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Das Leben und Wirken von Freud, Adler und Frankl, der Begründer weltbekannter psychotherapeutischer Schulen, im Spiegel der Zeit. Sigmund Freud, Alfred Adler, Viktor Frankl – herausragende Größen des Wiener Geisteslebens, die innerhalb kurzer Zeit die Wissenschaft der Seelenforschung revolutioniert haben. Sie wurden zu den Gründungsvätern bis heute maßgeblicher Theorien und Behandlungsmethoden:der Psychoanalyse, der Individualpsychologie und der Logotherapie. Aus welchen sozialen Milieus stammten sie, welches familiäre Umfeld hat sie geprägt und wie sahen ihre beruflichen Netzwerke aus? Die Autor*innen erzählen auf spannende Weise eine hundertfünfzigjährige Kultur- und Wissenschaftsgeschichte und beleuchten dabei auch die komplizierten Beziehungen zwischen diesen drei Persönlichkeiten.
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Seitenzahl: 351
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Freud – Adler – Frankl
Hannes Leidinger
Christian Rapp
Birgit Mosser-Schuöcker
Die Wiener Welt der Seelenforschung
Mit einem Beitrag von Verena Moritz
Residenz Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
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Salzburg – Wien
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Umschlagbild: missbaguette / Photocase
Grafische Gestaltung / Satz: Lanz, Wien
Lektorat: Marie-Therese Pitner
ISBN ePub:
978 3 7017 4687 3
ISBN Printausgabe:
978 3 7017 3566 2
Vorwort
»Der Urvater«
Verena Moritz
Sigmund Freud – In den Tiefen der Psyche
Hannes Leidinger
Alfred Adler – Individuum und Gesellschaft
Christian Rapp
Viktor Frankl – Auf der Suche nach dem Sinn
Birgit Mosser-Schuöcker
Freud, Adler, Frankl: Eine gemeinsame Sitzung
Namensregister
Endnoten
Sigmund Freud, Alfred Adler, Viktor Frankl: Arbeiten über die drei Größen des Wiener Geisteslebens füllen Bibliotheken. Dennoch wurden ihr Werk und ihr Leben selten in einem Band geschildert. Das vorliegende Buch stellt sich dieser Aufgabe, bietet jedoch mehr als eine Biografien-Sammlung oder Zusammenfassung dreier Denkrichtungen.
Wichtig ist die Suche nach den sozialen Milieus und den beruflichen Netzwerken, in denen die richtungweisenden Schulen der Psychotherapie entstehen und schließlich international wirken konnten. Freud, Adler und Frankl verkörpern eine 150-jährige Entwicklung der Psychologie und Psychotherapie. Sie führen zugleich durch wesentliche Etappen der österreichischen Geschichte. Die intellektuelle Blüte des Wiener »Fin de Siècle« und nicht zuletzt der jüdische Anteil daran, aber auch die Schatten des nachfolgenden Katastrophenzeitalters werden sichtbar. Das vorliegende Buch betont die Auseinandersetzung der drei Seelenforscher mit den politischen Umständen ihrer Zeit.
In Erfolgen und Misserfolgen der Hauptfiguren spiegeln sich darüber hinaus die schwierigen Beziehungen zwischen den Begründern der Psychoanalyse, der Individualpsychologie und der Logotherapie wider. Die Konflikte kreisen um zentrale Fragen der Moderne: Inwiefern kann nach dem Blick in die Abgründe individueller Seelenlandschaften noch vom freien Willen eines vernunftbegabten Wesens die Rede sein? Inwieweit sind unter diesen Umständen die Fundamente der Aufklärung noch tragfähig?
Vor dem Hintergrund der politischen Radikalisierung in Europa, des wachsenden Antisemitismus und der Schrecken zweier Weltkriege suchen Freud, Adler und Frankl nach Ursachen, Spielräumen und Verantwortlichkeiten menschlichen Handelns, nach Erfahrungshorizonten und Verarbeitungsformen des Erlebten.
Von den Naturwissenschaften und insbesondere der Medizin ausgehend, überschreiten sie Grenzen innerhalb der Humanwissenschaften und entfalten ein fächerübergreifendes Denken, das in der Literatur, Kunst und den Sozialwissenschaften, aber auch in der Philosophie und Theologie seine Wirkung zeigt. Letztlich wenden sich Freud, Adler und Frankl auf unterschiedliche Weise einer neuen Anthropologie und neuen Weltdeutungen zu. Die vorliegende Publikation versucht der Vielfalt ihres Denkens dadurch gerecht zu werden, dass sie sowohl gemeinsame als auch kontroverse Positionen der drei Persönlichkeiten immer wieder zueinander in Beziehung setzt.
»Im Alter von 82 Jahren verließ ich als Folge der deutschen Invasion mein Heim in Wien und kam nach England, wo ich mein Leben in Freiheit zu enden hoffe.«1
In einem Radio-Interview für die BBC, das im Dezember 1938 aufgenommen wird, erläutert Sigmund Freud die Beweggründe für seine Flucht. Vor ihm haben bereits einige Familienmitglieder der Heimat den Rücken gekehrt. Die Wochen, bevor er Wien verlässt, sind geprägt von Ängsten und Unsicherheit. Seine Angehörigen bekommen den NS-Terror sofort zu spüren. Ein SA-Trupp will Wertgegenstände aus der Wohnung in der Berggasse, wo sich seit Jahrzehnten auch die Praxis des weit über die Grenzen Österreichs bekannten Arztes befindet, konfiszieren. Aber es kommt noch schlimmer. Freud soll verhört werden. Schließlich muss sich an seiner Stelle Tochter Anna stundenlangen Befragungen durch die Gestapo unterziehen. Währenddessen werden Jüdinnen und Juden auf Wiens Straßen öffentlich gedemütigt, vollziehen sich »wilde Arisierungen«, plündert der Mob Geschäfte, werden Autos willkürlich requiriert. Die Lage wird nun auch für die Familie Freud zusehends bedrohlich. Sogar Selbstmord als Ausweg aus einer mehr und mehr hoffnungslos erscheinenden Situation wird diskutiert. All die Jahre zuvor hatte sich Sigmund Freud gegen einen endgültigen Abschied aus Österreich ausgesprochen – obwohl er schon 1933 »Österreichs Weg zum National-Sozialismus« als »unaufhaltbar« bezeichnet hatte. »Alle Schicksale«, schrieb er damals an den nach Palästina emigrierten Arnold Zweig, »haben sich mit dem Gesindel verschworen.«2
Nicht nur die Freuds stehen in jenen Märztagen im Jahr 1938 vor schicksalsschweren Entscheidungen. In Wien nehmen sich angesichts der Ereignisse viele Jüdinnen und Juden das Leben, darunter ganze Familien. Etliche Kulturschaffende, Intellektuelle und Wissenschaftler geben dem Tod gegenüber einer Flucht ins Ungewisse, einer Verhaftung oder aber den unabsehbaren Konsequenzen von Verfolgung und Drangsalierung den Vorzug. Am 16. März entzieht sich etwa der Journalist, Kulturhistoriker und Schriftsteller Egon Friedell dem Zugriff durch die SA, indem er aus dem Fenster springt.3 Freud wählt das Leben. Den Suizid lehnt er ab. Diesen Gefallen will er den Schergen des NS-Regimes nicht tun.4 Mithilfe von Freunden und Kollegen gelingt schließlich die Ausreise.
