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Hitlers Kindheit und Jugend in neuem Licht. Die Autoren schließen eine Lücke der Geschichtsforschung: Jenseits psychologischer Spekulationen stellen sie Hitlers Familie, Kindheit und Jugend im sozialen und kulturellen Kontext dar. Sie konzentrieren sich auf Hitlers Zeit in Braunau bis zu den Erfahrungen in Wien und lassen dabei charakterliche und weltanschauliche Prägungen erkennbar werden. Sie untersuchen Hitlers Werdegang sowie sein gesellschaftliches Umfeld. Nationaler Fanatismus, Rassenhass und Antisemitismus sind in der Gesellschaft längst verankert, ehe Hitler und die Nationalsozialisten ihren Aufstieg beginnen. Hitlers radikalisierte Rhetorik konnte erst dann wirksam werden, als sein Publikum bereits wusste, wovon er sprach. Leidinger und Rapp zeigen Hitlers Kindheit und Jugend in neuem Licht.
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Seitenzahl: 362
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Hannes Leidinger / Christian Rapp
Prägende Jahre
Kindheit und Jugend 1889–1914
Bildnachweis: 1–3) ÖNB Bildarchiv; 4) apa.picturedesk; 5) Library of Congress; 6) ÖNB Bildarchiv; 7 und 8) Nachlass August Kubizek; 9) Billy Price ›Adolf Hitler als Maler und Zeichner‹; 10) apa.picturedesk; 11) Nachlass August Kubizek; 12) Albertina, Wien; 13–16) Nachlass August Kubizek; 17) Arbeiterkammer, Wien; 18) Albertina, Wien; 19) Carl Otto Czeschka; 20) Theatermuseum, Wien; 21–22) Nachlass August Kubizek; 23) Wien Museum; 24) privat; 25) ›Gli acquerelli di Hitler‹, Verlag Alinari; 26) Nachlass August Kubizek; 27) Kunsthistorisches Museum, Wien; 28) ›Gli acquerelli di Hitler‹, Verlag Alinari; 29) http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=oiz&datum=19100828&seite=16&zoom=33; 30) VGA, Wien; 31) ›Gli acquerelli di Hitler‹, Verlag Alinari; 32) SZ-Photoarchiv
Wissenschaftliche Mitarbeit:
Verena Moritz, Andrea Thuile, Benedikt Vogl
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
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Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien
Lektorat: Barbara Köszegi
ISBN ePub:
978 3 7017 4634 7
ISBN Printausgabe:
978 3 7017 3500 6
Vorwort(Christian Rapp / Hannes Leidinger)
Keine heile Welt(Hannes Leidinger)
Komplizierte Familienverhältnisse
Ortswechsel(Hannes Leidinger)
Der Volksschüler Adolf Hitler
Üble Streiche
Spiele, Kriege und Nationen(Hannes Leidinger)
»Furor teutonicus«
Die Zäsur(Hannes Leidinger)
»Indianer kennen keinen Schmerz«
Karl May, ein widersprüchliches Idol
Buffalo Bill in Linz
Die Realschule in Linz
Nach dem Tod des Vaters(Hannes Leidinger)
Das Fehlen männlicher Vorbilder
Aversion gegen die Kirche
Finanzielle Engpässe
Die Lehrer(Hannes Leidinger)
Der »Lieblingsprofessor«
Nachwehen – ein Exkurs
Das völkische Milieu(Hannes Leidinger)
Vereinsleben
Klerikale und Tschechen
Der Eklat um Jan Kubelík
Der schwelende Antisemitismus(Hannes Leidinger)
Die Parteienlandschaft in Oberösterreich um 1900
Der schwache Glanz des Neuen(Hannes Leidinger)
Moderne in der Provinz
Unrühmliches Schulende(Hannes Leidinger)
Nichts als die Kunst(Hannes Leidinger)
Architektonische Luftschlösser
Der einzige Freund
Vorhang auf! – Das Landestheater Linz
Abgott Wagner
Geniekult
Bildmacht und Sinnlichkeit
Der große Verlust(Hannes Leidinger)
Auf nach Wien
Adolf Hitler – ein Charakterbild
Abschied von der Vergangenheit
Künstlerische Ambitionen(Christian Rapp)
Ringstraße und Kaiserforum
»Adolf verfaßt eine Oper«
Politische Horizonte(Christian Rapp)
Leitbild Lueger
Der »Bund der Antisemiten«
Der Abstieg(Christian Rapp)
Bilder-Geschäfte mit Alt-Wien
Die Bilderagenten
Das Männerheim Meldemannstraße
Hitzige Debatten(Christian Rapp)
Hitler und die »Roten«
Abschied von Wien(Christian Rapp)
Ausblick und Nachbetrachtung(Hannes Leidinger / Christian Rapp)
Mythenbildung
Verbrechen und Verantwortung
»Der Österreicher«
»Der ewige Hitler«
Namenregister
Anmerkungen und Quellen
Am Anfang steht das Ende. Ein biographisches Projekt über Adolf Hitler lässt sich kaum anders einleiten als mit den Verheerungen, die er 1945 hinterließ. Insgesamt 13 Millionen Menschen sind seinem Regime zum Opfer gefallen, 6 Millionen Juden, 3,3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene, Hunderttausende Zwangsarbeiter, Roma und Sinti, Widerstandskämpfer und viele andere. Endgültige Zahlen gibt es nicht und die unvorstellbaren Summen müssen heruntergebrochen werden auf die einzelne gedemütigte, gequälte und schließlich ausgelöschte Existenz: ein Kind, eine Schwester, einen Vater, eine Großmutter oder einen Freund …
Nicht eingerechnet sind weitere Millionen Tote des von Hitler entfesselten Weltkrieges.
Adolf Hitler und der Nationalsozialismus haben eine lange Vorgeschichte und eine lange Nachgeschichte. Sie setzen auf Fundamenten auf, die bis heute sichtbar sind. Es sind im Wesentlichen die großen »Ismen«: der Nationalismus, der Imperialismus und der Sozialismus als politische Konzepte und Praktiken, der Rassismus und der Antisemitismus als Gesinnungen und Denkweisen mit politischer Valenz. Fast alle zeichnen sich durch zwei gemeinsame Eigenschaften aus: erstens, dass sie einen Teil der Bevölkerung ein- und einen anderen kategorisch ausschließen. Und zweitens, dass sie jeweils als moderne Bewegungen antreten und eine neue, »höhere« oder bessere gesellschaftliche Ordnung versprechen. Die radikale binäre Logik, die diesem »Ismen« innewohnt, das gnadenlose Sortieren in Freund und Feind, Eingeweihte und Verachtete, Kämpfende und zu Bekämpfende, prägt das Denken über den Zweiten Weltkrieg hinaus.
An Bedeutung verloren hat nach 1945 zunächst nur der Militarismus, der ebenso zum nationalsozialistischen System gehörte. Diesen – und zunächst nur diesen – vermochte der militärische Sieg der Alliierten in Deutschland und Österreich zu delegitimieren. Am generellen Fortleben der anderen »Ismen«, aus denen der Nationalsozialismus sein Programm bezog, kann man erkennen, wie langsam sich in einer Gesellschaft grundsätzliche Einstellungen und Denkweisen verändern. Sie werden über Generationen weitergegeben, über Sozialisationsinstanzen wie Familie, Schule und Medien vermittelt und bilden äußerst stabile Sedimentschichten, die nur mit beträchtlichem Aufwand umgeformt oder entfernt werden können.
Und ebenso wie diese Denkweisen nach 1945 nicht einfach verschwinden, tauchen sie nicht erst 1933, 1918 oder 1914 plötzlich auf. Vielmehr verdichten sie sich, aus unterschiedlichen Anfängen kommend, Ende des 19. Jahrhunderts, parallel zu einer sich rasch verändernden Welt. Für Deutschland und Österreich-Ungarn gilt das nicht ausschließlich, aber in besonderem Maße.
