Hochzeitsglocken - Margit Kruse - E-Book

Hochzeitsglocken E-Book

Margit Kruse

4,8

Beschreibung

Margareta Sommerfeld ist genervt: Sie hat sich von ihrer Mutter zu einer Kaffeefahrt überreden lassen. Nun sitzt sie in dem mit euphorisierten Rentnern gefüllten Bus und senkt den Altersdurchschnitt. Aber sie ist nicht allein: Der Schönling Simon von Brehden passt auch nicht so recht in die lustige Reisegesellschaft. Margareta ist sichtlich angetan von ihm, doch bevor sie sich näherkommen können, entdeckt sie seinen Leichnam im Heizungskeller seiner Villa …

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Margit Kruse

Hochzeitsglocken

Kriminalroman

Zum Buch

Je oller, desto doller Auf einer Kaffeefahrt nach Bad Sassendorf unter lauter Rentnern trifft Margareta Sommerfeld auf ihren ehemaligen Schulkameraden Harald Kleinschnittger. Dieser nennt sich nun Simon von Brehden und verdingt sich als Heiratsschwindler. Ein ungewöhnliches, aber durchaus einleuchtendes Betätigungsfeld für einen Schönling wie ihn. Margareta ist zunächst entsetzt, aber auch sichtlich angetan von Harald. Sie kommen ins Gespräch, und im Verlauf einer Nacht beichtet er ihr seine ganze Misere: Sein Architekturbüro steht vor dem Ruin, er braucht dringend eine Finanzspritze. Seine ersten Gehversuche als Heiratsschwindler sind aus der Not geboren. Dass er sich damit nicht nur Freunde macht, versteht sich von selbst. Als Margareta ihn kurze Zeit später ermordet in seinem Heizungskeller findet, stellt sie auf eigene Faust Erkundigungen an, wer von den zahlreichen Umworbenen am ehesten für die Tat infrage kommt.

 

Margit Kruse wurde 1957 in Gelsenkirchen geboren. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Revier-Krimis „Eisaugen“, „Zechenbrand“, „Hochzeitsglocken“ und „Rosensalz“. Sie ist ein echtes Kind des Ruhrgebiets. Seit 2004 ist die Gelsenkirchenerin als freiberufliche Autorin tätig. Neben zahlreichen Beiträgen in Anthologien hat sie bislang zehn Bücher veröffentlicht, darunter ein Roman, der für den Literaturpreis Ruhr 2009 nominiert war. Labrador Enja ist stets dabei wenn Margit Kruse sich auf Recherche-Tour begibt. Besonders der Hauptfriedhof ihres Heimatortes hat es der Autorin angetan. Die Autorin ist Mitglied im Syndikat sowie im Verband deutscher Schriftsteller.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Schneeflöckchen, Blutröckchen (2017)

Opferstock (2017)

Rosensalz (2016)

Wer mordet schon im Hochsauerland (2015)

Hochzeitsglocken (2014)

Zechenbrand (2013)

Eisaugen (2011)

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Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2019

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Tilo Grellmann – Fotolia.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-4490-6

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Sie stieg die Treppe hinab und tastete an der Wand nach dem Lichtschalter. Danach öffnete sie eine Eisentür und betrat einen kleinen Raum, der durch eine grelle Neonröhre erleuchtet wurde. Ein Schwall warmer Luft schlug ihr entgegen.

Warme Luft und der Geruch von verdorbenem Fleisch.

Der Mann war erst kurze Zeit tot. Sie schloss die Tür hinter sich. Die Heizungsanlage gab pfeifende Geräusche preis. Der große Kessel knackte verdächtig. Musste mal generalüberholt werden, diese alte Heizungsanlage, dachte sie und bückte sich.

Da lag er, dieser schöne Mann, wie aufgebahrt. Das Blut auf dem Boden unter seinem Kopf war bereits angetrocknet. An seinem Hals konnte man einen feinen Strich erkennen, dort wo die Drahtschlinge angesetzt worden war.

Sie streichelte ihm über sein schwarzes Haar. Trotz seines qualvollen Todes sah sein Gesicht völlig entspannt aus, redete sie sich ein. Wenn es ein männliches Schneewittchen geben sollte, dann lag es in diesem Moment hier vor ihr, war sie überzeugt. Haare so schwarz wie Ebenholz. Haut so weiß wie Schnee stimmte nicht ganz, denn obwohl er tot war, schimmerte sie noch immer wie Milchkaffee. Blutrote Lippen kamen in etwa hin. Sie beugte sich über ihn und küsste ihn auf den kalten Mund.

Wie schön er war, dachte sie. Sie nahm die mitgebrachte Rose und legte sie auf seine Brust. Schade um den durchtrainierten Körper. Sie streichelte seine rechte Hand. Wie gepflegt sie war. Sie setzte sich neben ihn auf den Boden und begann lautlos zu weinen. Dann schlug sie das mitgebrachte Gesangbuch auf. Lied 361. Leise und melodisch begann sie zu singen.

 

»Befiehl du deine Wege

und was dein Herze kränkt

der allertreusten Pflege

des, der den Himmel lenkt!

Der Wolken, Luft und Winden,

gibt Wege, Lauf und Bahn,

der wird auch Wege finden,

da dein Fuß gehen kann.«

Anschließend schloss sie das Buch und sah ihn lange an.

Sie ging ganz nah an ihn heran, fast berührte ihr Mund noch einmal den seinen. Welch’ lange Wimpern er hatte.

Sie versuchte, seine Hände zu falten, doch die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt und machte ihr Vorhaben unmöglich. Sie zog ihm sein Jackett zurecht, rückte die Krawatte gerade, gab ihm noch zum Abschied einen Kuss auf die Stirn und stand vom Boden auf.

Sie verließ den Raum und schloss leise die Eisentür des Heizungsraums hinter sich.

Teil I

– Fakten –

1

Margareta zog ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Dabei schien die Sonne an diesem herrlichen Spätsommertag Ende August. Gegen halb sechs war sie aufgestanden, duschen, Haare waschen, das volle Programm. Um sieben Uhr klingelte Waltraud bereits gnadenlos an ihrer Wohnungstür, mehrmals hintereinander, hartnäckig wie immer.