Der Begründer der Psychoanalyse, der im Juni 1938, wenige Wochen nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich, emigriert, stirbt im darauffolgenden Jahr an den Folgen eines bereits lange währenden Krebsleidens. Nach seinem Tod bekommen enge Familienmitglieder, die der verbrecherischen NS-Herrschaft ausgeliefert sind, die Willkür und Grausamkeit des neuen Regimes am eigenen Leib zu spüren. Der Holocaust verschlingt auch Mitglieder der Familie Freud. Vier Schwestern Sigmund Freuds sind in Wien zurückgeblieben. Das rettende Exil bleibt ihnen versagt. Sie sind nur wenige Jahre jünger als der Bruder, hochbetagt. Alle vier werden Opfer nationalsozialistischer Verbrechen: getötet mit Gift, ermordet im Konzentrationslager, gestorben als Folge von Unterernährung.5
Sigmund Freud ist bereits weltberühmt, als er Österreich für immer verlässt. Der Ächtung durch die Nationalsozialisten, die seine Schriften verbrennen, steht die größtmögliche Popularität in weiten Teilen der Welt gegenüber. Freud ist in aller Munde. Der »Seelendoktor« hat mit seinen Theorien das Bild vom Menschen revolutioniert und für scheinbar Unergründliches der menschlichen Psyche aufsehenerregende Erklärungen angeboten. Seine Lehre ist nicht abstrakte Theorie geblieben, sondern beeinflusst die Wirklichkeit der Menschen. Eine mitunter problematische Popularisierung der Psychoanalyse, die Vereinfachungen, Missdeutungen und Fehlurteile zur Folge hat, beobachtet Freud zwar mit Sorge, dennoch bleibt er gegenüber Neuem aufgeschlossen, negiert die öffentlichkeitswirksame Vermittlung oder Anwendung seiner Lehren nicht pauschal. Manches weist er indessen als oberflächlich und zeitgeistig zurück. Anderes erscheint als regelrecht gefährlich. Der Überführung seiner Sexualtheorien in ideologische Bahnen, etwa in Zusammenhang mit dem Marxismus, begegnet er mit Ablehnung.6
Berühmt werden wollte Freud bereits in jungen Jahren und der Versuchung, an seinem eigenen Denkmal zu bauen, hat er nicht widerstanden. Dazu gehörte es auch, Materialien, die sein Leben und Werk betrafen, auszusortieren, ja zu vernichten. Seinen Biografen wollte er es nicht zu leicht machen. Und er vermerkte mit unverhohlener Schadenfreude, wie sehr sich wohl viele von ihnen bei dem Versuch, den Menschen Freud zu re- oder zu dekonstruieren, irren würden. Gleichzeitig räumte er ein, mit Blick auf seine »autobiographischen Mitteilungen« in einigen seiner veröffentlichten Schriften »offenherziger und aufrichtiger gewesen« zu sein, als dies geheimhin üblich sei. »Man hat mir«, setzte er bitter hinzu, »wenig Dank dafür gewußt; ich kann nach meinen Erfahrungen niemand[em] raten, es mir gleichzutun.«7
Nach all den Jahrzehnten, die seit dem Tod des berühmten Österreichers vergangen sind, füllen die Veröffentlichungen über ihn und seine Forschungen ganze Bibliotheken, ist die Freud-Literatur nahezu unüberschaubar. Verschiedene Unterlagen hat er, wie erwähnt, im Laufe seines Lebens absichtlich beseitigt, andere sind als Folge der Flucht 1938 der Vernichtung anheimgefallen und so seinen Biografen vorenthalten geblieben. Ungeachtet dessen haben sich zusätzlich zu Freuds umfangreichem Werk vor allem unzählige erhalten gebliebene Briefe als ergiebige Quelle erwiesen, um den »Vater« der Psychoanalyse gleichsam retrospektiv auf die Couch zu legen.8 Sie betreffen Korrespondenzen mit Familienangehörigen und Wegbegleitern, die heute zu einem Großteil publiziert sind. Allein die sogenannten »Brautbriefe« – der Schriftwechsel mit der zukünftigen Ehefrau Martha Bernays – umfassen mehrere Bände. In all den Niederschriften, die an die Öffentlichkeit gelangt sind, offenbaren sich viele »Freuds« in unterschiedlichen Lebensphasen, ergeben sich biografische Puzzleteile, die sich mal geradezu perfekt, mal eher schlecht oder gar nicht in bestimmte Vorstellungen von Freuds Werdegang, in Sichtweisen über seine Persönlichkeit oder aber in seine eigenen »Ansichten der Psyche« einfügen lassen. Darüber hinaus befördert die Lektüre der Briefe – zusätzlich zu anderen diesbezüglich relevanten Texten – auch die Versuchung, eine Art Familienaufstellung zu betreiben, die etwa die bei Freud so zentrale Rolle der Eltern-Kind-Beziehung betrifft. Von Interesse ist unter anderem das Verhältnis zur Schwägerin Minna. Immerhin wird Freud eine mögliche sexuelle Beziehung mit der Schwester seiner Frau unterstellt. Unabhängig von solchen Spekulationen, die zu einem gewissen Teil durch die erwähnten Briefschaften genährt werden, ermöglichen die vorhandenen Korrespondenzen tiefe Einblicke in die Lebenswelt des Fin de Siècle und machen anschaulich, wie sehr damalige Konventionen und zeitspezifische Umstände den Wurzelgrund der Freud’schen Psychoanalyse aufbereiteten.
Freuds Lehre gilt »heute in einigen Punkten« als »historisch überholt oder zumindest von der Geschichte konditioniert«.9Dieser Befund schmälert die Erfolgsgeschichte der Psychoanalyse ebenso wenig wie er das Faktum ihrer Durchdringung einer Vielzahl nicht-medizinischer Wissensbereiche aufheben kann. Die »psychoanalytische Gesamtunternehmung« hat etwa Pädagogik und Rechtsprechung, Geschichtswissenschaften, Literatur und Kunst, Soziologie und Anthropologie nachhaltig beeinflusst. Die Bedeutung Freuds als Arzt der Moderne geht demgemäß weit über die Errungenschaften des Therapeuten und Analytikers hinaus.
