangebracht.
»Sie wönschen?«, fragte mich herablassend der Schönling mit wallendem Haar, und ich diagnostizierte heimlich eine Fehlstellung der Nasenscheidewand, obwohl das nicht meine medizinische Fachrichtung war.
Der Edel-Coiffeur schaute genervt auf seine Designeruhr. Ihm schwante Schlimmes.
»Na, nach was sieht das denn hier wohl aus?«
»Eine Hochzeitsfrisur?«, fragte die Intelligenzbestie überrascht. »Jetzt?«
»Genau«, sagte ich gnädig. »Und zwar noch heute.«
»Wie stellen Sie sich das denn vor?«, fragte der Meister entsetzt. »Wär schläßen in einer Stonde.«
»Na, bis dahin werden Sie doch was Anständiges hinkriegen!«
Wenn der wüsste, dass andere in der gleichen Zeit zwei Geburten hinkriegen! Als Gynäkologen natürlich. Bald würde ich eine von ihnen sein!
»Na, dann wollen wär mal.«
2
»Welch Glanz in unserer Hütte! Welch elegante Schönheit inmitten von Latzhosenpomeranzen! Du bist nicht von hier?« Mit fränkischem Akzent baggerte dieser lange Kerl, eine Art John Travolta vom Weißwurstäquator, mich an. Es war ein herrlicher lauer Frühlingsabend, und wir befanden uns auf einer Studentenfete am Nürnberger Tiergarten. Irgendwie stand ich modisch immer noch sehr unter Mutterns Einfluss, was mein blaugrüner Faltenrock samt weißer Bluse und Seidenhalstuch bewiesen. Nie im Leben hätte ich meine langen Beine in eine dieser angesagten Schlabberjeans gesteckt oder mir eines dieser ausgeleierten Sweatshirts an den Leib gehängt. Meine Beine steckten in Feinstrumpfhosen und meine Füße in edlen Pumps mit Troddeln dran. Gerade hatte ich meiner Freundin begeistert von der Praktikumsstelle an einem Londoner Krankenhaus erzählt, die ich im Sommer antreten würde.
»Gib dir keine Mühe!«, gab ich John Travolta ziemlich hanseatisch zur Antwort. »Ich bin sowieso bald weg.«
»Schade«, sagte der Typ und grinste mich entwaffnend an. Er hatte makellose weiße Zähne. Mein Herz machte irgendwelche spätpubertären Hopser, und ich fühlte völlig undamenhafte rote Flecken meinen Hals heraufkriechen. Wieso irritierte mich dieser Kerl mit dem süßen fränkischen Akzent denn so? Der große schlaksige Mensch hatte so einen merkwürdigen Glanz in den Augen. Ganz so, als hätte er Fieber. Oder die Masern.
Meine Freundin erhob sich, etwas Taktvolles murmelnd, und verschwand in Richtung Damentoilette.
Freundlich, aber bestimmt, dachte ich mit einem Blick auf seine durchtrainierten Armmuskeln, die sein kurzärmeliges, einst olivgrünes T-Shirt so richtig gut zur Geltung brachten. So lautete Mutters Leitspruch im Umgang mit dem einfachen Volk. Und ich dachte: Der kann bestimmt anpacken. Vielleicht kommt der gerade vom Bau oder so. Immer schön liebenswürdig bleiben. Du bist eine gut erzogene, höhere Tochter.
»Kennst du London?«, versuchte ich es mit höflichem Small Talk.
»Klar, schöne Lady!«
Schöne Lady. Ähm, klar.
Der blauäugige Typ hatte so was Nassforsches, dass es fast schon wieder amüsant war. Sein knackiger Hintern steckte in einer ziemlich alten Levis-Jeans. Sein verwaschenes T-Shirt, das ihm halb aus der Hose hing, hatte einen Grauschleier angenommen. Offensichtlich bügelte ihm seine Mama nicht die Hemden. Als Fußbekleidung hatte er Turnschuhe gewählt. Muttern hätte die Augen zum Himmel verdreht, Väterchen wäre sofort mit ihm bei Ladage & Oelke einkaufen gegangen und hätte dann an der Kasse gesagt: »Lassen Sie mal stecken, junger Mann. Kaufen Sie sich lieber was Anständiges zu essen. Sie sehen so hungrig aus.«
In der Not, dachte ich in meinem hanseatischen Akademikertochter-Köpfchen, das mit einem schmalen Samt-Haarreif verziert war, in der Not frisst der Teufel Fliegen.
Dieser Blick! Wieso strahlte mich der fränkische John Travolta so an? Als hätte er im Lotto gewonnen. Hielt er mich womöglich für seinen … Lottogewinn? Das wurde mir direkt langsam unheimlich.
»Ähm … Bitte nimm doch Platz!« Ich fühlte, wie mir die Röte in die Wangen schoss. Dieser Ton war hier nicht angebracht. Mensch, Konstanze, mach dich mal locker! Wir sind hier auf einer Studentenfete, nicht bei Herrn und Frau Konsul an der Alster! Ich räusperte mich: »Setz dich, Alter!«
»Aber gern, Süße!« Der Mann war entzückt.
Ich stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn mit jenem Dolchblick an, den meine Mutter so gut draufhat.
»Ich wüsste nicht, wann ich dir erlaubt hätte, mich Süße zu nennen!« So, das hätte Muttern auf jeden Fall gesagt. Mich durchzuckte ein plötzlicher Gedanke. Muttern! Oder Väterchen? Hatten die etwa einen … Aufpasser, also vielleicht so eine Art Bodyguard für mich ausgewählt? Zuzutrauen wäre es ihnen!