Sie blickte zur Seite. Nun schlief Waltraud. Ihre Mutter schlief, während der mit ausgelassenen Menschen prall gefüllte Reisebus der Firma Kraft-Reisen Bad Sassendorf entgegensteuerte. Nichts bekam sie mit. Nichts von den hohlen Dialogen der Mitreisenden. Nichts von den quiekenden alten Frauen, die über die Witze des Ruhrpott-Busfahrers lachten, bis ihre Slipeinlagen durchnässt waren. Ihr Atem ging gleichmäßig, sie schlief tatsächlich tief und fest. Margareta dachte darüber nach, wie es wäre, wenn sie nicht mehr atmen würde und einfach nicht mehr da wäre. Bei diesem Gedanken überkam sie ein gewisses Unwohlsein. Obwohl sie oft nervte, beschloss Margareta gnädig, dass sie ruhig noch ein paar Jahre weiterleben konnte.

Sie fragte sich, wieso sie eigentlich hier in diesem Bus mit Menschen im Altersdurchschnitt von mindestens 70 Jahren saß, um einen überfüllten Kurort anzusteuern. Und das alles für einen einzigen Tag.

Nichts Böses ahnend, hatte sie sich vor einer Woche nachmittags auf ihrer Couch gelümmelt, als Waltraud hereingeschneit kam: »Hör mal, Gretchen, was hältst du von einem schönen Tagesausflug? Nach Bad Sassendorf, nächsten Donnerstag? Ich lade dich ein.«

»Ich weiß nicht«, hatte Margareta nicht gerade begeistert geantwortet. »Wer von deinen Freundinnen aus dem Ostpreußenverein kann denn dieses Mal nicht?«

Waltraud ignorierte die Frage und packte stattdessen viele gute Gründe aus ihrer ollen Überzeugungstasche: die Chance für Margareta, den Mann fürs Leben zu finden, mal richtig abzuschalten, wo sie doch so viel Stress in ihrem Job hatte, die gute Luft der Salinen im Kurpark und schlussendlich das leckere Essen, welches im Fahrpreis enthalten wäre.

Ein flüchtiger Blick durch den Bus sagte ihr, dass Mr. Right hier zwischen den alten Knackern ganz sicher nicht zu finden war. Abschalten und schön essen konnte sie auch zu Hause, also war der einzige Grund die salzhaltige Luft der Salinen des Kurparks.

Erst kurz vor Dortmund – Waltraud schlief immer noch tief und fest – entnahm Margareta dem Gegacker ausgelassener Frauen jenseits der Wechseljahre, welches geballt aus einer bestimmten Eckes des Busses zu ihr herüberschallte, dass sich ein jüngerer Mann an Bord befinden musste. Jedes Mal, wenn wieder eine laute Gackersalve zu ihr nach vorn schwappte, gingen dieser die Worte eines eindeutig jüngeren Mannes voraus. Eine angenehme Baritonstimme, stellte sie fest. Dieser Kerl musste die alten Weiber vollsülzen, dass der Schleim sich überall im Bus ausbreitete. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie er wohl aussehen mochte. Wer über so eine tolle Stimme verfügte, hatte mit Sicherheit mindestens eine körperliche Missbildung. Eine Hasenscharte vielleicht oder ein Glasauge. Sicherlich war er dick, hatte fettige Haare oder einen Riesenleib.

Als ihre Mutter auch noch zu schnarchen begann, stieß Margareta sie heftig in die Seite, woraufhin Waltraud nach Luft schnappend erwachte. »Was ist los, Gretchen? Sind wir endlich da?«

»Nein, aber dein Geschnarche nervt, alles dreht sich schon nach dir um.«

Es folgte die Belehrung, dass sie noch nie im Leben geschnarcht hätte und Margareta sich getäuscht haben müsse. Die beiden Mitreisenden auf den Sitzen vor ihnen, beide der Waschläppchengeneration angehörend, wie unschwer an ihrem Duft zu erkennen, fischten sich warme Würstchen aus einer Thermoskanne und aßen dazu schmatzend Kartoffelsalat aus einem Schraubglas. Noch immer vernahm Margareta die vornehm klingenden Monologe des Herrn einige Reihen hinter ihr, die von zahlreichen »Ohs« und »Ahs« der ältlichen Damen abgesegnet wurden.

Endlich ließ sie die Neugier nicht mehr los und zwang sie, nach hinten zu schauen, um sich von seinen Missbildungen zu überzeugen. Sie richtete sich aus ihrem Sitz auf, um über den silbergrauen Dauerwellenkopf hinter ihr hinweg zu schauen. So geriet das Objekt der Begierde in voller Pracht ins Blickfeld.

Kein äußerlicher Makel zu erkennen. Ein Traumtyp.

Seine schwarzen Haare hatten einen perfekten Schnitt und seine Zähne waren weiß und ebenmäßig wie eine Perlenkette. Die gebräunte Haut war makellos und die schwarzen Schatten um seinen Mund zeugten von starkem Bartwuchs. Er hatte gepflegte Hände, mit denen er wild gestikulierte, trug am linken Handgelenk eine goldene Rolex und am rechten ein schweres Armband. In seinem noblen Anzug stach er aus der Masse der hellen Regenjacken – Art Horst Schimanski – hervor. Das dezent bunte Hemd und die farblich abgestimmte Krawatte passten perfekt dazu. Völlig overdressed für einen Ausflug, dennoch hübsch anzusehen. Der Duft seines After Shaves brach sich Bahn durch Schweiß-, Fichtennadel- und Franzbranntweingerüche. Ihre Blicke trafen sich und Margareta starrte gebannt in seine eichhörnchenbraunen Augen. Sofort wurde ihr heiß und sie setzte sich wieder auf ihren Platz. Ihr Puls raste.

»Was ist das für ein Mann, Gretchen? Was will der hier im Bus?« Waltraud sah ihre Tochter fragend an.