Obwohl zahlreiche Autoren und Wissenschaftler mit anerkennenswerter und größtmöglicher Akribie der Lebensgeschichte Sigmund Freuds nachgespürt haben und dabei selbst »Notizen und Schmierzettel« des »Genies« berücksichtigt wurden, bleiben dennoch viele Fragezeichen. Es eröffnen sich unterschiedliche Interpretationen, will man dem Menschen hinter dem Werk näherkommen.10 Bei der Analyse der relevanten Materialien und folglich auch in der Vita des »Seelenarztes« sowie in seinen Verhaltensweisen erscheint bei Weitem nicht alles stimmig. Zumindest genügen die Befunde nur bedingt jenen Kausalitäten, die sich aufgrund seiner Theorien aufdrängen. Gerade die Selbstanalyse, der er sich in Zusammenhang mit der »Traumdeutung«, dem grundlegenden Werk der Psychoanalyse, unterzogen hat, gibt mitunter mehr Rätsel auf, als sie Fragen über die Persönlichkeit Freuds oder seine Familiengeschichte beantworten kann. Dennoch ist die 1900 erschienene »Traumdeutung«, die Freud selbst als »Wendepunkt von der Therapeutik zur Wissenschaft« sah und manche wiederum mit einer zumindest vorsichtigen Autobiografie gleichsetzen, der Schlüssel zum Verständnis der Person Freud wie des Gedankengebäudes, das der Psychoanalyse zugrunde liegt.11
Eine Kongruenz von Lebensgeschichte und Werk liegt auf der Hand. Insofern erscheint das enorme Interesse an der Biografie Sigmund Freuds nachvollziehbar. Die »Vermengung von Autobiographie und Wissenschaft« ist der Psychoanalyse solcherart eingeschrieben, hat sie von Anfang an belastet und angreifbar gemacht.12 Der oft formulierte Einwand, eigene Erfahrungen und Entwicklungen »in sogenannte Gesetze des Psychischen« übertragen zu haben, forderte den Begründer der Psychoanalyse schon zu seinen Lebzeiten heraus.13 Die Grundpfeiler seines Lehrgebäudes mussten nicht zuletzt angesichts oft heftiger und vielfach unqualifizierter Angriffe abgesichert werden. Die Verfeinerung und das Revidieren verschiedener Thesen war Bestandteil seiner Arbeit als Wissenschaftler. Bei den Ergebnissen intimer Selbsterkundung ließ er es keineswegs bewenden. Trotzdem schob sich mehr und mehr ein strenger Dogmatismus in den Vordergrund, grenzte er, der sich oft als Ausgegrenzter empfand, auch andere aus, die von seinen Lehren abwichen. »Dem Gespür für die Ambivalenzen des menschlichen Seelenlebens stand […] ein merkwürdiger Hang zur einseitigen Begründung von Symptomenkomplexen und Heilungsverfahren gegenüber.«14
Die Persönlichkeit des Begründers der Psychoanalyse birgt nicht wenige Widersprüche in sich. In den Biografien über Freud begegnet uns demgemäß der Revolutionär und Aufmüpfige ebenso wie der Streber und Angepasste, der sich nach dem Applaus jener sehnte, die er verachtete oder die ihn bewusst zur Seite drängten. Aus seinen Briefen an die Zukünftige, an die spätere Ehefrau Martha, tritt uns zudem eine »energiegeladene, eroberungswillige und eroberungsfähige« Persönlichkeit entgegen, andererseits ein »Zerrissener, von Stimmungsschwankungen Geplagter, ein Suchtgefährdeter, ein hochgradig Empfindsamer und Verletzbarer«.15 In späteren Jahren wiederum tritt Freud nicht zuletzt als Patriarch auf, der gleichzeitig das Patriarchat problematisiert. In ihm identifiziert er die Keimzelle von Neurosen, welche die Psychoanalyse zu ergründen versucht.
Aufgewachsen in der sogenannten »franzisko-josephinischen« Ära, die nach dem Habsburger Langzeitmonarchen und »Übervater« Kaiser Franz Joseph benannt ist, wendet sich Freud über die Behandlung einzelner Patienten hinaus gleichsam den »seelischen Störungen« eines ganzen Reichs zu. Zumindest sieht die Nachwelt in ihm den Arzt der Moderne, der – inmitten einer vielfach als unzeitgemäß empfundenen und scheinbar im Stillstand verharrenden k. u. k. Monarchie – Tabus bricht und neue Wege beschreitet. Der Name Freud ist in jedem Fall untrennbar verbunden mit Wien – einer Stadt, die ihn gleichermaßen anzog, wie sie ihn abstieß. So oder so war sie Teil seiner Lebensrealität. Beinahe acht Jahrzehnte hindurch.
Die Abreise Freuds aus Wien im Schicksalsjahr 1938 steht am Beginn eines 1976 produzierten Fernsehfilms. In »Der junge Freud« zeigen Regisseur Axel Corti und Drehbuchautor Georg Stefan Troller den prominenten Emigranten zunächst in einem Zugabteil, Zigarre rauchend. Der 82-Jährige reist gemeinsam mit Frau Martha und Tochter Anna, die schon damals einen wichtigen Anteil an der Erfolgsgeschichte der Psychoanalyse beanspruchen kann. Dann folgen in rasanter Schnittfolge Fotos – angefangen mit dem Bild des bereits greisen Freud und abschließend mit einem Kinderporträt. Und wieder ist ein Zug zu sehen. Er ist soeben angekommen: Wien, Nord-Bahnhof. Passagiere steigen aus. Das Ehepaar Jakob und Amalie Freud ist gemeinsam mit den beiden Kindern Sigmund und Anna in der Haupt- und Residenzstadt des österreichischen Kaiserreichs eingetroffen. Ein junger Mann steht auf dem Bahnsteig. Es ist Sigmund Freud, im Film verkörpert von Karlheinz Hackl, der nun auf die Kindheit zurückblickt. Mit der Ankunft in Wien hat ein neuer Lebensabschnitt für den kleinen Sigismund
Schlomo begonnen. Der Abschied aus Mähren ist ihm schwergefallen. Im Rückblick wird er ihn gar als »Katastrophe« bezeichnen.16 Keine vier Jahre alt ist er, als er die Heimat verlässt. Ob er sich in Wien je heimisch gefühlt hat, wird er – im erwähnten Film von Corti und Troller – von einer Stimme aus dem Off gefragt. Freud überlegt. Wien, erklärt er, habe zeitlebens etwas Erschreckendes an sich gehabt. Die Stadt sei wie ein Kampfplatz gewesen.
Darüber, wann die Familie Freud nach Wien kam, gibt es unterschiedliche Angaben. Im Freud-Film ist es das Jahr 1860, vieles spricht allerdings für 1859. Für den aus Galizien stammenden jüdischen Händler Jakob Freud war es nicht die erste große Übersiedelung. 1844 hatte er sich in Freiberg in Mähren niedergelassen. Dort wurden 1856 und 1858 auch die beiden Kinder Sigismund Schlomo – später Sigmund – und Anna geboren. Ein Sohn, Julius, starb nur wenige Monate nach der Geburt. Die Gründe für den Wohnortwechsel der Familie Freud liegen im Dunklen. Wien dürfte allerdings nur zweite Wahl gewesen sein. Ursprünglich war ein dauernder Aufenthalt in Leipzig geplant. Dort aber wurde dem Juden Jakob Freud das Bleiberecht verweigert.
Während ihr berühmter Sohn sich später selbst als Atheist bezeichnete, hielt die Familie Freud bei allen Tendenzen zur Assimilation an ihren Wurzeln fest. Man sprach Jiddisch, Feiertage und Familienfeste orientierten sich an den religiösen Bräuchen. Auch Sigmund wurde solcherart von jüdischen Traditionen geprägt. »Religion und Kultur« identifizierte er später als Bereiche, »die uns die Illusion der Erfüllung unserer Wünsche vermitteln«.17 Wenn er wiederum in seiner 1925 erschienenen »Selbstdarstellung« betonte, dass er stets »Jude geblieben« war, verknüpfte er das mit verschiedenen Erfahrungen von Ausgrenzung, Diskriminierung und Erniedrigung. Die »Zumutung«, sich als Jude »minderwertig« fühlen zu müssen, schrieb er, habe er immer abgelehnt, die verwehrte Zugehörigkeit zur »Volksgemeinschaft« allerdings »ohne viel Bedauern« zur Kenntnis genommen.18 Demgegenüber entwickelte er bei aller Religionskritik eine Verbundenheit gegenüber dem »Judentum«, die sich einem Gefühl der Zusammengehörigkeit verdankte.