»Wer schickt dich eigentlich?«, ereiferte ich mich. »Ich kann ganz gut selbst auf mich aufpass…«
Der große Typ lachte und hielt mir einfach seinen Zeigefinger an die Lippen.
Mein Herz begann immer lauter zu klopfen. Ja, wie cool war DER denn?! Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut!
Seine Hand landete auf meiner Schulter. Der Mann sah mir sehr intensiv in die Augen und sagte dann, so als spräche er mit einer Dreijährigen: »Niemand hat mich geschickt. Ich habe dich endlich gefunden!«
»Du hast mich ge… Was soll denn das heißen?« Ich starrte den Kerl fassungslos an. Meine Halsschlagader pulsierte.
»Ich weiß, was ich will.« Plötzlich war seine Stimme ganz tief. »Und wenn ich etwas will, gebe ich nicht auf, bis ich es erreicht habe. Und ich wollte dich kennenlernen.« Er stupste mich an und grinste breit.
Okay, meine Eltern hatten nichts damit zu tun. Ich entspannte mich etwas, lächelte den fränkischen John Travolta mit meinem allersüßesten Höhere-Tochter-Lächeln an und teilte ihm mit, dass ich Konstanze heiße. Konstanze Haber. Aber vielleicht wusste er das schon.
»Ich bin der Stefan«, sagte mein Tiergarten-Bekannter fröhlich und schüttelte vehement mein zartes Händchen. »Kuchenmeister.«
Ein Konditor? Ein Bäcker? Meine Güte, dachte ich halb amüsiert, halb angespannt. Jetzt hab ich den an der Backe. Was will der bloß von mir?
»Kuchenbäcker? So eine Art … Dr. Oetker? Machst du das beruflich?««
»Stefan Kuchenmeister«, wiederholte er amüsiert. »So heiße ich.«
»Schöner Name eigentlich.« Irgendwie begann mir dieses Gespräch Spaß zu machen.
»Aus Wendelstein. Ich studiere Wirtschaftswissenschaften. Aber meine Mutter kann tatsächlich wunderbar backen. Und mein Vater grillt die besten Bratwürstle weit und breit. Nur, damit du dir von deinen zukünftigen Schwiegereltern schon mal ein Bild machen kannst.«
Überrascht starrte ich diesen Stefan an. Er konnte also sehr wohl Hochdeutsch. Und studieren tat er auch.
»Ich muss … gehen«, stammelte ich nervös, als ich meine Freundin von der Toilette wiederkommen sah. »War nett, dich kennengelernt zu haben, Stefan.«
3
Wer Arzt werden will, muss ganz klein anfangen. Ganz, ganz klein. Mit Putzarbeiten und Nachtschicht. Das Krankenhaus in einem schäbigen Vorort von London war grässlich altmodisch, miefig und versifft. Ich hatte dort eigentlich nichts anderes zu tun, als Körperflüssigkeiten jeder Art vom Boden aufzuwischen.
Niemand, der nicht selbst Medizin studiert und den dornenreichen Weg eines angehenden Arztes beschritten hat, macht sich eine Vorstellung davon, wie hart das ist. Wie erniedrigend, wie entwürdigend und mühsam ein Medizinstudium ist. Man büffelt etwa zwölf Stunden am Tag. Vorausgesetzt, man wischt nicht gerade Blut, Urin oder Erbrochenes auf. Wahrscheinlich, um uns junge, naseweise Möchtegern-Doktoren abzuschrecken wie weich gekochte Eier.
Mama hatte es ja gewusst: Ich hätte doch lieber ihre Goldgrube am Jungfernstieg übernehmen sollen.
Zerknirscht, gefrustet, übermüdet und voller Heimweh trabte ich gerade in mein trostloses Schwesternwohnheim zurück, bewaffnet mit einem Duschvorhang, Gardinenstangen, diversen Putzmitteln und ein paar schlichten Blümchen für mein prunkloses Zimmer, die ich in meinem unbeholfenen Englisch in einem nahe gelegenen Baumarkt erstanden hatte. Dabei kam ich mir in meiner Pullunder-Bluse-Faltenrock-Kombination samt Perlenkette und Bommelpumps einfach nur fehl am Platze vor. Du schaffst das, Konstanze!, sagte ich mir im O-Ton Muttern. Reiß dich zusammen! Aller Anfang ist schwer. Einen Kloß von der Größe eines Tennisballs hinunterschluckend, schloss ich gerade meinen klapprigen Kleinwagen ab, als … Ja sah ich denn jetzt schon Gespenster? Oder war es eine Wunschvorstellung?
Tatsächlich! Der Franke! Lässig lehnte er an der grauen Mauer. Die Schnürsenkel seiner Turnschuhe waren offen, das Haar zerzaust, das T-Shirt auf Halbmast.
»Das gnädige Fräulein war einkaufen?« Mit beiden Händen in den Hosentaschen schlenderte er auf mich zu, als wären wir schon seit Jahren Nachbarn.
Abwehrend hob ich die Hände: »Wer hat dich geschickt? Meine Eltern, stimmt’s? Sie haben sich’s anders überlegt und wollen mich nun mit Gewalt zurück nach Hamburg holen. Damit ich doch das Spielwarengeschäft am Jungfernstieg …«
Der große Typ lachte und nahm mir das sperrige Zeug ab. Dabei roch ich sein männlich-herbes Aftershave.