»Ja, was soll der schon hier wollen? Das gleiche wie wir. Sich einen schönen Tag machen.«

»Aber der ist viel zu jung!«

»Ach, wieso bin ich dann nicht zu jung für diesen Ausflug? Der ist immerhin in meinem Alter.«

»So ein toller Mann fährt doch nicht mit alten Leuten in einen Kurort.«

»Das habe ich jetzt mittlerweile begriffen. Ich sehe also scheiße aus und kann ruhig mit alten Leuten durch die Gegend fahren.«

»So habe ich es nicht gemeint. Der sieht aber wirklich aus wie ein Dressman. Irgendwie kommt der mir bekannt vor.«

»Mir auch Mutter, mir auch. Das ist nämlich Harald Kleinschnittger.«

»Du meinst den dicken Harald aus deiner Klasse, der so eine Niete beim Sport war?«

»Genau der. Ich müsste mich schon schwer täuschen, wenn er es nicht wäre.«

»Gretchen, das kann ich kaum glauben. Wenn er es tatsächlich ist, hat er sich aber zu seinem Vorteil verändert.«

»Ja, kann man so sagen. Er sieht echt attraktiv aus.«

Margaretas Erinnerungen entführten sie in das Jahr 1986. Abschlussjahrgang der Lessing-Realschule. Sie sah Harald Kleinschnittger vor sich. Ein großer Kerl, aber nichtssagend. Im Handarbeitsunterricht hatte er hinter ihr gesessen und herrliche Straminbilder gestickt. Während seine Klassenkameraden schon mit Mädchen auf dem Schulhof geknutscht hatten, stand er in seiner kurzen Lederhose mit einem karierten Hemd in den Ecken herum und kam sich vor, als sei er was Besseres. Beim Sport war er die Lachnummer. Nichts bekam er auf die Kette. Er war lahm und behäbig. Seine Mitschüler heimsten hingegen bei den Sportfesten eine Urkunde nach der anderen ein. Sie lachten über ihn und meinten, dass die einzige Urkunde, die er je bekäme, die Sterbeurkunde sein würde. Bei der Schulentlassungsfeier erschien er zum ersten Mal in einer Jeans und hatte ab dem Tag prompt zwei Freunde. Udo Mehlhase und Andreas Magenburg, zwei verkappte Spätzünder sowie leidenschaftliche Pfadfinder.

»Sag mal, was ist eigentlich aus den Kleinschnittgers geworden?«, wandte sich Margareta an ihre Mutter.

»Ach je, die Kleinschnittgers. Die dachten auch, die wären wer weiß was. Die sind aus der Heinrichstraße weggezogen. Aber das ist schon mindestens 20 Jahre her. Sie haben sich damals ein Reihenhaus in der Gysenbergstraße gekauft. Der Vater ist vor ungefähr einem Jahr an Krebs verstorben. Ob seine Mutter noch dort wohnt, weiß ich gar nicht. Harald hatte noch eine Schwester …«

Es folgte die gesamte Entstehungsgeschichte der Kleinschnittgerdynastie, welche langweiliger nicht sein konnte.

»Meinst du, der wohnt noch dort? Vielleicht mit Mutti zusammen in einem Haus? Aber so wie der aussieht, hat er sicherlich ein Modepüppchen an seiner Seite.«

Als der Bus endlich auf dem großen Parkplatz schräg gegenüber dem Thermalbad in Bad Sassendorf hielt und die ungefähr fünfzig Frauen und drei Männer, fast alle im fortgeschrittenen Alter, hastig ihre Klamotten zusammenrafften und sich ächzend aus dem Bus pressten, ordnete Mister Kleinschnittger zuerst einmal sein Jackett und strich sich über sein Haar, als könnte eines davon aus der Reihe getanzt sein. Er verließ als Letzter den Bus und schaute sich erstaunt um, als sähe er zum ersten Mal einen Kurort. Kleinschnittger entdeckte die Salinen im Kurpark und steuerte auf sie zu. Gerade als er an Margareta vorbei wollte, nicht ohne sie charmant anzulächeln, ergriff sie die Gelegenheit und sprach ihn an.

»Ich glaube, wir kennen uns. Bist du nicht Harald Kleinschnittger? Lessing-Realschule? Erinnerst du dich an mich?« Welch billige Anmache, schoss es ihr durch den Kopf. Hatte sie es so nötig?

Seine Fans, die alten Damen, waren stehen geblieben, mitten auf der Straße, die zum Kurpark führte, und sperrten Ohren und Augen auf. Warnend sahen sie Margareta an. Wollte etwa jemand ihrem Schatz etwas Böses?

»Sie müssen sich täuschen, junge Frau«, ließ er vornehm aus seinen wohlgeformten Lippen fallen, »mein Name ist Brehden. Simon von Brehden.«

Margareta fiel fast ihr Kaugummi aus dem Mund. Er konnte ihr viel erzählen, dieser Möchtegernadelige, doch sie war sich sicher, dass er kein anderer war als Harald Kleinschnittger aus der Heinrichstraße in Buer.

Sein Blick wirkte plötzlich nervös. Er räusperte sich verlegen. »Sie entschuldigen mich bitte.« Und schon flüchtete er sich in einen Haufen dauergewellter Popelinjackenmuttis, um den herrlichen Kurpark zu betreten.

»Ist er es also doch nicht«, meinte Waltraud.

»Und ob er es ist. Der Kerl ist so blaublütig wie wir beide. Nicht mehr und nicht weniger. Hast du gesehen, wie nervös der wurde?«

Kaum zehn Minuten später fand Margareta sich mit ihrer Mutter Waltraud und dem Thermosflaschenwürstchen essenden Ehepaar an einem Tisch auf der Terrasse des Brunnenhaus Cafés wieder. Wie der Zufall es wollte, saß direkt an ihrem Nebentisch, nur getrennt durch einen jämmerlichen Springbrunnen – Prostata-Springbrunnen, wie man im Pott spöttisch sagte –, Simon von Brehden alias Harald Kleinschnittger. Er wurde von fünf Damen, auf braunen Korbgeflechtstühlen sitzend, eingekreist, die seinen adeligen Worten lauschten.

Doch offensichtlich fühlte er sich durch Margaretas Anwesenheit gestört, was ihm feine Schweißperlen auf seine gebräunte Stirn trieb. So fließend wie im Bus kamen die Sätze nicht mehr über seine Lippen gesprudelt. Er zupfte nervös an seinem Krawattenknoten, spielte verlegen an seinem goldenen Armbändchen. Der arme Harald. Margareta hätte sich vor Lachen schütteln können. Welch groteske Situation. Was brachte einen so gut aussehenden Mann dazu, seinen Namen zu ändern? Mimte hier Graf Gernegroß und entstammte in Wirklichkeit einer ganz normalen Familie. Sie erinnerte sich schwach daran, dass er einige Jahre nach dem Abschluss an der Realschule (er musste also irgendwie Abitur gemacht haben) ein Studium angefangen haben sollte und weggezogen war. Das wurde ihr jedenfalls erzählt. Es war für sie unbegreiflich, dass ein Mann in seinem Alter und mit seinem Aussehen mit alten Leuten einen Ausflug unternahm. War er etwa unter die Heiratsschwindler gegangen und suchte sich hier sein neues Opfer? Gab es außerhalb von Fernsehfilmen und TV-Serien überhaupt noch Heiratsschwindler?