Als Hitler 1889 auf die Welt kommt, nimmt die Politik neue Formen an. Er erlebt nicht den Aufstieg der großen Ideologien, aber die Phase ihrer Verstärkung, ihrer massenmedialen Verbreitung und ihrer Demokratisierung.
Wenn aber die politischen Prozesse so mächtig sind, warum macht es dann überhaupt Sinn, sich mit der Person Adolf Hitler zu beschäftigen? Ist er tatsächlich einer jener, in denen sich die Geschichte verdichtet, wie Jakob Burckhardt behauptet? Oder ist er der, den Geschichte macht, ehe er sie macht? Die Gefahr eines biographischen Blicks auf die Person Hitlers besteht immer darin, die Gesellschaft oder zumindest große Teile der Gesellschaft zu exkulpieren und die Verantwortung auf einen Einzelnen zu konzentrieren.
Doch es gibt einen guten Grund, bei Hitler eine Ausnahme zu machen und seine Person in den Vordergrund zu stellen.
In mancher Hinsicht ist er eine von vielen dunklen politischen Figuren, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat: als Feldherr, als Diktator, als Führer einer Massenpartei, als Demagoge, als vermeintlicher Heilsbringer lässt er sich mit anderen vergleichen. In diesen Aspekten wird er langsam »historisch« und seine Person ein Fall für Spezialisten. Mit dem militärischen Befehlshaber beschäftigen sich Militärhistoriker, mit dem Parteiorganisator die Politologen und so weiter.
Historische Einzigartigkeit und universale Relevanz hat Hitler bis heute aufgrund des Holocausts, jenes Verbrechens, das sich »gegen die Menschheit« selbst richtet, wie die Philosophin Hannah Arendt sagt.1 Der Publizist Sebastian Haffner vermutet: »Auch ohne Hitler hätte es nach 1933 wahrscheinlich eine Art Führerstaat gegeben. Auch ohne Hitler wahrscheinlich einen zweiten Krieg. Einen millionenfachen Judenmord nicht.«2
Der Holocaust ist ein Monolith im Strom der Geschichte. Während andere Untaten Hitlers langsam in diesem Strom absinken, bleibt der vorsätzliche Massenmord an Millionen Menschen unverändert stehen und wird sogar noch deutlicher erkennbar. Versuche, ihn gegen andere Genozide aufzurechnen, scheitern. Er lässt sich nicht relativieren. Und er ist Hitlers Projekt, durchgeführt mithilfe seiner Anhänger und Vollstrecker.
Deshalb muss man immer wieder zu Hitler zurück, zu seiner Person, zu seinem Umfeld, zu den Ursprüngen seiner politischen Entwicklung, zu jenem Milieu, in dem er aufwächst und in dem er sozialisiert wird. Hitler verbringt 24 Jahre in Österreich, also nicht viel weniger als die Hälfte seines Lebens. In der Zeit bis 1914 formen sich sein Charakter und sein Weltbild. Was immer Erster Weltkrieg und Revolution zur Radikalisierung Hitlers beigetragen haben mögen, die Grundlagen sind bereits vorhanden.
Genau hier setzen die folgenden Erkundungen an. Im Mittelpunkt stehen die bisher wenig untersuchten frühen Jahre Hitlers in Oberösterreich. Danach folgen wichtige neue Erkenntnisse zu seinem Aufenthalt in Wien. Dabei geht es nie um Hitler allein, sondern immer auch um den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext sowie um seine Zeitgenossen, mit denen er trotz seiner Kontaktscheue in einem intensiven Austausch steht.
»Trauungen: Am 7. Jänner« 1885 »Alois Hitler, k. k. Zollamts-Offizial, und Klara, geb. Pölzl«.
»Familien-Nachrichten vom 23. bis 30. September« 1886. »Geburten: Am 23. September Ida Hitler, k. k. Zollbeamtenskind«.
»Sterbefälle: Am 9.« Dezember 1887 »Gustav Hitler, Zollamtskind, 2 ½ Jahre alt, an Diphtheritis«.
»Familien-Nachrichten vom 17. bis 25. Juni« 1892. »Geburten: […] am 17.: Otto Hitler, Zollbeamtenskind«.
»Familien-Nachrichten vom 23. bis 30. Juni« 1892. »Sterbefälle: Am 23.: Otto Hitler, Beamtenskind, 7 Tage alt, an Wasserkopf«.3
Die dürren Einträge der »Neuen Warte am Inn«, des »Braunauer Wochenblattes« beziehungsweise des lokalen Organs für die »Interessenvertretung des Bauern- und Gewerbestandes« vermitteln nur lückenhaft das private Leid. Die unvollständigen Meldungen registrieren nicht, dass Gustavs »Rachenbräune«, wie der Volksmund die Diphterie nennt, die jüngere Ida mit in den Tod reißt. Am 2. Jänner 1888 stirbt auch sie. Außer dem am 20. April, dem Karsamstag des Jahres 1889, geborenen Adolf wird nur Paula ein höheres Alter erreichen. Sie kommt 1896 zur Welt, zwei Jahre nach dem Bruder Edmund, der 1900 an Masern stirbt.4 Von den sechs Kindern überleben nur zwei, ein selbst angesichts der damaligen höheren Kindersterblichkeit außerordentlich hartes Schicksal für die Eltern. Die Mortalitätsrate bei Säuglingen und Kindern bis zum Volksschulalter ist damals im Sinken begriffen.5
Vor allem für die Mutter Klara sind die Erfahrungen jener Jahre prägend. Einem Vertrauten gesteht sie später, dass sie stets in Sorge war, den schwächlichen Sohn Adolf ebenfalls zu verlieren.6 Zunächst aber ist die Erleichterung groß, ihn mithilfe der Hebamme Franziska Pointecker gesund zur Welt gebracht zu haben. Eine Zeugin, die auch bei der Entbindung dabei gewesen sein will, weiß zu erzählen, dass Klara sich in besonderer Weise um den Nachwuchs kümmert.7
Jene, die zumindest behaupten, Klara näher gekannt zu haben, erinnern sich an ein zurückgezogenes Wesen, an eine freundliche, aber nicht eben lebensfrohe Erscheinung, die sich kaum für ein längeres Gespräch Zeit nimmt, speziell von sich selbst wenig spricht und deren Gemüt sich mit der Zeit eher noch verdüstert.8 Mit traurigem Unterton beschreibt sie selbst ihren Hochzeitstag. Der kurze Eintrag in der »Neuen Warte am Inn« passt zu ihrer Schilderung: »Um 6 Uhr früh haben wir in der Stadtpfarrkirche von Braunau geheiratet, und um 7 Uhr ging mein Mann wieder in den Dienst.«9 Üblich oder unüblich: Der Bräutigam hält es für unangebracht, auch nur einen Tag Urlaub zu nehmen. Keine Feier, kein »Umtrunk mit Freunden – nichts«.10 (Abb. 1)
Auf Emanuel Lugert, einen Arbeitskollegen von Alois, macht sie den Eindruck einer »enttäuschten Frau«. Still und »sehr bescheiden«, so bleibt sie ihm im Gedächtnis haften.11 Eine ganz auf die häuslichen Pflichten konzentrierte »Gefährtin« eines Patriarchen, für den seine Bekannten wenig wohlwollende Worte finden. Lugert dazu: Schon »als junger Mensch« hab »ich mir gedacht: dieser Mann hat doch rein gar kein Familienleben; wenn ich einmal heirate, möchte ich es nicht so haben«. Alois Hitler ist »kein vorbildlicher Familienvater«. Die Hauptlast hat Klara zu tragen. »Daheim«, ergänzt ein anderer Intimus der Familie, »war er streng, kein Feiner, seine Frau hat bei ihm nichts zu lachen«.12 Er verlangt unbedingte Gefolgschaft und kann sich in dieser Hinsicht ganz auf eine unterwürfige, letztlich aber anscheinend seelisch verkümmernde Gemahlin verlassen.