»Stell dir vor, Konstanze Haber, ich habe einen freien Willen!«
Mein Herz machte einen Purzelbaum. Er wusste meinen Namen noch! Der war mir doch nicht … nachgereist? Von Nürnberg bis nach London? Wie hieß er noch gleich? Kuchenbäcker. Nein. Meister. Stefan Kuchenmeister. Aus Wendelstein.
Stefan sah mir wieder sehr intensiv in die Augen und sagte dann leise, aber deutlich auf Hochdeutsch: »Ich bin dir nachgereist, weil ich dich heiraten will!«
Ich erstarrte. Der hatte doch wohl voll einen Blattschuss! Ich fasste mir an den Hals.
»Du willst mich hei… Hast du sie noch alle?«
»Na ja, nicht sofort. Eins nach dem anderen. Als Erstes werde ich dir mal ein bisschen zur Hand gehen. Ich finde, du solltest wissen, wie alltagstauglich ich bin.«
Und so kam es, dass ich ihn doch tatsächlich mit auf meine Schmuddelbude nahm.
»Kann ich dir … ähm … Tee?« Blinzelnd fixierte ich den schmierig-verklebten Wasserkocher, der auf der Fensterbank zwischen toten Fliegen sein Dasein fristete.
»Nee, lass mal. Ein kaltes Bier wär mir lieber.« Stefan kümmerte sich bereits um meine Einkäufe. Seine Hände waren zupackend und kräftig. Ich zwang mich, sie nicht länger anzusehen.
Auf zitternden Giraffenbeinen stürmte ich davon und besorgte Bier. Aus der Besucherkantine. Scheußliches Dosenbier, das ich unter normalen Umständen nicht mit der Kneifzange angefasst hätte.
Als ich zurückkam, hatte er bereits den Duschvorhang montiert. Immerhin. Alltagstauglich war er also. Bestimmt konnte er auch einen Hammer schwingen. Und mit einem Schraubenzieher umgehen. Womöglich sogar mit einem Bohrer. Wenn ich da an Väterchen dachte, der stets im gebügelten Hemd mit Fliege, Weste und feinsten Tuchhosen erschien … Der gab Handwerkern höchstens Anweisungen. Aber einen Nagel hatte der noch nicht in die Wand geschlagen. Jedenfalls nicht, seit ich auf der Welt war. Allein schon deshalb musterte ich diesen Handwerksgesellen namens Kuchenmeister aus Wendelstein neugierig von der Seite. Kind, verwehre nie eine helfende Hand, dachte ich. Der Mann meint es nur gut mit dir. Womöglich taugt der tatsächlich was? Nun, auch meine Gardinenstangen waren im Nu angebracht. Ein Mann zum Pferdestehlen, schoss es mir durch den Kopf.
»Wieso tust du das alles für mich?« Mit verschränkten Armen lehnte ich verdattert im Türrahmen.
»Ich habe doch gesagt, dass ich dich kennenlernen will!«
Stefan musterte mich eindringlich. Ein bisschen peinlich war es mir schon, dass ich ausgerechnet in der schlichten Atmosphäre dieses Schwesternheims in meinem Höhere-Tochter-Look rumlief. Mein Gott, ich hatte halt keine anderen Klamotten! So war ich aufgewachsen! Muttern hatte mich schon immer in solche Ensembles gesteckt, wahrscheinlich, seit ich keine Windeln mehr trug, wenn nicht schon vorher.
Und im blau-weiß gestreiften Schwesternkittel mit den dazu passenden Plastikgesundheitslatschen hatte ich mich nun auch nicht in die Öffentlichkeit, sprich in den Baumarkt wagen wollen.
»He, Moment mal! Wer sagt dir eigentlich, dass ich das auch will?«
»Das finden wir ja gerade heraus!«
Der patente Franke hatte tatsächlich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um meine Adresse herauszukriegen, und war mir bis nach England nachgereist.
Bei mir war es wahrscheinlich der Drang gewesen, meinem strengen Elternhause zu entkommen, der mich nach Nürnberg und jetzt in diesen grauen Vorort Londons getrieben hatte.
Mutterseelenallein.
Aber nun war ich nicht mehr ganz so mutterseelenallein. Stefan war da.
So ganz abgeschreckt hatte mein bürgerlich-braves Outfit diesen hartgesottenen Landsmann offensichtlich nicht, denn er machte keinerlei Anstalten zu verschwinden.
»In Nürnberg warst du ja nie allein anzutreffen. Da schwirrten immer alle möglichen Leute um dich herum.«
»Ja, klar. Kommilitonen und so.«
»Und da dachte ich, dass wir uns hier in London doch viel besser kennenlernen können.«
Ich starrte ihn an.
»Du spinnst doch!«, brach es aus mir heraus. Allerdings hatte dieser Mann nichts Unheimliches an sich und wirkte kein bisschen wie ein gefährlicher Psychopath oder so was. Irgendwie fühlte ich mich jetzt sogar ein bisschen geschmeichelt.
»Glaubst du? Wenn ich mir was vornehme, ziehe ich es auch durch.«
Na prima!, dachte ich. Er will mich kennenlernen. Super. Das sah auf jeden Fall nach Kurzweil aus. Der dicke Kloß im Hals hatte sich längst verflüchtigt. Auch das Heimweh war wie weggeflogen.
»Und dafür bist du mir tausend Kilometer hinterhergefahren?« Ein wenig wurde mir weich in den Knien. Gern hätte ich an seiner Bierdose genippt.
Stefan nahm einen großen Schluck und hielt sie mir dann wie selbstverständlich hin. Gedanken lesen konnte er offensichtlich auch.