Während Margareta ein großes Stück Pflaumenkuchen mit Sahne und ein Latte macchiato serviert wurde, lauschte sie weiterhin der Unterhaltung am Nebentisch. Das Blatt hatte sich inzwischen gewendet. Die fünf Damen tauten langsam auf und ließen den schönen Simon-Harald kaum mehr zu Wort kommen. Sie berichteten ihm von ihren durchgemachten Krankheiten, oft redeten drei Frauen gleichzeitig, schoben Jackenärmel hoch, machten ihre dicken Waden frei, um irgendwelche Narben oder Krampfadern zu zeigen. Sie übertrafen sich gegenseitig, ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebten. Die rechts neben ihm saß, ging sogar so weit, ihre Bluse aus dem Rock zu ziehen, um ihre Gallenblasenoperationsnarbe zu präsentieren. Dann folgten Klagen über unfähige Ärzte, nervige Ehepartner, die sie zu Hause hatten oder gehabt hatten. Waren Narben und Krampfadern ausreichend bejubelt worden, warteten die Weiber mit feuchten Lefzen auf das nächste Thema. Und das alles nur, um den jungen schönen Adeligen an ihrem Tisch zu beeindrucken. Der angebliche Graf heuchelte Interesse, sprach tröstende Worte und nippte vornehm an seiner Kaffeetasse. Als er kurz darauf seinen Platz verließ, um die Toilette aufzusuchen, fiel er über die Gehstützen der Alten zu seiner Linken, was gar nicht mehr edel aussah.

Nach einer knappen Stunde löste sich die Gesellschaft auf und verschwand in kleinen Grüppchen in verschiedene Richtungen. In zwei Stunden wollten sie sich erneut treffen, zum Mittagessen im Schnitterhof. Waltraud und ihre neuen Bekannten, diese lustigen Ruhrpottrentner, entschieden sich, den Ortskern zu besichtigen, während Margareta vorgab, sich das Solebad ansehen zu wollen. Sie sah aus den Augenwinkeln, dass der schöne Harald mit einer der alten Frauen in Richtung Salinen davonschlich. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn mehr als schleichen war angesichts der leichten Gehbehinderung der goldbehangenen Dame, die anscheinend das Rennen gemacht hatte, nicht drin. War das sein neues Opfer?, fragte Margareta sich. Dem Schmuck nach zu urteilen, musste sie Kohle ohne Ende haben. Während sie ebenfalls zu den Salinen schlenderte, immer dieses Pärchen im Blick, ließ sie die letzten Wochen und Monate noch einmal Revue passieren.

›Immerhin bin ich nicht arbeitslos‹, freute sie sich. Seit gut einem Jahr arbeitete sie nun schon in der Damenoberbekleidungsabteilung eines renommierten Buerschen Kaufhauses, obwohl sie bei Stellenantritt von der Materie eigentlich keine Ahnung gehabt hatte. Learning by doing, hatte ihr neuer Chef damals gemeint, der sie nur eingestellt hatte, weil er mit ihrem Bruder Gisbert Tennis spielte. Das Gehalt war okay. Trotzdem war sie noch immer eine alleinstehende Frau über vierzig, die bisher nie Glück mit ihren Männern hatte. Nachdem sich die Beziehung mit dem ansehnlichen Bertl als Desaster entpuppt hatte, trat der tolle Karol in ihr Leben, der seine Finger leider nicht von seiner neuen Kollegin lassen konnte. Traumprinz Nummer drei war ein unscheinbarer Schichtarbeiter, der wegen Unterschlagung angeklagt worden war. Wer kam als nächstes? ›Bin ich überhaupt schon bereit für einen neuen Mann?‹, fragte sie sich und schaute dem schönen Harald hinterher, der gerade seiner neuen Eroberung die Treppen zu den Salinen hinaufhalf.

2

Während Margareta vor der Voliere mit einer Horde munter tschilpender Wellensittiche am Rande des Kurparks stand, kreisten ihre Gedanken immer noch um ihren alten Schulkameraden Harald Kleinschnittger, der allerdings vorgab, Simon von Brehden zu sein. Für einen kurzen Augenblick beneidete sie die Gefiederten, die nichts anders zu tun hatten, als zu fressen und Kot abzulassen. Die übrige Zeit jagten sie ihren Kumpanen hinterher, um ihnen anschließend mit dem Schnabel eins auf die Rübe zu geben oder diese mit hochgewürgten alten Körnern zu füttern. Zuckerbrot und Peitsche sozusagen.

Wenn die salzhaltige Luft schon so gesund sein sollte, wollte sie die Zeit nutzen, ebenfalls um die Salinen zu schreiten. Sie sah von Weitem auf das zehn Meter hohe und 60 Meter lange Bauwerk und war beeindruckt. Eine stabile Holzbalkenkonstruktion bildete das Element des Gradierwerks, in welchem Schwarzdornbüschel verarbeitet waren. Mithilfe von Pumpen wurde die Sole auf den Dornenwänden verteilt. Beim Verdunsten des Wassers gelangten gereinigte Salzteilchen in die Luft. Diese Freiluft-Inhalation sollte die gleiche Wirkung wie Seeluft besitzen. Wozu dann noch an die Nordsee reisen? ›Leute, spart euch das Geld! Fahrt nach Sassendorf, kommt viel billiger!‹ Ihr Wissen über die Salinen hatte sie von Waltraud. Sie konnte sogar mitten durch das Gradierwerk lustwandeln, stellte Margareta fest. Auf einer Bank davor hatte der schöne Harald seine goldbehangene Dame geparkt, die mit geschlossenen Augen die Sonne auf sich scheinen ließ und gleichzeitig die Sole in sich aufsog, als müsse sie davon in ihrem nicht mehr taufrischen Körper einen Vorrat anlegen. Wo war ihr schöner junger Freund geblieben?

Der dunkle Gang, der zwischen den beiden Salinenwänden durchführte, wirkte auf Margareta beängstigend. Die mit Moos überwachsene Wellblechabdeckung spendete von oben nur wenig Licht. Die feuchte Luft und der modrige Geruch taten ein Übriges, sie in eine mystische Stimmung zu versetzen. Sie litt nicht unter Klaustrophobie, doch irgendwie war ihr unwohl, als sie die 60 Meter durch den engen Gang schritt. Die richtige Kulisse für einen Mord, dachte sie kurz. ›Salinenmord‹ oder ›Kurparkkiller‹ wären tolle Titel für einen entsprechenden Krimi.