Erst als der Umzug nach Leipzig misslang, wurde Wien zum neuen Ziel der Familie Freud. Den Ortswechsel empfand Sigmund als Verlust: Wichtige Bezugspersonen wie seine Kinderfrau und verschiedene Familienmitglieder musste er zurücklassen. Wien war dem kleinen Buben fremd. Die Großstadt präsentierte sich hektisch. Die Metropole befand sich im Umbruch, als die Freuds hier sesshaft wurden. Binnen weniger Jahren entstanden jene Bauten entlang der Ringstraße, die auch heute noch das Zentrum der österreichischen Hauptstadt prägen. Umwälzungen größerer Dimensionen betrafen darüber hinaus in den 1860er-Jahren den gesamten Herrschaftsbereich der Habsburger. Das Kaisertum Österreich – so der offizielle Name – hatte in einem Krieg gegen das Königreich Sardinien und seine Verbündeten gerade erst die Lombardei verloren. Vor dem Hintergrund schwieriger wirtschaftlicher Verhältnisse verließ Kaiser Franz Joseph den Weg des Neoabsolutismus, den er als Folge der Revolution von 1848 eingeschlagen hatte. Nun machte er Zugeständnisse in Richtung einer Verfassung. Nach der Niederlage gegen Preußen 1866 wurden die Weichen endgültig neu gestellt. Der Kaiser musste den widerständigen Ungarn entgegenkommen. Ein Ausgleich gelang. Zwei Staaten, Österreich und Ungarn, bildeten ab 1867 die k. u. k. Monarchie. Eine Verfassung wurde gewährt. Die letzten Jahrzehnte des Habsburgerreichs brachen an.
Sigmund war der Erstgeborene aus der Verbindung von Jakob und Amalie Freud. Die Eheleute trennten 20 Jahre. Freuds Vater war bereits über 40, die Mutter noch eine junge Frau, als ihnen das erste gemeinsame Kind geboren wurde. Und Jakob hatte bereits eine Nachkommenschaft, als er Amalie heiratete. Sie war seine zweite oder – meinen andere – wahrscheinlich sogar seine dritte Ehefrau. Sigmunds Stiefgeschwister waren schon erwachsen, als der Vater eine neue Familie gründete. Diese wiederum vergrößerte sich nach der Ankunft in Wien beinahe im Jahrestakt. Bis 1866 wurden dem Ehepaar Freud weitere fünf Kinder geboren. Sigmund wuchs in einer Großfamilie heran, umgeben von Eltern, Geschwistern, Tanten und Onkeln, Cousins und Cousinen, Nichten und Neffen. Später kamen die Verwandten der Ehefrau Martha hinzu sowie die eigenen Kinder und Enkel. Freud war eng an die Familie gebunden, nicht immer mit gleichbleibender Hingabe, aber stets im Gefühl, Verantwortung für sie tragen zu müssen. »Die erste Bedingung jeder Ehe sollte sein, daß jeder Teil das Recht hat, die Verwandten des anderen herauszuwerfen.« Diesen Ausspruch seines damaligen »Chefs«, des Psychiaters, Neurologen und Anatomen Theodor Meynert, teilte er der Braut in einem Brief aus dem Jahr 1883 mit. Er verhehlte nicht seine Zustimmung.19 Trotzdem: Bei allen Konflikten, die sich innerhalb der Familie Freud auftaten und in einer noch dazu so weit verzweigten Verwandtschaft kaum überraschen konnten, ließ es Sigmund Freud nie an Unterstützung für seine Angehörigen mangeln. Er griff später seinen Kindern und Schwiegerkindern finanziell unter die Arme, sorgte sich um Eltern und Geschwister.
Die Familie Freud wohnte in der Leopoldstadt, im zweiten Bezirk, wo ein Gutteil der in Wien ansässigen Juden lebte. Die Prosperität einer aufstrebenden Stadt, als die sich Wien in den 186oer-Jahren präsentierte, vermochte Jakob Freud nicht für das eigene Fortkommen zu nutzen. Oft fehlte das Geld an allen Ecken und Enden. Freuds Vater wird als umgänglicher und kluger Autodidakt beschrieben, als freundlicher Patriarch, dem es allerdings an Geschäftssinn gefehlt haben dürfte. Immer wieder befand sich die Familie wirtschaftlich am Abgrund, schien die Lage aussichtslos, die Zukunft düster. Finanzielle Unterstützung kam in einer später auch von Sigmund Freud als besonders entbehrungsreich und unsicher wahrgenommenen ersten Phase in Wien von einem der älteren Stiefbrüder, die nach England ausgewandert waren. Andere Verwandte erwiesen sich als weit weniger hilfreich. Josef Freud, Sigmunds Onkel, dessen Übersiedelung nach Wien ins Jahr 1861 datiert, bescherte der Familie einiges an Kummer. Eine Falschgeldaffäre wurde ihm zum Verhängnis. Offenbar war er in dubiose Geschäfte verwickelt. Im Juni 1866 folgte eine Verurteilung zu »zehn Jahren schweren Kerkers«. Aufgrund seiner Unbescholtenheit wurde er im Unterschied zu seinem Mitangeklagten »dem Obergerichte behufs einer Strafmilderung anempfohlen«. Onkel Josef saß daher die Strafe für »Kreditpapierfälschung« – er war wegen des Vertriebs falscher Rubelnoten angeklagt worden – nicht zur Gänze ab.20 Was blieb, waren Schande und Angst. Etliche Biografen Sigmund Freuds schließen nicht aus, dass eventuell auch der Vater in die Machenschaften seines Bruders involviert war. Jakob Freud, erinnerte sich Sohn Sigmund später, bekam als Folge des Skandals seine ersten weißen Haare. Zum Stigma der jüdischen Herkunft kam nun auch noch jenes eines zweifelhaften Rufs: Ein verurteilter Krimineller in der Familie schadete der Reputation eines ohnehin meist glücklosen Geschäftsmannes, als der Jakob Freud in der Nachbetrachtung für gewöhnlich dargestellt wird, zusätzlich.
Sigmund wuchs zwar in sehr bescheidenen und beengten Wohnverhältnissen auf, innerhalb der Familie war er allerdings privilegiert. Ihm wurde im Unterschied zu den Geschwistern in der relativ kleinen Wohnung ein eigenes Kabinett zugestanden. Seine Begabung erkannten die Eltern früh. Die erhoffte Karriere des Sohnes hatte Priorität. Der »Kronprinz« sollte in Ruhe lernen und studieren können. Die Erwartungen, die in ihn gesetzt wurden, erfüllte er. Sigmund brillierte als Vorzugsschüler, entwickelte sich aber nicht zum stumpfen Pauker, der lediglich zu entsprechen wusste. Vielmehr zeichnete er sich durch eine unbändige Neugier aus, getrieben von stetem Wissensdurst. Sein Fleiß beeindruckte auch die Mitschüler. Der Knabe gönnte sich kaum Pausen, büffelte unentwegt und erwarb sich ein vielseitiges Wissen, das Fremdsprachen ebenso umfasste wie Geschichte oder Naturwissenschaften. Die spärliche Freizeit gestaltete sich nicht als die eines Kindes, sondern kreiste um die vielgestaltigen Neigungen eines ernsten und strebsamen Heranwachsenden, der um die Hoffnungen, die sein Elternhaus in ihn setzte, wusste.