Er wischte sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund und grinste amüsiert über meinen Versuch, aus der Dose zu trinken, ohne auf meinen Blusenschlupp zu kleckern. Oh Mann, dieser intensive Blick!
»Du hättest mir doch in Nürnberg sagen können, dass du mich kennenlernen willst.«
»Die gnädige Frau beliebte mir mitzuteilen, dass ein Wiedersehen unmöglich sei, da sie nach London zu ziehen gedenke.« Stefan schmunzelte verschmitzt.
»Aber … wie hast du mich gefunden?«
Stefan tippte sich an die Stirn. »Ich bin ja kein Dummkopf.«
Okay. Er hatte da so seine Quellen gehabt. Ein Gentleman genießt und schweigt. Das gefiel mir. Sehr sogar.
»Also, ich bin nicht wirklich nach London GEZOGEN«, wiegelte ich ab. »Auch wenn sich das toll anhört. Meine Mutter gibt gerne damit an: ›Meine Tochter studiert wichtig, wichtig Medizin in London‹«, schraubte ich meine Stimme in die Höhe wie Muttern, wenn sie ihr Publikum hat.
Stefan lehnte an der maroden Schrankwand und amüsierte sich königlich. »Ach nein? Was macht die Dame denn?«
»Ich mache hier nur ein Praktikum im St. Martha’s Hospital«, gab ich so bescheiden wie möglich zum Besten. »Und ich schwöre, ich war noch nie zuvor in einem Baumarkt. Aber in diesem sogenannten Schwesternzimmer …«, ich machte eine ausladende Handbewegung, die zwölf Quadratmeter nicht gerade luxuriöser englischer Landhausstil-Herrlichkeit mit einschloss, »… halte ich es ohne ein paar Verschönerungsmaßnahmen einfach nicht aus.« Es schüttelte mich.
»Im Gegensatz dazu siehst du alles andere als renovierungsbedürftig aus«, witzelte Stefan.
»Sondern?« So langsam begann mir der seltene Vogel Spaß zu machen.
»Na ja, meine fränkische Mama würde sagen, du siehst aus wie aus dem Ei gepellt …«
Na, super. Danke. Darauf legte MEINE Mutter nämlich immer größten Wert.
»Für meine Klamotten nehme ich zur Sicherheit Sagrotan«, gestand ich verlegen, ohne zu wissen, worauf dieser Dialog hinauslaufen sollte.
»Das dachte ich mir schon.« Stefan stupste mich neckisch an. »Und in der Handtasche hast du bestimmt immer Feuchttücher.«
So. Das reichte. Nun sollte es aber fürs Erste genug sein mit dem Franken. Danke.
Meine Mutter hatte mir hundertmal eingetrichtert, dass man einem Mann beim ersten Mal nicht mehr als zehn Minuten schenken soll, da er sich sonst eventuell nicht mehr abschütteln lässt – erst recht nicht bei meinem Aussehen. Wie ich schon in aller Bescheidenheit erwähnte, bin ich nämlich sehr groß und sehr schlank und verfüge über gewisse aristokratische Züge, wie Muttern gerne zufrieden feststellt. Außerdem sah man mir vielleicht das Geld meiner Eltern an.
Und mal ganz ehrlich: So nett und hilfsbereit der Wendelsteiner Kuchenmeister war, hatte ich doch nach wie vor Mutterns Stimme im Ohr, die nicht müde wurde, mir einzutrichtern, was sie mir schon mein ganzes Leben lang gepredigt hatte: Es gab doch auch noch eine Menge distinguierter Akademiker feinster britischer Abstammung, mit denen ich bei After Eight und Tea am Kamin sitzen könnte. Nur deswegen hatte meine Mutter das Okay für den Englandtrip gegeben. Feiner englischer Adel. Möglichst mit eigener Pferdezucht. Sie dachte bestimmt an so eine Art Prinz William. Rosamunde Pilcher lässt grüßen. Dann würde ich in einer Villa in Cornwall hocken und reiche Ladys zum Tee einladen, als Gattin des Lord Fortescue … oder wie hieß das bei Loriot?
Ich wollte dem hilfsbereiten Franken zum Abschied die Hand schütteln. Mit Grauen dachte ich daran, gleich wieder allein in dieser Bude zu hocken und die schimmeligen Kacheln an den Wänden anzustarren.
»Nee, Konstanze«, wehrte Stefan ab und knallte die leere Bierdose auf die Fensterbank: »So einfach wirst du mich nicht los. Sei mal ehrlich: Du bist doch froh, dass ich hier bin. Allein sein ist doch scheiße.«
Ich schluckte. So ein schlimmes Wort! »Traust mir wohl gar nichts zu, was?«
»Ich trau dir eine ganze Menge zu. Genau das gefällt mir ja so an dir.«
»Ja also, wenn du unbedingt willst …«
»Komm, Konstanze, jetzt machen wir es dir hier erst mal so richtig schön.«
Kurz entschlossen überredete er mich, meinen schwarzen R5 zu nehmen und einzukaufen, was noch fehlte, um es hier halbwegs wohnlich zu machen.
»Rutsch mal.«
»Wie bitte?«
»Du bist den Linksverkehr noch net gwöhnt!«
»Doch! Ich bin schließlich ganz alleine hierhergefahren!«
»Entspann dich einfach, okay? Jetzt bin ICH da.«
Verdattert kletterte ich aus dem Auto, rannte in plötzlicher Panik, er könnte allein damit davonbrausen, um mein Gefährt herum und sank dann erleichtert auf den Beifahrersitz.