Zur alles andere als untypischen Rollenverteilung kommen keineswegs nur schmeichelhafte Charakterisierungen seines »öffentlichen Wirkens« hinzu. Lugert will ihn zwar als »guten Gesellschafter« mit »stets guter Laune« gekannt haben, versteht aber jene, die ihn an seiner Arbeitsstelle als groben oder verdrießlichen Menschen kennenlernen und eher meiden.13 »Alois Hitler war uns allen unsympathisch. Er war streng, genau, ja sogar ein Pedant im Dienst und ein sehr unzugänglicher Mensch«, erklärt ein Arbeitskollege unverblümt.14
Als »sehr rechthaberisch« und »leicht aufbrausend« empfinden ihn außerdem Zeugen, die den regelmäßigen Wirtshausbesucher bei Diskussionen erleben.15 Selbst der Verfasser seines Nachrufes in der Linzer »Tages-Post« kann es sich nicht verkneifen, auf seine »rauhe Hülle« und das gelegentliche »schroffe Wort aus seinem Munde« aufmerksam zu machen.16
Der Jähzornige, der in Bekannten- und Freundeskreisen schimpfend und polternd schon einmal kundtut, speziell seine unfolgsamen Sprösslinge am liebsten »derschlagen« zu wollen, belässt es wohl nicht nur bei Worten. Das belegt wenigstens Schwester Paula. Die Mutter, so Paulas Darstellung, habe mit »Liebenswürdigkeit« das zu erreichen versucht, was der Vater mit einer »richtigen Tracht Prügel« erzwingen wollte.17
Dass die vielerorts angewendete häusliche Gewalt als zu jener Zeit weithin akzeptierte »Erziehungsmethode« im konkreten Fall eine besonders radikale Form annimmt, bezweifeln hingegen mehrere Kommentatoren. Immerhin verbringt der Vater verhältnismäßig wenig Zeit mit seinen Angehörigen, ein beträchtliches Maß an Unkenntnis über die Geschehnisse zu Hause und die Entwicklung der Kinder darf angenommen werden. Aggression und Schläge könnten die oft anzutreffende Konsequenz einer Mischung aus Autoritätsdenken, Unkenntnis und Unverständnis gewesen sein.18
Hauptsächlich bewegt sich Alois Hitler in einer »(halb-)öffentlichen Sphäre« zwischen Dienstort und Gaststätte. Dazwischen liegt noch das fast obsessiv betriebene Hobby: Angeblich zieht er sogar für mehrere Monate in eine Braunauer Altstadtwohnung, von der aus er schneller zu seinen geliebten Bienenstöcken gelangen kann.19 Sohn Adolf dazu 1942: »Bienenstich war bei uns so selbstverständlich wie nur etwas. Die Mutter hat meinem alten Herrn oft 45, 50 Stacheln herausgezogen, wenn er vom Waben-Ausnehmen kam.«20 In der »Neuen Warte am Inn« ist die Leidenschaft Alois Hitlers für die Imkerei und seine Akribie, die seiner Dienstauffassung entspricht, dokumentiert: »Waben« und »Stöcke« beschreibt er detailliert, als er Anfang 1890 folgende Anzeige aufgibt: »Verkauf von Bienenstöcken. Bestbewährte, wenig stechlustige und sehr fruchtbare Krainer Mischlinge und Edelvölker mit vierjährigen Königinnen.«21
Später, andernorts, will er Verkauftes wiedererlangen. Das Freizeitvergnügen bleibt zentral. Der Eigentümerin einer seiner vormaligen Liegenschaften bietet er über Vermittlung eines Nachbarn an: »Sollte die Dame, wie ich vermute, keine Bienen mehr besitzen, wohl aber die leeren Kästen und davon zwei Dreietagenständer« verkaufen »wollen, könnten Sie mir dieselben« zurückkaufen.22
Jenseits persönlicher Interessen oder sogar Marotten geht seine private Tätigkeit aber auch mit gesellschaftlicher Integration einher. Die Imkerei erlebt gerade Ende des 19. Jahrhunderts eine Blütezeit und begeistert weite Teile der Bevölkerung. In der Donaumonarchie etwa entstehen Vereine mit zahlreichen Zweigstellen. Allein die »Tages-Post« und das »Linzer Volksblatt« bringen zwischen 1890 und 1905 mehr als 700 Beiträge über die regen Aktivitäten der Bienenzüchter.23
Echte Freunde gibt es hingegen im Leben des Vaters eigentlich nicht. Im Wesentlichen bleibt es bei Bekanntschaften und Berufskontakten.24 Bewusst distanziert verhält er sich überdies zur Kirche und zu dem speziell am Land wichtigen religiösen Leben. Die von ihm ansonsten kaum geachteten Gotteshäuser, die er nachgerade als weibliche Sphäre erachtet und deren Besuch er von seiner Frau sogar erwartet, sucht er laut Bekannten bestenfalls an besonderen Festtagen auf. Am Geburtstag von Kaiser Franz Joseph am 18. August zum Beispiel. Und auch da nur, wie bemerkt wird, um »seine Uniform in die Kirche spazieren zu führen«, um zu zeigen, »dass er wer ist«.25
Alois ist stolz auf seine Karriere. Nach einer Schuhmacherlehre in Wien schafft er den Sprung zur Finanzwache. Mit Absolvierung entsprechender Ausbildungswege und Examina übernimmt er leitende Positionen auf unterer Ebene und wird schließlich provisorischer Amtsassistent in der Zollwache. 1870 ist er Nebenzolleinnehmer, in Braunau ein Jahr später Kontrollassistent und ab 1875 Zollamtsoffizial.26 Als sein Sohn Adolf als drittes, nicht wie oftmals fälschlich behauptet als viertes Kind von Klara und Alois geboren wird27, verfügt dessen Familie über ein solides Einkommen. Die Hitlers gehören dem gesicherten Mittelstand an. Das väterliche Salär liegt höher als das eines Volksschuldirektors.28
Das innerfamiliäre Machtgefälle wird dadurch noch betont. Im Vorfeld der Hochzeit Anfang 1885 heißt es: »Überdies hat die Braut kein Vermögen und dürfte ihr deshalb nicht so leicht eine andere Gelegenheit zu einer anständigen Verehelichung geboten werden.«29 Mit dieser Erklärung hat es eine besondere Bewandtnis, ebenso wie mit einer Annonce in der »Neuen Warte am Inn«, die sowohl in der Ausgabe vom 11. als auch vom 18. Oktober 1890 erscheint und folgendermaßen lautet: »Ein Bauernhof in sehr fruchtbarer Lage im Waldviertel«, zusammen »45 Joch« auf »9 Feldern verteilt«, ist »nebst Viehbestand und der diesjährigen Ernte um 8200 Gulden, ohne Viehbestand um 7200 Gulden aus freier Hand zu verkaufen. Das Dienstpersonal ist bis Ende 1890 eingedungen und wird vom Verkäufer bezahlt. Anzahlung 4400 Gulden – 3800 Gulden können liegen bleiben, und zwar 2000 Gulden zu 5 Percent und 1800 Gulden zu 4 Percent. Näheres bei Herrn Alois Hitler in Braunau am Inn.«30
Die Familie jongliert offensichtlich mit beachtlichem Kapital, nicht zuletzt in Form von Immobilien – und zusätzlich zum väterlichen Beamtensalär, das mit »Ortszuschlag« für die jeweiligen Dienststellen monatlich rund 100 Gulden beträgt.31 Zum Vergleich: Eine Arbeiterfamilie bringt es Mitte der 1880er-Jahre auf ungefähr 30 Gulden pro Monat.32 Ungeachtet dessen stellt sich die Frage: Woher kommt das Vermögen aus dem Waldviertel? Die Familie weiß zwar, dass der Vater aus der Region stammt. Von seinen dortigen Verwandten ist aber, wie Schwester Paula festhält, so gut wie gar nichts bekannt.33
Alois kam 1837 als lediges Kind der Maria Anna Schicklgruber zur Welt, die 1842 den »vazierenden«, »stellungslosen Müllergesellen« Johann Georg Hiedler heiratet.34 Bei dessen Bruder Johann Nepomuk in Spital unweit von Weitra wächst Alois auf. Die bescheidenen Lebensverhältnisse der 1847 verstorbenen Mutter Maria Anna und die illegitime Geburt sind allerdings keine Ausnahme. Die Rate der unehelich Geborenen ist hoch. In Niederösterreich beträgt sie um 1900 fast 25 Prozent.35 Dennoch bleibt ein Makel, den der mittlerweile beruflich reüssierende Alois und sein Ziehvater Johann Nepomuk 1876 beseitigen. Nun wird er nachträglich als leiblicher und erbberechtigter Sohn von Johann Georg und Maria Anna anerkannt, wobei die Abänderung im Taufbuch aus Alois Schicklgruber nicht »Alois Hiedler«, sondern – durch abweichende Schreibweise – Alois Hitler macht.36
Die Hintergründe der Aktion sind kaum gänzlich aufzuklären. Möchte sich die Waldviertler Familie mit dem »Sohn, der es zu etwas gebracht hat«, brüsten? Sehr wahrscheinlich, dass handfestere Anliegen zumindest im Spiel sind. Zwar ist von Johann Georg und Maria Anna keine nennenswerte Hinterlassenschaft zu erwarten, aber Johann Nepomuk Hiedler ist durchaus nicht mittellos.37 Um sein Erbe könnte es gehen. Wollen jene, die 1876 Namensänderung und Vaterschaft festlegen, einen weiteren Erben ausschließen? Unter den anwesenden Zeugen befindet sich jedenfalls der wichtigste Schwiegersohn von Johann Nepomuk, Josef Romeder.