Freud war fest entschlossen, Karriere zu machen. Konzentrationsfähigkeit und Rückzug erwiesen sich bei alldem als unabdingbar. Unabhängig von Freuds vielfach dokumentierter Geselligkeit und dem durchaus vorhandenen Verlangen nach Freundschaft und Gesprächen entwickelte er schon in jungen Jahren das Bedürfnis, Distanz zu halten und in Ruhe zu arbeiten. Ehefrau Martha, um die er in Anbetracht einer ungewissen beruflichen Zukunft und der Einwände der künftigen Schwiegermutter jahrelang werben musste, verschaffte ihm dann trotz der wachsenden Kinderschar jene Freiräume, die Freud für seine Studien benötigte. Das »Beziehungsmuster von ›Autorität und Unterwerfung‹« hatte sich bereits früh, schon vor der Ehe, abgezeichnet.22 Martha erfüllte ein traditionelles Rollenbild, war Hausfrau, Mutter und treue Gefährtin. Geliebte blieb sie nur wenige Jahre hindurch. Vor der Heirat waren sich die Brautleute im Wesentlichen über ihre Briefe nähergekommen, nach Ende der Familienplanung hielt Freud sexuelle Abstinenz. »Eine Sexualität, die allein der Lustbefriedigung galt, fand er unnatürlich.«23 Darüber und über die Konsequenzen dieser Enthaltsamkeit wurde viel geschrieben. Nervöse Spannungszustände und allerlei gesundheitliche Beschwerden, unter denen er in der Folge gelitten hat, sind mit dem freiwilligen Verzicht auf ein eheliches Intimleben erklärt worden. »Aber es gab Mittel und Wege, den unerfüllten Trieb durch eine starke Droge zu unterdrücken – sie hieß Arbeit.«24
Die Absage an eine womöglich belastende Nähe zu seinen Mitmenschen machte aus Freud aber keinen Sonderling oder Einzelgänger. Er suchte den Kontakt und das Gespräch. Freundschatten waren ihm wichtig, rege fachliche Diskussionen gehörten dazu. Unter anderem mit einigen Ärzten pflegte er einen intensiven Gedankenaustausch. Ihnen kam ein wesentlicher Anteil an der Entstehung der Psychoanalyse zu. Außerdem vermittelten sie ihrem zunächst mäßig erfolgreichen Freund Patienten. Tatsächlich fand Freud in der ersten Phase nach Eröffnung der Ordination in der Berggasse oft genug ein leeres Wartezimmer vor. Einige Vertrauenspersonen halfen auch mit Geld aus. Darunter die Physiologen Ernst Fleischl und Josef Paneth. Letzterer erlebte ebenso wie Freud den Antisemitismus seiner Zeit als »Ungerechtigkeit, […] Unklugheit« und »Inhumanität«.25 Im Unterschied zu Freud aber war er finanziell abgesichert. Der Kollege sah sich indessen nahezu unentwegt der »Not des Lebens«26 ausgesetzt, hasste sein erzwungenes »Schnorrertum«27 und die damit einhergehenden Abhängigkeiten. Gleichzeitig tat er alles, um Geld zu verdienen, das er dann immer wieder an die bedürftige Familie abtrat, die »buchstäblich Hunger« litt28 und in der sich angesichts der Armut oft genug Hoffnungslosigkeit breitmachte. Seine Besuche daheim lösten infolge des beobachteten Elends »Melancholie« in ihm aus. Freud fühlte sich hilflos, »ganz zerdrückt und zerknittert im Gemüt«.29 Und trotz allen Mitgefühls und der Zuneigung, die er zweifellos für die Eltern empfand, mischte sich in seine Reflexionen auch so etwas wie Verachtung. In den Briefen an Martha formulierte er seine Eindrücke: Die ständig kränkelnde Mutter, die sich von der »Schwarzseherin« zur »Schwarzschreierin« wandelte, der unfähige Vater, der sich in Stille mit der Lage abzufinden begann und »in eine Art ›glückliche Bedürfnis- und Bedeutungslosigkeit‹ hineingerät«.30 In verschiedenen Beschreibungen der Eltern Freuds steht eine autoritär agierende, klischeehafte »Übermutter« einem gütigen und humorvollen Patriarchen gegenüber, der trotz vieler Vorzüge an der Aufgabe des »Familienernährers« scheitert. Der Sohn reagierte ambivalent. Liebe und Respekt auf der einen, Geringschätzigkeit und Unverständnis auf der anderen Seite.
Joseph Paneth wusste um die Kalamitäten der Familie Freud, kannte die Probleme, mit denen sich der Kollege in seiner Studienzeit konfrontiert sah. Er attestierte Freud Überlegenheit »an Reife und Wissen« und bewunderte den als schwierigen Charakter erlebten Kommilitonen ob seines Talents. In seinen Aufzeichnungen finden sich folgende Notizen über Freud: »So gingen wir neben einander her, und ein gelegentliches Aufwallen wärmerer Freundschaft zwischen uns hielt nie vor. Er war durch Elend und durch den Gegensatz zwischen innerem Stolz und der schlechten Lage, die ihn zwang, von Andern Geld anzunehmen, verbittert, scharf und manchmal ungerecht in seinem Urteil. Dabei von der stolzesten Ehrenhaftigkeit, er hat sich nie vor einem Lumpenhunde gebeugt.«31
Sigmund Freud wusste, was »hilflose Armut« bedeutete, und er gab zu, sich »beständig vor ihr zu fürchten«.32 Dennoch legte er einen Stolz an den Tag, der dem Vater Jakob offenbar fehlte. In diesem Zusammenhang relevant ist die »Hut-Episode«, ohne die keine Freud-Biografie auskommt. Darin geht es um die Erzählung des Vaters, der dem Sohn während eines Spaziergangs – Sigmund ist zwölf Jahre alt – schildert, wie ihm einst »ein Christ die Pelzmütze in den Schmutz geworfen und gerufen habe: ›Jud, herunter vom Trottoir!‹«33 Als Sigmund wissen will, wie der Vater reagiert hat, antwortet der lapidar, dass er die Kopfbedeckung wieder aufgehoben habe. Auch im Film von Corti und Troller über den »jungen Freud« fehlt diese Episode nicht. Allerdings ist in dieser Version der kleine Sigmund Zeuge des Vorfalls. Beide, Vater und Sohn, setzen als Folge des Zwischenfalls ihren Weg neben dem aus wackeligen Brettern konstruierten Gehsteig fort, waten im tiefen Kotmeer eine breite, unbefestigte Straße entlang, die sich offenbar im mährischen Freiberg befinden soll. Wenngleich sich die tatsächliche »Hut-Geschichte« nicht im Beisein Sigmunds und auch nicht in Freiberg zugetragen hat, versuchen Corti und Troller mit dieser Darstellung deutlich zu machen, wie wichtig sie für den jugendlichen Freud war beziehungsweise wurde. Der nämlich hatte sich offenbar irgendeine Form von Gegenwehr erwartet, eine angemessene Reaktion auf die Beleidigung, die dem Vater widerfahren war. So aber nahm er dessen Erzählung mit größtmöglicher Enttäuschung zur Kenntnis: »Das schien mir nicht heldenhaft von dem großen starken Mann, der mich Kleinen an der Hand führte.«34
An Deutungen der Episode für die Entwicklung von Freuds Persönlichkeit wie für die Herausbildung späterer Überlegungen zur Psychoanalyse mangelt es nicht. Weniger eine Rolle zu spielen scheint indessen die Frage, warum und in welchem Zusammenhang Jakob Freud seinem Sohn diese Geschichte erzählte. Ging es um die persönliche Einsicht, dass sich Aufbegehren nicht lohnt, um die Beichte eines Mannes, der resigniert hat? Oder um eine Lebensweisheit, die weit darüber hinausgeht? Um bewussten Gewaltverzicht? Tatsächlich diente die Geschichte dem Vater dazu, um dem Sohn auf diesem Wege klarzumachen, dass mittlerweile dem Antisemitismus die Spitze genommen worden war, dass sich, wie er meinte, die Dinge zum Positiven gewandelt hatten. Jakob Freud wollte offenbar verdeutlichen, wie sehr »der Sieg des Liberalismus das Geschick der Juden verbessert« hatte.35