Stefan grinste zu mir herüber. Er hatte ein Grübchen unter seinem Dreitagebart.
Mein Gott!, dachte ich. Ich werde mich doch nicht in ihn verlieben? Die ganze Anspannung der letzten Tage fiel von mir ab. Das passte. Dieser Mann sollte irgendwie auf mich achtgeben. Er war wie ein Schutzengel vom Himmel gefallen. Ich fühlte mich nicht unangenehm berührt, eher im Gegenteil: Ich hatte plötzlich das Gefühl, nicht mehr allein auf der Welt zu sein. Stefan Kuchenmeister aus Wendelstein war bei mir. Er roch gut. Nach Mann. Nach Geborgenheit. Nach Vertrauen. Ich fühlte mich auf einmal so merkwürdig leicht.
Es war Vormittag, und es war heiß.
 
Die nächsten Tage verbrachten Stefan und ich damit, das scheußliche Zimmer halbwegs wohnlich zu gestalten. Zwar war Herrenbesuch in diesem Schwesternheim strengstens verboten, aber er war ja im herkömmlichen Sinne kein Besuch. Und kein Herr.
Mein Vater, der war ein Herr. Der hatte, solange ich mich erinnern konnte, immer feine Westen getragen, auch bei 35 Grad im Schatten. Väterchen machte sogar noch in der Bügelfaltenhose Gartenarbeit. Mein Vater war Doktor jur., ein echter Gentleman. Er führte den BFW, einen Riesen-Bauindustrieverband, er traf Minister, alles war immer supersuperwichtig zwischen Bonn, Hamburg, München und Berlin. Er trat in politischen Talkshows auf, seine Meinung war gefragt, und die FAZ und Süddeutsche druckten seine Statements. Wenn Väterchen aus dem Taxi stieg, riss ihm der Fahrer automatisch den Schlag auf. Mein Vater trug stets einen schwarzen Seidenschirm mit echtem Bambusgriff mit sich herum, bei jedem Wetter übrigens. Also, was ich damit sagen will, ist Folgendes: Den »Herrn« sah man ihm bei jedem Wetter an.
Und Stefan? Der war genau das Gegenteil. Er besaß handwerkliches Talent, war fröhlich, pfiff beim Arbeiten und machte einen so zuverlässigen Eindruck, dass mir ganz warm ums Herz wurde.
»Reich mir mal das Schmirgelpapier. Was hat dich eigentlich dazu bewogen, Medizin zu studieren?« Ohne sich umzudrehen, streckte Stefan seinen Arm nach hinten.
»Der Traum von einer Impfung!«, gab ich betont lässig zurück. Dabei war es mir das wichtigste Anliegen überhaupt! Ich ging in die Hocke. »Um Frauen zu helfen«, sagte ich schon bestimmter. Ich reichte ihm das Schmirgelpapier. Seine Hand fühlte sich warm an. »Du hältst mich bestimmt für größenwahnsinnig, aber … wäre es nicht einfach GEIL, wenn es gelänge, eine Impfung gegen Krebs zu finden?« Schnell richtete ich mich wieder auf.
Das schlimme G-Wort passte zu meinem neuen Outfit, und ich genoss es, es zum ersten Mal in meinem Leben auszusprechen. Inzwischen steckte ich nämlich in alten ausgebeulten Jeans und hatte diese spitze Tüte auf dem Kopf, die Stefan mir aus der »London Times« gebastelt hatte.
Amüsiert drehte er sich um. Seine Mundwinkel zuckten. »Die reinste Florence-Nightingale-Nummer also! Kämpfst du wirklich für eine bessere Welt? Bist du tatsächlich so naiv?«
»In der Geschichte der Medizin gab es immerhin die Pest und die Cholera, Aussatz, Diphtherie und viele andere grässliche Krankheiten. Gegen alle wurde irgendwann ein Wirkstoff erfunden.« Ich rieb mir die Stirn. »Nur nicht gegen Krebs.«
»Da ist was Wahres dran«, brummte Stefan und schmirgelte den verdreckten Linoleumfußboden ab. »Aber ist das wirklich der Grund, warum du dir dieses Studium antust? Du willst echt die Welt retten?« Er wischte sich mit dem Handrücken über die Nase und sah mich über die Schulter hinweg prüfend an.
Ich fühlte mich ertappt. »Na ja«, räumte ich ein. »Wir wollen alle Geld verdienen und sorgenfrei leben, klar. Aber wäre das nicht der Hammer, wenn wir einen Impfstoff gegen Krebs finden würden? Ich habe mich während des Studiums näher mit Gebärmutterhalskrebs befasst. Daran müssen Frauen häufig sterben. Das lässt mich nicht los.« Ich spürte selber, dass es größenwahnsinnig und gleichzeitig naiv klang, was ich da so vor mich hin plapperte. Aber inzwischen war mir irgendwie danach, diesem Stefan auch mal ein bisschen zu imponieren. Um meine Hände anderweitig zu beschäftigen, griff ich nach einem leeren Karton und faltete ihn zusammen.
»Wow!« Stefan ließ sein Stück Sandpapier zu Boden fallen. »Die Dame will eine Erfindung machen. Ganz uneigennützig. Wow!«
»Natürlich will ich helfen!«, verteidigte ich mich. »Aber das schließt doch Geldverdienen nicht aus«, fügte ich selbstbewusst hinzu. »Das lässt sich ja mit dem Beruf der Medizinerin schon vereinbaren. Oder ist das etwa eine Schande?« Etwas zu trotzig trampelte ich auf dem Pappkarton herum.