Ungeachtet dessen erwirtschaftet Alois Hitler in den folgenden Jahren ein gewisses Vermögen. Immobilientransaktionen in den 1880er-Jahren,38 nicht zuletzt der Erwerb eines Hauses mit Landwirtschaft in der Nähe seines früheren Heimatortes Spital,39 sowie die erwähnte Annonce in der »Neuen Warte am Inn« vom 18. Oktober 1890 können hierfür als Beleg gelten.
Und noch eine Überlegung drängt sich auf: Gelangt vielleicht ein Teil vom Erbe des Ziehvaters nicht an Alois, sondern an dessen Frau Klara? Schließlich kommt sie aus derselben Gegend und sogar aus derselben Verwandtschaft. Klara ist eine Enkelin von Johann Nepomuk Hiedler und entstammt der Ehe von dessen ältester Tochter Johanna mit dem Bauern Johann Pölzl. Formal sind die Eltern von Adolf Hitler zumindest Vetter beziehungsweise Cousine zweiten Grades, weshalb ihre Verehelichung nur mit einer kirchlichen Sondergenehmigung möglich ist. Bei den zuständigen Stellen wird daher 1884 um »Dispens« ersucht. Das entsprechende Schreiben enthält dann auch den schon zitierten Satz über die »Braut« ohne »Vermögen« und steht damit im Widerspruch zu Spekulationen über eine mögliche Waldviertler Hinterlassenschaft zugunsten von Klara. In Linz leitet man das Ansuchen nach Rom weiter. Von hier langt schließlich die schriftliche Erlaubnis ein.40
Der damals noch lebende Ziehvater von Alois hat in der Zwischenzeit seine familiären Angelegenheiten weitgehend geregelt. Nicht bloß die Mutter von Klara, sondern auch seine beiden anderen Töchter sind schon früh mit Bauern aus der Region verheiratet: Josefa, die allerdings bald stirbt, mit Leopold Sailer, und Walburga, die ein höheres Alter erreicht, mit Josef Romeder aus dem Nachbardorf Ober-Windhag.41 Der bereits genannte Romeder nimmt mit Blick auf die Ereignisse von 1876 eine Schlüsselstellung ein. Er erhält gemäß Heiratsvereinbarung Hof und Land der Schwiegereltern, denen er im Gegenzug das Wohnrecht zugesteht.42
Das Privatleben von Alois gestaltet sich indes turbulent. Zunächst führt er die weitaus ältere Anna Glassl zum Traualtar. Man kann sich ein Dienstmädchen leisten, von Romantik fehlt hingegen jede Spur. Die kränkelnde Frau muss die Liebschaften ihres Mannes ertragen. Die junge Franziska Matzelsberger wird seine »Gespielin«. Die hintergangene Ehefrau verlangt die Scheidung. 1880 kommt es, wie es heißt, »zur Trennung von Tisch und Bett«.43 Die neue Favoritin will dann zunächst einmal klare Verhältnisse. Eine potenzielle Rivalin muss verschwinden. Denn Klara, damals noch Pölzl, die spätere dritte Frau und Mutter Adolf Hitlers, ist schon 1876 als 16-Jährige aus Spital gekommen, um die kranke Anna Glassl zu pflegen. Nun wird sie von Franziska alias Fanni aus dem Haus gedrängt.44 Sechs Wochen nach dem Tod seiner ersten Frau Anna am 6. April 1883 heiratet Alois Fanni, mit der er in »wilder Ehe« inzwischen einen Sohn, Alois junior, gezeugt hat.45 Kurz darauf kommt dann noch Tochter Angela zur Welt.46 Dem nun legitimierten Familienglück ist allerdings keine lange Dauer beschieden. Fanni leidet bald an Tuberkulose. Klara Pölzl kehrt zurück, nicht nur als Pflegerin und Haushaltspersonal. Alois und Klara beginnen vor der Todgeweihten eine Intimbeziehung und warten nach deren Ableben im August 1884 nicht lange ab.47 Ungeachtet der Trauerzeit – Klara ist schon schwanger – wird die Hochzeit geplant, die allerdings zunächst durch das Warten auf den »kirchlichen Dispens« verzögert wird.48
Die Ehe der Eltern von Adolf Hitler ist dann in mehrerlei Hinsicht von der komplizierten Vorgeschichte mitgeprägt. Klara – ungebildet, aus einfachen Verhältnissen stammend und, wie erwähnt, wenig begütert – ist zunächst als Mädchen für den weitaus älteren Alois – bei der Eheschließung ist sie 24 und er 47 – nicht mehr als eine verwandte Magd. Dieser Hintergrund, und nicht bloß die unangefochtene väterliche Vorrangstellung in der Familie, erklärt, dass sie ihren Gemahl noch lange »Onkel« nennt, wie sie es aus Kindheit und Jugend gewohnt war.49 Zugleich leben im Hitler’schen Haushalt zeitweilig die Halbgeschwister von Adolf, Fannis Kinder Alois und Angela, (später) auch seine Schwester Paula sowie eine Schwester Klaras, die geistesschwache Johanna alias »Hanni-Tante«. Sie arbeitet immer wieder für längere Zeit im Haushalt mit, gilt aber auch als schwierig und übellaunig.50 Klara stehen also durchaus Hilfskräfte zur Seite. Dienstmädchen sind ein Thema in der Familie. An Problemen mangelt es dennoch nicht. Eine »Gehilfin« wird mit der »spinnerten« und »buckligen« Johanna, bei der ein Braunauer Arzt Schizophrenie vermutet, nicht fertig.51 Die Aushilfe geht, die »Hanni-Tante« bleibt. Gemeinsam mit den Romeders und einer weiteren Schwester von Klara, der mit Anton Schmidt aus Spital verheirateten Theresia, hält sie für die Kinder Adolf und Paula wenigstens die Verbindung zur Waldviertler Verwandtschaft mütterlicherseits aufrecht.52
Konfliktfrei geht es im Hause Hitler indes auch weiterhin nicht zu. Der grantige Patriarch macht neben Frau und Kindern auch dem Personal das Leben schwer. Eine Hilfskraft53, die während der Verehelichung von Alois und Klara als Köchin und Magd arbeitet, ist fortwährend den Meckereien des Hausherrn ausgesetzt. Die Hilfe der periodisch auftauchenden »Hanni-Tante« bleibt ein zweischneidiges Schwert.54 Abgesehen davon sorgt sich Klara um ihre Eltern. Sie befinden sich in chronischen wirtschaftlichen Nöten und müssen schließlich bei Schwiegersohn Anton Schmidt als Mieter unterkommen.55
Schwerer aber noch wiegen die alles andere als einfachen Beziehungen zu und unter den Geschwistern beziehungsweise Halbgeschwistern. Zwar fehlt es nicht an Hinweisen, dass sowohl die leiblichen als auch die Stiefkinder eine »tiefempfundene Liebe und Zuneigung für Klara« hegen.56 Dennoch ist in etlichen anderen Schilderungen von Eifersüchteleien die Rede. »Loblieder auf Adolf« sollen unter anderem der Stein des Anstoßes gewesen sein.57