Eine weiterführende Interpretation der »Hut-Episode« lautet: »Der Konflikt zwischen dem Bild vom mächtigen Vater und dem Vater, der sich derart erniedrigen läßt«, hat »sicherlich dazu beigetragen, den Keim für Freuds spätere Beschäftigung mit dem Vater-Sohn-Problem zu legen«. Mehr noch: Die von Jakob Freud erzählte Geschichte über die hingenommene Demütigung diente »vielleicht zur Erklärung der Genese des Konzepts vom Ödipus-Komplex«.36 Andere wiederum betonen die Vielschichtigkeit der Beziehung zwischen Jakob und Sigmund Freud. Immerhin war der Vater über Jahre hindurch der Lehrer seines Sohnes gewesen und hatte sich allein dadurch dessen Respekt erworben.37 All das hinderte den »Seelenforscher« später nicht, Jakob Freud des sexuellen Missbrauchs an den eigenen Kindern zu verdächtigen. Psychische Probleme seiner Geschwister führte Freud auf Übergriffe des Vaters zurück. Dieser, schrieb er bedauernd, sei leider »einer von den Perversen gewesen«.38 Trotz solch klarer Aussagen bleiben diesbezügliche Anschuldigungen gegenüber dem Vater letztlich diffus. Da bereits erworbene theoretische Erkenntnisse auf »perverse Väter als Neurosenverursacher hinwiesen«, erklärten solche Schlussfolgerungen auch Freuds eigene psychische Beschwerden.39 Interpretiert wurden die erhobenen Vorwürfe aber auch als »aggressiver Befreiungsversuch«, im Zuge dessen sich Freud »ein realistisches Bild« von seinem Vater »erarbeiten« wollte.40
Ohne Zweifel ist die Frage der Vater-Beziehung zentral für Freuds Lehrgebäude. Jede »matrilineare Deutungsmöglichkeit von Kultur« schlug er konsequent aus.41 Den Tod Jakob Freuds im Jahr 1896 nahm der Sohn zunächst fast gleichmütig zur Kenntnis. Schließlich aber wurde der Verlust als einschneidend wahrgenommen und zum Auslöser für die Selbsterforschung des Sohnes, die in weiterer Konsequenz auf grundsätzliche Lehren der Psychoanalyse hinauslief.
Neben dem erwähnten »Ödipuskomplex« erlangte die Problematik der Vater-Beziehung unter anderem auch in Freuds Überlegungen zur Religion Bedeutung. Diese dekonstruierte er schonungslos. Eine Analyse des Vater-Sohn-Verhältnisses drängte sich auf. Religion, hielt er fest, sei »vom Standpunkte des Sohnes gemacht, während das Gesetz vom Vater stammte«.42 Auch den »Totemismus« definierte er in erster Linie als eine »Vaterreligion«.43 In der Schrift »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« hat er seinem eigenen Vater ein Denkmal gesetzt. Der »Exodus« der Bibel präsentierte sich bei Freud als nichts anderes als das Verlassen der mährischen Heimat mit dem Vater Jakob als »Moses« an der Spitze.44 Tatsächlich fokussierte die komplexe Analyse der Vater-Rolle nicht zuletzt auf die Frage der Autorität, der Führungsrolle, der Macht. Freud durchschaute die Mechanismen dahinter. Die »alte Welt«, resümierte er, werde »von der Autorität regiert«, die »neue vom Dollar«.45
Freuds Lebenswirklichkeit ist von den Lehrern an der Universität, von »Ersatzvätern« bestimmt gewesen. Sie haben ihn entweder gefördert oder aber behindert. Autoritätsverhältnisse waren von Beginn an die Vektoren seines Werdegangs. Als Hüter und Verteidiger seiner Lehren nahm er schließlich auch gegenüber den Schülern eine Vaterrolle ein. Und auch diese Rolle implizierte Belohnung und Bestrafung von »Söhnen«, die den Erwartungen des »Vaters« entsprachen oder aber sich mit eigenen und mitunter allzu kritischen Ansichten hervortaten. Freuds Bereitschaft zu Toleranz und Offenheit schwankte. Und sie sank offenbar nicht zuletzt angesichts der Widerstände, denen die »psychoanalytische Bewegung« – wie Freud sie nannte – begegnete. Die Motive der Angriffe waren vielfältig. Freud fand Erklärungen für sie. Seine Lehre, meinte er beispielsweise mit Blick auf seine Kritik an der Religion, habe »starke Gefühle der Menschheit verletzt«.46 Er verglich die Ablehnung, die der Psychoanalyse entgegenschlug, mit jenen heftigen Reaktionen, die Charles Darwins Theorien ausgelöst hatten. Aber es gab auch Widerstände ganz anderer Natur: den Antisemitismus. Ihn identifizierte Freud als evidentes Hemmnis für eine Akzeptanz seiner Lehre.47 Karl Kraus, selbst Jude und Herausgeber der »Fackel«, ließ sich freilich von anderen Beweggründen leiten, um gegen die »neue Seelenkunde« zu Felde zu ziehen.48 Hinter seinen Angriffen steckten nicht zuletzt persönliche Motive, die zwar nicht Freud direkt, aber einen Schüler betrafen. Die Psychoanalyse sei, lästerte Kraus in einer berühmt gewordenen Schmähung, die »Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält«.
Dessen ungeachtet zog die junge Disziplin eine Menge junger Wissenschaftler an, die in der Weiterentwicklung der Psychoanalyse Chancen für die eigene Karriere erkannten. Kollegen, die, wie Freud befürchtete, sein Werk untergraben oder verfälschen würden, gab es anscheinend nicht wenige. An Epigonen mangelte es ebenfalls nicht. Dass andererseits die Psychoanalyse sich als »Bewegung« mehr und mehr durchsetzte, ließ sich auch an der wachsenden Zahl psychoanalytischer Praxen ablesen. Allein in Wien gab es Ende der 1920er-Jahre über 100 davon.49
In der 1910 gegründeten »Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung« wurde Freud als »Vater« der Bewegung gewürdigt. Dort und in der bereits bestehenden »Wiener Psychoanalytischen Vereinigung« wollte er vorgeblich im Hintergrund die Fäden ziehen. Doch einige der »Söhne« enttäuschten ihn und traten mit Theorien hervor, die er als unzulässige Abweichungen von den bestehenden Lehren empfand. Über »ketzerische« Vorträge echauffierte er sich ebenso wie über eine »Menge Irrlichter«.50 Während Freud die »treulosen« Anhänger als »Paranoiker« bezeichnete, warfen ihm Kritiker Eifersucht vor. Sie sahen die Psychoanalyse schließlich in die Nähe religiöser Kategorien gerückt – mit Strenggläubigen auf der einen und Ketzern auf der anderen Seite.51 Der Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Erich Fromm etwa gab sich davon überzeugt, dass die »psychoanalytische Bewegung von vornherein als eine quasi-religiöse Bewegung […] gedacht« worden war und sich tatsächlich dazu entwickelte.52
Zu Beginn der 1920er-Jahre führte Freud aus, was er unter Psychoanalyse verstand: »Die Annahme unbewusster seelischer Vorgänge, die Anerkennung der Lehre vom Widerstand und der Verdrängung, die Einschätzung der Sexualität und des Ödipus-Komplexes sind die Hauptinhalte der Psychoanalyse und die Grundlagen ihrer Theorie, und wer sie nicht alle gutzuheißen vermag, sollte sich nicht zu den Psychoanalytikern zählen.«53
Freud zog also klare Trennlinien. Demgegenüber stehen die Eindrücke von Kommentatoren, die ihm die »Einsicht in die Wandelbarkeit der eigenen Lehre« zugestehen.54 Nach den Konflikten mit den »Söhnen«, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hochkochten, blieb Freud nicht stehen. Seine späteren Publikationen spiegeln die Weiterentwicklung bestehender Konzepte wider. Die 1920 erschienene Arbeit »Jenseits des Lustprinzips« präsentierte schließlich eine »vollständig revidierte Triebtheorie«, die nun den Todestrieb ins Zentrum stellte und den Dualismus »von lebenserhaltenden und lebenszerstörenden Grundtendenzen« formte.55 Biografen verorten die Entstehung der Schrift in Zusammenhang mit dem frühen Tod der Tochter Sophie. Ohne Zweifel hinterließen dieser und andere Schicksalsschläge – der geliebte Enkel Heinerle, Sohn Sophies, starb noch als Kleinkind – tiefe seelische Wunden. Selbstdisziplin und Widerstandskraft verlangte ihm auch sein Krebsleiden ab. Der passionierte Zigarrenraucher litt lange Jahre an einem Mundhöhlen- und Gaumenkarzinom. Die Folgen waren schmerzhaft und zehrten an ihm.