»Klingt kompliziert«, brummte Stefan und schnitt eine Grimasse.
»Nein«, behauptete ich cool. »Das Medizinstudium ist genauso simpel wie eine Banklehre. Nur nicht ganz so langweilig«, setzte ich noch eins drauf.
»Woher willst du eigentlich wissen, wie langweilig eine Banklehre ist?« Kampfeslustig sprang Stefan auf seine langen Beine und sah mich so merkwürdig an.
»Wie, habe ich jetzt etwas Falsches gesagt?« Meine Stimme klang ein bisschen schrill.
Noch ehe ich den Kopf zur Seite drehen konnte, nahm er mein Kinn und zog mich zu sich heran. Nun war ich gezwungen, ihm in die Augen zu sehen. Sie waren von einem tiefdunklen Blau.
»Weil ich eine Banklehre gemacht habe, deshalb.«
Ich räusperte mich, weil ich plötzlich ein bisschen heiser war.
»Oh.« Verlegen drehte ich den Kopf weg. »So habe ich dich gar nicht eingeschätzt. Ich meine, du wirkst so praktisch. Quadratisch, praktisch, gut«, setzte ich noch einen drauf.
»Ach ja? Wie hat die hanseatische Prinzessin mich denn eingeschätzt?«
»Oh Mann!«, gab ich mich geschlagen. »Lassen wir das. Bis jetzt hatten wir doch Spaß, oder?«
»Du meinst, nur weil ich keinen Seitenscheitel trage und keine Bundfaltenhose, sehe ich so aus, als könnte ich nicht bis drei zählen?«
»Do… doch.« Mir gingen langsam die spitzzüngigen Bemerkungen aus. »Ist ja schon gut, Mann, reg dich nicht künstlich auf. Du schreibst deine Diplomarbeit in Betriebswirtschaft, und die Banklehre habe ich dir halt nicht angesehen. Das sollte ein Kompliment sein, Stefan!«
»An eines solltest du dich schon mal gewöhnen, Prinzessin«, sagte Stefan. »Ich kann einfach keine Vorurteile und Ungerechtigkeiten ertragen. Mir gefällt das, wie du dich hier tapfer durchschlägst. Und ich bin beeindruckt, dass du dich mit deinem klapprigen R5 bis hierher durchgeschlagen hast. Auch wenn du modisch nicht ganz auf dem neuesten Stand bist: Du hast was, Süße, mich haust du vom Hocker!«
»Aber …?«, meinte ich schwach. Zu meiner Überraschung fühlte ich, wie meine Streichholzbeine zitterten.
»Ich komme vielleicht nicht aus einem so hochherrschaftlichen Elternhaus wie du. Mein Vater ist kein Herr Doktor, und meine Mutter hat kein Spielzeuggeschäft am Jungfernstieg in Hamburg. Dafür hat mein Papa Schlosser gelernt, bevor er in der EDV sein Ding machte, und Mama war immer für meinen Bruder Marco und mich da. Und du wirst lachen, Konstanze, aber vor dir steht der jüngste Gemeinderat von Wendelstein!«
»Du bist … was?« Ich wich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Also wie ein dicker, schwätzender Politiker siehst du wirklich nicht aus!«
»Sondern?«
»Gar nicht wie ein Mann großer Worte. Eher …« Ich zeigte auf all das, was Stefan hier schon in meiner Bude vollbracht hatte: »Wie ein Mann der Tat.«
»Da siehst du mal, wohin Vorurteile führen können.«
Nervös wischte ich mir die schmutzigen Hände an den Jeans ab. Wahrscheinlich hatte ich den Mann bisher total unterschätzt. Plötzlich war ich bestürzt.
»Glaubst du, ich mache mir keine Gedanken um das Wohlergehen der Menschheit? Solche Gedanken sind wohl nur für hochwohlgeborene Prinzessinnen von der Alster reserviert?«
»Aber wie bist du ausgerechnet in der Politik gelandet?« Ich lehnte mich zurück und breitete die Arme aus. »Erzähl!«
Jetzt kam aber Leben in meinen Handwerker! Er holte tief Luft.
»Mein Ziel ist es, frischen Wind in die Politik zu bringen. Wo sind die mitreißenden Reden geblieben? Wo ist die ganze Begeisterung hin? Findest du nicht auch, dass unsere Regierung ziemlich blass aussieht?«
Ich strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. »Wie meinst du das?«, fragte ich, um Zeit zu gewinnen.
Stefan redete sich nun richtig in Fahrt.
»Ich kann nicht mit ansehen, wie die Zukunft unseres Landes durch den Egoismus der Einzelnen zerstört wird. Wusstest du, dass auf tausend Einwohner nur noch acht Babys geboren werden?«
»Nein!« Ich zuckte die Achseln. »Aber was beschäftigt dich so daran? Ich meine, du bist jung, du könntest selbst erst mal ein bisschen Spaß im Leben haben …«
Um Stefans Mundwinkel zuckte es. »Den werde ich auch haben, verlass dich drauf! Aber nicht mit Egoismus und Kälte.«
»Sondern?« Ich streckte das Kinn vor. Was wollte der mir denn hier predigen?
»Mit der richtigen Frau.« Seine dunkelblauen Augen fixierten mich erwartungsvoll.
Oh. Oh Gott. Was sollte das denn jetzt werden.
4
»So, Konstanze. Jetzt bist du dran. Erzähl was über dich!«
Im benachbarten Pub herrschte laute Geschäftigkeit. Es roch nach Fish and Chips und nach Rauch und Bier. Im Hintergrund wummerte laute Rockmusik aus den Boxen.