Vor allem der älteste Sohn, Alois junior, fühlt sich herausgefordert, wird renitent und ruft den aufbrausenden Vater auf den Plan. Dessen Schläge zeigen dauerhafte Wirkung. Der Älteste glaubt sich ohnehin seit dem Tod seiner leiblichen Mutter Fanni vernachlässigt. Klara wirft er im Rückblick das Verhalten einer »typischen Stiefmutter« vor: Von Jahr zu Jahr sei es schlimmer geworden. Klara habe ihn aus dem Haus gedrängt. Ohne einen Groschen in der Tasche sei er zu einem brutalen Linzer Gastwirt in die Lehre gekommen. Seinen Vater habe er flehentlich um die Rückkehr ins Elternhaus gebeten. Dieser sei jedoch unter dem Einfluss der Stiefmutter gestanden. Die aber habe ihn nicht wieder aufnehmen wollen und das gesamte verfügbare Geld für den Liebling Adolf gebraucht.58
Die Schilderung ist allerdings mit Vorsicht und Skepsis zu bewerten. Sie stammt noch nicht einmal direkt von Alois junior, sondern von dessen Frau Bridget. In deren Memoiren finden sich zweifelhafte Aussagen.59 Richtig ist, dass es in der Familie von Alois Hitler zu schweren Zerwürfnissen gekommen sein muss, denn weniger die kolportierte Hartherzigkeit Klaras als vielmehr die Aggressivität des despotischen Familienoberhauptes dürfte Alois junior dazu bewogen haben, die Ausbildung abzubrechen und das Elternhaus für immer hinter sich zu lassen. Der Halbbruder Adolfs gerät rasch auf die schiefe Bahn, verübt kleinere Diebstähle, flüchtet außer Landes und hält sich mit Gelegenheitsjobs, als Portier und Kellner in Paris, London und Dublin, über Wasser. Bridget Dowling, die er 1911 ehelicht, bleibt der zwielichtige Vagabund nicht treu. Er verlässt sie ohne Scheidung und macht sich, zurück in Österreich, der Bigamie schuldig, indem er nochmals heiratet.60
»Mein Kampf«, die 1925 erschienene Schrift des angehenden »Führers« – eine selbststilisierende Autobiographie in nicht selten gewöhnungsbedürftigem Stil, gleichzeitig eine Parteigeschichte, ein politisches Programm und eine schaurige Zukunftsperspektive kruder Weltanschauung –, wird mit Recht als Sumpf aus Lüge, Verzerrung, Unterstellung, Halbwahrheit und realen Fakten bezeichnet. Letzteres dürfte freilich zutreffen, wenn Adolf Hitler auf den ersten Seiten über seinen Aufenthalt in Braunau schreibt: »Nur wenig haftet aus dieser Zeit noch in meiner Erinnerung, denn schon nach wenigen Jahren musste der Vater das liebgewonnene Grenzstädtchen wieder verlassen.«61
»Liebgewonnen« wohl eher nicht: Alois Hitler fehlt die Sentimentalität, um zurückzublicken – jetzt ebenso wie einst, als er dem Waldviertel den Rücken kehrte.62 Hinzu kommt die Routine des Staatsdieners und das heißt, wie der Sohn später feststellt: »häufig wandern«.63 Mehrmals wechselt Alois die Dienststelle und damit seinen Lebensmittelpunkt. Nach unter anderem Wien, Wels, Mariahilf bei Schärding und verschiedenen Braunauer Unterkünften kündigt eine Beförderung den neuerlichen Umzug, dieses Mal mit Familie, an.64 Das »Linzer Volksblatt« und die »Tages-Post« berichten davon Ende April 1892 ebenso wie die »Neue Warte«. Hier steht zu lesen: »Der Herr Statthalter als Präsident der oberösterreichischen Finanzdirektion hat […] die Zollamtsoffiziale Alois Hitler und Johann Nützlader zu Zollamts-Oberoffizialen […] ernannt.«65
Der dementsprechende Posten befindet sich in der deutschen Grenzstadt Passau. Von dort aus sollen auch die betreffenden österreichischen Agenden betreut werden. Wien und Berlin haben dafür in den beiden vorhergehenden Jahren neue Tarifregelungen vereinbart. Alois verbringt den Mai 1892 in Wien, möglicherweise um den Transfer zu arrangieren. Jedenfalls leiht er sich eine beträchtliche Geldsumme und benutzt dafür das Waldviertler Gut als Sicherheit, um es dann Ende Oktober zu verkaufen.66
Nach seiner Rückkehr aus der k. k. Haupt- und Residenzstadt Ende der ersten Juniwoche 1892 stehen der Familie mit der Geburt und dem baldigen Tod des Sohnes Otto noch einmal schwere Zeiten bevor.67 Ohne größere Schwierigkeiten verläuft die Übersiedlung nach Passau. Der strenge Vater ist wieder hauptsächlich im Dienst. Schließlich trennt er sich ab 1. April 1894 aufgrund einer neuerlichen beruflichen Versetzung nach Linz – er wird der dortigen Finanzdirektion zugeteilt – überhaupt für gut ein Jahr weitgehend von der Familie.68 Die pubertierenden Kinder Angela und Alois junior werden das Fehlen des mitunter tyrannischen Familienoberhauptes kaum besonders bedauert haben. Die Geburt Edmunds am 24. März 1894 muss die Aufmerksamkeit Klaras notwendigerweise auf den jüngsten Spross der Familie lenken.69
Adolf steht nicht mehr so sehr im Zentrum der häuslichen Obsorge. Er hat mehr Freiräume und geht in jenen Wochen und Monaten ganz im Spiel mit den gleichaltrigen Buben auf. Vielleicht wird die reichsdeutsche Franzosenfeindlichkeit dabei schon in kindlichnaiver Weise reflektiert. Seine Sprache scheint im Übrigen dauerhaft vom Passauer Milieu beeinflusst: Viele glauben jedenfalls auch später – vielleicht weil Hitler selbst darauf Bezug nimmt –, einen niederbayrischen Einschlag in seiner Hochsprache erkennen zu können.70 Möglicherweise entwickelt er in dieser Zeit ein energischeres Auftreten, zumal ihm kaum Grenzen aufgezeigt werden.71
Wie auch immer diese Einschätzungen beurteilt werden mögen, Fakt ist: Die Lage ändert sich grundlegend mit der Rückkehr des Vaters. Die Familie ist im Frühjahr 1895 wieder vereint. Alois Hitler erwirbt das »Rauscher-Gut«, auch »Schrottau-Gut« genannt, am 4. Februar.72 Am 3. März ist es Ehefrau Klara, die in der »Tages-Post« folgendes Inserat platzieren lässt: »Ordentliche Dienstmagd wird am Rauschergute zu Hafeld bei Lambach aufgenommen. Jahreslohn 84 Gulden.« Die Anzeige erscheint noch zweimal, in den Ausgaben der »Tages-Post« vom 10. und vom 12. März.73 Wenige Wochen danach, am 25. Juni, tritt Alois Hitler 58-jährig seine Pension an.74 Durch das vorherige »berufliche Vorrücken« ist die nunmehrige Einkommenseinbuße, namentlich das Entfallen des »Ortszuschlags«, zu verschmerzen. Gemessen an der niedrigen Schulbildung der Eltern bleiben die monatlich verfügbaren Summen hoch. Der Pensionsbezug beläuft sich auf 1100 Gulden beziehungsweise – gemäß neuer Währung seit 1892 – auf 2200 Kronen.75