Plötzlich spürte sie einen leichten Atemhauch in ihrem Nacken und drehte sich erschrocken um. Durch das Wasser, welches an den Salinenwänden herunter plätscherte, hatte sie niemanden kommen hören. Sie schaute in zwei braune Augen. Harald Kleinschnittger. Sein Blick war spöttisch. Er grinste übertrieben freundlich, fast schon hämisch.

»Mensch, hast du mich aber erschreckt.« Margareta spürte ihr klopfendes Herz bis zum Halse. Prompt hatte sie ihn wieder geduzt, was dem künstlichen Grafen gar nicht gefiel.

»Ich wüsste nicht, dass wir schon im Sandkasten miteinander gespielt haben und wir uns seither duzen.«

Trotz seiner überheblichen Art und der gespielten Selbstsicherheit merkte Margareta, dass er angespannt war. Wieso war er ihr gefolgt?

»Wir haben zwar nicht in der Sandkiste gespielt, doch immerhin einige Jahre im gleichen Klassenzimmer gesessen. Darauf würde ich mein Leben verwetten.«

»Und verlieren«, meinte er immer noch übertrieben grinsend.

»Das glaube ich kaum.«

Seine Augenlider flackerten. Er räusperte sich nervös.

Sie spürte, dass sie ihm im Weg war. Ihm – wobei auch immer – in die Quere kommen könnte. Er roch unverschämt gut. Ob nun Harald Kleinschnittger oder Simon von Brehden, der Kerl strahlte eine unheimliche Erotik aus. Auch er schien die Spannung, die sich zwischen ihnen aufbaute, zu spüren. Er wirkte irritiert. Stand er etwa doch nicht nur auf alte Damen? Wusste er die Vorzüge einer attraktiven Frau mittleren Alters durchaus zu schätzen?

»Okay, du hast gewonnen«, sagte er wie erleichtert und gab einen tiefen Seufzer von sich.

›Hey, das ging aber schnell‹, dachte Margareta. Dass er so rasch einknickte und seine wahre Identität preisgab, hätte sie nie zu hoffen gewagt.

»Du warst schon immer eine Nervensäge und harte Nuss, Sommerfeld. Spionierst du mir hinterher?«

Jetzt musste Margareta lachen. »Wieso sollte ich? Ich habe dich zufällig im Bus wiedererkannt. Aber sag mal, was soll das Theater? Wieso der adelige Name und dieser Ausflug mit den alten Leuten?«

Wieder seufzte er tief. »Eine lange Geschichte. Du würdest sie sowieso nicht verstehen. Ich bitte dich nur, vermassele mir nicht die Tour, okay? Du kennst mich nicht. Hast du verstanden?«

Er kam ganz nah an sie heran und sie konnte seinen Atem spüren. Sie schaute in seine Augen und schmolz dahin. Was für ein Mann.

Er hob mit seiner rechten Hand sachte ihr Kinn an und lächelte. »Unter anderen Umständen, wer weiß. Vielleicht hätte aus uns was werden können. Du bist eine tolle Frau.«

Seine sentimentale Stimmung war allerdings ganz schnell verflogen. Eine Zornesfalte zog zwischen seine Augenbrauen.

»Du kennst mich nicht, Sommerfeld. Hast du verstanden?« Und schon war der schöne Graf, alias Harald Kleinschnittger, von der Bildfläche verschwunden.

Zurück blieb eine völlig verstörte Margareta, die sich, nachdem sie das dunkle Innere der Salinen verlassen hatte, erst einmal auf eine Bank setzen musste.

Auch später beim Mittagessen war sie mit ihren Gedanken ganz woanders, während ihre Mutter euphorisch auf sie einredete. Wieder saßen sie mit diesem eigenartigen alten Ehepaar – Ingeborg und Heinrich Ziska aus Westerholt – zusammen an einem Tisch auf der herrlichen Terrasse des westfälischen Schnitterhofs, einer Hotelanlage. Alte, imposante Gebäude im Fachwerkstil umrahmten sattgrüne Wiesen und hübsch gedeckte Tische. Der alte Baumbestand spendete reichlich Schatten, sodass nur wenige Sonnenschirme die Gäste vor zu viel Sonne schützen mussten. Die Truppe munterer alter Leute schnatterte und lachte ununterbrochen.

Margareta hingegen sah den schönen Harald vor ihrer Nase sitzen. Er saß mit seiner neuen Eroberung Brigitte Hoffmann – den Namen hatte sie von Herrn Ziska erfahren – zwei Tische weiter, genau in ihrem Blickfeld, unter einem Sonnenschirm mit Veltins-Reklame. Der kleine Zweiertisch war für die beiden wie geschaffen. Er hatte seine Hand auf ihr Bein gelegt und es sah ganz danach aus, als würde es diesem schönen Mann Spaß machen, mit einer mindestens 20 Jahre älteren Dame Zärtlichkeiten auszutauschen.

Auf die Frage, wie ›schwer‹ die Dame denn sei, meinte Heinrich nur: »Ziemlich schwer. Ihr verstorbener Mann ist der Cousin eines reichen Industriellen gewesen. Er saß im Aufsichtsrat dieses großen Konzerns und hat außer einem stattlichen Vermögen eine Villa am Rande von Essen hinterlassen.«

Nun war Margareta klar, wieso Harald so ein großes Interesse an Brigitte Hoffmann hatte. Er hatte es auf ihr Geld abgesehen und dafür war er anscheinend bereit, einiges zu tun.

Brigitte in ihrem gelben Gabardine-Kostüm mit passendem Hut war entzückt über den tollen Mann an ihrer Seite. Neidvoll wurde sie von den anderen alten Damen bewundert.

Sie habe bereits mehrfach, genau wie er und seine Frau, an solchen Ausflügen der Firma Kraft-Reisen teilgenommen, meinte Heinrich, doch so ein Sahneschnittchen hatte sie noch nie eingeheimst. Des Öfteren hatte sie bei einem Ausflug schon mal einen Kerl in ihrem Alter aufgerissen, der sich aber nie lange an ihrer Seite hielt, wie er zu berichten wusste.

Na ja, wenn die Knete der guten Brigitte erst weg war, würde Haralds Interesse schnell wieder nachlassen, davon war Margareta überzeugt.