Ich versuchte ganz lässig zu wirken und sah mich neugierig um.
Stefan hatte sich ein gebügeltes Hemd angezogen, und frisch geduscht wie er war, sah er ganz appetitlich aus. Erwartungsvoll beugte er sich über den Tisch, an dem wir beide saßen, und verschlang mich regelrecht mit seinen Augen.
Ich hatte mich in die super engen Jeans gezwängt, die meine langen Beine tatsächlich besser zur Geltung brachten als mein üblicher Faltenrock. Zur Feier des Tages hatte ich mir knallrote Stiefeletten mit hohen Absätzen statt der Troddel-College-Schuhe gegönnt. Wenn meine Mutter mich so gesehen hätte, wäre ihr Mund wohl nur noch ein schmaler Strich gewesen. Aber hier im Pub fiel ich in dieser Montur nicht weiter auf.
»Was willst du wissen?«, fragte ich kokett.
»Alles.« Stefan grinste mich verliebt an, während er Fish and Chips direkt aus der Tüte in sich reinschob.
Mutter wäre erstarrt. Mutter hätte die Augen verdreht. Mutter hätte das Lokal verlassen.
Stefan war auf den ersten Blick mit Sicherheit nicht der Mann, den sie sich für ihre einzige Tochter gewünscht hätte. Aber nun war Stefan nun mal da und hatte sich mit seinem unglaublich zielbewussten Wesen einen Platz in meinem Leben erobert. Er ließ sich einfach nicht mehr abschütteln. Er klebte an mir wie eine Briefmarke. Höchste Zeit, dass ich endlich mal meine Mutter abschüttelte! Ständig saß sie mir auf der Schulter und sprach in ihrem hanseatischen Hochdeutsch auf mich ein: Sitz grade! Trink nicht aus der Flasche! Lach nicht so kokett! Du wirst diesem Burschen doch keine schönen Augen machen? Nachher macht er sich noch ernsthaft Hoffnungen auf dich? Du weißt doch: Männer wollen immer nur das Eine. Und in deinem Fall außerdem mein Geld.
»Wie? Was hast du gesagt? Entschuldige, aber ich habe gerade nicht richtig zugehört.« Sprach er von seiner Mutter, während ich noch insgeheim eine hitzige Diskussion mit meiner Mutter führte? Meine Mutter löste sich in Luft auf.
»Ich habe soeben meine Mama in Wendelstein angerufen und ihr gesagt, dass ich die Frau meines Lebens getroffen habe.« Stefan versuchte, meine Hände in die seinen zu nehmen. Er strahlte mich an.
»Stefan!«, sagte ich und entzog sie ihm. Am liebsten hätte ich mich auf meine Hände gesetzt, damit er nicht dauernd danach griff. »Was du da sagst, ist wirklich schmeichelhaft, aber gehören zu einer Verlobung nicht immer zwei?«
»Natürlich. Und du sollst dir auch Zeit lassen. Alle Zeit der Welt. Ich warte auf dich. Eines Tages werden wir heiraten.« Diese Augen! Die begannen mich irgendwie … zu hypnotisieren! Ich war wie gelähmt vor Entsetzen. So war das aber nicht gedacht! Stefan Kuchenmeister sollte sich doch keine Hoffnungen machen! Er sollte doch nicht seine Mutter anrufen und ihr von der perfekten Schwiegertochter vorschwärmen! Er sollte … mein Freund sein! Und mir die Bude renovieren! Wenn überhaupt! Ich sah ihn kopfschüttelnd an.
»Du bist wirklich ein Phänomen!« Nervös umklammerte ich mit beiden Händen meine Bierflasche.
»Ich weiß.« Stefan grinste mich siegessicher an. »Und ich bekomme fast immer, was ich will. Ich kann wirklich unerträglich hartnäckig sein. Prost!«
Er wollte ein Machtspielchen? Okay, das konnte er haben. Bitte sehr.
»Ich auch!« Kampfeslustig sah ich ihm in die Augen.
Ein feines britisches Doktorchen, das wollte Muttern für ihre einzige Tochter. In feines englisches Tuch gehüllt. Mit feinen englischen Manieren. Und einem schicken englischen Auto in British Racing Green. Am Wochenende Golf spielen und abends durch die gehobene Londoner Szene. Und vielleicht in eine feine englische Familie einheiraten. Irgendwie sah Muttern in mir eine Zwillingsschwester von Lady Di.
»… ich habe meinen Eltern schon gesagt, dass ich dich heiraten werde.«
Ich machte automatisch den Mund auf, um ihm etwas Garstiges zu erwidern, aber plötzlich fiel mir einfach nichts mehr ein. Plötzlich wusste ich nicht mehr, was ich denken sollte. Ich war vollkommen verwirrt.
»Und meine Mama meinte, ein Nordlicht, das könne sie sich aber gar nicht vorstellen für mich.«
»Na, da sind deine Mutter, meine Mutter und ich mal ein und derselben Meinung. Ist das nicht wunderbar?« Entschlossen setzte ich die Bierflasche an den Mund. In Ermangelung eines Glases, wohlgemerkt. Mutter wäre … Mutter hätte …
»Du wolltest mir etwas von dir erzählen!«
Stefan hatte die Ellbogen aufgestützt und sah mich erwartungsvoll an. Diese Augen! Konnte er die mich in den Wahnsinn treibenden Dinger nicht mal für einen Moment ausknipsen?