Klara ist im Übrigen wieder schwanger. Am 21. Jänner 1896 wird Tochter Paula geboren.76 Unter diesen Bedingungen beginnt der Neorentner Alois sein Leben als Hobbylandwirt. Ein bukolisches Dasein will sich jedoch nicht einstellen. Alois’ Präsenz verschärft die latente Krise. Sein Ältester beschließt in diesen Tagen, sich endgültig davonzumachen. Nach heftigem Streit enterbt ihn der Vater.77 Der wiederum wird mit dem neuen Anwesen nicht glücklich. Die 38 000 Quadratmeter, Äcker und Wiesen, überfordern ihn. Die Liegenschaft frisst die finanziellen Guthaben auf.78
Einzig Adolfs Einschulung im Mai 1895 verläuft glatt.79 An der Hand von Halbschwester Angela betritt er die kleine, einklassige Landvolksschule in Fischlham, eine halbe Stunde vom elterlichen »Rauschergut« entfernt. Lehrer Karl Mittermair sieht den gut gekleideten, adretten Abc-Schützen. Er hält ihn, wenigstens in der Retrospektive, sprachlich und kulturell – verglichen mit den Bauern- und Handwerkerkindern – für »etwas Besseres«.80 Auch die zwölfjährige Angela ist zudem »ordentlich«, so seine Erinnerung. Obendrein charakterisiert er Adolf als aufgeweckten und folgsamen Jungen. Dem fällt das Lernen offensichtlich leicht. Der »Musterschüler« in »Mein Kampf« prahlerisch: »Ich hörte dort, als ich in der untersten Klasse war, schon immer bei den Schülern der zweiten Klasse mit, und später bei der dritten und vierten.«81 Und weiter: »Das lächerlich leichte Lernen in der Schule gab mir so viel freie Zeit, daß mich mehr die Sonne als das Zimmer sah.«82 Adolf ist, wie er selbst schreibt, hauptsächlich mit dem »Herumtollen im Freien« beschäftigt. Alles andere als ein »Stubenhocker«, wie es in »Mein Kampf« auch heißt, stellt er gerne Streiche mit den Nachbarskindern an und narrt dabei die örtlichen Bauern gelegentlich über Gebühr.83
Auch Lehrer Mittermair spricht von einem »recht lebhaften« Jungen.84 Dieser bestätigt den Eindruck im Rückblick und meint gar, besonders die Mutter habe »mit bitterer Sorge« seinen Umgang mit »äußerst ›robusten‹ Jungen« beobachtet.85 Treibt er es zu bunt, kommt das harsche Hausregiment des Vaters zum Einsatz, der nach dem Weggang von Alois junior nun stärker den Zweitältesten im Visier hat. Die Ermahnung, sich an der häuslichen Arbeit zu beteiligen, führt zu Konflikten und bisweilen zu körperlichen Züchtigungen.86
Der Hausherr ist auch aus anderen Gründen alles andere als gelassen. Das »Rauschergut« wird zu einer immer größeren Belastung. Die Familie und speziell ihr Oberhaupt resignieren. »Das Rauschergut zu Hafeld bei Lambach mit sechs Herrschaftszimmern etc. außer den Ökonomieräumen, über 26 Joch arrond. Grund, ist um 8200 Gulden bei 3000 Gulden Anzahlung verkäuflich. Bei größerer Anzahlung entsprechend billiger. Auskunft beim Eigenthümer Herr A. Hitler«, lauten mehrere Inserate der »Tages-Post« vom September und Oktober 1896.87
Die Transaktion zieht sich hin, während Alois beim neuerlichen Ortswechsel möglicherweise zusätzlich die Erziehung seiner Kinder im Auge behält und anderswo bessere Schulen sucht. Eine gewisse Übereinstimmung zwischen Vater und Sohn deutet sich an.88 Letzterer hält sich für unterfordert, wenn den diesbezüglichen Zeilen in »Mein Kampf« Glauben geschenkt werden darf. Abschließend heißt es dort jedenfalls: »Gott sei Dank, dass ich dann wegkam.«89
1897 ist es so weit. Im Frühjahr wird ein geeigneter Käufer gefunden, auch wenn das Geschäft mit leichten Verlusten für die Hitlers endet. Das »Rauschergut« ist nun laut Grundbuch und Vertrag vom Juni 1897 das Eigentum des Dr. Conrad Ritter von Zdekaner, der sich vor Ort allerdings auch nicht lange halten kann.90 In diesem Sinn wendet sich Alois Hitler Ende 1901 brieflich an einen ehemaligen Hafelder Nachbarn und hält dabei fest: »Ich habe erfahren, daß Frau von Zdekaner das Rauschergut wieder zu verkaufen gedenkt, […] wieder an eine Wiener Herrschaft. Für solche Leute ist es auf einige Jahre […] eine Abwechslung und sie werden wieder um eine Erfahrung reicher, nämlich um die Erfahrung, daß alles gelernt sein muß. Übrigens wird sie es im Winter nicht so bald an den Mann bringen können.«91 Die Zeilen reflektieren mit einer gewissen Schadenfreude eigene Erlebnisse beim Verkauf des Gutes ebenso wie Alois’ Scheitern als Landwirt, jene Beschwerlichkeiten, die nicht bloß unwissende »Leute« aus der (Wiener) Großstadt bedrücken und letztlich zur Aufgabe des bäuerlichen Lebens zwingen.
Vom verkauften »Rauschergut« geht es für die Hitlers Anfang Juli nach Lambach. Nach einer kurzen Zeit im dortigen Gasthof Leingartner wird eine geräumigere Mietwohnung in der sogenannten »Schmiedmühle« bezogen. Was bleibt, ist der Traum vom eigenen Heim.92
Die Übersiedlung bedeutet für Adolf die Einreihung in die zweite Jahrgangsklasse der besser organisierten Lambacher Volksschule. Die dortigen Pädagogen misstrauen den in Fischlham erworbenen Kenntnissen und lassen den neuen Zögling lieber einen größeren Teil des Lernstoffs wiederholen. Das Resultat: Dem Jungen fliegen die guten Noten noch leichter zu. Er ist Klassenprimus und muss sich dafür kaum anstrengen.93
Die schrittweise Vergrößerung des kindlichen Gesichtsfeldes setzt sich fort. Was mit dem Spiel unter Nachbarskindern seit der Passauer Zeit und der Einschulung in Fischlham begonnen hat, bekommt in Lambach erstmals deutlich weltanschaulicheren Charakter. Klassenlehrer Franz Rechberger, ein »gründlich gebildeter Musiker«94, erkennt das Gesangstalent des Jungen und empfiehlt ihn dem Sängerknabenchor der alten, den Ort prägenden Benediktinerabtei.95 Der Vater, eigentlich antiklerikal, aber ein »Freund des Gesanges«96, sieht es wohl auch mit Blick auf eine sinnvolle Freizeitgestaltung des Jungen nicht ungern.