Er schnitt ihr die Schweinelendchen in winzige Stücke, damit sie sie mit ihrem vermutlich neuem Gebiss überhaupt essen konnte, goss ihr vom Wein nach, strahlte sie mit seinen Blendadent-Zähnen an und streichelte immer wieder ihre von Altersflecken übersäten Hände.

Wie dreckig musste es ihm finanziell gehen, um sich herabzulassen, so eine alte Frau aufzureißen? Margareta konnte an nichts anderes mehr denken. Sie registrierte kaum, was sie aß, hörte kaum zu, wenn Waltraud auf sie einredete. Ihre Augen klebten förmlich am schönen Harald mit seinen vorzüglichen Tischmanieren.

»Sag mal Gretchen, nun reicht es aber. Was glotzt du denn ständig zu dem Kerl da hin? Gönn’ der alten Frau doch ihr Vergnügen. Vielleicht ist er ja wirklich ein Graf und hat ein Faible für ältere Frauen.«

»Träum weiter! Das ist Harald Kleinschnittger. Er hat es zugegeben.«

»Wann hat er dir das gesagt?« Waltraud war neugierig geworden.

»Vorhin, als ich ihn in den Salinen traf. Ich musste ihm versprechen, ihn nicht zu verraten.«

»Du meinst, er ist ein Heiratsschwindler, der nur das Geld der Frau will?«

»Genau das muss ich herausfinden. Und du wirst mir dabei helfen.«

»Ich?«, schrie Waltraud förmlich, sodass sich sämtliche Leute an den Nachbartischen nach ihr umdrehten.

»Ja, du.«

»Lustig ist das Zigeunerleben, faria, faria, ho«, sangen die alten Leute, mittlerweile völlig überdreht, während der Bus endlich wieder in Richtung Ruhrgebiet fuhr. Sogar der schöne Harald stimmte kräftig mit ein und scherte sich einen Dreck darum, was die anderen, einschließlich seiner Schulfreundin Margareta, über ihn dachten.

»Brauchen dem Kaiser kein Zins zu geben, faria, faria, ho.«

Wie albern war das hier alles, fragte Margareta sich, als nun auch noch Waltraud in das Lied einstimmte.

»Lustig ist es im grünen Wald, wo des Zigeuners Aufenthalt.«

Wäre sie doch lieber zu Hause geblieben und hätte Harald niemals getroffen, dann hätte sie den Kopf jetzt frei.

»Faria, faria, faria, faria, faria, faria, ho.«

Warum ging er ihr nicht mehr aus dem Hirn? Hatte sie nicht langsam die Nase voll von schönen Männern? Was wollte sie außerdem mit einem Heiratsschwindler? Oder umgekehrt: Was konnte ein Heiratsschwindler von ihr wollen? Sie hatte nichts, war arm wie eine Kirchenmaus, also für einen Typ wie Simon von Brehden vollkommen uninteressant.

»Sollt’ uns einmal der Hunger plagen, faria, faria, ho. Tun wir uns ein Hirschlein jagen, faria, faria, ho«, sangen die alten Leute, bis sie keine Stimme mehr hatten.

Margareta verdrehte die Augen und schaute beschämt zu Boden, in der Hoffnung, dass sie möglichst schnell ihre Heimatstadt erreichen würden. ›Nie wieder nehme ich an so einem Ausflug teil, nie wieder‹, schwor sie sich.

»Hirschlein nimmt dich wohl in Acht, wenn des Jägers Büchse kracht …«

Bei Harald krachte nicht die Büchse, bei Harald klingelte schon die Kasse in seinem wohlgeformten Kopf, wenn er Brigitte ansah.

Sie musste mehr über ihn erfahren. Gleich morgen würde sie sich umhören und ihre Mutter würde mit von der Partie sein. Zufrieden nach diesem einmal gefassten Vorsatz stieg Margareta auf Bahnsteig 8 am Busbahnhof Buer aus dem Bus. Sie warf einen letzten Blick auf den schönen Harald, der zu der reifen Brigitte in ein Taxi stieg und davonfuhr.

3

Es müsste ein Ratgeber existieren. ›Observieren leicht gemacht‹ oder so ähnlich, dachte Waltraud, während sie vor dem angeblichen Haus in der Gysenberstraße auf und ab ging. Von ihrer Nachbarin, die früher neben den Kleinschnittgers wohnte, hatte sie die Hausnummer erfahren. Diese Nachbarin wusste auch noch zu berichten, dass Harald Kleinschnittger dort ganz allein wohnen sollte, nachdem seine Mutter im letzten Jahr ebenfalls verstorben war. So hatte Margareta Waltraud gebeten, sich in der Gegend ein wenig umzusehen. »Bloß nicht zu auffällig, Mutti«, hatte sie ihr mit auf den Weg gegeben. »Und quatsch mir ja keine Nachbarn an.«

Die Gysenbergstraße war eine der sogenannten besseren Adressen im Gelsenkirchener Ortsteil Buer, unweit der Grünanlage um Schloss Berge. Das Haus Nr. 63 war ein Reihenendhaus. Ein rotes Backsteingebäude aus den 50er Jahren, mit Garten zur viel befahrenen Emil-Zimmermann-Allee. Üppige Rhododendren im gepflegten Vorgarten. Eine teure Mercedes-E-Klasse stand in der Garagenauffahrt. Anscheinend war er zu Hause.

›Geh zurück‹, sagte Waltraud sich. ›Was willst du eigentlich hier?‹ Was Margareta sich da bloß wieder in den Kopf gesetzt hatte.

In den Gärten auf der rechten Straßenseite zischten die Rasensprenger vor sich hin. Ein schöner sonniger Spätsommertag.

Waltraud ging nun schon zum zweiten Mal an Harald Kleinschnittgers Haus vorbei und lugte angestrengt auf das Klingelschild. Tatsächlich, da stand Kleinschnittger. Damit war jedoch noch lange nicht gesagt, dass hier der gleiche Mann wohnte, der mit ihr im Bus nach Bad Sassendorf gefahren war.

An den unteren Fenstern – wohl die von Küche und Bad – waren modische Plissee-Jalousien in bunten Farben angebracht. Die Fenster der ersten Etage zierten glatte weiße Stores. Alles wirkte überaus gepflegt, als hätte hier eine Hausfrau ihre Hände im Spiel.