»Wollte ich das?«
»Irgendwas aus deiner Kindheit.«
»Bitte, Stefan, das wird mir langsam unheimlich!«
»Wenn mich ein Mensch interessiert …«
Plötzlich wurde Stefans Blick ganz zärtlich. Mir stockte der Atem. Er streckte den Arm aus und zog mich zu sich heran. »Wirklich, Konstanze. Erzähl mir was von dir.«
Ich konnte es nicht fassen. Auf eine schnelle Nummer war er offensichtlich nicht aus. Er wollte mich wirklich kennenlernen. Dafür war er nach London gereist. Der Mann verfolgte tatsächlich seine Ziele. Alle Achtung! Ich nahm noch einen Schluck Bier aus der Flasche. Ich sah mich als kleines Mädchen am Tisch sitzen, mit durchgedrücktem Rücken, einem Buch auf dem Kopf und mit Messer und Gabel balancierend – das alles unter den bohrenden Blicken meiner Mutter. »Verhätschelt worden bin ich wirklich nicht.«
»Das denke ich mir. Sonst hättest du nicht den Kampf mit den englischen Kakerlaken aufgenommen.« Stefan sah mich mit so einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an. »Du bist die starke Frau, die ich brauche.«
»Ich … ähm …« Ich räusperte mich. »Also, da gibt es vieles, was ich dir erzählen könnte. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Meine Eltern wollten immer, dass ich gerade gehe. Und gerade sitze. Und mich gerade halte. Und mich nie gehen lasse. Wenn ich weinte, bekam ich eine Ohrfeige. Mutter meinte dann, jetzt hätte ich wenigstens einen Grund zum Heulen.« Ich verstummte und versuchte ein schiefes Grinsen. »Falls wir beide jemals eine Familie gründen sollten, schlagen wir unsere Kinder allerdings nicht!«
Es sollte ein Scherz sein, aber Stefans Blick traf mich mit voller Wucht. Kaum wahrnehmbar streifte er unter dem Tisch mit dem Fuß mein Knie.
»Das war bestimmt nicht immer einfach für dich.«
»Sie meinten, das Leben kann verdammt hart werden, und sie wollten mich nicht in Watte packen.« Ich senkte den Kopf und fixierte den schmutzigen Bierdeckel. Mein Herz polterte ziemlich, seit Stefan dieses Beinstreicheln unter dem Tisch aufgenommen hatte.
»Prima Einstellung. Siehst du, das hab ich dir gleich angesehen. Mit dir kann man die Welt verändern. Du passt zu mir, Konstanze. Wir wollen beide etwas Großes erreichen.«
Mein Mund war trocken. Ich befeuchtete die Lippen mit der Zunge. Als er meine Hände diesmal an seine Holzfällerbrust zog, entriss ich sie ihm nicht. Bei ihm fühlte ich mich wirklich geborgen. Wer hätte das gedacht! Ich spürte die Muskeln unter seinem Hemd, das ich ihm in diesem Moment am liebsten vom Leibe gezerrt hätte. Oh Gott, ich konnte mir auf einmal vorstellen, mit ihm zusammen zu sein. Ich wollte mehr!
Plötzlich legte er meine Hände wieder auf die Tischplatte. Ich fühlte mich wie aus einem Traum gerissen.
»Wirklich, Konstanze. Wir werden für deine Träume kämpfen. Ich bin dabei. Du kannst es schaffen.«
»Was … was meinst du?« Ich rieb mir die glühende Wange.
»Deinen Kampf gegen den Krebs!«
Oh. Ja. Genau. Natürlich. Ich räusperte mich.
»Also der Krebs. Ich hab da mal ein paar Statistiken gelesen. Nur damit du weißt, wovon ich spreche.« Ich nahm einen Schluck Bier. »Wusstest du zum Beispiel, dass allein in Deutschland jede achte Frau im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs erkrankt?«
»Nein«, sagte Stefan und rieb sich die Stirn. »Wahnsinn. Das wusste ich nicht.«
»Das sind in Deutschland etwa 57 000 Neuerkrankungen pro Jahr. 17500 Frauen sterben daran, und 2000 an Gebärmutterhalskrebs. Die meisten dieser Frauen sind Mütter. Sie hinterlassen Kinder. Und Männer.« Schweigen. Ich konnte förmlich sehen, wie Stefans Hirn auf Hochtouren arbeitete. »Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Erkrankung tödlich ausgeht, liegt allein bei Brustkrebs bei etwa dreißig Prozent. Seit 1970 haben sich die Erkrankungen verdoppelt. Verdoppelt!, hörst du, Stefan? Da muss doch in der heutigen Medizin etwas zu machen sein! Auch die Menschen müssen wachgerüttelt werden. Jeder bringt sein Auto zum TÜV. Aber was ist mit der Vorsorge für Frauen? Die wissen oft gar nicht, welche Möglichkeiten es gibt! Da braucht es Aufklärung, neue Regelungen bei den Krankenkassen!« Ich hatte mich so in Rage geredet, dass ich japsend innehielt. Verwirrt rieb ich mir die Stirn.
Stefan sah mich eindringlich an. Sein Blick wurde immer weicher. Es entstand eine kleine Pause, dann packte er meine Hände über die Tischplatte hinweg.
»Ja, lass uns etwas unternehmen!«
Ich nickte, musste plötzlich eine Träne wegblinzeln. »Das interessiert dich? Echt?«
»Mich interessiert, etwas mit dir auf die Beine zu stellen. Etwas Sinnvolles, das Menschen hilft.«