Das »Sängerknabeninstitut« leitet Prior Pater Bernhard Grüner, ein »gestrenger Mann«, der der »Rohrstabpädagogik« nicht abgeneigt und solcherart in gewisser Weise dem Oberhaupt der eigenen Familie nicht unähnlich ist.97 Adolf beteiligt sich an den Chorproben und wird mit Festivitäten vertraut, die auf größere Zusammenhänge verweisen: Nicht nur die himmlische, auch die irdische Ordnung nimmt deutlichere Konturen an. Zum 50. Regierungsjubiläum von Kaiser Franz Joseph sind besondere Feierlichkeiten geplant. Am Sonntag, dem 4. September 1898, werden um 4 Uhr nachmittags zu Ehren des Monarchen mehrere Gesangstücke im Marmorsaal des »altehrwürdigen Benedictinerstiftes« dargeboten. Es singen die »Institutszöglinge des Stiftes unter der Leitung ihres Lehrers P. Bernhard Grüner, die Mädchengesangsschule des Herrn Lehrers Rechberger und der Männergesangsverein des Arbeitervereins ›Frohsinn‹.« Die Knaben von Pater Bernhard »im Alter von 9 bis 13 Jahren« werden in einer Zeitungskritik für ihr »treffliches Liederspiel ›Habsburgs Krone‹« gewürdigt. Auch das Ende der Veranstaltung gehört dem Chor Grüners. Das Publikum stimmt mit ein, als die Kaiserhymne erklingt.98 Die »patriotische« Veranstaltung zugunsten der »Lambacher Suppenanstalt für arme Kinder«99 entspricht auch der Haltung des kaisertreuen Alois Hitler.
Eine Woche danach trägt die späthabsburgische Welt Trauerflor. Auch Lambach, dessen öffentliche Gebäude laut Pressebericht »schwarz beflaggt« sind, »während fast alle Privatgebäude ebenfalls Trauergala angelegt« haben.100 Kaiserin Elisabeth ist in Genf ermordet worden. Der Sonderzug mit ihrer Leiche passiert wenig später auch die oberösterreichischen Bahnstationen, an denen sich die Bevölkerung, angeführt von den Honoratioren, drängt. Aus Lambach heißt es dazu am 15. September: »Fahrplanmäßig fuhr in langsamem Tempo der Train […] durch die Station Lambach, woselbst die Gemeindevertretungen« der Region, die »Schuljugend«, die »Beamten der Bahnerhaltung und -Station, der hiesige Militär-Veteranenverein«, die »Herren der hiesigen Benedictiner-Abtei«, der »Sparcassenvertretung«, die »Beamten des Bezirksgerichtes, Steueramtes, die Finanzwache und Gendarmerie« sowie die in der Gegend »weilenden Offiziere«, der »Arbeiterverein ›Frohsinn‹«, die lokalen Feuerwehren und eine »sehr große Menge Volkes angesammelt waren«.101 Die Szenen wiederholen sich in vielen Ortschaften. In den größeren Städten, wie etwa in Wels, hält der Zug und Hofbeamte entsteigen für wenige Augenblicke den Waggons, um Beileidsbezeugungen und Gesten der vaterländischen Gesinnung entgegenzunehmen.102
Es darf angenommen werden, dass Mitglieder der Familie Hitler bei diesem Ereignis zugegen sind, nicht zuletzt Adolf als Schüler.103 Beim vorherigen, vom Abt zelebrierten »Pontifikalrequiem mit feierlichem Libera«104 hat er möglicherweise als Sängerknabe mitgewirkt, oder – noch mehr nach dem Geschmack seiner Mutter, der Kirchgängerin Klara –, als Ministrant, wie gelegentlich – wenn auch ohne Beleg – kolportiert wird.105 Damals, erinnert Adolf sich in den 1920er-Jahren, »hatte ich beste Gelegenheit, mich oft und oft am feierlichen Prunke der äußerst glanzvollen kirchlichen Feste zu berauschen«. Nun »erschien mir der Herr Abt als höchst erstrebenswertes Ideal«.106 Er habe, ergänzt er bei anderer Gelegenheit später, »den glühenden Wunsch« verspürt, Geistlicher zu werden. Eine Küchenschürze dient ihm angeblich als »liturgisches Gewand«. In dieser Verkleidung sei er auf einen Stuhl gestiegen und habe »feurige Predigten« gehalten.107
»Ich glaube«, steht in »Mein Kampf« zu lesen, dass sich »schon damals mein rednerisches Talent« entwickelte – und gleichfalls sein vielleicht schon in Passau, wahrscheinlicher aber in Fischlham erkennbarer Anspruch, über seinen Spielgefährten zu stehen. »Etwas Besseres« zu sein oder zu werden, das bedeutet nun, mindestens einmal einer monastischen Gemeinschaft vorzustehen.108 Immerhin ist er überzeugt, dafür prädestiniert gewesen zu sein. Unter den Gleichaltrigen und nicht zuletzt unter den Mitschülern sei er bereits ein »kleiner Rädelsführer geworden«.109
Das zunehmend herrische Auftreten des nach eigener Beschreibung »streitsüchtigen« Sohnes scheint zugleich den »verbohrten, zähen« Vater zu imitieren. Adolf Hitler sagt in den 1920er-Jahren von sich selbst, er sei schon damals »ziemlich schwierig zu behandeln« gewesen.110
Die Fronten zwischen Eltern und Sohn verhärten sich. Der Vater kann mit harten Strafen immer weniger ausrichten. Die Mutter kapituliert vor dem »Lausbuben, der nie heimkommt« und trotz Chor und Kirche genug Zeit findet, mit seiner »Straßenbande« Streiche auszuhecken. Adolf soll sich und andere Kinder in den Gewässern des Ortes bei gefährlichen Aktionen in Lebensgefahr gebracht haben. Unter anderen Hans Wieser, Besitzer der »Schmiedmühle«, rettet angeblich den ertrinkenden Hitler-Sohn, der am nahe gelegenen Schwaigbach mit einem »Sautrog« umkippt. Ausgerechnet bei Hochwasser setzt der »junge Wilde«, so eine andere Erzählung, ein paar kleine Spielkameraden in ein ähnliches »Gefährt«. Er stößt es mit den Füßen vom Ufer ab, und nur der Gemeindepolizist kann die Kinder vor dem sicheren Tod retten.111
Wie immer es mit dem Wahrheitsgehalt dieser Erzählungen aussehen mag, die lokale Presse berichtet immerhin von vergleichbaren Geschehnissen in jener Zeit. Aus Lambach wird etwa am 17. September 1897 Folgendes berichtet: »Heute vormittags nach 9 Uhr ist im hiesigen, gegenwärtig hochangeschwollenen Mühlbache nächst der Schmiedmühle unter dem Eisenbahnviaducte der 9-jährige Georg Kasberger, Ziehkind der Juliane Müller, Krämerin in Lambach Nr. 87, ertrunken.«112
Eine nicht bloß waghalsige und fahrlässige, sondern zerstörungsfreudige Neigung unterstellen ehemalige Ortsbewohner dem jungen Adolf Hitler wiederum in Bezug auf einige technische Neuerungen, nämlich die gerade installierte elektrische Straßenbeleuchtung sowie die Telefonleitung von Wien nach Salzburg, die 1896 im Gebiet des Marktes Lambach errichtet wird. Dafür verwendete Freileitungsdrähte sind an Masten mit weißen Isolatoren aus Porzellan befestigt, die sich als begehrte Zielobjekte übermütiger Jugendlicher herausstellen. Adolf soll eine große Zahl der zerbrechlichen Vorrichtungen mit gezielten Steinwürfen zersplittert haben und deshalb von den lokalen Ordnungshütern sogar festgenommen worden sein.113
Die Geschichte, ob richtig oder nicht, passt zur Zeitungsberichterstattung der 1890er-Jahre. Ebenfalls in Oberösterreich, in der Gemeinde Gunskirchen, wird etwa Ende 1898 ein 19-jähriger Knecht verhaftet, der selbst 13 Isolatoren zerschlagen hat. Außerdem habe er, so die Kurznachricht, Schüler dazu aufgefordert, es ihm gleichzutun.114 Schon mehr als ein Jahr vorher, Anfang August 1897, kommt es in diesem Zusammenhang zu Gerichtsprozessen. Zwei Bauernsöhne im Alter von 20 Jahren sind angeklagt, »in der Zeit vom Herbst 1896 und dann im Frühjahr 1897 nach Isolatoren« der »neu errichteten Staatstelephonleitung Linz – Prag« mit »Schottersteinen geworfen und einige derselben zerschlagen zu haben«. Ein Urteil bleibt vorläufig aus, weitere Erhebungen folgen. Zwei zwölfjährige Schuljungen werden hingegen ungefähr zu dieser Zeit für das gleiche Delikt von Bezirksgerichten »mit 24stündiger Haft« bestraft.115
Unter solchen Umständen wiegt der Vorwurf gegen den unbotmäßigen Sachbeschädiger Adolf also durchaus schwer, geht er doch mit gesellschaftlicher Stigmatisierung und Kriminalisierung einher: speziell in einer auf »Recht und Ordnung« pochenden Beamtenfamilie, deren polternder »Hausvorstand« sich nachweislich gegen den »temperamentvollen« Sohn immer schwerer durchzusetzen vermag.