Unschlüssig blieb Waltraud kurz vor dem Haus stehen, ging die Straße weiter bis zum Ende und bog in die Emil-Zimmermann-Allee ein. Vielleicht konnte sie von dort in den Garten blicken. Da alle Häuser in etwa gleich aussahen, dauerte es eine Weile, bis sie an dem entsprechenden angelangt war. Sie spähte durch eine dichte Kirschlorbeerhecke. Auf der Terrasse stand eine Teakholzgarnitur. Ein großer Tisch und drei Stühle mit herrlich gemusterten Auflagen. Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch neben einem Glas Mineralwasser.

Aus der offenen Terrassentür kam soeben eine schlanke blonde Frau auf High Heels herausgetänzelt. Sie trug einen knappen gelben Bikini, was sie sich bei ihrer tadellosen Figur durchaus leisten konnte.

Margareta musste sich getäuscht haben, dachte Waltraud. Ihr Harald Kleinschnittger war mit Sicherheit nicht der Harald Kleinschnittger, der hier mit dieser schönen Frau wohnte. Gerade wollte sie ihren Kopf aus der Hecke ziehen, als der Schönling ebenfalls die Terrasse betrat. Sein braungebrannter Traumkörper steckte in einer knappen Badehose. Das Strahlen seiner Zähne konnte Waltraud bis zum Gartenende sehen. Seine Haare lagen wieder so perfekt wie vor ein paar Tagen bei dem Ausflug. Zweifelsohne, er war es. Der gleiche Typ, der auf der Terrasse des Schnitterhofes einer alten Frau Händchen haltend Hoffnung gemacht hatte, knutschte in seinem Garten ein blondes Prachtweib. Ihre Leiber pressten sich aneinander und Waltraud konnte trotz des Geräuschpegels der gut befahrenen Straße ihr lustvolles Gestöhne vernehmen. Erschüttert trat sie den Heimweg an.

Am nächsten Tag kehrte sie allerdings wieder zurück. Stand hinter einem Busch am Eingang zum Berger Park und beobachtete den Hauseingang Harald Kleinschnittgers. Ihrer Tochter hatte Waltraud noch nichts von ihrer gestrigen Observation erzählt. Sie wollte erst mehr erfahren. Nun stand sie zu früher Stunde im Schatten eines alten denkmalgeschützten Bauernhauses, welches sich mitten in den Parkanlagen befand, und starrte auf die Eingangstür des Hauses in der Gysenbergstraße 63. Es schien wieder ein schöner Tag zu werden. Die Sonne brach sich Bahn zwischen den dichten Bäumen, die Vögel zwitscherten munter ihre Liedchen. Im einige Meter entfernten kleinen Teich stand ein Fischreiher und starrte sie aus großen Augen an.

Endlich ging die Tür auf und ein elegant gekleideter Harald Kleinschnittger verließ eiligen Schrittes sein Haus und steuerte auf sein Auto zu, welches wieder vor der Garage parkte. Mit Schwung warf er seine Aktentasche hinein, bevor er selbst auf dem Fahrersitz seines Wagens Platz nahm. Rückwärtsgang rein, hastig zurückgesetzt, und schon gab er Gas und verschwand aus Waltrauds Blickfeld. Sie fragte sich, wieso er sich als Simon von Brehden ausgab und alte Weiber ausnahm, wenn er, wie es schien, berufstätig war und von seinen Eltern ein Haus geerbt hatte.

Zielstrebig ging sie auf sein Haus zu und blieb davor stehen. Von dem blonden Gift keine Spur. Als sie gerade die Klappe des Briefschlitzes anhob und neugierig in den Kasten starrte, öffnete sich die Tür des Nebenhauses und eine Frau mittleren Alters, mit Lockenwicklern auf dem Kopf, trat heraus.

»Suchen Sie jemanden?«, fragte sie neugierig und musterte Waltraud von oben bis unten, die ein blau gemustertes Hortensienkleid trug.

»Ach, guten Morgen«, säuselte Waltraud. »Vielleicht können Sie mir helfen. Ich suche eine alte Schulfreundin, Elfriede Kleinschnittger. Sie soll hier wohnen, wurde mir gesagt.« Sie hatte sich auf alle Standardfragen gründlich vorbereitet.

»Die ist vor ein paar Monaten gestorben. Seitdem wohnt der Sohn alleine hier.« Ein wenig freundlicher schaute sie Waltraud nun an. An ihrem blauen Haushaltskittel fehlte ein Knopf.

»Da meinen Sie bestimmt den Harald«, täuschte Waltraud freundliches Interesse vor. »Ja, den kenne ich noch von früher. Da war er noch ein Kind. Und er lebt nun ganz alleine hier?«

»Ja, so kann man es nennen. Der ist jetzt zur Arbeit. Beziehungsweise: Was man so Arbeit nennt. Er ist Architekt. Selbstständig. Steht kurz vor dem Aus. Insolvenz. Macht nur noch die Restabwicklung. Mit seiner Sekretärin. Gestern war sie erst wieder hier.«

Waltraud musste schmunzeln. Wie diese Restabwicklung der Insolvenz aussah, hatte sie durch die Kirschlorbeerhecke sehen können. Glaubte die gute Frau ernsthaft, die beiden würden nebenan arbeiten? Wie blind konnte sie sein?

»Kann ich ihm was ausrichten, dem Herrn Kleinschnittger?«, fragte die Nachbarin noch eine Stufe freundlicher.

»Das ist nett von Ihnen, doch ich komme am Abend vielleicht noch einmal wieder. Vielen Dank, Frau …?«

»Mackenrodt, Susanne Mackenrodt. Und wie war Ihr Name?«

»Sommerfeld, Waltraud Sommerfeld.« Wie blöd, schalt sie sich sofort, als sie ihren Namen ausgesprochen hatte. Wie konnte ich der Frau meinen richtigen Namen nennen? Zu spät. Wenn er hören wird, dass eine Frau Sommerfeld sich nach seiner Mutter erkundigt hatte, wusste er gleich, was Sache war und dass Margareta dahintersteckte. Sie lächelte die Frau noch einmal an und ging des Weges.

»Und sonst hat die Frau nichts gesagt?«, fragte Margareta und biss, während sie etwas in ihren Laptop tippte, herzhaft von dem Brötchen ab, das ihr ihre Mutter liebevoll zurecht gemacht hatte. Gleich nach der Arbeit war sie zu Waltraud gefahren, die es nicht lassen konnte und ihr bereits per SMS mitgeteilt hatte, dass sie heute zum zweiten Mal in der Gysenbergstraße gewesen war. Für ihre 71 Jahre beherrschte Waltraud das Simsen inzwischen perfekt. ›War wieder bei harald. hab neuigkeiten‹, hatte sie ihrer Tochter gegen Mittag getextet. Nun gab Margareta Suchbegriffe bei Google ein, um herauszufinden, wo sich Haralds Architekturbüro befand.