Das Exil bedeutete nicht zuletzt Verlust. Neben der Vermögenseinbuße, der Trennung von einem Teil der Familie, dem Wegbrechen des beruflichen Umfelds und vielen anderen Defiziten betraf es auch die Sprache, in der er gelebt und gedacht hatte. »Dabei«, schrieb er an einen Kollegen, »hat man so oft gehört, daß man kein Deutscher ist. Und dazu ist man ja selbst froh, daß man ein Deutscher nicht mehr zu sein braucht.«56
Nach der Flucht aus Österreich setzte bald eine Verschlechterung von Freuds ohnehin labilem Gesundheitszustand ein. Nach einer Vielzahl von Eingriffen ließ sich der Krebs nicht mehr in Schach halten. Die Schmerzen steigerten sich bis zur Unerträglichkeit. Freud ersehnte sich ein Ende des Martyriums. Auf eigenen Wunsch verabreichte ihm sein Leibarzt eine tödliche Dosis Morphium. Sigmund Freud starb am 23. September 1939.
Kritiker von Sigmund Freud fanden harte Worte über ihn: »Seine Beziehung zur Geschichte zeugt von einer totalen Verleugnung. Die Geschichte war ausschließlich seine Geschichte, also die Geschichte der eigenen Person, aber nie die Geschichte seiner Zeit, in der er – ob er wollte oder nicht – lebte und in der sein Werk entstand. Er weigerte sich, sein Denken in einen zeitgenössischen Kontext zu stellen, also anzuerkennen, dass Einflüsse aus seinem Umfeld, Begegnungen mit anderen und das, was er gelesen hatte, eine Rolle spielten, er wollte alle Spuren seiner intellektuellen Entwicklung verwischen.«1
Solche Charakterisierungen wirken grob vereinfachend. Ein Zerrbild entstand. Die Sachlage war komplizierter und von Veränderungen geprägt. Freud hob beispielsweise die Rolle des Arztes, Philosophen und väterlichen Freundes Josef Breuer hervor, als es darum ging, die Genese seiner Theorien und Behandlungspraktiken zu beschreiben.2 Am Vorabend des Ersten Weltkriegs machte er sich jedoch zur alleinigen Schöpferfigur der Psychoanalyse. Die Einflüsse auf seine Arbeit blieben dennoch evident. Immer wieder legte er ausführliche Literaturberichte vor. Sein Wissenschaftsverständnis gebot es, die Forschungsentwicklung bis zu seinen eigenen Studien zu reflektieren und entsprechend wiederzugeben.
Das Denkmal, das Freud aufgrund seiner Leistungen und Entdeckungen errichtet wurde, hatte also mehrere Gestalter: jene, die sich ihm weitgehend unterordneten oder in ihm gar den Religionsstifter und Übervater sehen wollten; ebenso jedoch die Gegner, die mit »gehässigen Wortklaubereien« und Abwertungsversuchen die Aufmerksamkeit auf ihn lenkten und so zu seiner Unsterblichkeit beitrugen.3 Auch wohlgesonnene Biografen betonen indes Freuds »Gewohnheit, seine geistige Isolation zu dramatisieren«, seine Neigung, das eigene »Heldentum in starken Farben« selbstbewusst hervorzuheben, sich mit »welthistorischen Giganten« zu identifizieren und »seine Kämpfe« fantasiereich zu stilisieren.4
Sigmund Freud, sein unmittelbares Umfeld und sein Werk bedürfen in jedem Fall einer Einordnung in historische Entwicklungen und Zusammenhänge. Und das verlangt angesichts der unbestreitbaren Bedeutung und Wirkung seines Schaffens nach einer beträchtlichen Horizonterweiterung in Zeit und Raum.
Langzeitphänomene haben Beachtung zu finden. Manche beruhen auf scheinbar »ewig gleichen«, unhistorischen Eigenschatten des Homo sapiens. In einzelnen Epochen brachten diese Wesensmerkmale des »Allgemeinmenschlichen« jedoch signifikant unterschiedliche Erscheinungsformen hervor.
Das Feld der historischen Anthropologie, das hier betreten wird, gruppiert sich konkret um das vermeintliche Gegensatzpaar »Leib und Seele«, welches letztlich keine getrennten Sphären benennt. Körper und Geist sind vielmehr ineinander verwoben. Sie verweisen aufeinander, tragen aber gerade in der abendländischen Tradition zu dualistischen Deutungsmustern bei. Diese berühren das Verhältnis zwischen Innen- und Außenwelt oder Vorstellungen von Ratio und gefühlsbetonter Psyche, von Vernunft und Unvernunft, Gesundheit und Krankheit, Verantwortung und Unzurechnungsfähigkeit, Norm und Abweichung.