Alois Hitler, in der Pension so unstet wie während seiner Dienstzeit, ist indes wieder auf der Suche nach einer neuen Unterkunft. Mit Kaufvertrag vom 14. November 1898 erwirbt er in Leonding, einer damals 3000 Einwohner zählenden Landgemeinde unweit von Linz, ein »kleines, niedriges Gartenhaus« mit dazugehörigem Grund. Anders als Hafeld wird das neue Anwesen keine landwirtschaftliche Herausforderung darstellen: Die dazugehörige Wiesenparzelle mit einigen Apfel- und Birnbäumen ist 1900 Quadratmeter groß.116
Für Adolf ist die Lambacher Volksschulzeit damit aber nicht vorbei. Er besucht dort die dritte Klasse bis zum 23. Februar 1899.117 Dann setzt er die bis dato erfolgreiche Schulkarriere in der vierten und letzten Klasse der Leondinger Volksschule118 fort, die nur fünf Minuten vom neuen Zuhause entfernt ist. Gelobt wird er von den neuen Lehrern speziell für seine geographischen und geschichtlichen Kenntnisse. Auffallend ist, dass selbst die Sittennote keine Ausnahme bildet. Auch hier gibt es ein »Sehr gut«.119
Tatsächlich redet man jedoch in Leonding gleichfalls von derben Streichen des schulischen »Überfliegers«.120 Die »Unartigkeiten« und die Unverlässlichkeit rufen beim Vater gewohnte Reflexe hervor. Der Sohn scheint daraufhin noch mehr durch Abwesenheit zu glänzen. Für die Eltern kommt er meist viel zu spät von den Freizeitvergnügungen mit den anderen Jungen zurück. Unter ihresgleichen fühlt er sich in seinem Element und fungiert wie gewohnt als Leitfigur. Das Foto der vierten Volksschulklasse drückt sein beachtliches Selbstwertgefühl aus. Die Hierarchie sozusagen abbildend, steht er in der Mitte der obersten Reihe, und mehr noch als die anderen Buben mit ihren ernsten Gesichtern und in ihren mehr oder minder herrischen Posen ist es der junge Adolf, der durch Gestus und vor allem Mimik den Eindruck anmaßender, beinahe majestätischer Überheblichkeit hinterlässt.121 (Abb. 3)
Einige Mitschüler, wie Peter Wiesmayr, der spätere Abt Balduin von Wilhering122, dürften den Attitüden des selbsternannten Anführers wenig Sympathie entgegengebracht haben. »Kriegspielen, immer nur kriegspielen, uns Buben wurde schon langweilig, aber er fand immer wieder einige, insbesondere jüngere, die mittaten.«123 Der »junge Wildfang«, der am »Friedhof neben dem Elternhaus mit dem Flobertgewehr auf Ratten schießt«124, ist – wie er selbst sagt – »kein Pazifist« und setzt seinen Willen offensichtlich mit einer besonders rauflustigen Gefolgschaft durch, die er auch in »Mein Kampf« erwähnt und die speziell Mutter Klara ablehnt.125
Bei den meist an den Ausläufern des Kürnberger Waldes stattfindenden »Manövern« der Jugendlichen, einmal soll ein außer Kontrolle geratenes Lagerfeuer sogar die Feuerwehr auf den Plan gerufen haben126, erweisen sich zunehmend die Nachrichten aus der Erwachsenenwelt als relevant. Hitlers Regie ist zumindest oberflächlich von Lektüre beeinflusst. Selbst will er damals schon auf Tageszeitungen »gelauert« und die darin abgedruckten Depeschen und Berichte »verschlungen« haben.127
Die Aufmerksamkeit gilt außereuropäischen Konflikten. Das »Linzer Volksblatt« vom 12. Oktober 1899 liefert Impressionen von »Südafrika vor dem Kriege«. Großbritannien stelle ein »neu zu bildendes Armeecorps« auf, um die südafrikanischen Burenstaaten zu annektieren und unter seine Verwaltungshoheit zu bringen.128 Die Buren reagieren schließlich mit einer Kriegserklärung. Ihre Gegenwehr wird als Kampf Davids gegen den englischen Goliath angesehen, die nicht wenigen Beobachtern Respekt abverlangt. Die »Tages-Post« verhöhnt im Juni 1900 in ihren keineswegs unparteiischen Artikeln Londons Zögerlichkeit, mittels »Kriegstelegraph« über anfängliche burische Erfolge aufrichtig zu berichten.129
Im Sog der öffentlichen oder veröffentlichten Meinung weisen die Geländespiele des jungen Hitler nicht zufällig antibritische und »proburische« Tendenzen auf: Es ist schwerer, Freiwillige unter den Spielgefährten zu finden, die den Part der Engländer übernehmen.130 Unter anderem die Presseberichte lösen beachtliche Emotionen aus. Für die Buren wird Geld gesammelt, finden Unterschriftenaktionen statt. Ihnen zu Ehren werden Märsche oder Lieder komponiert und Kleidungsstücke entworfen. Die Burenwürste kommen in Mode.131
Eine von der »Tages-Post« Anfang Februar 1900 ausführlicher beschriebene Kundgebung in Wien betont die »Blutsverwandtschaft« der Mehrheitsbevölkerung in der k. k. Residenzstadt und den angrenzenden Kronländern der Donaumonarchie mit dem »um seine Freiheit und sein Volksthum ringenden niederdeutschen Stamme«. Der holländische Gesandte ist anwesend. Vom »Schubert-Bund« wird mit »Orchesterbegleitung das niederländische Dankgebet zum Vortrag gebracht«. Zum Schluss trägt er das »Freiheitslied von Transvaal« vor, »das von den Anwesenden stehend angehört« und mit »stürmischem Beifall« bedacht wird.132