»Die Frau war nicht alt. Nicht viel älter als du. Sie sah etwas spießig aus mit ihren Lockenwicklern auf dem Kopf und dem altmodischen Haushaltskittel. Wie eine kleinkariert denkende Hausfrau im Ruhrgebiet eben.«

»Sie sagte, er wickle die Firma mit seiner Sekretärin ab. Und dabei hätten sie fast eine Nummer auf der Terrasse geschoben, als du die beiden durch die Hecke beobachtet hast?«

»Ja, das war schon eindeutig, was sie vorhatten. Nach Büroarbeit sah das jedenfalls nicht aus.«

»Das passt doch alles nicht zusammen. Die Show, die er da in Bad Sassendorf mit der alten Frau abzog und dann dieses blonde langbeinige Gift in seinem Garten. Was führt der Kerl im Schilde?«

Während Margareta energisch auf die Tastatur des Laptops hackte, schüttelte ihre Mutter nur den Kopf. »Was geht es uns an, Gretchen? Lass den Mann sein Leben leben. Du hast einen sicheren Job, dir geht es wieder besser, was willst du von ihm?«

»Wenn ich das wüsste«, seufzte Margareta und schaute ihre Mutter traurig an.

Es fing bereits an zu dämmern, als Margareta auf den Parkplatz des Tennisplatzes fuhr und ihren Wagen abstellte. Sie hatte lange mit sich gerungen, ob sie einfach so mir nichts dir nichts Harald einen Besuch abstatten sollte. Was, wenn diese blonde Frau sich in seinem Haus aufhielt? Vielleicht waren ja wieder einmal ›Restarbeiten‹ fällig? Nachdem sie etliche Male alle Für und Wider abgewogen hatte, hatte sie sich blitzartig umgezogen und gegen 20 Uhr ihre Wohnung verlassen. Bekleidet mit Leggings und einem kurzem Sommerkleid, eine weiße Strickjacke locker über die Schultern geworfen, steuerte sie nun auf Harald Kleinschnittgers Reihenhäuschen zu. Ihr war bewusst, dass sie sich unter Umständen lächerlich machen würde. Doch war es nicht egal? Sein protziger Wagen stand in der Einfahrt und sie musste schmunzeln. Er fuhr eine Nobelkarosse und presste sich zu alten Leuten in einen Reisebus. Der Widerspruch schlechthin. Dieser Sache musste man schließlich auf den Grund gehen. Noch bevor sie auf den Klingelknopf drückte, pulte sie sich den letzten Rest Hühnerfleisch aus den Zähnen. Erst vor wenigen Minuten hatte sie sich einen halben Hahn vom Flammengrill einverleibt. Zum Zähneputzen blieb keine Zeit mehr. Während gellend der Klingelton durch sein Haus hallte, pochte Margaretas Herz ebenso laut.

Nach nur wenigen Sekunden riss Harald seine Haustür mit so viel Schwung auf, dass Margareta einen halben Meter rückwärts stolperte.

»Ach, nein!« Ein grinsender Harald, der auch in einer Jogginghose und Poloshirt noch wie ein Dressman aussah, musterte sie von oben bis unten.

»Ach, doch!«, sagte Margareta mit leiser Stimme. Der Anfall von Mut wollte sie gerade verlassen.

»Die Sommerfeld. Das gibt’s ja gar nicht.«

»Doch, gibt es.«

»Was willst du? Reicht es nicht, dass deine Alte mir schon hinterherspioniert?« Er wirkte nicht sehr geduldig. Sein Lächeln verschwand von seinem schönen Gesicht.

»Ich war hier in der Gegend und da dachte ich …«

»Erzähl keinen Quatsch, du wohnst in der Alleestraße. Welcher deiner Wege sollte dich also hier vorbeiführen?«

»Woher weißt du, wo ich wohne?«

»Ich habe da so meine Quellen.«

Margaretas Herz schlug schneller. Er hatte sich nach ihr erkundigt. Also schien sie ihm ebenfalls nicht aus dem Kopf zu gehen.

Sie schwiegen sich eine Minute lang an, bis er endlich die Worte sagte, die sie erhofft hatte.

»Willst du hereinkommen?«, fragte er sie nicht gerade freundlich, was Margareta jedoch nicht daran hinderte, seiner Aufforderung nachzukommen.

»Ja, gern«, antwortete sie, erstaunt über die Einladung.

Er gab den Weg frei und schon stieß sie in ihrem Inneren einen Jubelschrei aus und freute sich, dass es besser geklappt hatte als erwartet.

»Du hast Kontakt mit deinem alten Kumpel Udo Mehlhase?«, fragte sie ihn, während sie ihm ins Wohnzimmer folgte.

»Hin und wieder«, antwortete er und drehte sich abrupt um. Mit seinen dunkelbraunen Augen starrte er sie lange an. So lange, bis ihre Knie weich wurden. Was hatte dieser Kerl bloß an sich?, fragte sie sich.

Er hingegen hatte bei ihrem Anblick ein mulmiges Gefühl.

›Diese dumme Ziege wird mir meine Tour vermasseln mit ihrer Neugier‹, dachte er, während er ihr einen Platz auf seiner Rolf-Benz-Ledercouch anbot.

Und doch hatte sie etwas an sich, was ihn anmachte. Ihre freche Kodderschnauze hatte ihm schon in der Schule gefallen. Damals schenkte sie ihm, dem dicken Zahnspangenträger, jedoch keinen Blick. Erst Jahrzehnte später, als aus dem unscheinbaren Jungen ein toller Mann geworden war, wurde er für sie interessant.

So waren die Weiber, alle gleich, ob alt oder jung. Ließen sich durch Äußerlichkeiten blenden, dachte er.

Und er war überzeugt, dass er daraus durchaus Profit schlagen konnte. Sein spöttischer Blick blieb an ihren übereinandergeschlagenen Beinen hängen.

Nachdem er zwei Kognacschwenker mit Weinbrand gefüllt und ihr ungefragt einen davon in die Hand gedrückt hatte, setzte er sich ihr gegenüber in einen Sessel. Er wirkte noch immer angespannt.