Tiefenpsychologie und Psychotherapie haben in einem derartigen Bezugsrahmen eine lange Vorgeschichte. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hatte diesbezüglich auf die Ursprünge der Sorge und der Angst hingewiesen. Beides, so Nietzsche, entstehe mit der Trennung des Menschen, der sich neben der Gegenwart auch der Vergangenheit und der Zukunft zuwendet, von der übrigen Tierwelt, die ohne ein Morgen und ein Gestern in Ruhe und Sicherheit keine Neurosen kennt.5
Eine allzu strenge Unterscheidung zwischen den irdischen Geschöpfen schafft freilich beträchtlichen Diskussionsstoff. Ungeachtet dessen stellt sich immerhin die Frage, ob die »Magie«, der »Geister- und Aberglaube« als Merkmale der menschlichen Prähistorie auf eine elementare Furchtsamkeit oder Verunsicherung zurückgehen oder mit der behaupteten Unfähigkeit, logisch zu denken, erklärt werden können.6
Ansätze psychotherapeutischer Behandlungsweisen, wie die Tätigkeit der Medizinmänner und der Erfahrungsschatz des Schamanismus, gerieten in das Zentrum der Betrachtungen – bis schließlich antike Gelehrte die Wurzeln einer wissenschaftlichen Heilkunst legten. Den Glauben an das Wirken des Überirdischen, von Dämonen und Göttern, der noch lange bestimmend bleiben sollte, konterkarierte von nun an die hippokratische Schule, wenn es etwa um das Verständnis von epileptischen Krämpfen ging. Ihr wegweisender, bis in die Gegenwart wirkender Befund nannte eine Erkrankung des Gehirns als Ursache. Mindestens bis in die Jugendjahre Freuds hielt man zudem an der fragwürdigen griechischen »Weisheit« fest, wonach es sich bei Hysterie um ein Unterleibsleiden der Frauen, genauer gesagt um eine Fehlfunktion der Gebärmutter, handelt.7
In jedem Fall hatte die Physis Vorrang gegenüber einer Seelenkunde, die man vor allem zur Weisheitslehre, zur Philosophie zählte. Der den Sophisten zugeordnete Antiphon von Athen figurierte unter diesen Bedingungen regelrecht als Antithese zu Hippokrates. Antiphon – gelegentlich als Begründer der Psychoanalyse bezeichnet – betonte mit Nachdruck, die Seele regiere den Körper. Seine Ratschläge als Analytiker, die er auf der Agora von Korinth erteilte, beinhalteten zudem logotherapeutische Elemente. Die Überzeugung, mit Worten kurieren zu können, hielt sich über die Zauberer und Hexer, Heiler und Priester des Mittelalters hinaus bis in das Zeitalter Freuds und in die Gegenwart.8
Mit der Geburt der Neuzeit entstand dann ein verändertes Menschenbild: In gewisser Weise kam es zur Erfindung des Individuums. Dessen Physiognomie und in der Folge auch dessen Geistes- und Gefühlsäußerungen wurden nun einer genaueren Beobachtung unterzogen. Im 17. und 18. Jahrhundert erreichte, wie Freuds zeitweiliger Mitstreiter Josef Breuer vermerkte, die Psychoanalyse ein Vorstadium im Wirken von Georg Ernst Stahl, der die Seele als treibende Kraft im Lebensprozess beschrieb, psychosomatische Beschwerden erkannte und – wie Freud und Breuer – »kathartische«, also reinigende, Heilmethoden anwandte.9
Allerdings gerieten Stahls Ausführungen und Praktiken fast vollständig in Vergessenheit, als mit dem konsequenten Einsatz des Mikroskops die Körperzellen, die Histologie und die pathologische Anatomie in den Fokus der ärztlichen Neugier rückten.
Diese Tendenzen gingen – nicht zuletzt in Frankreich während der Aufklärung – mit humanistischen Plädoyers zur »Befreiung der Irren« von ihren Ketten einher, mit der Geburt der Psychiatrie und der Suche nach einer geeigneteren Behandlung der Seelen- und Geisteskranken.10
Der Magnetismus wurde zum Thema. Der österreichische Arzt Franz Anton Mesmer beschäftigte sich damit aus naturwissenschaftlich-physikalischer Perspektive, blieb aber ein Außenseiter. Auch in Frankreich, wo Mesmer sein Glück suchte, vermochte er die Fachwelt nicht für sich zu gewinnen, erlebte jedoch in Patientenkreisen durch seine Behandlungspraxis bemerkenswerten Zulauf: Der Einsatz der Hypnose oder des »Heilschlafes« fand Anklang. Über den Pariser Umweg erreichte er letztlich Breuer und Freud.11
Der veränderte Umgang mit Leiden, Unzulänglichkeiten und seelischen Beeinträchtigungen, die Kritik an der Praxis der Stigmatisierung oder der Kriminalisierung – wie bei Suizidfällen –, markierte eine Abkehr von repressiven Maßnahmen und Bestrafungen. Die Suche nach Krankheiten begann, die Hinwendung zur »Pathologisierung« erfolgte. Ein Transformationsprozess setzte ein, der das ganze 19. Jahrhundert hindurch verschiedene Expertenkreise beschäftigte. Juristen sahen sich mit den rechtlichen Konsequenzen einer Debatte über »Besessenheit«, Schuldhaftigkeit und Zurechnungsfähigkeit konfrontiert, ebenso wie Theologen, die die Verantwortlichkeit, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des Menschen in der göttlichen Schöpfung zu bestimmen versuchten.12
Der »Wahnsinn« avancierte zum philosophischen Schlüsselthema und zur zentralen Herausforderung für die »Ordnung der Vernunft«. Mündigkeit und Rechte des Individuums mussten mit den Anliegen der Massengesellschaft in Einklang gebracht werden. Die zunehmende Einbindung des Einzelnen in das Gemeinwesen manifestierte sich in bürgerlichen Pflichten und Privilegien: in der allgemeinen Wehrpflicht, der intensivierten Sozialfürsorge, der Besteuerung und politischen Mitsprache im Zuge einer schrittweisen Demokratisierung. Die Neuerungen schufen zahlreiche Reibungsflächen und rückten Auseinandersetzungen über öffentliche Einrichtungen in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses: Die Institutionenkritik, die den Schulen und der Armee, den Gefängnissen und Spitälern galt, wurde zum Signum vielfältiger Modernisierungsprozesse.13
Anstoß erregten auch die vielen psychiatrischen Kliniken, die insbesondere im letzten Viertel des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden. Die staatliche Ordnungs- und Sicherheitspolitik drängte vermehrt darauf, »psychisch Kranke von Gesunden zu separieren«. Die Zahl der »Irrenanstalten« und vor allem ihrer Insassen stieg in vielen Ländern und gerade auch in Mitteleuropa überproportional, gemessen am ohnehin beträchtlichen Bevölkerungswachstum. Mit diesem Trend verschärften sich die Streitigkeiten über eine »menschenwürdige Unterbringung« und die »Heilungschancen« der Patienten.14 Die Situation in Wien war dafür beispielgebend. Auch hier stand die Psychiatrie ab den 1890er-Jahren am Pranger. Ein Vertrauter Freuds aus der Studienzeit, Julius Wagner-Jauregg, der 1927 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde,15 machte sich für seinen Berufsstand stark. Wagner-Jauregg trat gegen die »Psychiaterhetze« auf und vergrößerte damit vor allem in der Kollegenschaft seinen Einflussbereich.16
Die Kontroversen rekurrierten auf das Klima einer Übergangsära, auf die Irritationen im Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation, zwischen der Untergangsstimmung eines krisengeschüttelten »Ancien Régime« und den Zukunftshoffnungen junger Emanzipationsbewegungen. Im latenten Kulturkampf, der insbesondere klerikale und antiklerikale Kräfte gegeneinander aufbrachte, gehörte Freud säkular-liberalen Milieus an, deren Fortschritts- und Wissenschaftsdenken vielerorts Beunruhigung, Ängste und Hassgefühle auslöste. Die daraus resultierende Verstärkung der Feindbilder zeigte sich unter anderem in der Radikalisierung von nationalistischen, sozialdarwinistischen und rassistischen Strömungen. Gerade das Judentum galt dem lärmenden Antisemitismus als Verkörperung des »profitgierigen Kapitalismus«, der »vaterlandslosen Gesinnung«, einer verstörenden, »tabu- und schamlosen Rede- und Forschungsfreiheit«.17
Freud, seine Familie und viele seiner Freunde waren davon ebenso betroffen wie von einer spezifischen urbanen Unruhe. Großstädte symbolisierten in besonderer Weise das generelle Bevölkerungswachstum und die verschiedenen Modernisierungseffekte.